Damit leitet MacIntyre zu Kapitel 2 über, das den Titel trägt: Das Wesen moralischer Meinungsunterschiede heute und die Thesen des Emotivismus (19). Als eine Folge der Verwahrlosung und Inkohärenz der modernen Moral dienen moralische Äußerungen oftmals vor allem dem Ausdruck von Meinungsverschiedenheiten, die in Debatten münden, die sich als endlos und ausweglos erweisen. In der modernen Kultur scheint es keine Mittel zu geben, um auf vernünftige Weise zu einer Einigung zwischen den widerstreitenden moralischen Positionen zu kommen.
MacIntyre führt typische Beispiele für solche Debatten an, in denen die Parteien Argumente für ihre jeweiligen Standpunkte anführen, ohne dass es je zu einer Übereinstimmung kommt: zum Beispiel über die Berechtigung und Gerechtigkeit von Kriegen, über die moralische Legitimität und die Legalität der Abtreibung, über die staatliche oder private Organisation von Gesundheitsversorgung und Bildung.
Diese Debatten zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die ihnen gemeinsam sind:
(1) Inkommensurabilität: Die jeweiligen Argumente sind zwar in sich schlüssig, beruhen aber auf so radikal verschiedenen Prämissen, dass ihre Differenzen nicht durch rationale Argumente aufgelöst werden können. Zudem ergibt sich aus der Unmöglichkeit, andere mit Gründen von der eigenen Position zu überzeugen, leicht der beunruhigende Verdacht der Unbegründetheit der eigenen Position und damit das Gefühl mangelnder Rationalität und Willkür. Aus beiden Aspekten erklärt sich der oftmals zu beobachtende Umstand, dass bei moralischen Streitgesprächen scharfe Töne angeschlagen werden.
(2) Objektivität: Alle Parteien dieser Debatten stützen sich auf vermeintlich rationale und unpersönliche Argumente, welche die Existenz objektiver Normen unabhängig von Vorlieben und Einstellungen voraussetzen. Dies scheint im Gegensatz zu Willkür und Subjektivität im Dienste von Interessen ein Streben nach Rationalität zum Ausdruck zu bringen.
(3) Kontextlosigkeit: Die verwendeten Begriffe, mit oftmals völlig unterschiedlichen historischen Ursprüngen, werden von ihren praktischen und theoretischen Kontexten abgelöst, denen sie ihre ursprüngliche Bedeutung und Rechtfertigung verdanken. In vielen Fällen haben so zentrale moralische Ausdrücke wie Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Pflicht in den vergangenen Jahrhunderten eine starke Veränderung ihrer Bedeutung durchlaufen. Dies gerät nur allzu oft aus dem Blick.
Wenn diese Eigenschaften Symptome einer moralischen Unordnung sind, sollte es möglich sein, eine Geschichte des moralischen Diskurses zu schreiben, die solche Bedeutungsänderungen zu verstehen und zu zeigen erlaubt, dass ein moralisches Argument zu einem früheren Zeitpunkt von anderer Art war, also nicht zugleich und auf inkonsistente Weise als Ergebnis rationaler Überlegung und als bloß expressive Äußerung betrachtet werden kann. Ein großes Hindernis ist dabei die unhistorische Behandlung der Moralphilosophie als eine einzige Debatte mit einem gleichbleibenden Gegenstand unter Missachtung des kulturellen und sozialen Kontextes, im Gegensatz zu dem, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich ein vielgestaltiger, voranschreitender und allerlei Wandlungen durchlaufender Diskurs, an dem Philosophen in verschiedenen historischen Kontexten und Traditionen teilnehmen.
Aus den drei gemeinsamen Eigenschaften ergeben sich Fragen über die Verwendung der moralischen Sprache. Da sich aus der Erfahrung der Inkommensurabilität der Verdacht einstellt, dass die vermeintliche Wahrheit der jeweiligen Position lediglich relativ zu den verschiedenen Perspektiven ist und die vermeintlich objektiven Normen sich als subjektiv erweisen, drängt sich der Eindruck auf, dass die jeweiligen rationalen Argumente letztlich nichts anderes als willkürliche Konstrukte sind, die nur dazu dienen, bereits getroffenen irrationalen Entscheidungen den Anschein von Rationalität zu verleihen, und zwar im Dienste vorgegebener Interessen. MacIntyre bezeichnet diesen pragmatischen Gebrauch der moralischen Sprache als emotivistisch.
