6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt

Autor: Yusuf Kuhn -

Im nächsten Schritt untersucht MacIntyre daher den Begriff der Tatsache, dessen Entstehung eng mit dem Erscheinen nicht nur des Experten, sondern auch des autonomen moralischen Subjekts verknüpft ist. Das folgende Kapitel trägt demgemäß den Titel »Tatsache«, Erklärung und Expertentum.

Die Vorstellung von nackten Tatsachen, die sich einer vorurteilslosen Beobachtung oder Beschreibung darbieten, ist gewiss hartnäckig und langlebig, wird aber in den Reihen der Wissenschaftsphilosophen schon seit geraumer Zeit fast einmütig als Irrtum anerkannt. Es gibt keine theoriefreie Beobachtung. Und Tatsachen gehen der Theorie nicht einfach voraus, sondern setzen allerlei Grundannahmen theoretischer Natur voraus, wie MacIntyre in Anspielung auf Kants berühmte Aussage über das Verhältnis von Anschauung und Begriff in der Kritik der reinen VernunftSiehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Band III, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1982, S. 98. Dort heißt es: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« darlegt:

Was ein Beobachter wahrzunehmen glaubt, ist gekennzeichnet und muß gekennzeichnet werden durch theoriebeladene Begriffe. Wahrnehmende ohne Begriffe sind, wie Kant sinngemäß sagte, blind. (111)

Folglich gibt es keine neutrale und unpersönliche Berufung auf objektive Fakten, auf die der Manager seinen Anspruch auf Effektivität stützen könnte. Jedes Expertentum, das sich auf Wissen und Erkenntnis von Fakten beruft, kann in diesem Sinne nie wirklich objektiv und neutral sein, da in seine Vorannahmen immer schon parteiliche Wertungen und Entscheidungen ein­fließen.

Im aristotelischen Denken wird menschliches Handeln immer im Lichte von »Zweckursachen« betrachtet. Für die Erklärung und das Verständnis menschlichen Handelns kann dabei auf solche Begriffe wie Überzeugung, Absicht, Grund und Zweck nicht verzichtet werden. Ebendieser Verzicht wird jedoch in den modernen Wissenschaften mit dem Ideal der rein mechanischen Erklärung auch in Bezug auf des menschliche Handeln versucht. In der mechanistischen Wissenschaft des menschlichen »Verhaltens« werden alle Bezüge auf Absichten und Zwecke eliminiert und das reiche Arsenal aristotelischer Ursachen auf eine einzige zulässige Art reduziert, nämlich die mechanische Wirkursache. Eine derart zurechtgestutzte Humanwissenschaft bedarf nun, wie alle anderen Naturwissenschaften des gleichen Schlages, allgemeiner Gesetze, um daraus Erklärungen und Voraussagen über menschliches Verhalten ableiten zu können.

MacIntyre erläutert:

Die Erklärung des Handelns wird immer häufiger als Aufgabe betrachtet, die physiologischen und physischen Mechanismen offenzulegen, die dem Handeln zugrunde liegen; und als Kant erkennt, daß eine tiefe Unvereinbarkeit besteht zwischen der Darstellung des Handelns, das die handlungsleitende Rolle des moralischen Imperativs anerkennt, und jeder derartigen mechanischen Erklärungsform, wird er zu dem Schluß gezwungen, daß Handlungen, die dem moralischen Imperativ folgen und ihn verkörpern, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unerklärbar und unverständlich sein müssen. Nach Kant wird die Frage der Beziehung zwischen Vorstellungen wie Absicht, Zweck, Grund des Handelns u.ä. einerseits und Begriffen, die die Vorstellung einer mechanischen Erklärung spezifizieren, andererseits Bestandteil des ständigen Repertoires der Philosophie. (115)

Aus diesem Gegensatz entwickelt sich die Aufteilung in verschiedene Bereiche des modernen Wissens, wie beispielsweise im Fächerkanon der Universität die Sonderstellung der Ethik und Moralphilosophie gegenüber den Human- und Sozialwissenschaften.

Das Paradigma für eine solche Wissenschaft des Menschen liefert die newtonsche Physik mit ihren vermeintlich universal gültigen Gesetzen für die ganze Natur. Das Projekt der Entwicklung einer mechanistischen Wissenschaft des menschlichen Verhaltens strebt somit nach der Entdeckung entsprechender Gesetze, nach »Unveränderlichkeiten, die durch gesetzesgleiche Verallgemeinerungen spezifiziert werden« (115).

Dieses Projekt einer Wissenschaft von der Gesellschaft nach dem Modell der newtonschen Physik ist freilich nie über den Status eines Projektes hinausgekommen, ohne auch nur ansatzweise einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Es hat sich, ganz im Gegenteil, vielmehr als haltloser Traum erwiesen. Der Traum ist deshalb gleichwohl keinesfalls ausgeträumt. Dass das Projekt nicht verwirklicht worden ist, hält viele Sozialwissenschaftler keineswegs davon ab, so zu tun, als sei ebendiese Verwirklichung geschehen.

Handelt es sich bei der von ihnen behaupteten Anwendung der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten indes wirklich um die Anwendung einer echten Technologie oder vielmehr um die theatralische Nachahmung einer solchen Technologie?

MacIntyre bemerkt dazu:

Die Antwort hängt davon ab, ob wir glauben, daß das mechanistische Programm in den Sozialwissenschaften tatsächlich vollständig verwirklicht wurde oder nicht. Und im 18. Jahrhundert blieb zumindest die Vorstellung einer mechanistischen Wissenschaft vom Menschen Programm und Prophezeiung. Aber Prophezeiungen werden auf diesem Gebiet unter Umständen nicht real verwirklicht, sondern in einer sozialen Ausführung umgesetzt, die sich als Verwirklichung ausgibt. (118)

Der Aufstieg des bürokratischen Managers, sowohl im staatlichen als auch im privatwirtschaftlichen Bereich, beruht auf zwei Säulen: der Behauptung von Objektivität und Wertneutralität einer Welt der Tatsachen – eine Vorstellung, die sich bereits als unhaltbar erwiesen hat – einerseits und dem Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt andererseits.