6.8 Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?

Autor: Yusuf Kuhn -

Der im Postskript zur 1984 erschienenen zweiten Auflage angekündigte »Folgeband«Siehe Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 368. zu After Virtue kam 1988 unter dem Titel Whose Justice? Which Rationality? (Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?) heraus,Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988. auf den noch ein knapper Ausblick gewagt sei. MacIntyre kommt darin seinem Versprechen nach, Berichtigungen und Erweiterungen vorzunehmen, die für die Stichhaltigkeit seines dauerhaft in Entwicklung befindlichen Arguments erforderlich sind.

Zur Zeit der Abfassung des Postskripts war MacIntyre offensichtlich mit der Arbeit an diesem Buch bereits intensiv beschäftigt, so dass sich im Postskript vielerlei Vorwegnahmen von Ideen finden, die darin zu ausführlicher Darstellung gebracht werden. Der wichtigste Mangel, der nicht nur im Postskript, sondern auch schon in After Virtue selbst ausdrücklich angesprochen wird, betrifft die Theorie der Rationalität.

Denn MacIntyre hat schon in der ersten Auflage von After Virtue dazu bemerkt:

Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus.Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 346; Hervorhebungen im Original.

Im Vorwort zu Whose Justice? Which Rationality? lässt MacIntyre keinen Zweifel daran, dass die Theorie der Rationalität das zentrale Thema dieses Buches ist. Er erwähnt darin zunächst, dass After Virtue zu der Einsicht geführt hat, dass es einerseits trotz aller Versuche über die Jahrhunderte immer noch keine kohärente und rational begründete Theorie der Moral vom Standpunkt des liberalen Individualismus gibt und andererseits die aristotelische Tradition in einer Weise neu gefasst werden kann, dass sie zur Wiederherstellung der zerrütteten modernen Moral befähigt.

Daran schließt MacIntyre folgende Bemerkung an:

Aber ich habe auch festgestellt, dass diese Schlussfolgerungen der Unterstützung durch eine Darstellung dessen bedurften, was Rationalität ist, in deren Licht rivalisierende und inkompatible Bewertungen der Argumente von After Virtue adäquat erklärt werden können. Ich habe ein Buch versprochen, in dem ich mir zur Aufgabe gesetzt habe, zu sagen, sowohl was es rational macht, auf eine bestimmte Weise statt auf eine andere zu handeln, als auch was es rational macht, eine bestimmte Konzeption der praktischen Rationalität statt einer anderen vorzubringen und zu verteidigen. Hier ist es.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. IX.

Die hiermit in Aussicht gestellte Theorie der Rationalität bezieht sich also sowohl auf die Rationalität von Handlungsweisen als auch auf die Rationalität von Konzeptionen der praktischen Rationalität und beansprucht, Kriterien für eine rationale Wahl auf beiden Ebenen zu liefern.

Darüber hinaus weist MacIntyre darauf hin, dass er zwischenzeitlich zur Einsicht in den engen Zusammenhang des Begriffs der Rationalität mit dem der Gerechtigkeit gelangt ist. Denn »verschiedene und inkompatible Konzeptionen der Gerechtigkeit sind in charakteristischer Weise eng verknüpft mit verschiedenen und inkompatiblen Konzeptionen der praktischen Rationalität«Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. IX., und zwar so eng, dass deren Untersuchung in der von MacIntyre betriebenen historischen Philosophie zusammenfallen.

Aus dieser Einsicht ergibt sich zudem die Möglichkeit, eine Antwort auf die im dritten Abschnitt des Postskripts zur zweiten Auflage von After Virtue angesprochene Kritik zu geben, die das Fehlen einer Untersuchung des Verhältnisses der aristotelischen Tradition der Tugenden zur christlichen Moral bemängelte. Einigen Kritikern hatte sich in der Tat nicht ganz zu Unrecht der Eindruck aufgedrängt, dass After Virtue eine einseitige Verteidigung der Tugendethik zum Nachteil der Regelethik darstellt. MacIntyre hält dies allerdings für ein Missverständnis, das auf das Versäumnis dieser Kritiker zurückgeht, seine Aussagen über die Angewiesenheit jeglicher »Moralität der Tugenden« auf eine »Moralität der Gesetze« zur Kenntnis zu nehmen.Siehe Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. IX. MacIntyre verweist dabei auf den Abschnitt Die Tugenden bei Aristoteles in Kapitel 12: Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 202-205. Dabei handelte es sich freilich bestenfalls um Andeutungen. In Whose Justice? Which Rationality? wird hingegen die Aufklärung der Beziehung zwischen Tugendethik und Gebotsethik, zwischen Gerechtigkeit und Gesetzen zu einem zentralen Anliegen.