Damit bezieht er sich auf die Theorie des Emotivismus, die allerdings auch einen scharfen Einwand gegen seine These und insbesondere seinen Versuch, eine philosophische Geschichte des Verfalls des moralischen Diskurses zu schreiben, beinhaltet. Denn dass moralische Debatten rational ausweglos und endlos sind, ist dem Emotivismus zufolge keine historisch entstandene und kontingente Eigenschaft der modernen Kultur, sondern vielmehr auf das Wesen moralischer Fragen selbst zurückzuführen, da diese an sich gänzlich außerhalb der Sphäre der Rationalität angesiedelt sind. Dieser Auffassung zufolge ist also nicht nur die moderne, sondern jede moralische und darüber hinaus jede wertende Argumentation notwendigerweise rational unlösbar. MacIntyre erläutert:
Der Emotivismus lehrt, daß alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind, soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind. […] moralische Urteile sind als Ausdruck von Haltungen oder Gefühlen weder richtig noch falsch; und Übereinstimmung bei moralischen Urteilen läßt sich durch keine rationale Methode erreichen, da es keine gibt. Wenn überhaupt, kann Übereinstimmung nur dadurch erreicht werden, daß ein bestimmter nichtrationaler Einfluß auf die Empfindungen oder Haltungen derjenigen ausgeübt wird, deren Urteil abweicht. Wir gebrauchen moralische Urteile nicht nur, um unsere eigenen Gefühle und Haltungen auszudrücken, sondern auch, um solche Wirkungen auch bei anderen hervorzubringen. (26-27)
Der Emotivismus ist eine Theorie über die Bedeutung von Sätzen, in denen wertende, insbesondere moralische Urteile gefällt werden. Sie wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem von C. L. Stevenson und anderen Schülern von G. E. Moore entwickelt. Dieser Theorie zufolge bedeutet beispielsweise der Satz »Dies ist gut« in etwa »Ich stimme dem zu; mach es ebenso«. Somit dient das wertende oder moralische Urteil sowohl dem Ausdruck der Haltung des Sprechers, als auch der Beeinflussung des Verhaltens des Hörers.
MacIntyre legt allerdings dar, dass der Emotivismus als Theorie der Bedeutung wertender Sätze aus verschiedenen Gründen scheitert. Doch diese falsche Theorie der Bedeutung lässt sich gleichwohl als Theorie des Gebrauchs unter spezifischen Bedingungen auslegen:
Der Emotivismus hat den Anspruch, wie wir gesehen haben, eine Theorie der Bedeutung von Sätzen zu sein. Aber der Ausdruck von Gefühlen oder Haltungen ist bezeichnenderweise keine Funktion der Bedeutung von Sätzen, sondern von deren Gebrauch bei bestimmten Gelegenheiten. (28)
Moralische Sätze werden in der Tat oftmals gebraucht, um willkürliche Entscheidungen und subjektive Präferenzen zum Ausdruck zu bringen sowie um andere in ihrem Sinne zu manipulieren. MacIntyre vertritt die Auffassung, dass dies eine treffliche Beschreibung des Gebrauchs der moralischen Sprache in der gegenwärtigen Kultur ist, die in diesem Sinne zutiefst emotivistisch ist. Er begibt sich sodann ziemlich eingehend auf die Spuren der Geschichte des Emotivismus, der als eigenständige Theorie der Bedeutung in einem bestimmten Kontext in Cambridge entstanden ist, aber auch in anderen historischen Epochen zu finden ist und als Antwort auf das Scheitern der Suche nach einer rationalen Begründung für vermeintlich objektive und unpersönliche moralische Ansprüche entsteht. MacIntyre stellt dazu fest:
So verstanden erweist sich der Emotivismus eher als eine zwingende Theorie des Gebrauchs denn als eine falsche Theorie der Bedeutung, gebunden an ein bestimmtes Stadium der moralischen Entwicklung oder des moralischen Niedergangs, ein Stadium, in das unsere eigene Kultur zu Beginn des jetzigen [zwanzigsten] Jahrhunderts getreten ist. (34)
Zudem impliziert der Emotivismus die Behauptung, dass alle historischen Versuche, eine solche rationale Rechtfertigung zu liefern, gescheitert sind. Die Unterscheidung zwischen Theorie der Bedeutung und Theorie des Gebrauchs ermöglicht es indes, die Tatsache des emotivistischen Missbrauchs der moralischen Sprache anzuerkennen und zugleich zurückzuweisen, wobei freilich die Begründung und Bestätigung wertender Urteile in der emotivistischen Kultur den Zugang zu Kriterien erfordert, die nicht willkürlich sind, sondern sich vernünftig begründen lassen.
