6.4 Tugenden und das gute Leben

Autor: Yusuf Kuhn -

Mit MacIntyres Wahl der aristotelischen Tradition geht freilich eine Reihe von Grundentscheidungen einher. Es ist daher nur konsequent, wenn MacIntyre mit der klassischen Frage nach dem guten Leben einsetzt, die er folgendermaßen einführt:

Was für ein Mensch soll ich werden? Das ist insofern eine unvermeidliche Frage, als eine Antwort darauf tatsächlich in jedem Menschenleben gegeben wird. (161; Hervorhebung im Original)

In der modernen Moral steht hingegen eine andere Frage im Zentrum, nämlich die Frage, welche Regeln und warum sie befolgt werden sollen. Durch die Verdrängung der Zecke werden Regeln zum wichtigsten Begriff der Moral. Für den modernen Liberalismus gilt bezeichnenderweise die Frage nach Sinn und Zweck des menschlichen Lebens, nach dem guten Leben als rational unentscheidbar und unlösbar. Sie wird daher der subjektiven Wahl und Willkür anheimgestellt. Wenn Tugend und Charakter somit ihren Bezug zum guten Leben verlieren, kommt ihnen keine weitere Funktion mehr zu, als zum Befolgen der richtigen Regeln anzuhalten. In der modernen Moral kommt den Tugenden daher eine von Regeln und Prinzipien lediglich abgeleitete Rolle zu.

Dieses Verhältnis möchte MacIntyre im Geiste der aristotelischen Tradition umkehren. Nicht die Regeln, sondern die Tugenden sollen an erster Stelle stehen, um die Funktionen und die Autorität der Regeln allererst darauf zu begründen. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Rechtfertigung des Tugendbegriffs nicht nur durch den Rückgang auf Aristoteles selbst, sondern auf seine gesamte Geschichte. MacIntyre macht sich mithin daran, »eine kurze Geschichte der Vorstellungen der Tugenden zu schreiben« (162). Das ist die positive oder konstruktive Seite von MacIntyres Moralkritik, der die zweite Hälfte von After Virtue gewidmet ist.

Die Wiederherstellung des aristotelischen Verständnisses des menschlichen Handelns und der Tugenden bringt die Wiedereinführung der Teleologie in die Ethik mit sich. Als zentrale Herausforderung erweist sich daher die Entwicklung einer moralischen Teleologie, die sich nicht länger einfach auf die metaphysischen Voraussetzungen des aristotelischen Denkens stützen kann, sondern an lebendige Erfahrungen anknüpfen muss, um den Problemen des gegenwärtigen Denkens gewachsen sein zu können. Ganz ohne metaphysische Annahmen wird dabei indes die Suche nach dem guten Leben, ja nach dem Guten überhaupt nicht auskommen können. Es ist hier nicht der Ort, um MacIntyre eingehend auf diesem Weg zu folgen. Daher soll es hier genügen, die kurze Zusammenfassung, die MacIntyre selbst von der zweiten Hälfte von After Virtue in Gestalt der fünften These in The Claims of After VirtueAlasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72. gegeben hat und auf die eingangs bereits kurz Bezug genommen wurde, nunmehr in Gänze wiederzugeben und anschließend kurz zu erläutern:

Kapitel 10 bis 14 von After Virtue liefern eine interpretative Geschichte der sich wandelnden Konzeptionen der Tugenden von der archaischen griechischen Gesellschaft, wie sie in den homerischen Dichtungen dargestellt wird, bis ins europäische Mittelalter. Die Geschichte ist dazu bestimmt, sowohl eine Herausforderung für Nietzsches genealogische Betrachtungsweise zu bieten wie auch das Material zur Identifizierung eines Kernkonzeptes der Tugenden, eine Identifikation, die eine Herangehensweise in Begriffen von drei unterschiedenen Stadien in der Ausarbeitung einer angemessenen Konzeption der Tugenden erfordert. Die Tugenden gehören zuerst zu all jenen Qualitäten, ohne die menschliche Wesen die Güter, die Praktiken inhärent sind, nicht erreichen können. Mit einer »Praktik« meine ich »jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind, mit dem Ergebnis, daß menschliche Kräfte zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen der involvierten Ziele und Güter systematisch erweitert werden.« (251-252) Solche Arten von Tätigkeiten wie Ackerbau und Fischen, das Betreiben von Wissenschaften und Künsten sowie das Spielen von Spielen wie Fußball und Schach sind Praktiken. Politik, wie Aristoteles sie verstanden hat und wie sie manchmal im institutionellen Leben in den antiken und mittelalterlichen Welten verkörpert war, war eine Praktik. Moderne Politik ist es nicht.

Diese Charakterisierung der Tugenden in Begriffen von Praktiken ist notwendig, aber nicht hinreichend für eine adäquate Spezifikation. Tugenden müssen auch als Qualitäten verstanden werden, die zur Erlangung der Güter erfordert sind, die menschliche Leben mit ihrem telos versorgen. Und ich argumentiere, dass die einigende Form eines individuellen menschlichen Lebens, ohne die solche Leben kein telos haben könnten, sich davon ableitet, dass es eine gewisse Art von narrativer Struktur besitzt. Individuelle menschliche Leben sind allerdings nur fähig, die Strukturen zu haben, die sie haben, weil sie in soziale Traditionen eingebettet sind. Und das dritte Stadium bei der Spezifizierung der Natur der Tugenden ist dasjenige, das erklärt, weshalb sie auch als Qualitäten verstanden werden müssen, die erfordert sind, um die andauernden sozialen Traditionen in guter Ordnung zu bewahren.Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, S. 5-6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 71-72.