Um den genannten Aufgaben und Anliegen nachzukommen, unternimmt MacIntyre eine ausführliche historische Untersuchung von drei Traditionen: die griechische Tradition von Homer über Platon bis Aristoteles; die christliche Tradition von Augustinus bis Thomas von Aquin; die Tradition der schottischen Aufklärung von Hutcheson bis Hume. Diesen drei Studien, die drei Viertel des Buches einnehmen, folgen sodann vier Kapitel, in denen der Gedankengang der historischen Erzählungen in einem mehr theoretischen Licht beleuchtet wird.

Aus den historischen Studien geht die Einsicht in einen engen Zusammenhang zwischen den Tugenden, insbesondere der Tugend der Gerechtigkeit, und der praktischen Rationalität hervor. Nicht nur der Begriff der Tugend, sondern auch die praktische Rationalität selbst erweist sich als an eine Tradition gebunden. Die Vorstellung einer zeitlosen, absoluten praktischen Rationalität jenseits aller Traditionen stellt sich als Chimäre heraus.

MacIntyre erläutert:

Es hat freilich immer wieder Bestrebungen gegeben, von denen Kants Versuch sicherlich der größte war, dies zu bestreiten. Aber die Geschichte der Bestrebungen, eine Moralität für traditionsfreie Individuen zu konstruieren, ob durch Berufung auf eine von verschiedenen Konzeptionen der Universalisierbarkeit oder auf eine von gleichermaßen mannigfaltigen Konzeptionen der Nützlichkeit oder auf geteilte Intuitionen oder auf irgendeine Kombination dieser Elemente, ist in ihrem Ergebnis […] eine Geschichte von fortwährend unaufgelösten Disputen gewesen, so dass keine unbestrittene und unbestreitbare Darlegung dessen hervorgeht, worin traditionsunabhängige Moralität besteht, und folglich keine neutrale Menge von Kriterien, mittels derer die Ansprüche von rivalisierenden und widerstreitenden Traditionen einer Entscheidung zugeführt werden könnten.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 334.

Rationalität und Gerechtigkeit sind Begriffe mit einer Geschichte, die in eine Tradition eingebettet sind. Sie müssen stets in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Da es nun eine Vielzahl von Traditionen gibt, gibt es folglich auch eine Vielzahl von Rationalitäten und Gerechtigkeiten.

Führt die Annahme einer Vielfalt von Traditionen mit ihrer jeweiligen Weise der rationalen Rechtfertigung aber nicht ebenso wie die moderne Moralität zu unlösbaren Konflikten und letztlich in den Relativismus?

Das Titelelement Which rationality? (Welche Rationalität?) deutet auf eine mögliche Antwort auf die Herausforderung des Relativismus hin. Es gibt nur eine Wahrheit, aber das stets fehlbare Streben nach ihr auf den verschiedenen Wegen der Rationalitäten muss nicht zu unlösbaren Konflikten führen. Denn eine Tradition kann sich entwickeln und Lernprozesse durchlaufen, wodurch sich bestimmte Positionen als rational überlegen erweisen können.

Dies gilt nicht nur für die innere Entwicklung einer Tradition, sondern auch für die Begegnung mit anderen Traditionen, bei der sich beispielsweise die Ansprüche einer anderen Tradition auf Rationalität nach ihren eigenen Rationalitätskriterien als überlegen erweisen können. Eine Tradition kann gemäß ihren eigenen Kriterien eine andere Tradition als rational überlegen oder unterlegen beurteilen, freilich ohne den Anspruch auf Erkenntnis der absoluten Wahrheit zu erheben, sondern lediglich auf Erkenntnis der bisher und jeweils besten Lösung.

