6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit

Autor: Yusuf Kuhn -

Dieser Frage wendet sich MacIntyre im folgenden Kapitel 3 zu, das den Titel trägt: Emotivismus: Sozialer Inhalt und sozialer Kontext. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass jede Moralphilosophie, auch der Emotivismus, eine Soziologie voraussetzt. Mit dem Begriff der Soziologie wird hier die Weise bezeichnet, in der die Moralphilosophie ihre mögliche Umsetzung in die gesellschaftliche Wirklichkeit sowie insbesondere den Begriff des Handelns und des Handelnden versteht. MacIntyre erläutert dies folgendermaßen:

Denn jede Moralphilosophie liefert explizit oder implizit zumindest teilweise eine Begriffsanalyse der Beziehungen zwischen einem Handelnden und seinen Beweggründen, Motiven, Absichten und Handlungen, und indem sie das tut, setzt sie generell voraus, daß diese Begriffe in die wirkliche soziale Welt eingefügt sind oder zumindest sein können. (41)

Der Emotivismus, im Lichte seines sozialen Gehalts betrachtet, reduziert den Handelnden auf ein losgelöstes und entleertes Selbst mit einem »gewissen abstrakten und geisterhaften Charakter« (53), das aller Kriterien zur Beurteilung seiner somit völlig willkürlichen Entscheidungen beraubt ist, und führt zur Auflösung »jeder echten Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen« (41). Die gesellschaftlichen Anderen sind stets Mittel, niemals Zweck. Der Gesprächspartner wird nicht als vernünftiges Wesen erachtet, das mit Gründen zu überzeugen ist, sondern als Objekt, das mittels manipulativer Beeinflussung zu überreden ist. Denn die Unterscheidung zwischen vernünftiger Überzeugung und bloßer Überredung verliert jeglichen Halt und wird trügerisch, wenn eine wertende Äußerung keinen anderen Sinn hat, als einerseits die eigenen Gefühle und Haltungen zum Ausdruck zu bringen und andererseits auf Veränderungen der Gefühle und Haltungen anderer hinzuwirken. Der moralische Diskurs stellt dann nichts anderes dar als den »Versuch eines Willens, die Haltungen, Gefühle, Vorlieben und Entscheidungen eines anderen mit den eigenen in Einklang zu bringen.« (42) Auf Maßstäbe normativer Vernunft und objektive Kriterien kann man sich nicht berufen, wenn es diese schlicht nicht gibt. Die unausweichliche Folge des Emotivismus ist daher die Selbstzerstörung von Moral und Ethik.

Das ist die allgemeine Antwort auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft, durch die emotivistische Brille betrachtet, darstellen würde. Unterschiede ergeben sich sodann durch bestimmte soziale Kontexte. Dabei sind für MacIntyre soziale Rollen von besonderer Bedeutung, die eine Kultur mit moralischen Vorstellungen versorgen und die er als Charaktere bezeichnet. Die Charaktere in einer emotivistischen Kultur teilen die Aufhebung der Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen sowie die Unterscheidung zwischen rationalem und nicht-rationalem Diskurs und verkörpern diese Vorstellungen in verschiedenerlei sozialen Kontexten.

6.3.4.1Ästhet, Manager und Therapeut

Die drei wichtigsten sozialen Charaktere der emotivistischen Kultur sind laut MacIntyre der reiche Ästhet, der Manager und der Therapeut, die ausführlich beschrieben werden. Da es für sie keinen rationalen Diskurs über moralische Fragen geben kann, Konflikte zwischen Werten sich also nie durch vernünftige Argumentation lösen lassen, begeben sie sich freilich nie in ernsthafte moralische Debatten mit anderen. Für sie zählt einzig die willkürliche Entscheidung, die durch moralische Kriterien nicht in Frage gestellt werden kann und schlicht durchgesetzt werden muss. Der einzige Maßstab ist der Erfolg bei ihren Bemühungen, andere zu Handlungen und Haltungen zu veranlassen, die den von ihnen vorgegebenen Plänen und Zwecken entsprechen. Der moralische Instrumentalismus mit seinen rein manipulativen Bestrebungen triumphiert, indem er kein anderes Kriterium als die effektive Wirksamkeit erlaubt.

