MacIntyre wendet sich daher im folgenden Kapitel mit dem Titel Warum das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral scheitern mußte ebendieser Frage zu. Seine Antwort besagt im wesentlichen, dass dieses Projekt wegen des Ausschlusses des teleologischen Denkens scheitern musste, da die sich daraus ergebende Konzeption der Moralität von unaufhebbaren inneren Widersprüchen zerrissen wird.
Die Vertreter der verschiedenen Vorhaben zur Realisierung dieses Projekts dürfen dabei »nicht als Teilnehmer an einer zeitlosen Moraldebatte«, sondern vielmehr vor »ihrem ganz speziellen, gemeinsamen historischen Hintergrund« (75) verstanden werden. Sie stimmen hinsichtlich Inhalt, Art der Begründung und Problemlage überein. Der Inhalt der Moral wird aus der Tradition der christlichen Moral weitgehend übernommen. Die Begründung soll sich auf Eigenschaften der menschlichen Natur beziehen. Und die Problemlage ergibt sich aus dem Anknüpfen an die überkommene Konzeption der Moral unter geschichtlich veränderten Bedingungen.
MacIntyre erläutert:
So haben all diese Autoren teil an dem Vorhaben, gültige Argumente aufzustellen, die von Prämissen über die menschliche Natur ausgehend, wie sie ihrem Verständnis nach ist, bis hin zu Schlußfolgerungen über die Autorität moralischer Vorschriften und Gebote führen. Ich möchte behaupten, daß jedes Vorhaben dieser Art scheitern mußte, weil ein unaufhebbarer Widerspruch bestand zwischen der ihnen gemeinsamen Konzeption moralischer Vorschriften und Gebote einerseits und der andererseits - trotz größerer Widersprüche - ihnen gemeinsamen Konzeption der menschlichen Natur. (76)
Die historischen Vorläufer dieser Konzeptionen waren in ihrer Grundstruktur vor allem geprägt durch die aristotelische Ethik, in der Moral und menschliches Handeln teleologisch begriffen werden. Moralität und deren Regeln werden als die Suche nach den besten Mitteln im Streben nach einem telos (Ziel) des menschlichen Lebens verstanden. Eine Handlung oder ein Wunsch kann in der aristotelischen und auch in der thomistischen Ethik danach beurteilt werden, ob er dem Streben nach dem Guten dient oder nicht.
Das telos wiederum ergibt sich im Rahmen einer solchen Ethik aus dem Begriff, dem Wesen des Menschen selbst, der aus seinem unvollkommenen Naturzustand zur vollen Entfaltung seines in ihm angelegten Wesens strebt, wobei die Ethik ihm den Weg der praktischen Umsetzung weist.
MacIntyre beschreibt dies folgendermaßen:
Innerhalb dieses teleologischen
Eigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wurde teleological fälschlich mit theologischen übertragen. Systems besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen dem Menschen wie er ist und dem Menschen wie er sein könnte, wenn er sein eigentliches Wesen erkennen würde. Die Ethik ist die Lehre, die den Menschen fähig machen soll zu verstehen, wie er den Übergang vom ersten in den zweiten Zustand bewerkstelligt. Deshalb setzt die Ethik in dieser Sichtweise die Berücksichtigung von Potentialität und Handeln voraus, die Berücksichtigung des Wesens des Menschen als rationalem Tier, und vor allem die Berücksichtigung des menschlichen Telos. (77; Hervorhebungen im Original)
Die Tugenden und die sich daraus ergebenden Normen dienen als Leitschnur für das Handeln, das von der Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen zu dessen Verwirklichung führen soll. Dies lehrt die Vernunft. Diese Konzeption basiert auf drei elementaren Konzepten: dem unvollkommenen Naturzustand des Menschen, dem vollkommenen Wesen des Menschen als telos und der Ethik als vernunftgeleitetem Übergang durch moralische Praxis zur Verwirklichung des menschlichen Wesens.
Durch die Verbindung dieser teleologischen Grundstruktur mit theistischen Vorstellungen, beispielsweise in ihrer christlichen Gestalt bei Thomas von Aquin, in ihrer jüdischen bei Mūsā ibn Maymūn (Maimonides) und in ihrer islamischen bei Ibn Ruschd, erfolgt zwar eine Erweiterung, aber keine grundsätzliche Veränderung. Zwar werden etwa Gebote nunmehr nicht nur teleologisch verstanden, sondern auch als von Gott gegebene Gesetze, aber die dreigliedrige teleologische Struktur bleibt erhalten und ist weiterhin von größter Bedeutung.