Auf den Vorwurf, dass eine Vielfalt von Traditionen unweigerlich zu Relativismus, Unlösbarkeit von Konflikten oder gar Inkommensurabilität führt, kann es also durchaus eine Antwort geben, wie MacIntyre darlegt:

Darauf hat der Vertreter der Rationalität von Traditionen eine zwiefache Erwiderung: dass, wenn die Vielfalt der Traditionen einmal richtig charakterisiert worden ist, eine bessere Erklärung der Vielfalt der Standpunkte zugänglich ist, als entweder die Aufklärung oder ihre Erben liefern können; und dass diese Anerkennung der Vielfalt der Traditionen der Untersuchung, jede mit ihrer eigenen spezifischen Weise der rationalen Rechtfertigung, nicht impliziert, dass die Differenzen zwischen rivalisierenden und inkompatiblen Traditionen nicht rational gelöst werden können. Wie und unter welchen Bedingungen sie gelöst werden können, ist etwas, das erst zu verstehen ist, nachdem ein vorausgehendes Verstehen der Natur solcher Traditionen erlangt worden ist. Vom Standpunkt der Traditionen der rationalen Untersuchung ist das Problem der Vielfalt nicht abgeschafft, sondern in einer Weise transformiert, die es einer Lösung zugänglich macht.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 10-11; Hervorhebung im Original.

Für eine Lösung von Konflikten im Rahmen der Rationalität der Traditionen muss freilich vorausgesetzt werden, dass alle Beteiligten sich als Vertreter einer bestimmten Tradition verstehen, die sich in Konflikt mit rivalisierenden Traditionen befindet.

MacIntyre geht nun dazu über, vier Traditionen darzustellen. Drei davon verstehen sich in diesem Sinne selbst als Traditionen: die aristotelische Tradition, die augustinische Tradition und die Tradition der schottischen Aufklärung. Die vierte hingegen, der Liberalismus versteht sich selbst hingegen als Ausdruck einer traditionsunabhängigen universellen Rationalität. Allerdings hat sich der Liberalismus, der anfänglich alle Traditionen im Namen universeller Vernunftprinzipien zu verwerfen beanspruchte, durch seine Unfähigkeit, die Debatten über eben diese Vernunftprinzipien zu einer rationalen Auflösung zu führen, selbst in eine Tradition verwandelt. Die Kontinuität dieser Tradition zeichnet sich nicht zuletzt durch die endlose Fortführung der Debatte über diese Prinzipien aus.

Der Liberalismus war ursprünglich mit dem Anspruch angetreten, eine Reihe von Prinzipien mit universeller Geltung durch absolute Vernunftbegründung zu bestimmen und damit ein Regelwerk für eine soziale Ordnung zu schaffen, die auf kein übergeordnetes Gut ausgerichtet ist, sondern vielmehr das friedliche Zusammenleben von Anhängern völlig unterschiedlicher und unvereinbarer Vorstellungen des guten Lebens in dieser Gesellschaft ermöglicht. In diesem Rahmen steht es jedem Individuum frei, sein Leben nach jeder beliebigen Vorstellung des Guten, aus welcher Tradition auch immer diese stammen mag, auszurichten, solange diese Vorstellung des Guten nicht die Umgestaltung des Lebens der restlichen Gesellschaft verlangt.

MacIntyre stellt dazu fest:

Und diese Kennzeichnung impliziert natürlich nicht nur, dass dieser liberale Individualismus in der Tat seine eigene breite Konzeption des Guten hat, die er politisch, rechtlich, sozial und kulturell aufzuerlegen bemüht ist, wenn immer er die Macht dazu hat, sondern auch, dass dabei seine Tolerierung rivalisierender Konzeptionen des Guten in der Öffentlichkeit stark begrenzt ist.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 336.

