Vorwort

Autor: Yusuf Kuhn -
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 12

Liebe Leserin, lieber Leser,

die in diesem Buch versammelten Texte sind Teil eines größeren Projektes, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels und eine knappe Vorstellung des Projektes finden sich auf der Website des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden.

Das vorliegende Buch ist der zweite Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Bisher erschienen ist Band 1 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken. Yusuf Kuhn, Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken. Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken - Band 1, Hamburg, 2018; https://alastu.net/node/109. Weitere Bände sind in Vorbereitung und Planung.

Wie das Projekt als Ganzes so verstehen sich auch diese Texte als work in progress. Sie liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.

Der vorliegende Band 2 trägt den Titel Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat, der etwas rätselhaft erscheinen mag. Denn: Was ist wohl ein unmöglicher Staat? Dieser „unmögliche Staat“ im Titel verdankt sich einem Buch von Wael Hallaq Siehe Zur Person von Wael B. Hallaq im Anhang, S. 399. , das eben diesen Titel trägt und in diesem Band ausführlich dargestellt und behandelt wird: The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament. Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013. Dieser Titel lautet vollständig ins Deutsche übertragen: Der unmögliche Staat. Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität. Es gibt bislang leider keine deutsche Übersetzung dieses Buches, was neben der gewichtigen Bedeutung und Brisanz des Inhalts, in dessen Zentrum die Erörterung des modernen Staates und dessen Verhältnis zum Islam steht, eine eingehende Darstellung rechtfertigt.

Diese Darstellung füllt den ersten Teil, der mit Unmöglicher Staat? überschrieben ist, und damit etwa die Hälfte des Bandes. Im zweiten Teil mit dem Titel Unmögliche Moralphilosophie? werden im Anschluss an die Ausführungen von Wael Hallaq grundlegende moralphilosophische Fragen auf den Spuren der Moralphilosophen H. A. Prichard, Charles Taylor, Charles Larmore und insbesondere Alasdair MacIntyre behandelt.

Das erste Kapitel ist der Befassung mit Wael Hallaqs The Impossible State gewidmet und hat dessen Titel ererbt: Der unmögliche Staat. Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität. Hallaq vertritt die These, dass der moderne Staat und der Islam nicht vereinbar sind. Der unmögliche Staat (The Impossible State) des Titels ist also der moderne und zugleich islamische Staat. Die tieferen Gründe für diese Unvereinbarkeit liegen nicht, wie das Thema des Staates vermuten lassen könnte, allein auf der politischen Ebene, sondern im wesentlichen auf der moralischen Ebene. Daher besitzen in dieser Untersuchung moralphilosophische Überlegungen und insbesondere die Diagnose einer tiefen moralischen Krise der modernen westlichen Zivilisation einen zentralen Stellenwert. So erklärt sich auch der Untertitel: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament (Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität). Und diese Krise ist so tief, dass nicht nur der moderne islamische Staat, sondern der moderne Staat selbst und darüber hinaus das Überleben der Menschheit insgesamt fraglich werden.

Die Krise übergreift westliche und islamische Zivilisation. Sie strahlt vom Westen auf den ganzen Rest aus, ist universell und verlangt nach entsprechenden Lösungen. Schließlich haben, wie Hallaq resümiert, Muslime kein Monopol auf Krise. Welche Rolle spielt dabei der moderne Staat selbst und sein Verhältnis zum Islam? Welche Bedeutung kommt der moralischen Grundlagenkrise der westlichen Kultur und deren Verhältnis zum Islam zu? Gibt es einen Ausweg aus der universellen Krise? Hallaq wirft diese Fragen auf und stellt sich ihnen, übrigens nicht aus einer muslimischen Perspektive, sondern, wie er immer wieder betont, aus der Sicht eines Beobachters, der durch seine kulturübergreifenden Analysen diskursive Schnittstellen zwischen westlicher und islamischer Zivilisation schafft und so das Gespräch all derer befördert, die erkannt haben, dass die universelle Krise, welche die geistige wie die physische Existenz aller Menschen in einem Strudel der Sinnlosigkeit und Vernichtung zu verschlingen droht, nur durch gemeinsame Anstrengung und Verantwortlichkeit überwunden werden kann.

