Der Moralphilosophie kommt dabei keine Rolle zu. Sie kann die ihr zugeschriebene Aufgabe nicht erfüllen. Die provokative Titelfrage des Aufsatzes ist also ganz klar zu beantworten: Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum!
Die Argumente von Prichard mögen nicht immer überzeugend sein und die von ihm vorgeschlagene Lösung, der intuitionistische Ansatz, mag sogar unplausibel erscheinen, aber dieser Aufsatz ist gewiss bezeichnend und aufschlussreich für die geistige Situation, in der sich die moderne Moralphilosophie befindet. Und er hat seine Wirkung getan, indem er neben der klassischen Frage nach der Begründung von Inhalten der Moral eine andere Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, die sich unter den Bedingungen einer modernen Moral besonders stark aufdrängt: Warum überhaupt moralisch sein?
Bayertz schreibt dazu, indem er diese Frage abgekürzt als W-Frage bezeichnet:
Prichards Überlegungen sind eindrucksvoll und haben maßgeblich dazu beigetragen, die W-Frage zu einem Schlüsselthema der nachfolgenden Moralphilosophie werden zu lassen.
Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Kap. 6.
Die Unmöglichkeit, im Rahmen der modernen Moralphilosophie eine Antwort auf die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« zu finden, führten Prichard und andere Intuitionisten in einen »intuitionistischen Antirationalismus«, den Bayertz folgendermaßen charakterisiert:
Sein situationsbezogener Intuitionismus läuft auf eine Eliminierung jeglichen moralischen oder ethischen Denkens hinaus; und nicht zufällig lesen sich einige seiner Formulierungen so, als hätten wir es bei dem Gefühl der Verpflichtung mit einer Art von bedingtem Reflex zu tun: wie der Pawlowsche Hund Speichel absondert, sobald das Glockenzeichen ertönt, so wird im moralisch erzogenen Menschen ein Gefühl der Verpflichtung ausgelöst, sobald er in die entsprechende Situation versetzt wird.
Ebenda.
Zudem legt Bayertz dar, dass sich dieser Antirationalismus in ein Dilemma verstrickt: Wenn die Erziehung die Grundlage der Moral ist, lässt sich in Bezug auf sie die Frage stellen, ob vernünftiges Denken in ihr zum Tragen kommt. Wenn nicht, wird Moral zur bloßen Abrichtung; wenn doch, könnte der Moralphilosophie trotz allem eine sinnvolle Aufgabe zufallen. Bayertz führt dazu aus:
Prichard manövriert sich mit seinem intuitionistischen Antirationalismus in ein Dilemma. Entweder spielen in der moralischen Erziehung rational nachvollziehbare Gründe und Argumente keine Rolle. Dann handelt es sich bei dieser Erziehung um eine bloße Abrichtung, und alle diejenigen behalten Recht, die (wie Nietzsche oder Freud) die Moral auf das Produkt einer Art von Dressur reduzieren. Einen echten Grund, moralisch zu sein, gibt es dann nicht; vielmehr tut man gut daran, sich solchen repressiven Vorschriften zu entziehen. Oder Gründe und Argumente spielen in ihr eine Rolle. Dann müssen sie auch explizit gemacht und philosophisch analysiert werden können.
Ebenda; Hervorhebungen im Original.