Der Ästhet bedient sich der anderen in ruhelosem Streben nach Lustgewinn zu seinem eigenen Vergnügen. Der Manager bewegt sich in bürokratischen Komplexen in Form sowohl privater Gesellschaften als auch staatlicher Behörden und verfolgt die Realisierung vorgegebener Zwecke mit knappen Mitteln im Rahmen bürokratischer Rationalität; Effektivität ist sein Zauberwort. Der Therapeut vertritt die instrumentelle Vernunft im Bereich des persönlichen Lebens, indem er im Rahmen vorgegebener Ziele Techniken zur »wirksamen Umwandlung neurotischer Symptome in gelenkte Energie, fehlangepaßter Individuen in richtig angepaßte« (50) an menschlichen Objekten zur manipulativen Anwendung bringt; psychologische Effektivität ist sein Leitstern.

MacIntyre führt dazu aus:

Weder der Manager noch der Therapeut beteiligen sich in ihrer Rolle als Manager beziehungsweise Therapeut an der moralischen Debatte. Sie werden von sich selbst und von denen, die sie praktisch mit den gleichen Augen sehen, als unanfechtbare Figuren betrachtet, die sich angeblich auf die Bereiche beschränken, in denen rationale Übereinstimmung möglich ist - das sind, selbstverständlich aus ihrer Sicht, der Bereich der Tatsachen, der Bereich der Mittel und der Bereich der meßbaren Wirksamkeit. (50)

6.3.4.2Das moderne Selbst

Das moderne Selbst geht allerdings nicht in den sozialen Rollen auf, sondern zeichnet sich vielmehr durch die Fähigkeit aus, diese und jede andere Rolle und Haltung nach Belieben einnehmen zu können. Denn es verfügt letztlich über keine Kriterien für seine Urteile, so dass ihm alles zur willkürlichen Entscheidung wird. MacIntyre bemerkt dazu:

Das spezifisch moderne SelbstEigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wird »The specifically modern self [...]« (After Virtue, S. 31) hier statt dessen übersetzt mit: »Das im eigentlichen modernen Selbst (sic!) [...]«., das Selbst, das ich emotivistisch genannt habe, kennt keine Grenzen für das, worüber es urteilen könnte, denn derartige Grenzen könnten sich nur aus rationalen Berwertungskriterien (sic!)Richtig wäre freilich: »Bewertungskriterien«. herleiten, und dem emotivistischen Selbst fehlen, wie wir gesehen haben, alle derartigen Kriterien. Alles kann von jedem Standpunkt aus, den das Selbst eingenommen hat, kritisiert werden, auch die Wahl des Standpunktes, den das Selbst einnimmt. (51)

Dieses entleerte, jeglichen Inhalts und aller Identität beraubte Selbst der emotivistischen Kultur haben allerdings einige moderne Philosophen – analytische wie existentialistische - »als das Wesen moralischen Handelns betrachtet.« (51) Dieses Selbst ist aus allen sozialen Bezügen herausgelöst und dazu verdammt, seine Urteile ohne jeglichen Anhaltspunkt »von einem rein uni­versellen und abstrakten Standpunkt aus zu fällen« (52). Hier wird der Gegensatz zwischen dem moralischen Handeln, das keinerlei rationalen Kriterien unterliegt, und dem instrumentellen Handeln der Manager und Therapeuten, das an rationalen Kriterien der Effizienz gemessen wird, offenkundig.

MacIntyre beschreibt diesen Gegensatz pointiert:

Im Reich der Tatsachen gibt es Verfahren, Meinungsunterschiede zu beseitigen; im Reich der Ethik wird die Unüberwindbarkeit von Meinungsunterschieden durch den Titel »Pluralismus« geadelt. Dieses [...] Selbst, das keinen notwendigen sozialen Inhalt und keine notwendige soziale Identität hat, kann jede Rolle annehmen oder jeden Standpunkt beziehen, weil es für sich genommen nichts ist. (52)

Da das emotivistische Selbst keine letzten Kriterien hat, kann es auch keine rationale Geschichte für Entwicklung und Wandel seiner Auffassungen von moralischer Verpflichtung haben. Innere Konflikte müssen ihm als völlig willkürliche Entgegensetzungen konkurrierender Positionen erscheinen. Das Selbst verliert damit jede Kontinuität und Identität, die ihm allererst erlauben würden, sein Leben als sinnvolles Ganzes zu erfassen.