Für das Verständnis dieser These ist es von großer Wichtigkeit, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die Begründung, wie sie im Verlauf der Untersuchung vorgetragen wird, nicht ausschließlich auf der politischen Ebene verbleibt, sondern weit darüber hinausgeht, indem die Grundlagen des modernen Staates in den sehr viel weiter gefassten Strukturen des Projekts der Moderne verortet und auf dieser dann auch moralphilosophischen Ebene in ihrem Verhältnis zur Scharia verhandelt werden.

Das Projekt der Moderne und die moderne Gesellschaft selbst bedürfen der moralischen Erneuerung, zu der eine Wiederbelebung des islamischen Denkens und der Scharia einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten könnte, vorausgesetzt, dass das moderne Denken einer ernsthaften Prüfung und Kritik unterzogen wird. Wie sich zeigen wird, kann und muss dabei an die bereits geleistete interne Kritik angeknüpft werden, wodurch erstaunliche Überschneidungen und Parallelen kenntlich werden.

Die moderne Krise der Moral wird einer genaueren Untersuchung unterzogen. Die strukturellen und begrifflichen Grundlagen der modernen Moralphilosophie werden als die Wurzel der moralischen Misere ausgemacht, welche die Moderne in allen ihren Gestalten in Ost und West erfahren hat.

Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin.

Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.

Das zweite Kapitel enthält ein Interview mit Wael Hallaq mit dem Titel Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei. Hallaq behandelt darin umfassende Fragen hinsichtlich der moralischen und geistigen Grundlagen konkurrierender moderner Projekte. Im ersten Teil mit dem Titel Wissen als Politik mit anderen Mitteln beschäftigt er sich insbesondere mit dem Versagen westlicher Intellektueller, sich mit Gelehrten in islamischen Gesellschaften auseinanderzusetzen, wie auch mit den intellektuellen und strukturellen Herausforderungen, mit denen muslimische Gelehrte konfrontiert sind. Hallaq kritisiert zudem das zugrunde liegende hegemoniale Projekt des westlichen Liberalismus und seine unkritische Übernahme durch manche muslimische Denker.

Hallaq plädiert für eine engagierte Auseinandersetzung zwischen muslimischen Denkern und ihren westlichen Pendants, nicht nur für ein besseres westliches Verstehen des Islam, sondern auch für eine Erweiterung des Bereichs der intellektuellen Möglichkeiten innerhalb des euro-amerikanischen Denkens. Denn das islamische Denken hat einen großen Beitrag zur Bereicherung der Reflexionen über das Projekt der Moderne zu leisten, im Westen nicht weniger als im Osten.

Im zweiten Teil des Interviews mit dem Titel Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei geht Hallaq auf den Konflikt ein, den er in dem Verhältnis zwischen Gelehrten in der muslimischen Welt und der Tradition der westlichen Wissensproduktion erkennt. Er sieht dabei insbesondere eine unkritische Übernahme von westlichen intellektuellen Kategorien und Weisen der Wissensübermittlung entlang dessen, was er als »den Pfad der intellektuellen Sklaverei« bezeichnet. Er beschreibt das Unvermögen von Intellektuellen in der muslimischen Welt, das sich wandelnde Verhältnis zwischen Wissen und Macht in der Moderne zu erfassen. Aber tragen nicht auch die westlichen Intellektuellen einen Teil der Verantwortung dafür? Nur ein ernstliches Gespräch über die vermeintlichen Grenzen von Zivilisationen und Kulturen hinweg kann Auswege aus der globalen Krise eröffnen.

Der zweite Teil, der unter dem Titel Unmögliche Moralphilosophie? steht, erkundet die Frage, was die moderne Moralphilosophie zur Suche nach diesem Ausweg beizutragen hat. Wie steht es um das Projekt der Begründung einer modernen Moral? Liefert es eine moralphilosophische Grundlage oder ist es an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert? Kann das moderne Unterfangen einer rationalen Rechtfertigung der Moral überhaupt gelingen oder musste es scheitern? Unmögliche Moralphilosophie?

