Im daran anschließenden vierten Kapitel mit dem Titel Die Kultur unserer Vorgänger und das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral vertritt MacIntyre die Auffassung, dass die Entwicklungen der Sozialgeschichte, die zur geschilderten Wandlung der Moral und zur Herausbildung des emotivistischen Selbst geführt haben, vor allem Episoden der Geschichte der Philosophie sind. Nur durch diese Geschichte lässt sich der gegenwärtige Zustand des alltäglichen moralischen Diskurses verstehen. Denn die entscheidenden Veränderungen vollzogen sich in einer Zeit, da die Philosophie noch maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft ausübte, im Gegensatz zur Gegenwart, da der Philosophie allenfalls ein akademisches Schattendasein neben den aus ihr hervorgegangenen und nun dominanten Wissenschaften zugestanden wird.
MacIntyre erkennt in dem Niedergang derjenigen Kultur, in der die Philosophie noch eine zentrale Rolle spielte, eine wesentliche Ursache für die modernen Verwerfungen, wenn er schreibt:
Ich werde weiterhin argumentieren, daß das Scheitern jener Kultur, ihre praktischen und gleichzeitig philosophischen Probleme zu lösen, einer und vielleicht der entscheidende Umstand war, der die Form unserer philosophischen wie auch praktischen sozialen Probleme bestimmt. (58)
Er verfolgt die Spuren dieser Entwicklung bis auf die Aufklärung zurück. Denn die Kultur des Emotivismus folgte auf das Scheitern des Aufklärungsprojekts der rationalen Rechtfertigung der Moral. Bei allen Unterschieden, welche die daraus hervorgegangenen Vorhaben zur Umsetzung dieses Projektes auszeichnen, teilen sie doch einen erstaunlich großen Kern von Annahmen und Überzeugungen.
Dass die Moralbegründung auf der Vernunft basieren sollte, heißt für alle diese Vorhaben, dass überkommene Theologie und Teleologie daraus zu verbannen sind. Der radikale Bruch in dieser Hinsicht ging allerdings einher mit einer überraschenden Kontinuität in der Frage des Inhalts und der Art der moralischen Normen, die als vorgegebener Bestand weitgehend aus der christlichen Tradition übernommen werden.
Und sie stimmen auch darin überein, wie eine vernünftige Begründung der Moral formal zu gestalten sei. Aus einigen Prämissen über die Eigenschaften der Natur des Menschen sollten moralische Regeln begründet und abgeleitet werden, indem diejenigen Regeln ausgezeichnet werden, die ein Wesen mit einer solchen Natur für sich wählen und einhalten müsste.
Die Kultur der Aufklärung brachte mit der Verwerfung jeglicher Verankerung der Moral in göttlichen Geboten und einem bestimmen Sinn (telos) des menschlichen Lebens eine Moralphilosophie hervor, die Moralität von allen anderen Bereichen, mit denen sie bislang verknüpft war, abspaltete. Dadurch entsteht allererst der Bereich des Moralischen als unabhängige Sphäre, die für die moderne Moral so charakteristisch ist, wie MacIntyre anschaulich beschreibt:
Wir sind so daran gewöhnt, Urteile, Argumente und Taten in moralischen Kategorien zu klassifizieren, daß wir ganz vergessen, wie relativ neu diese Vorstellung in der Kultur der Aufklärung war. (59)
Das moderne Wort moralisch kommt überhaupt erst ab dem siebzehnten Jahrhundert allmählich in Gebrauch. Weder im Altgriechischen noch im Lateinischen gibt es bezeichnenderweise eine passende Entsprechung. MacIntyre verortet den Ursprung dieses Ausdrucks in der Epoche »etwa zwischen 1630 und 1850« (60), in der das Wort Moral zur Bezeichnung eines besonderen Bereichs wurde, indem das Moralische immer strikter vom Religiösen, Rechtlichen und Ästhetischen getrennt wurde.
