6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie

Autor: Yusuf Kuhn - Di., 28.05.2019 - 16:44

Es handelt sich also um ein Projekt, das gar nicht anders als gemeinsam verwirklicht werden kann. Und MacIntyre kommt dabei gewiss eine gewichtige Rolle zu. Das ist der Grund, warum eine eingehende Auseinandersetzung mit seinem Denken geboten ist, zu der hier ein weiterer und vertiefender Schritt beigetragen werden soll. Unser Interesse richtet sich dabei zunächst vorwiegend auf die negative Seite von MacIntyres Kritik der modernen Moralphilosophie, also die Aufweisung ihrer Misere und Ausweglosigkeit, während ihre positive Seite, die Suche nach Ausweg und Alternative, erst in einem späteren Schritt die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfahren kann. Beide Seiten hängen ohnehin eng miteinander zusammen, wie wir ja bereits gesehen haben, da sich die Misere der modernen Moralphilosophie gar nicht verstehen lässt, ohne einen Standpunkt zu beziehen, der die Einsicht in diese Misere allererst ermöglicht und zugleich schon einen Bezug zur positiven Seite in sich birgt. Dies ist freilich vor allem eine Sache der Gewichtung. Und uns geht es zunächst darum, die Voraussetzungen für jede weitere Suche zu klären, die sich aus der Beantwortung folgender Frage ergeben: Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Denn genau die einer Bejahung dieser Frage entsprechenden Thesen vertritt MacIntyre in After Virtue und seinen späteren Werken.

Zu den wichtigsten Werken neben After Virtue, in denen MacIntyre diese Thesen entwickelt und weiter ausgeführt hat, gehören vor allem Whose Justice? Which Rationality?Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988., Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopaedia, Genealogy, and TraditionAlasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopaedia, Genealogy, and Tradition (Gifford Lectures). Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1990. und Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the VirtuesAlasdair MacIntyre, Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the Virtues, Chicago: Open Court, 1999 sowie das erst kürzlich erschienene Ethics in the conflicts of modernity: an essay on desire, practical reasoning, and narrativeAlasdair MacIntyre, Ethics in the conflicts of modernity: an essay on desire, practical reasoning, and narrative, New York: Cambridge University Press, 2016..

Wir wollen uns zunächst ausführlich mit After Virtue befassen, um sodann auf die anderen Werke in einem Ausblick einzugehen, in denen das work in progress fortgeführt wird. Bei aller Kritik, sich daraus ergebenden Modifikationen und Weiterentwicklungen hat MacIntyre indes nie einen guten Grund erkennen können, seine Hauptthesen grundsätzlich in Frage zu stellen oder aufzugeben. So schreibt er zu Beginn des 2007 verfassten Prologs zur dritten Auflage von After Virtue:

Wenn es gute Gründe gibt, die zentralen Thesen von After Virtue zu verwerfen, so sollte ich mittlerweile sicherlich erfahren haben, welche es sind. Eine kritische und konstruktive Diskussion in vielerlei Sprachen – nicht nur Englisch, Dänisch, Polnisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Türkisch, sondern auch Chinesisch und Japanisch – und von vielerlei Standpunkten hat mich befähigt, die Untersuchungen, die ich in After Virtue (1981) begonnen und in Whose Justice? Which Rationality? (1988), Three Rival Versions of Moral Enquiry (1990) und Dependent Rational Animals (1999) fortgeführt habe, zu überdenken und zu erweitern, aber ich habe bis jetzt keinen Grund gefunden, die wesentlichen Argumente und Behauptungen von After Virtue aufzugeben - »Unbelehrbarer Starrsinn!«, werden manche sagen -, obgleich ich eine Menge gelernt und meine Thesen und Argumente entsprechend ergänzt und überarbeitet habe.Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007, S. ix.

Gedankengang und Thesen von After Virtue sind nicht immer leicht zu erfassen. Es handelt sich um ein voraussetzungsreiches und komplexes Werk, das sich der üblichen akademischen Eingrenzung auf ein Fachgebiet verwehrt und sich aus verschiedenen Gestalten des Wissens wie Philosophie, Geschichte, Wissenschaft, Literatur usw. speist. Dass es gleichwohl seit seinem Erscheinen eine so große Leserschaft gefunden hat, könnte freilich gerade daran liegen. Vielleicht teilen viele die Beschreibung, die Charles Taylor in seiner Rezension von After Virtue gegeben hat:

Dies ist ein äußerst seltenes Werk – ein Buch über Moralphilosophie, das tatsächlich aufregend zu lesen ist. Die These ist verblüffend und sehr anspruchsvoll.Charles Taylor, Aristotle Or Nietzsche, in: Partisan Review 51, Nr. 2 (1984): 301-306, hier S. 301.