MacIntyre kommt nach der Darstellung einiger Elemente seiner Tugendethik im letzten Kapitel von After Virtue mit dem Titel Nach der Tugend: Nietzsche oder Aristoteles, Trotzki und der heilige Benedikt wieder auf die zentrale Alternative zurück und stellt ihr zugleich eine neue Verbindung entgegen, die einen Ausweg aus der moralischen Misere aufscheinen lässt.
Durch die Abkehr von der aristotelischen Tradition und das Scheitern aller modernen Versuche einer rationalen Rechtfertigung der Moral hat die moralische Sprache ihren sinnstiftenden Kontext verloren, so dass sie in inkohärente Bruchstücke zersplittert ist: Nach der Tugend!
Keiner hat dies deutlicher erkannt und eindringlicher dargelegt als Nietzsche, der nicht nur die Zeit nach der Tugend, sondern nach der Moral überhaupt ausruft und den Sprung in den prophetischen Irrationalismus des Willens zur Macht als ehrliche Konsequenz aus der Entlarvung jeglicher Moral als verschleierten Willen zur Macht preist.
MacIntyre bemerkt:
Folglich besaß Nietzsches negatives Vorhaben, die Strukturen der ererbten moralischen Überzeugung und Beweisführung dem Erdboden gleichzumachen, ob wir uns nun auf die alltägliche moralische Überzeugung und Beweisführung beziehen oder statt dessen die Konstruktionen der Moralphilosophen betrachten, trotz seiner Ausweglosigkeit und Grandiosität eine gewisse Plausibilität - selbstverständlich nur, wenn sich die ursprüngliche Ablehnung der moralischen Tradition, in deren Mittelpunkt die aristotelische Lehre über die Tugenden steht, nicht als Mißverständnis und Irrtum erwies. Wenn diese Tradition nicht rational verteidigt werden könnte, bekäme Nietzsches Haltung eine furchtbare Plausibilität. (341)
Umgekehrt heißt das: Wenn eine moralische Tradition auf vernünftige Weise gerechtfertigt und bestätigt werden kann, wäre Nietzsches zentrale These von der Entlarvung aller Moral zurückgewiesen. Für MacIntyre gibt es in After Virtue freilich nur eine Alternative zu den gescheiterten modernen Versuchen einer Moralbegründung, nämlich die aristotelische Tradition. Daher beschränkt sich für ihn die entscheidende Alternative auf Aristoteles und Nietzsche. Dass dem nicht so sein muss, haben wir bereits angemerkt. Daran sei erinnert, ohne es hier weiter zum Thema zu machen. Es wird alsbald darauf zurückzukommen sein.
Für MacIntyre geht es in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche jedenfalls darum, die aristotelische Tradition als rational gerechtfertigt zu erweisen. Und er meint, genau dies in seiner Darlegung der Tugendethik, insbesondere in den Kapiteln 14 und 15 von After Virtue, geleistet zu haben. Gelingt dies tatsächlich, so ist Nietzsche gescheitert.
Aber MacIntyre geht noch einen Schritt weiter, indem er zunächst feststellt, dass Nietzsches Kritik der modernen Ethik, in der Regeln im Mittelpunkt stehen, sich nicht notwendig auf die aristotelische Tradition, in der wiederum Tugenden von zentraler Bedeutung sind, erstreckt, um dann zu fortzufahren:
Es ist eines meiner wichtigsten Argumente, daß die nietzscheanische Polemik gegen diese Tradition völlig erfolglos ist.
Eigene Übersetzung; die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch hier wieder ungenau, denn sie lautet: »[…] daß die Polemik Nietzsches gegen diese Tradition wirkungslos ist.« (160) Im englischen Original heißt es hingegen: »It is one of my most important contentions that against that tradition the Nietzschean polemic is completely unsuccessful.« (After Virtue, S. 257) [...] Nietzsche hat Erfolg, wenn all diejenigen, die er als Gegner annimmt, scheitern. Andere haben vielleicht Erfolg aufgrund der rationalen Kraft ihrer positiven Argumente; aber falls Nietzsche gewinnt, gewinnt er durch einen Mangel.