Damit erweist sich das übergeordnete Gut des Liberalismus als die Aufrechterhaltung der liberalen politischen und sozialen Ordnung. Das Scheitern aller Versuche einer rationalen Begründung der grundlegenden Prinzipien verstärkt den Eindruck, dass der Liberalismus nicht als das Streben nach einer traditionsunabhängigen Rationalität begriffen werden sollte, sondern als Ausdruck von sozialen Institutionen, die sich geschichtlich herausgebildet haben und weiterentwickeln, und zwar nicht als zeitlose Stimme einer universellen Vernunft, sondern als wandelbare Stimme einer partikulären Tradition.

MacIntyre beschreibt die Tradition des Liberalismus folgendermaßen:

Wie andere Traditionen trägt der Liberalismus in sich seine eigenen Kriterien der rationalen Rechtfertigung. Wie andere Traditionen hat der Liberalismus seine Menge von autoritativen Texten und seine Dispute über ihre Interpretation. Wie andere Traditionen findet der Liberalismus seinen gesellschaftlichen Ausdruck durch eine besondere Art der Hierarchie.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 345.

Viele Anhänger des Liberalismus verweigern sich freilich dieser Einsicht. Doch immer mehr liberale Denker, zu denen nicht zuletzt so herausragende philosophische Vertreter des Liberalismus wie etwa John Rawls und Richard Rorty gehören, haben nichtsdestotrotz anerkannt, dass ihre Theorie und Praxis einer kontingenten Tradition verhaftet ist, die zwar einen Anspruch auf universelle Geltung erhebt, jedoch über den Status einer Tradition, die mit anderen Traditionen rivalisiert, ohne sich auf eine absolute Begründung stützen zu können, nicht hinauskommt.

Der Liberalismus ist sicherlich der bislang stärkste Vertreter des Anspruchs auf einen neutralen traditionsunabhängigen Standpunkt. Aus seinem Scheitern kann zwar nicht gefolgert werden, dass es überhaupt keinen solchen neutralen Standpunkt geben kann, aber es liefert doch »den stärksten Grund, den wir tatsächlich für die Behauptung haben können, dass es keinen solchen neutralen Boden gibt, dass es keinen Platz für die Berufung auf eine praktische-Rationalität-an-sich oder eine Gerechtigkeit-an-sich geben kann, der alle rationale Personen aufgrund eben ihrer Rationalität anzuhängen gezwungen wären.«Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 346. Jede Konzeption der praktischen Rationalität wie auch der Gerechtigkeit ist die einer bestimmten Tradition.

Wenn es keinen Standpunkt außerhalb einer Tradition mit ihrer besonderen Geschichte und Verkörperung im gesellschaftlichen Leben gibt, so erweist es sich als unmöglich, außerhalb einer bestimmten Tradition mit ihren internen Problemen und ihren Konflikten mit rivalisierenden Traditionen zu sprechen. MacIntyre zieht daraus den Schluss, dass es ihm von nun an nicht mehr möglich ist, die Untersuchung im gleichen Stile fortzuführen. Denn die weitere Darstellung der vier Traditionen, die Gegenstand des Buches sind, verlangt eine Verortung des Autors in der jeweiligen Tradition, die er darzustellen wünscht.

MacIntyre führt näherhin aus:

Es gibt nämlich mindestens vier alternative Weisen, die Erzählungen der vorigen Kapitel fortzuführen, mindestens vier alternative Weisen, dieses Buch zu weiteren Schlussfolgerungen voranzubringen, aber kein Autor alleine könnte mehr als eine von ihnen schreiben. Denn genau hier müssen zeitgenössische substantielle Argumente zwischen, für und gegen besondere Traditionen der Untersuchung und auch für und gegen Antitradition hinsichtlich sowohl Gerechtigkeit als auch Rationalität beginnen. Genau hier müssen wir beginnen, als Protagonisten einer streitenden Partei zu sprechen, oder in Schweigen verfallen.