Es ist allerdings anzumerken, dass es freilich nur bei solchen theistischen Konzeptionen keine grundsätzlichen Veränderungen gibt, in denen die entscheidenden aristotelischen Grundbegriffe mehr oder weniger unverändert beibehalten werden. MacIntyre erläutert die aus der Verbindung von Teleologie und Theismus hervorgegangene Moral folgendermaßen:
Die moralische Äußerung hat demnach in der Zeit, in der die theistische Version der klassischen Moral vorherrscht, zwei Seiten und Ziele und enthält eine doppelte Norm. Jemandem zu sagen, was er tun sollte, bedeutet ihm zu ein und derselben Zeit zu sagen, welche Handlungsweise unter den gegebenen Umständen eigentlich zum wahren Ziel des Menschen führt, und zu sagen, was das Gesetz vorschreibt, das von Gott gegeben ist und der Vernunft einsichtig ist. Moralische Sätze werden in diesem Rahmen gebraucht, um Behauptungen aufzustellen, die richtig oder falsch sind. Die meisten mittelalterlichen Verfechter dieses Systems glaubten selbstverständlich, daß es sowohl Teil der göttlichen Offenbarung als auch eine Entdeckung der Vernunft und damit rational vertretbar sei. (78)
Dieser Zusammenhang wird jedoch in der Folge durch den Protestantismus zerstört, der die Vernunft aufgrund des Sündenfalls als unfähig erachtet, Einsicht in das wahre Ziel des Menschen zu erlangen. Die Vernunft verliert auch ihre Fähigkeit, die Leidenschaften beherrschen zu können, und wird mithin zu deren Spielball.
Zwar mag es noch göttliche Gebote geben, aber den Weg zum Ziel kann die ethische Praxis nicht mehr ebnen, sondern ausschließlich die göttliche Gnade. Neben den Protestanten Luther, Calvin und Hume kommt dabei dem jansenistischen Katholiken Pascal eine wichtige Rolle zu, die MacIntyre so beschreibt:
Denn Pascal erkennt, daß der protestantisch-jansenistische Vernunftbegriff in wesentlicher Hinsicht mit dem Vernunftbegriff übereinstimmt, dem die fortschrittlichsten Philosophien und Wissenschaften des 17. Jahrhunderts folgen. Vernunft umfaßt weder das innere Wesen noch den Übergang von Potentialität zum Handeln; diese Begriffe gehören zum verachteten Begriffssystem der Scholastik. (78-79)
Die Vernunft wird daraufhin auf berechnendes Denken und instrumentelle Rationalität im Dienste von Leidenschaften und Interessen zurechtgestutzt. Über Ziele und Zwecke hat und vermag sie nichts mehr zu sagen. Durch die dadurch bedingte Auslöschung des telos des Menschen wird ein wesentliches Element aus der dreigliedrigen Moralkonzeption herausgebrochen, die somit nur noch aus zwei Elementen besteht, deren Verhältnis zueinander dadurch überdies äußerst problematisch wird. Der Inhalt der Moral und die menschliche Natur stehen einander nun unvermittelt gegenüber. Da die ethischen Gebote doch der Vervollkommnung der menschlichen Natur dienen sollten, können sie nicht aus Eigenschaften dieser Natur in ihrer unvollkommenen Gestalt abgeleitet werden, die nach dem Verlust des telos einzig übriggeblieben ist.
MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:
Die Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts befaßten sich deshalb mit einem zwangsläufig erfolglosen Vorhaben; denn sie versuchten, eine rationale Basis für ihre moralischen Überzeugungen in einem besonderen Verständnis der menschlichen Natur zu finden, während sie auf der einen Seite einen Bestand an moralischen Gesetzen übernahmen und auf der anderen einen Begriff der menschlichen Natur, die ausdrücklich so gestaltet waren, daß sie einander widersprachen. Dieser Widerspruch wurde durch ihre revidierten Überzeugungen über die menschliche Natur nicht ausgeräumt. Sie übernahmen unzusammenhängende Bruchstücke eines einst zusammenhängenden Denk- und Handlungssystems, und da sie ihre besondere historische und kulturelle Situation nicht erkannten, konnten sie die Unmöglichkeit und Wirklichkeitsferne ihrer selbstgewählten Aufgabe nicht erkennen. (80)
In der aristotelischen Tradition strebt der unvollkommene Mensch durch ethische Entfaltung nach der Verwirklichung seines wahren Wesens, während in der modernen Moral der unvollkommene Mensch einfach den Regeln der Moral zu folgen hat, ohne dass noch ein Bezug zu einem übergeordneten Zweck zu erkennen wäre. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht also darin, bei aller Zweckfreiheit für diese Regeln eine rationale Grundlage zu finden. Daraus ergab sich eine eigentümliche Doppelbewegung, die trotz aller immer wieder unternommenen Versuche, die Moral auf die menschliche Natur zu gründen, sich »immer uneingeschränkter der Behauptung [näherte], daß kein schlüssiges Argument von ausschließlich faktischen Voraussetzungen zu einem moralischen oder wertenden Schluß führen kann – ein Prinzip, dessen Annahme ein Epitaph für ihr gesamtes Vorhaben bedeutet.« (81)
Die aufgeklärten Vertreter des Projekts der rationalen Rechtfertigung der Moral zeigten also zugleich, das heißt im Zuge des stets erneuerten Versuchs seiner Durchführung, immer deutlicher eben seine Undurchführbarkeit auf. So kommt es, dass sich in Diderots Rameaus Neffe »eine schärfere und einsichtigere Kritik des gesamten Vorhabens der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts als in jeder externen Kritik der Aufklärung« (81) findet. Kant wiederum kam in der Kritik der praktischen Vernunft zu der Einsicht, dass »das gesamte Vorhaben der Moral ohne teleologischen Rahmen unverständlich wird« (81). Und Hume brachte noch als Zweifel zum Ausdruck, was später zum sogenannten Humeschen Gesetz erhoben wurde, nämlich dass aus einem nicht-normativen »ist«-Satz nicht logisch auf einen normativen »soll«-Satz geschlossen werden kann.
MacIntyre bestreitet indes die Gültigkeit dieses »Gesetzes«, das den Übergang von »ist« zu »soll« verbietet, indem er Gegenbeispiele anführt wie etwa Aussagen mit Begriffen wie Kapitän, Uhr und Bauer. Denn aus solchen faktischen Aussagen können gelegentlich normative Schlussfolgerungen folgen. Es handelt sich dabei um funktionale Begriffe, die »im Hinblick auf den Zweck oder die Funktion, die eine Uhr oder ein Bauer nach unserer Erwartung normalerweise erfüllt« (83-84), definiert werden. Daraus ergibt sich, dass beispielsweise der Begriff einer Uhr nicht unabhängig vom Begriff einer guten Uhr definiert werden kann. Funktionale Begriffe können daher die Kluft von Sein und Sollen überbrücken.
Wenn dies für funktionale Begriffe gilt, so legt sich die Vermutung nahe, dass die Anwendung des Humeschen Gesetzes auf alle Begründungen auf dem Gebiet der Moral auf der Annahme beruht, dass moralische Begründungen keine funktionalen Begriffe enthalten. Und das steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Verwerfung des teleologischen Denkens und des damit einhergehenden Bedeutungswandels vieler Begriffe.
In der aristotelischen Tradition kommt allerdings vielen, insbesondere für den Bereich des Moralischen relevanten Begriffen funktionaler Gehalt zu. Ganz besonders deutlich wird dies etwa für den Begriff des Menschen. Denn dem Menschen wird eine wesenhafte Natur und ein wesenhafter Zweck oder Funktion zugeschrieben. Daraus ergibt sich, dass Mensch begrifflich für guter Mensch steht wie Uhr für gute Uhr. MacIntyre führt dies auf das gesellschaftliche Leben zurück, dessen Wurzeln noch viel weiter als Aristoteles zurückreichen und das im Denken der klassischen Tradition zum Ausdruck kommt, und erläutert dies folgendermaßen:
Denn nach dieser Tradition bedeutet ein Mensch zu sein, eine Vielzahl Rollen einzunehmen, die alle ihr Ziel und ihren Zweck haben: Familienmitglied, Bürger, Soldat, Philosoph, Diener Gottes. Nur wenn man sich den Menschen als Individuum vor und getrennt von allen Rollen denkt, hört der Begriff »Mensch« auf, ein funktionaler Begriff zu sein. (85)
Die Verarmung des Gehalts moralischer Begriffe und Begründungen wird in der modernen Philosophie in Gestalt des Humeschen Gesetzes zur zeitlosen Wahrheit verklärt, was doch nur Mangel an historischem Bewusstsein verrät. Denn ihre Verkündigung war ein einschneidendes historisches Geschehen, da sich darin sowohl der Bruch mit der aristotelischen Tradition wie auch das unausweichliche Scheitern des Projektes einer Begründung der Moral im Rahmen der überkommenen, aber bereits inkohärenten und fragmentarischen Tradition bekundet.
