MacIntyre beginnt die negative Seite seiner Kritik und damit den ersten Teil von After Virtue, der die Kapitel 1-9 umfasst, mit einer Geschichte und einer Hypothese unter dem Titel Ein beunruhigendes Gedankenexperiment, mit dem das erste Kapitel überschrieben ist. Die Geschichte malt in einem »beunruhigenden Gedankenexperiment« eine imaginäre Welt aus, in der die Naturwissenschaften »das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe« (13)
Im Anschluss an diese Geschichte legt MacIntyre nun seine Hypothese dar:
Die Hypothese, die ich aufstellen möchte, lautet, daß in der Welt, in der wir heute leben, die Sprache der Moral ebenso verwahrlost ist wie die Sprache der Naturwissenschaft in dieser imaginären Welt. Wenn das zutrifft, besitzen wir heute nur noch Bruchstücke eines Begriffsschemas, Teile ohne Bezug zu jenem Kontext, der ihnen ihre Bedeutung verliehen hat. Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiterhin viele ihrer Schlüsselbegriffe. Aber wir haben zu einem großen Teil, wenn nicht sogar völlig, unser Verständnis, theoretisch wie praktisch, oder unsere Moral verloren. (15)
Diese Hypothese wird freilich auf starke Widerstände stoßen, da die moralische Sprache weiterhin verwendet wird und eben dies ein wichtiger Bestandteil des Bildes ist, das sich die Mitglieder dieser Kultur von sich selbst machen. Zudem ist die Katastrophe als solche unter diesen Bedingungen kaum mehr zu erkennen. Dafür wäre eine grundsätzliche Änderung der Sichtweise erforderlich, die indes nur sehr schwer zu erreichen ist, zumal die akademische Philosophie und Geschichtsschreibung dabei nicht weiterhelfen.
Doch das Verstehen der Geschichte könnte, wie im Bild von der imaginären Welt, einen Ausweg bieten, eine Geschichte des Niedergangs von der Blüte über die Katastrophe bis zum unzulänglichen Versuch einer Wiederherstellung. Das kann indes eine wertfreie Schilderung von Ereignissen nicht leisten. Eine Geschichtsschreibung, die dies leisten können soll, muss vielmehr auf Wertmaßstäben basieren, die über Scheitern oder Gelingen, verwahrlosten oder wohlgeordneten Zustand allererst zu urteilen erlauben. MacIntyre bezeichnet eine solche Herangehensweise als »philosophische Geschichte« (15-16) und begibt sich in deren Rahmen auf die Suche nach Belegen für die Hypothese über den Zustand der modernen Moral.
Obschon MacIntyre Pessimismus und Verzweiflung nicht das Wort reden will, gibt er sich keinen Illusionen hin, da es »in einem so verhängnisvollen Zustand […] keine großen Mittel mehr dagegen gibt« (18) – aber doch wohl das Mittel der Analyse in der Art einer philosophischen Geschichte, die an der moralischen Sprache ansetzen kann, die weiterhin in Verwendung ist.
So schließt MacIntyre das erste Kapitel mit folgendem Ausblick:
Ich kann selbstverständlich nicht abstreiten, und meine These beinhaltet das ja auch, daß die Sprache und das Erscheinungsbild der Moral weiterhin existieren, auch wenn der Grundgehalt der Moral in erheblichem Umfang aufgebrochen und teilweise zerstört worden ist. Deshalb bildet es keinen Widerspruch, wenn ich kurz die gegenwärtigen moralischen Verhaltensweisen und Argumente ansprechen werde. Ich erweise der Gegenwart lediglich die Reverenz, ihr eigenes Vokabular zu benutzen, wenn ich über sie spreche. (18)