Der Frage, ob der Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt wirklich gerechtfertigt und eingelöst werden kann, geht MacIntyre im nächsten Kapitel mit dem Titel Das Wesen von Verallgemeinerungen in der Sozialwissenschaft und ihre mangelnde Fähigkeit zu Voraussagen nach, denn, so MacIntyre:
Was das Expertentum der Manager als Bestätigung braucht, ist eine begründete Konzeption von Sozialwissenschaft als Lieferant gesetzesgleicher Verallgemeinerungen mit ausgeprägter Fähigkeit zu Voraussagen. (123)
Von den Sozialwissenschaften lässt sich allerdings sicherlich behaupten, dass sie solcherlei Gesetze nicht entdeckt haben. Daraus folgt, dass die Sozialwissenschaften als Wissenschaften in diesem Sinne keineswegs bereits gerechtfertigt sind. Und dies gilt freilich auch für das Expertentum des Managers, der seine Autorität den Sozialwissenschaften entleiht.
Um dieses Problem näher zu untersuchen, beschreitet MacIntyre nun einen langen Gedankengang, dessen Nachvollzug wir hier entbehren können, da er für die moralphilosophischen Grundfragen, die uns hier vor allem interessieren, nicht von zentraler Bedeutung ist. Die Überlegungen zur Voraussagbarkeit und Unvoraussagbarkeit im menschlichen Handeln führen zur Einsicht in die systematische Unvoraussagbarkeit des sozialen Lebens. Das dafür erforderliche Wissen von kausalen Regelmäßigkeiten ist nicht zu erlangen. Denn der Bereich des Voraussagbaren im gesellschaftlichen Leben ist so stark beschränkt, dass dies nichts Entscheidendes gegen die alles durchdringende »Unvoraussagbarkeit im menschlichen Leben« (142) vermag.
Wenn weder die Ansprüche der Sozialwissenschaften durch die Angabe von gesetzesgleichen Verallgemeinerungen noch die die des bürokratischen Managers, der seine Autorität auf das Wissen und die Anwendung derselben gründet, bestätigt werden können, erweist sich der Begriff der Effektivität des Managers als »eine weitere zeitgenössische moralische Fiktion und vielleicht die wichtigste von allen.« (147) Der Vorherrschaft des Manipulativen in der emotivistischen Kultur steht also keineswegs ein großer Erfolg in der Manipulation gegenüber. Der Begriff der sozialen Kontrolle durch Experten, die mit den dafür erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgestattet sind, erweist sich als Maskerade.
MacIntyre führt dazu abschließend aus:
Der Glaube an das Expertentum des Managers ist also von meinem Standpunkt aus tatsächlich dem sehr ähnlich, was Carnap und Ayer für den Glauben an Gott hielten. Er ist eine weitere Illusion, und eine besonders moderne dazu, die Illusion einer Macht, die nicht wir selbst sind, und die den Anspruch erhebt, Gerechtigkeit zu bewirken. Der Manager als Charakter ist daher anders, als er auf den ersten Blick zu sein scheint: Die soziale Welt des alltäglichen, nüchternen, praktischen, pragmatischen, humorlosen Realismus, der die Umwelt der Manager darstellt, ist eine Welt, die um ihrer stützenden
Besser wäre wohl »andauernden« oder »dauerhaften« für »sustained« im englischen Original (After Virtue, S. 107). Existenz willen vom systematischen Fortbestehen von Mißverständnissen und vom Glauben an Fiktionen abhängt. Der Warenfetischismus ist ergänzt worden durch einen anderen, ebenso bedeutenden Fetischismus, den der bürokratischen Fähigkeiten. Denn aus meinem gesamten Argument folgt, daß der Bereich des Expertentums des Managers ein Bereich ist, in dem angeblich objektiv begründete Ansprüche in Wirklichkeit Ausdruck von willkürlichem, aber verborgenem Willen und von Präferenzen sind. […] Die Prophezeiungen des 18. Jahrhunderts haben bewirkt, daß nicht wissenschaftlich gelenkte soziale Kontrolle entstand, sondern eine geschickte dramatische Nachahmung einer solchen Kontrolle. Es ist der theatralische Erfolg, der in unserer Zivilisation Macht und Autorität verschafft. Der effektivste Bürokrat ist der beste Schauspieler. (147-148)
Das Ergebnis der negativen Seite der Kritik MacIntyres kulminiert somit in der Erkenntnis, dass die moderne Moral »in beunruhigendem Ausmaß als Theater der Illusionen entlarvt« (107) wird. Die Einsicht, dass der moralische Diskurs zu einer Maske für Wille und Macht geworden ist, hat aufgrund des sukzessiven Scheiterns aller Versuche, der Moral eine objektive Grundlage zu verleihen, und dem daraus resultierenden Aufstieg subjektivistischer Theorien wie dem Emotivismus immer stärkere Verbreitung gefunden.
Die Normen der moralischen Tradition haben zwar ihre einstmalige objektive Geltung und Autorität, die sie aus dem teleologischen Bezug auf das Gute sowie aus ihrer Abkunft aus göttlichen Geboten bezogen, eingebüßt, werden aber im modernen anti-teleologischen und säkularisierten Kontext weiter benutzt, als verfügten sie weiterhin über objektive Autorität. Dieser Gebrauch erfolgt in mehr oder weniger bewusst manipulativer Weise, um anderen den eigenen Willen im Dienste bestimmter Interessen aufzuzwingen.
MacIntyre stellt dazu pointiert fest:
Wenn die moralische Äußerung im Dienste eines willkürlichen Willens genutzt wird, ist das der willkürliche Wille von irgendjemandem; und die Frage, wessen Wille es ist, ist offensichtlich von moralischer wie politischer Bedeutung. Doch diese Frage zu beantworten, ist hier nicht meine Aufgabe. Um meine gegenwärtige Aufgabe zu erfüllen, muß ich lediglich zeigen, wie die Moral einer bestimmten Art von Gebrauch zugänglich geworden ist und daß sie so gebraucht wird. (150-151; Hervorhebung im Original)
Und eben dies hat MacIntyre in der Tat gezeigt. Die emotivistische Kultur ist eine Kultur der Manipulation, in der die Sprache der Moral weithin zu einem Werkzeug im manipulativen Maskenspiel von Willen und Interessen herabgesunken ist. Das hat wohl niemand früher und deutlicher erkannt als Nietzsche. Und diese Einsicht erhebt Nietzsches Moralphilosophie in den Rang »einer der zwei echten theoretischen Alternativen [...], die sich jedem anbieten, der den moralischen Zustand unserer Kultur zu analysieren versucht« (151).