6.3.1 Hauptthesen von After Virtue

Autor: Yusuf Kuhn -

Worin bestehen die Hauptthesen von After Virtue? Einen ersten Überblick können wir uns dankenswerterweise durch einen kleinen Text von MacIntyre selbst verschaffen, der die Behauptungen diese Werks in sieben knappen Thesen zusammenfasst: The Claims of After Virtue (Die Behauptungen von After Virtue).Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72.

Einleitend stellt MacIntyre fest, dass After Virtue aus einem langwährenden Nachdenken über die Unzulänglichkeiten früherer Werke hervorgegangen ist, wobei ihn zwei Fragen besonders beschäftigt haben. Die eine betrifft die Weise, in der die Geschichte der philosophischen Ethik mit Blick auf ihren sozialen Kontext geschrieben werden sollte.MacIntyre verweist in diesem Zusammenhang auf ein früheres Werk: Alasdair MacIntyre, A Short History of Ethics: A History of Moral Philosophy from the Homeric Age to Twentieth Century, New York: Macmillan, 1966. Die andere betrifft das Wesen der Untersuchungen von menschlichen Handlungen und Leidenschaften. In beiden Bereichen bewegte ihn zudem die zunehmende Einsicht in die großen Unzulänglichkeiten des Marxismus. Und schließlich erkannte er, dass es, um diese Kritik entwickeln zu können, unerlässlich war, selbst einen moralischen und sozialen Standpunkt zu beziehen, den zu entfalten es wiederum zehn Jahre brauchte, in denen er After Virtue verfasste.

6.3.1.1 Sieben zentrale Thesen

In After Virtue werden sieben zentrale Thesen aufgestellt, die, um einen ersten Eindruck und Überblick zu ermöglichen, zunächst in sehr gedrängter Form in enger Anlehnung an The Claims of After Virtue vorgestellt werden sollen. Anschließend erfolgt eine, für ein rechtes Verständnis zweifellos unerlässliche, ausführlichere Darstellung und Erläuterung der Thesen und des Gedankengangs von After Virtue im umfassenden Kontext des Buches.

Also zunächst die sieben zentralen Thesen als Vorausblick in geraffter Form:

(1) Durch eine historische Entwicklung von katastrophalen Ausmaßen wird in der modernen Gesellschaft und Kultur die Moral ihrer rationalen Grundlagen beraubt, so dass es zu Meinungsverschiedenheiten über zentrale moralische Fragen kommt, die unlösbar sind, da die jeweiligen Antworten auf inkommensurablen Argumentationsweisen basieren. Moralische Urteile werden durch ihre Ablösung von den theoretischen und sozialen Kontexten, in denen sie ursprünglich entwickelt und rational gerechtfertigt wurden, zum bloßen Ausdruck von subjektiven Haltungen und Gefühlen. Von manchen Moralphilosophen wird dieser Gebrauch des moralischen Diskurses fälschlich zu einer Theorie der Moral verallgemeinert und als Emotivismus bezeichnet – ein Ausdruck, den MacIntyre seinerseits lediglich zur Beschreibung der spezifisch modernen moralischen Verfassung aufgreift.

(2) Eine wesentliche Ursache für die katastrophale Entwicklung ist das Scheitern des Projektes der Aufklärung, die vermeintlich diskreditierte traditionelle Moralität durch eine säkulare Moralität zu ersetzen, die von jeder vernünftigen Person anerkannt zu werden verdiente. Von den verschiedenen Versuchen einer solchen rationalen Begründung vor allem in kantianischer oder utilitaristischer Gestalt blieben, durch deren Misslingen bedingt, sich gegenseitig widersprechende moralische Positionen übrig, die gleichwohl eine rationale Rechtfertigung für sich in Anspruch nahmen und die Ansprüche ihrer jeweiligen Rivalen bestritten. Da die Vernunft sich offenkundig als unfähig erwies, diese Debatten zu schlichten, erstarkten antirationale Positionen wie der Emotivismus.