Die in diesen wenigen Sätzen angedeutete These ist so voraussetzungsreich, komplex und inhaltsschwer, dass sie sich einer kurzen Zusammenfassung kaum erschließt. Es seien gleichwohl einige erläuternde Bemerkungen in aller Kürze angefügt.

MacIntyre zeichnet ein Bild der für moralisches Denken und Handeln notwendigen Voraussetzungen. Eine Tugend im Sinne der aristotelischen Tradition ist zugleich ein Mittel für ein gutes Leben wie auch ein Bestandteil eines guten Lebens. Das Verhältnis von Tugenden und menschlichem Leben wird mit dem Begriff der Praktik verdeutlicht, einer »kooperativen menschlichen Tätigkeit«, die interne Güter birgt. Ein internes Gut kann durch die Beschreibung der Praktik bestimmt werden. Wer die Praktik ausführt, macht sich mit dem internen Gut vertraut und vermag es immer deutlicher zu erkennen. Freilich können damit auch externe Güter, wie in vielen Fällen beispielsweise Macht und Reichtum, verfolgt werden. Externe Güter können auch unabhängig von einer bestimmten Praxis bestehen und erstrebt werden, im Gegensatz zu internen Gütern, die immer mit einer bestimmten Praktik verbunden sind.

Tugenden können nun dadurch bestimmt werden, dass sie Eigenschaften und Befähigungen darstellen, mit denen die internen Güter einer bestimmten Praktik erlangt werden können. Zur Erlangung von Tüchtigkeit in einer Praktik, die zugleich zu deren Aufrechterhaltung beiträgt, ist indes mehr als nur individuelle, sondern auch soziale Vortrefflichkeit erfordert, die sich in Tugenden im Umgang miteinander wie Ehrlichkeit, Gemeinsinn und Gerechtigkeit manifestiert.

Auf Praktiken bezogene Tugenden können freilich in moralischer Hinsicht neutral oder unerheblich sein. Um sie auf ihre moralische Bedeutsamkeit hin zu untersuchen, bezieht MacIntyre sie auf einen zentralen Begriff der aristotelischen Ethik: das gute Leben. Darin findet das menschliche Leben seine Einheit, so dass nicht nur von Gütern im Plural die Rede sein kann, sondern von dem guten Leben als übergeordnetem Gut. Um so verstanden werden zu können, muss das menschliche Leben über eine Einheit wie eine Erzählung verfügen, verstehbar sein und im Lichte von Verantwortlichkeit betrachtet werden können.

Damit menschliches Handeln aus der Innensicht des Handelnden wie auch aus der Außenperspektive verstehbar ist, muss es im Kontext einer Erzählung verstanden werden. Diese narrative Einheit kann indes dem Leben nicht lediglich nachträglich verliehen werden, sondern muss dieses selbst tragen, also erstrebt und gelebt werden.

So sagt MacIntyre:

Die Einheit eines menschlichen Lebens ist die Einheit einer narrativen Suche. (292)

Die Suche nach dem Sinn des Lebens verlangt mithin, sich zwischen verschiedenen Praktiken auf der Suche nach einem verständlichen und stimmigen Ganzen zu entscheiden. Dieses Streben kann sich freilich nicht darauf beschränken, die gesellschaftlich und historisch vorgegebenen Praktiken samt der darin enthaltenen Tugenden zu übernehmen, sondern muss sich vielmehr nach einer Vorstellung des guten Lebens als Ganzem richten.

MacIntyre legt dar:

Die Tugenden müssen daher als die Dispositionen verstanden werden, die nicht nur die Praxis aufrechterhalten und uns befähigen, die der Praxis inhärenten Güter zu erlangen, sondern die uns auch bei der relevanten Art von Suche nach dem Gut unterstützen, indem sie uns in die Lage versetzen, die Leiden, Gefahren, Versuchungen und Ablenkungen zu überwinden, denen wir begegnen, und die uns mit wachsender Selbsterkenntnis und wachsendem Wissen über das Gute ausstatten. (293)

Diese Vorstellung von Tugenden macht zudem nur Sinn in einem bestimmten Kontext, der gleichermaßen soziale wie gedankliche Voraussetzungen erfüllt. Tugenden bedürfen bestimmter Ideen wie auch Praktiken. Sie sind untrennbar miteinander verwoben. Güter und Tugenden sind auf einen Kontext von sozial etablierten Praktiken und Handlungsweisen angewiesen. Geht der soziale Kontext verloren, drohen auch die damit verwobenen Praktiken samt der in sie eingebetteten Güter und Tugenden ihren Sinn zu verlieren.

Offensichtlich wären zur Erläuterung und Ausarbeitung dieses Ansatzes einer Tugendethik umfangreiche Darlegungen erforderlich. MacIntyre hat, zum Teil auf Kritik reagierend, über die Jahre hinweg bis heute diesen Ansatz stetig weiterentwickelt. Es ist hier indes nicht der Ort, um darauf näher einzugehen. Daher muss dieser äußerst kurze Einblick genügen, der doch zumindest eine kleine Idee dieses groß angelegten Vorhabens zu vermitteln vermag, das gleichwohl eine ausführliche Auseinandersetzung verdient, die einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muss.