In vormodernen Gesellschaften war die persönliche Identität auch durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Rollen bestimmt. Und das Leben wurde als Einheit betrachtet, das im Tod als telos (Ziel) des Lebens Abschluss und Erfüllung finden kann. Die Auflösung dieser Vorstellungen führt zur Herausbildung des modernen Individuums, wobei dieser Prozess nicht als Verlust empfunden wird, sondern als Befreiung von sozialen Zwängen einerseits und vom Aberglauben der Teleologie andererseits. Doch die für das emotivistische Selbst gewonnene Autonomie als Individuum ist erkauft um den Preis des Verlusts von Identität und Sinn des Lebens.

MacIntyre beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen:

[…] das eigentlich moderne Selbst, das emotivistische Selbst, [verlor] mit der Souveränität in seinem eigenen Reich seine traditionellen Grenzen [...], die durch die soziale Identität und die Sichtweise des einem bestimmten Ziel zugeordneten menschlichen Lebens gezogen worden waren. (55)

Diesem grenzenlosen emotivistischen Selbst stehen die sozialen Charaktere gegenüber, die in enge Strukturen instrumenteller Rationalität fest eingebunden sind. Diesem Gegensatz entspricht die Zweiteilung der Gesellschaft in den Bereich des Organisatorischen, in dem zwar die Mittel innerhalb, aber die Ziele außerhalb der Reichweite vernünftigen Denkens liegen, und den Bereich des Persönlichen, in dem Urteile und Erwägungen über Ziele und Werte zwar von größter Bedeutung sind, aber Probleme und Konflikte sich jeglicher rationalen Lösung entziehen.

Diese Zweiteilung prägt die modernen Gesellschaften, die gleichwohl beides in einem ständigen Wechselspiel miteinander verbinden. Denn es wäre falsch, sich durch die politischen Debatten auf der Oberfläche täuschen zu lassen, wie MacIntyre darlegt:

Solche Debatten werden oft im Sinne eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Individualismus und Kollektivismus geführt, die beide in einer Vielzahl doktrinärer Formen auftreten. Auf der einen Seite erscheinen die selbsternannten Vorkämpfer der individuellen Freiheit, auf der anderen die selbsternannten Vorkämpfer der Planung und Regulierung der Güter, die durch bürokratische Organisation verfügbar sind. Aber tatsächlich entscheidend ist das, worin sich die miteinander streitenden Parteien einig sind, daß uns nämlich nur zwei alternative Formen sozialen Lebens zur Verfügung stehen: eine, in der die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen souverän sind, und eine, in der die Bürokratie so souverän ist, daß sie die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen einschränken kann. […] So ist die Gesellschaft, in der wir leben, eine Gesellschaft, in der Bürokratie und Individualismus sowohl Partner als auch Gegner sind. Und im kulturellen Klima dieses bürokratischen Individualismus ist das emotivistische Selbst ganz selbstverständlich zu Hause. (55-56)

So ist die moderne Gesellschaft eine Ansammlung von losgelösten Individuen, die ohne Regeln für ihr individuelles Verhalten zugleich in bürokratische Apparate eingespannt sind, welche die Regellosigkeit der Eigeninteressen in das harte Gehäuse einer rationalen Verwaltung zwängen. Die Suche nach einem Ausgleich dieser Gegensätze kann sich aufgrund der beiderseitigen Irrationalität der Zwecke nicht auf einer vernünftigen Grundlage vollziehen.

Jenseits der Optionen für individuelle Autonomie und bürokratische Kontrolle gibt es keine Alternative. Die willkürlichen Zwecke der Individuen und der Apparate stehen sich rational unvermittelt und unvermittelbar gegenüber, so dass Debatten und Konflikte zwangsläufig ohne vernünftige Lösung bleiben und zu Fragen der Macht degenerieren müssen.