(3) Zudem kamen dadurch in der weiteren Kultur moralische Begriffe in Umlauf, die, ihrer vormaligen rationalen Begründung beraubt, nur noch den Anschein mit sich führen, auf einer vernünftigen Grundlage zu beruhen, und daher in den Dienst von allerlei Interessen gestellt werden können, die allerdings verschleiert werden. Zu diesen Begriffen, die somit zu nützlichen Fiktionen verkommen, gehören so zentrale Konzepte wie das der Menschenrechte und der Nützlichkeit oder Wohlfahrt. In einer solchen moralischen Kultur werden die Beziehungen zwischen den Menschen zu rein manipulativen, die überdies durch die modernen Apparate der Bürokratie und des Managements unter der legitimatorischen moralischen Fiktion der Effektivität verwaltet werden.

(4) Wie kein zweiter hat Nietzsche diesen Verfall der Moral zu einem Maskenspiel im Dienste von Interessen und Machtbestrebungen erkannt. Dabei hat er indes das Verständnis dieser spezifischen historischen Entwicklung zu einer universellen Genealogie der Moral verallgemeinert. Es gab jedoch einen spezifischen Irrtum, der dem Scheitern des Projekts der Aufklärung zugrunde liegt, den Nietzsche nicht erkannte, nämlich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik. So sieht MacIntyre die gegenwärtige Moralphilosophie mit zwingender Konsequenz vor die Alternative gestellt: Nietzsche oder Aristoteles?

(5) Im zweiten Teil von After Virtue wird auf der Grundlage einer Darstellung der Geschichte verschiedener Konzeptionen der Tugenden vom archaischen Griechenland bis ins europäische Mittelalter der Versuch unternommen, einen Begriff der Tugenden zu entfalten, der in drei Schritten erfolgt. Tugenden sind erstens alle diejenigen Qualitäten, ohne die Menschen die Güter, die Praktiken (practices) intern sind, nicht erreichen können; Tugenden sind zweitens die Qualitäten, die erforderlich sind, um die Güter zu erlangen, die dem Leben eines Menschen seinen telos (Sinn, Zweck) verleihen, was wiederum nicht möglich ist, ohne dass diesem Leben eine gewisse einheitliche narrative Struktur zukommt; und Tugenden sind drittens die Qualitäten, die erforderlich sind, um soziale Traditionen in guter Verfassung aufrechtzuerhalten und zu bewahren.

(6) Die Verwerfung und Aufgabe der aristotelischen und christlichen Tradition der Tugenden im Spätmittelalter bereitete dem Projekt der Aufklärung den Weg. Dadurch konnte sich durch die Wiederbelebung ursprünglich stoischer Begriffe der Tugend, nun im Singular, ein Tugendbegriff durchsetzen, der insbesondere in seiner kantischen Gestalt soziales Leben und philosophische Theorie durchdringend beeinflussen konnte. Nunmehr ist die Zeit nach der Tugend (after virtue) angebrochen, in der in der allgemeinen moralischen Kultur weder Tugenden noch Tugend von zentraler Bedeutung und unlösbare Debatten vorherrschend sind.

(7) Die siebte These sei abschließend in MacIntyres eigenen Worten wiedergegeben:

Ich argumentiere an verschiedenen Stellen im Buch, dass, obgleich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik unter den historischen Umständen, die in und nach dem Spätmittelalter hervorgerufen wurden, verständlich ist, sie niemals als berechtigt aufgewiesen werden konnte. Und ich ziehe den Schluss, dass der moralische Aristotelismus, wenn er recht verstanden wird, von der Art von Kritik, die Nietzsche mit Erfolg gegen Kant wie auch die Utilitaristen gerichtet hat, nicht untergraben werden kann. Ich ziehe daher den Schluss, dass Aristoteles gegen Nietzsche bestätigt ist, und überdies, dass nur eine Geschichte der ethischen Theorie und Praxis, die von einem aristotelischen und nicht von einem nietzscheanischen Standpunkt aus geschrieben ist, uns befähigt, die Natur der moralischen Verfassung der Modernität zu verstehen.Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, hier S. 6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 72.