Hallaq bezieht sich bei seinen Überlegungen zu den Grundlagen der Moral vor allem auf vier Autoren, zu denen neben Charles Larmore, Alasdair MacIntyre und Charles Taylor auch H. A. Prichard gehört, deren Auffassungen wir nun näher betrachten wollen. Der Anfang sei mit Prichard gemacht, der von Hallaq zwar von den genannten Autoren vergleichsweise weniger in Anspruch genommen wird, dessen einflussreicher Aufsatz
Wie Prichard und Larmore – und allgemeiner mit ihnen Taylor und MacIntyre, unter anderen – in der Tat vorgebracht haben, ist es unmöglich, unseren Weg zur Moralität mittels autonomer Rationalität zu begründen, die, wie wir gesehen haben, auf dem kantischen Begriff der Freiheit basiert. Prichard hat argumentiert, dass dieser wesenhaft kantische Ansatz »zum Scheitern verurteilt« ist, weil er auf »dem Irrtum« beruht, »zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann.«
Siehe S. 161; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 164.
Die Stelle, die Hallaq hier auszugsweise zitiert, findet sich gegen Ende des Aufsatzes von Prichard, der darin das Ergebnis seiner Untersuchung zusammenfasst. Sie lautet in vollem Wortlaut:
Wenn, wie es fast überall der Fall ist, unter »Moralphilosophie« jenes Wissen zu verstehen ist, das dieses Verlangen erfüllen würde, dann gibt es kein solches Wissen, und alle Versuche, es zu erlangen, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie auf einem Irrtum beruhen, nämlich dem Irrtum zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann. (Prichard, S. 68)
Schon der Versuch einer Begründung der Moralphilosophie im Sinne der Erkenntnis eines bestimmten Wissens ist demzufolge zum Scheitern verurteilt, weil ein solches Wissen sich nicht durch einen mittelbaren Beweis erlangen lässt, sondern lediglich durch einen Akt der unmittelbaren Einsicht. Wir wollen nun näher zusehen, wie Prichard eigentlich zu diesem Ergebnis gelangt. Welche Voraussetzungen macht er? Was versteht er unter »Moralphilosophie«? Von welchem Verlangen und Wissen ist hier die Rede?
Prichard beginnt seine Überlegungen, indem er einen Umstand konstatiert, der vielen, die sich ernsthaft um Rat und Aufschluss fragend an die Moralphilosophie gewandt haben, bekannt sein dürfte:
Es kommt wahrscheinlich für die meisten, die sich mit Moralphilosophie beschäftigen, eine Zeit, wo sie ein unbestimmtes Gefühl der Unzufriedenheit mit dem gesamten Gegenstande verspüren. Und dieses Gefühl der Unzufriedenheit nimmt gewöhnlich eher zu als ab. Dies liegt nicht so sehr daran, daß die Positionen oder gar die Argumente einzelner Denker nicht überzeugend scheinen - obwohl dies sicher stimmt - sondern vielmehr daran, daß das Ziel der ganzen Sache zunehmend unklar wird. »Was«, so wird gefragt, »lernen wir denn wirklich durch die Moralphilosophie?« (Prichard, S. 49)
Nicht nur ist die Geschichte der Moralphilosophie von zahllosen Versuchen, bestimmte Positionen zu begründen, die sich früher oder später allesamt als haltlos erwiesen haben, gekennzeichnet, sondern das damit verfolgte Ziel selbst verliert zunehmend an Klarheit. Prichard gelangt daher zu der Vermutung, dass die Moralphilosophie lediglich eine Scheinfrage zu beantworten versucht und daher auf einem Irrtum beruht. Worin besteht diese Scheinfrage? Und welche Aufgabe ergibt sich für die Moralphilosophie daraus?