Er gewinnt nicht. (342-343)
Nietzsche gewinnt nicht, nicht nur, weil es eine rationale Rechtfertigung einer Tradition gibt, sondern zudem, weil diese rationale Rechtfertigung »so nicht widerlegt werden kann« (343; Hervorhebung von mir). Warum? Kurz gesagt: Weil Nietzsches Moralphilosophie auf dem Begriff des Übermenschen basiert, der sich als moralische Fiktion erweist; denn der Übermensch ist verurteilt zu dem »moralischen Solipsismus, der Größe im Sinne Nietzsches ausmacht« (344) und aus dem, allemal im Lichte von MacIntyres Entwurf einer Tugendethik, sich keine Moral herausspinnen lässt. Der Übermensch, der eines sozialen Kontextes aus Beziehungen und Praktiken ermangelt, kann in der sozialen Welt kein objektives Gut ausfindig machen, »sondern nur in der Welt in ihm selbst, die sein neues Gesetz und seine neue Aufstellung der Tugenden diktiert.« (343)
MacIntyre stützt sich dabei auf eine Passage aus Nietzsches Nachlass, die in Der Wille zur Macht veröffentlicht wurde. Nietzsche beschreibt darin den Übermenschen, den großen Menschen, der in seiner Einsamkeit und Unmitteilbarkeit keine Beziehungen eingehen kann, die auf objektiven, geteilten Tugenden, Gütern oder Regeln gründen. Er ist seine eigene und einzige Autorität und Gesetz. Seine auf dieser absoluten Autorität gründenden Beziehungen zu anderen können nur nur manipulativ sein.
MacIntyre zitiert diese Passage aus Nietzsches Nachlass mit einigen Auslassungen, wie folgt:
Ein großer Mensch, - ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat - was ist das? [...] Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt. [...] er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmitteilbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Band 3, München, 1954, S. 845-846.; Hervorhebungen im Original.
Doch im Lichte von MacIntyres Darstellung der Tugenden schrumpft der große Mensch auf einen winzig kleinen, ausdehnungslosen Punkt, der aus seiner Einsamkeit und Selbstversunkenheit nicht heraustreten, nicht führen und schon gar nicht sein Gesetz diktieren kann, dessen Autorität er einzig auf Güter gründen könnte, die er aufgrund seines Mangels an Gemeinschaftlichkeit nicht einmal zu entdecken vermag.
MacIntyre führt dazu aus:
Denn wenn die Vorstellung eines Gutes durch Begriffe wie Praxis, narrative Einheit eines menschlichen Lebens und moralische Tradition erläutert werden muß, dann können Güter, und damit die einzige Begründung für die Autorität von Gesetzen und Tugenden, nur dadurch entdeckt werden, daß jene Beziehungen eingegangen werden, die Gemeinschaften konstituieren, deren zentrale Bindung in einem allgemein geteilten Verständnis von Gütern liegt. Sich von gemeinsamen Tätigkeiten auszuschließen, in denen anfänglich folgsam wie ein Lehrling gelernt werden muß, sich von den Gemeinschaften zu isolieren, die ihr Ziel und ihren Zweck in solchen Tätigkeiten finden, bedeutet den Ausschluß jeder Möglichkeit, ein Gut außerhalb seiner selbst zu finden. Es bedeutet eine Verurteilung zu jenem moralischen Solipsismus, der Größe im Sinne Nietzsches ausmacht. Wir müssen daher nicht nur folgern, daß Nietzsche die Argumentation eines Mangels der aristotelischen Tradition nicht gewinnt, sondern auch, und vielleicht noch wichtiger, daß wir aus der Sicht dieser Tradition die Fehler im Kern der Position Nietzsches am besten erkennen können. (343-344)
Aber Nietzsche ist darüber hinaus ehrlich genug, gar nicht mehr den Anspruch der Begründung einer Moral im herkömmlichen Sinne zu erheben: »Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet«!
MacIntyre bemerkt dazu:
Und Nietzsche war der einzige bedeutende Philosoph, der vor dieser Schlußfolgerung nicht zurückgeschreckt war. (344)
Diese bestechende Ehrlichkeit macht einen großen Teil der Anziehungskraft Nietzsches aus.
Doch mit dieser vermeintlichen Befreiung aus den Irrtümern und Pseudobegriffen der modernen Moral geht die Verstrickung in andere Irrtümer einher. Die Vorstellung des großen Menschen, des Übermenschen erweist sich selbst als Pseudobegriff, wenngleich nicht immer als bloße Fiktion. Denn sie zielt zwar auf die Überwindung des modernen Individualismus, drängt aber zugleich auf dessen radikalste theoretische wie praktische Realisierung. Der ausdehnungslose Punkt verschlingt in einer gewaltigen Explosion alles in sein solipsistisches Nichts.
MacIntyre stellt fest:
Die Vorstellung Nietzsches vom »großen Menschen« ist ebenfalls ein Pseudobegriff, wenn auch vielleicht nicht immer - unglücklicherweise - das, was ich früher eine Fiktion genannt habe. Sie stellt den letzten Versuch des Individualismus dar, den eigenen Konsequenzen zu entfliehen. Und die Haltung Nietzsches erweist sich nicht als Flucht vor oder als Alternative zum Begriffssystem der liberalen, individualistischen Moderne, sondern eher als weiteres repräsentatives Moment in ihrer inneren Entfaltung. Und wir können deshalb damit rechnen, daß liberale, individualistische Gesellschaften von Zeit zu Zeit »große Menschen« hervorbringen. Leider! (344)