Das dritte Kapitel wirft die Grundfrage einleitend auf: Moderne Moralphilosophie – Ausweg oder Irrweg? Auf der Suche nach einem Ausweg aus der moralischen Misere begeben wir uns im Anschluss an Hallaqs Überlegungen auf den Weg einer moralphilosophischen Grundlagendiskussion. Die globale Krise verlangt einen globalen Blick. Die Tiefe ihrer Ursachen erfordert zudem eine grundsätzliche Erörterung des modernen Moralverständnisses weit über die bloß politischen Dimensionen des »unmöglichen Staates« hinaus. Und die zu behandelnden Probleme betreffen keineswegs lediglich dessen »islamische« Gestalt, sondern den modernen Staat selbst. Das Projekt der Moderne samt dem mit ihm untrennbar verbundenen Versuch einer Neufassung der Moral muss daher einer gründlichen Kritik unterzogen werden. Denn die grundlegendsten Probleme des modernen Islam sind nicht ausschließlich islamisch, sondern wohnen in der Tat gleichermaßen dem modernen Projekt selbst in Ost und West inne.

Hallaq stellt in seiner Krisendiagnose insbesondere zwei Probleme heraus, die als Grundbausteine der modernen Moralphilosophie eng miteinander verbunden sind: einerseits die Trennung von Sein und Sollen sowie andererseits das Projekt einer rationalen Begründung der Moral. Bei der Erörterung dieser Fragen stützt Hallaq sich vor allem auf die Untersuchungen von vier herausragenden Vertretern der modernen Moralphilosophie, die mehr oder weniger grundsätzliche Kritiken am modernen Moralverständnis entwickelt haben, namentlich Harold A. Prichard, Charles Larmore, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre. Die Kapitel des zweiten Teils folgen Hallaq auf diesem Weg, um seine Ausführungen allerdings in einigen wesentlichen Belangen zu vertiefen und zu erweitern.

Das vierte Kapitel greift insbesondere die Frage nach und der Sinnhaftigkeit des Projekts der modernen Moralphilosophie und ihrer Weise der Moralbegründung auf: Moralphilosophie – ein Irrtum? Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit Prichards einflussreichem Aufsatz Harold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 21-37. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 49–68. aus dem Jahr 1912 mit dem provokanten Titel Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum? Prichard verficht darin die These von der Unmöglichkeit einer rationalen Begründung der Moral. Gibt es überhaupt so etwas wie Moralphilosophie? Kann es sie überhaupt geben? Wenn ja, in welchem Sinne? Für Prichard jedenfalls steht fest: Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum! Und daher ist schon der Versuch einer Begründung der Moralphilosophie zum Scheitern verurteilt. Wie gelangt Prichard zu diesem Ergebnis? Welche Voraussetzungen macht er? Was versteht er unter »Moralphilosophie«? Von welchem Irrtum und Scheitern ist hier die Rede?

Die Argumente von Prichard mögen nicht immer überzeugend sein und die von ihm vorgeschlagene Lösung, der intuitionistische Ansatz, mag sogar unplausibel erscheinen, aber seine Überlegungen sind gewiss bezeichnend und aufschlussreich für die geistige Situation, in der sich die moderne Moralphilosophie befindet. Und er hat seine Wirkung getan, indem er neben der klassischen Frage nach der Begründung von Inhalten der Moral eine andere Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, die sich unter den Bedingungen einer modernen Moral besonders stark aufdrängt: Warum überhaupt moralisch sein?

Das fünfte Kapitel befasst sich unter dem Titel Moral, Vernunft und Gründe mit Charles Larmores Kritik an Grundgedanken der modernen Moralphilosophie, insbesondere in ihrer an Kant angelehnten Gestalt. Mit Prichard verbindet ihn dabei die These, dass der Versuch einer Begründung der Moral aus bloßer Vernunft nicht gelingen kann. Die Vernunft, wenn sie denn moralisch wirksam werden können soll, bedarf gewissermaßen der Unterstützung von außen, aus einem Bereich, der zudem über eine gewisse Selbständigkeit verfügt. Was bei Prichard moralische Intuitionen sind, wird bei Larmore daher zu moralischen Gründen.

Während Prichard der Vernunft lediglich eine sehr begrenzte Rolle zuweist, entwickelt Larmore eine wesentlich anspruchsvollere Konzeption der Vernunft, die letzterer in ihrem komplexen Wechselspiel mit dem unabhängigen Bereich des Moralischen größeres Gewicht verleiht. Bei allen Unterschieden lassen beide Konzeptionen sich als moralischen Realismus bezeichnen. Die objektiven Gründe, auf welche die Vernunft angewiesen ist, wurzeln nach Larmore in einer normativen Ordnung von Gründen, die ihn von einem Platonismus der Gründe sprechen lässt. Aus der Ablehnung der kantischen Moralkonzeption und der Entscheidung für den moralischen Realismus ergibt sich in Gegenüberstellung zur Ethik der Autonomie Larmores Formel von der Autonomie der Moralität.

