Bevor wir sogleich näher auf MacIntyres Denken eingehen, mag es förderlich sein, in Erinnerung zu rufen, wie Hallaq an einigen Stellen ausdrücklich darauf Bezug nimmt. Dazu haben wir etwa im Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen bereits folgendes festgestellt:
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin […] Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
Siehe den Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen, S. 51 f.
Und in einem weiteren Abschnitt verweist Hallaq nicht nur auf Übereinstimmungen, sondern auch auf einen wesentlichen Unterschied, was wir folgendermaßen erläutert haben:
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Siehe den Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen, S. 53 f.
Im Abschnitt Paradigma und islamische Gouvernanz wird wiederum auf eine wichtige strukturelle Analogie hingewiesen:
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre.
Siehe den Abschnitt Paradigma und islamische Gouvernanz, S. 57.
Schließlich sei noch eine letzte Stelle, diesmal in Hallaqs eigenen Worten, zur Erinnerung gebracht, die auf besonders eindringliche Weise nicht nur die enge Verwandtschaft der beiden Projekte aufzeigt, sondern darüber hinaus deutlich macht, dass sie aufeinander bezogen und angewiesen sind:
Mit anderen Worten, selbst während dieses anfänglichen Prozesses der Bildung von moralisch gegründeten Gemeinschaften gibt es vieles, was Muslime tun können,
Hallaq verweist an dieser Stelle in einer Fußnote als Beispiel auf das Werk von Taha Abdurrahman. um zur Reformierung moderner Moralitäten beizutragen. Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick kühn und weit hergeholt erscheinen, aber er ist es nicht, denn es gibt zumindest eine bedeutende moralische Strömung der westlichen Philosophie und des westlichen politischen Denkens, die eine weitgehende Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen islamischen Streben aufweist, da es geistige Energie zur postmodernen Kritik beisteuert, wie problematisch modern diese Kritik auch bleiben mag. Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten, wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.
Die ausschlaggebenden Fragen bleiben daher: Können diese Kräfte auf allen Seiten ihren Ethnozentrismus überwinden und sich zusammenschließen bei der Infragestellung des modernen Projekts und seines Staates? Können die Taylors genug geistigen Mut aufbringen, MacIntyres zu werden? Können sie alle, Westler und Nicht-Westler, den gefährlichen und bösartigen Mythos des Zusammenstoßes der Zivilisationen demontieren? Können sie ihre moralische Kraft und Stärke so steigern, um einen Sieg herbeizuführen, der das Moralische zum Zentralgebiet der Weltkulturen erhebt, ungeachtet ihrer »zivilisatorischen« Varianten? Denn genauso wie es keine islamische Gouvernanz ohne einen solchen Sieg geben kann, wird es von vornherein keinen Sieg geben, ohne dass die Modernität ein moralisches Erwachen erfährt. Das muss erst noch geschehen.
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 172 f.; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 169-170.