Ein Buch, das mit der Schlussfolgerung endet, dass das, was wir aus seinem Argument lernen können, ist, wo und wie zu beginnen ist, mag nicht den Anschein haben, viel erreicht zu haben. Doch schließlich mag Descartes in einer Sache Recht behalten haben: in der Philosophie ist, zu wissen, wie zu beginnen ist, die schwierigste Aufgabe von allen. Wir, wer immer wir sind, können die Untersuchung nur von einem Gesichtspunkt aus beginnen, der durch unsere Beziehung zu irgendeiner spezifischen sozialen und intellektuellen Vergangenheit geboten wird, durch die wir uns irgendeiner besonderen Tradition der Untersuchung angeschlossen haben, indem wir die Geschichte dieser Untersuchung in die Gegenwart ausdehnen: als Aristoteliker, als Augustinianer, als Thomist, als Humeaner, als Post-Aufklärungs-Liberaler oder als etwas anderes.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 401-402.

An der Reihe von Alternativen, die MacIntyre hier in Betracht zieht, lässt sich schon ein weiterer bedeutender Unterschied zu After Virtue ablesen, in der es nur die Wahl zwischen zwei Alternativen gab: Aristoteles oder Nietzsche? Mittlerweile hat sich der Horizont deutlich erweitert. MacIntyre befasst sich nicht nur mit bereits vier Traditionen, sondern ist sich der auch darin weiterhin liegenden Beschränkung durchaus bewusst. Sein geweiteter Blickwinkel erlaubt MacIntyre nämlich nun, eine ausdrückliche Selbstbescheidung vorzunehmen. Denn er räumt ein, dass es zahlreiche weitere Traditionen gibt, die er nicht behandeln konnte, und dass sein Argument dadurch unvollständig bleiben muss. Er erwähnt beispielsweise die Geschichte des Judentums und seine Traditionen der Untersuchung, die aus der Begegnung des Studiums der Thora mit der Philosophie hervorgegangen sind.

Und MacIntyre merkt dazu an:

Aber von allen Geschichten der Untersuchung ist diese diejenige, die, vielleicht mehr als jede andere, von ihren eigenen Anhängern geschrieben werden muss; insbesondere für einen augustinischen Christen, wie ich einer bin, wäre der Versuch, sie in der Weise zu schreiben, wie ich mich befähigt gefühlt habe, die Geschichte meiner eigenen Tradition zu schreiben, eine schwere Anmaßung und Dreistigkeit. Christen haben es dringend nötig, Juden zuzuhören. Der Versuch, für sie zu sprechen, sogar zugunsten jener unglückseligen Fiktion, der sogenannten jüdisch-christlichen Tradition, ist immer beklagenswert.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 10-11.

Nach der trefflichen Anführung einer weiteren Auslassung, nämlich einer näheren Betrachtung von Kant, die nachzuholen wäre, setzt MacIntyre sodann ebenso trefflich hinzu:

[…] Das islamische Denken erfordert eine Behandlung nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch wegen seines großen Beitrags zur aristotelischen Tradition, aber auch dies musste ich auslassen. Und schließlich verlangt die Art von Geschichte, die ich zu erzählen versuchen werde, als ihre Ergänzung nicht nur jüdische, islamische und andere nachbiblische Erzählungen, sondern auch die Erzählungen von solch stark kontrastierenden Traditionen der Untersuchung wie diejenigen, die in Indien und China hervorgebracht wurden. Die Anerkennung einer solchen Unvollständigkeit tut nichts dafür, sie zu berichtigen, aber verdeutlicht zumindest die Grenzen meines Unternehmens.

Diese Erweiterung des Blickwinkels stellt einen großen Fortschritt gegenüber der Befangenheit von After Virtue dar. MacIntyres Projekt erscheint somit vor einem ganz anderen, wesentlich weiteren Horizont, der sein Licht auch auf die Bemerkung wirft, mit der MacIntyre das Buch beschließt:

Die rivalisierenden Ansprüche auf Wahrheit von konkurrierenden Traditionen der Untersuchung sind für ihre Rechtfertigung abhängig von der Angemessenheit und der Erklärungskraft der Geschichten, welche die Ressourcen jeder dieser Traditionen im Widerstreit ihre Anhänger zu schreiben befähigen.Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 403.