Wenn der Emotivismus zutrifft, dann ist die moralische Sprache höchst irreführend. Denn einer Aussage wie »Das ist schlecht!« haftet doch ein anderer Anspruch auf Geltung an als der Aussage »Ich stimme dem nicht zu; mach es ebenso!«, da erstere gleichwohl von einem wie auch immer ausgedünnten Bezug auf eine objektive und unpersönliche Norm zehrt. Dieser Bezug würde erst dann völlig verlorengehen, wenn der Emotivismus gemeinhin für wahr gehalten würde. Daraus ergäben sich freilich sehr weitreichende Konsequenzen, die MacIntyre folgendermaßen andeutet:
Das heißt, wenn und insoweit der Emotivismus recht hat, dann ist die moralische Sprache in höchstem Maße irreführend und dann müßte auch der Gebrauch der traditionellen und ererbten moralischen Sprache eigentlich aufgegeben werden. Diesen Schluß zog keiner der Emotivisten; und es ist auch klar, daß sie, wie Stevenson, versäumten, ihn zu ziehen, weil sie ihre eigene Theorie fälschlicherweise als Theorie der Bedeutung auslegten. (36)
Emotivismus und Täuschung sind nicht voneinander zu trennen, zumindest solange die überkommene moralische Sprache weiter verwendet wird. Dies ist von entscheidender Bedeutung für MacIntyres in Auseinandersetzung mit dem Emotivismus entwickelte These, wie er deutlich herausstellt:
Denn eine Möglichkeit, meinen Streitpunkt, daß die Moral nicht mehr das ist, was sie einmal war, zu fassen, besteht darin zu erklären, daß die Menschen heute in erheblichem Umfang so denken, sprechen und handeln, als wäre der Emotivismus wahr, gleichgültig was ihr erklärter theoretischer Standpunkt ist. Der Emotivismus ist in unsere Kultur eingegliedert worden. (39)
Damit ist indes auch gesagt, dass die Moral zum großen Teil verschwunden ist, was einen Rückschritt und schweren kulturellen Verlust darstellt. Aus dieser Entwicklung leitet MacIntyre zwei Aufgaben ab. Die erste besteht darin, die verlorene Moral näher zu bestimmen und ihre Ansprüche auf objektive und vernünftige Geltung zu prüfen. Die zweite Aufgabe beschreibt er, das dritte Kapitel abschließend, folgendermaßen:
Die zweite Aufgabe besteht darin, meine Behauptung über den besonderen Charakter der Neuzeit zu beweisen. Denn ich habe erklärt, daß wir in einer besonders emotivistischen Kultur leben, und wenn dem so ist, müßten wir eigentlich entdecken, daß sehr viele unserer Begriffe und Verhaltensweisen - und nicht nur unsere expliziten moralischen Debatten und Urteile - die Wahrheit des Emotivismus voraussetzen, wenn nicht auf der Ebene selbstbewußten Theoretisierens, dann doch wenigstens im täglichen Leben. Aber ist dem so? (40)