Darüber hinaus kommt es auch zu einer Änderung des Sinns von moralischen Urteilen. In der aristotelischen Tradition ist der Gebrauch von gut meist mit der Vorstellung von einem Zweck oder einer Funktion verbunden, dem etwas dient. Und dazu gehören auch Menschen und Handlungen, wie MacIntyre darlegt:
Eine bestimmte Handlung gerecht oder richtig zu nennen bedeutet zu sagen, daß ein guter Mensch in einer derartigen Situation so handeln würde; daher ist auch diese Art von Aussage faktisch. Innerhalb dieser Tradition können moralische und wertende Aussagen in genau derselben Art und Weise richtig oder falsch genannt werden […] Aber sobald die Vorstellung wesentlicher menschlicher Ziele und Funktionen aus der Ethik verschwindet, leuchtet es nicht mehr ein, moralische Urteile wie faktische Aussagen zu behandeln. (86)
Werden zudem moralische Urteile, wie es in der Aufklärung geschieht, nicht mehr als Teil der göttlichen Offenbarung betrachtet, so werden sie immer mehr auf den Status von bloßen Imperativen reduziert und des Bereiches von Wahrheit und Falschheit verwiesen. Dass bis heute gleichwohl moralische Urteile gewohnheitsmäßig als wahr oder falsch bezeichnet werden, ist nur als Überbleibsel der klassischen Tradition zu erklären. Die Frage, warum ein bestimmtes Urteil wahr oder falsch ist, bleibt unter diesen Bedingungen indes ohne klare Antwort.
MacIntyre erläutert:
Daß dies so sein muß, ist vollkommen einsichtig, falls die historische Hypothese richtig ist, die ich skizziert habe: daß moralische Urteile sprachliche Überreste der praktischen Anwendung des klassischen Theismus sind, die den durch diese praktische Anwendung gebildeten Kontext verloren haben. (86)
Im Rahmen der Praktiken des Theismus waren die moralischen Urteile zugleich auf einen Zweck bezogen wie auch Ausdruck eines Gesetzes, also nach der kantischen Einteilung zugleich hypothetisch und kategorisch. Moralische Urteile können so beispielsweise die Übereinstimmung einerseits mit dem Sinn oder telos des menschlichen Lebens wie auch andererseits mit dem von Gott gegebenen Gesetz artikulieren. Wird ihnen jedoch beides genommen, was sind sie dann?
MacIntyre gibt folgende Antwort:
Moralische Urteile verlieren dann ihren eindeutigen Status, und die Sätze, die sie ausdrücken, verlieren parallel dazu ihre unumstrittene Bedeutung. Solche Sätze stehen dann als Ausdrucksformen einem emotivistischen Selbst zur Verfügung, das seinen sprachlichen und praktischen Standpunkt in der Welt verloren hat, da ihm die Anleitung durch den Kontext fehlt, in welchem sie ursprünglich zu Hause waren. (87)
Diese Entwicklung war nicht nur von theoretischer, sondern von eminent gesellschaftlicher Bedeutung. Denn sie war die Erfindung des modernen Selbst, des modernen Begriffs des Individuums. Der Verlust der traditionellen Strukturen und Inhalte wurde von den Vertretern der Aufklärung einseitig als Befreiung des Selbst erachtet, die dies zur Erlangung seiner Autonomie befähigt. Doch die Erfindung der Autonomie und des modernen Individuums führten zur Entstehung der emotivistischen Kultur.