Die Vernunft verliert damit ihren Status autonomer Spontaneität und wird zu einem heteronomen und rezeptiven Vermögen, das für Gründe empfänglich ist, die ihr von außen vorgegeben werden. Mit dieser Konzeption wendet sich Larmore gegen die vorherrschende Strömung in der modernen Moralphilosophie, die sich in der Nachfolge Kants bis heute, wie etwa auch in der Diskursethik, in einer Verbindung von Naturalismus und Vernunftautonomie den zahllosen Versuchen einer Neuauflage verschrieben haben, die noch auf jedes Scheitern dieses Ansatzes gefolgt sind.

Wer darin unzulässige Metaphysik wittert, dem erwidert Larmore, dass doch jeder, ob eingestanden oder nicht, seine Metaphysik, seine Auffassung von der Welt im Ganzen und von dem Platz des Menschen darin, hat, und es es vor allem darauf ankommt, Metaphysik verantwortlich zu betreiben, insbesondere wenn man sich mit solchen Grundfragen wie der nach der Natur der Vernunft befasst. Kann Larmore seinem Anspruch einer verantwortlichen Metaphysik gerecht werden? Wie weit reicht seine Kritik der modernen Moralphilosophie tatsächlich? Wie fasst er das Verhältnis von Moral, Vernunft und Gründen?

Das sechste Kapitel geht der Frage nach der Verfassung der modernen Moral und Moralphilosophie weiter auf den Grund: Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition. Kaum ein anderer hat die Krise der modernen Moral so gründlich ausgelotet wie Alasdair MacIntyre. In seinem 1981 erschienen Buch After Virtue Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007 (1. Auflage 1981); deutsche Übersetzung von Wolfgang Rhiel: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995 (1. Auflage 1987). (wörtl.: Nach der Tugend) führt er die Krise der modernen Moral auf eine Entwicklung in der Dimension einer historischen Katastrophe zurück, welche die Moral und Moralphilosophie weit mehr als nur in ihren Grundfesten erschüttert, so dass in ihrer modernen Gestalt lediglich einige Überreste der vergangenen Moral als fiktionale Bruchstücke bestehen bleiben.

Hallaq greift die Grundgedanken und die Konzeption von MacIntyre auf, indem er sie in seinem Sinne weiterentwickelt und modifiziert. Kein anderer Denker dürfte in seiner Auseinandersetzung mit der modernen Moralphilosophie in Impossible State auch nur annähernd einen ähnlichen Stellenwert einnehmen. Daher rechtfertigt sich eine ausführliche und gründliche Befassung mit MacIntyres Denken. Sie ist für ein besseres Verständnis von Hallaqs Denken in Impossible State unerlässlich, da dessen Grundstruktur auf diese Weise in besonders deutlichen Konturen hervortritt.

Unter den Bedingungen der Krise der modernen Moral gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin.

Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational.

MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.

Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.

Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten, wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.

Es handelt sich also um ein Projekt, das gar nicht anders als gemeinsam verwirklicht werden kann. Und MacIntyre kommt dabei gewiss eine gewichtige Rolle zu. Das ist der Grund, warum eine eingehende Auseinandersetzung mit seinem Denken geboten ist, zu der hier ein weiterer und vertiefender Schritt beigetragen werden soll.

Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Welche Ressourcen stehen dem islamischen Denken zur Verfügung, um einen Beitrag zur gemeinsamen Suche nach einem Ausweg aus der globalen Krise der Moral leisten zu können?

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Mein Dank gilt all denen, die mich durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt, mitunter über viele Jahre, unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern des VDM Verein für denkende Menschen e.V., Website: vdmev.de , die mir mit ihrer großmütigen Unterstützung in allerlei Gestalt stets tatkräftig zur Seite standen. Möge Allāh es ihnen allen reichlich lohnen und unser Projekt mit Seinem Beistand zum Gelingen führen!

März 2019 / Radschab 1440                                                              Yusuf Kuhn

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