Im gleichen Zuge stieg das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral zu einem zentralen Anliegen der modernen Kultur auf. Diese durch die Aufklärung geprägte Kultur war der Vorläufer, auf den der Emotivismus eine Reaktion darstellt. MacIntyre hebt hervor:
Es ist eine der grundlegenden Thesen dieses Buches, daß das Scheitern dieses Projekts den historischen Hintergrund lieferte, vor dem die mißliche Lage unserer eigenen Kultur verständlich werden kann. (61)
MacIntyre beleuchtet nun diesen historischen Hintergrund, indem er die Geschichte des Aufklärungsprojektes ausführlich und im Rückgang, ausgehend vom modernen Standpunkt in seiner voll entwickelten Form schildert. Die Stationen des Weges, den er dabei abschreitet, sind vor allem Kierkegaards Enten-Eller (Entweder-Oder), Kants moralphilosophische Werke, Diderots Le Neveu de Rameau (Rameaus Neffe) und Humes Treatise of Human Nature (Traktat über die menschliche Natur).
Den Ausgangspunkt bildet die moderne Auffassung des moralischen Diskurses als einer endlosen und unlösbaren Debatte zwischen inkommensurablen Prämissen, wobei die moralische Verpflichtung als das Ergebnis einer Entscheidung für eine beliebige Position ohne rationale Kriterien erscheint. Von hier aus vollzieht MacIntyre den ersten Schritt zurück in der philosophischen Geschichte:
Dieses Element der Willkür in unserer moralischen Kultur wurde als philosophische Entdeckung – ja als Entdeckung beunruhigender, sogar schockierender Art – vorgetragen, lange bevor es zu einem Allgemeinplatz im alltäglichen Diskurs wurde. Diese Entdeckung wurde sogar zuerst mit genau der Absicht, die Teilnehmer des alltäglichen moralischen Diskurses zu schockieren, in einem Buch vorgelegt, das Ergebnis und zugleich Nachruf auf den systematischen Versuch der Aufklärung war, eine rationale Rechtfertigung der Moral zu finden. (61)
Dieses Buch ist Kierkegaards Entweder-Oder, das schon im Titel offensichtlich vor eine radikale Wahl stellt, und zwar zur Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Lebensweisen, von denen der moralisch Handelnde sich für eine entscheiden muss: entweder die ethische Lebensweise oder die ästhetische Lebensweise. Und die Entscheidung ist insofern zutiefst grundsätzlich, da gar nicht zwischen Gut und Böse zu wählen ist, sondern vielmehr, ob überhaupt in Begriffen von Gut und Böse gewählt werden soll. Es steht also der moralische Standpunkt selbst in Frage.
Da es sich dabei um die Wahl zwischen Grundprinzipien handelt, für die keine weiteren Gründe angeführt werden können, ohne schon eine der beiden Positionen implizit vorauszusetzen, muss die Entscheidung grundlos bleiben. Steht jemand vor der Wahl zwischen ihnen, ohne schon eine von beiden eingenommen zu haben, kann ihm kein Grund genannt werden, warum er die eine der anderen vorziehen sollte. Es ist eine radikale, grundlose und letzte Wahl.
Zu den Konsequenzen dieser Vorstellung merkt MacIntyre folgendes an:
Dieser Gedanke zerstört die gesamte Tradition einer rationalen moralischen Kultur — falls er nicht selbst rational abgewehrt werden kann. (64; Hervorhebung im Original)
Kursivierung nicht in der deutschen Ausgabe, wohl aber im englischen Original, siehe After Virtue, S. 41.
MacIntyre weist sodann auf die tiefe innere Inkonsistenz zwischen dem Begriff der radikalen Wahl und dem Begriff des Ethischen hin. Denn der Bereich des Ethischen beruht auf der Vorstellung, dass mit den moralischen Geboten eine gewisse Autorität einhergeht, die ihnen den verpflichtenden Charakter verleiht. Und die Autorität eines Prinzips leitet sich gewöhnlich von den Gründen her, die für seine Wahl sprechen. Nun gibt es aber für ein Prinzip, das einer willkürlichen Entscheidung entspringt, keine Gründe, also auch keine Autorität. Wer einem solchen Prinzip folgt, handelt völlig willkürlich und könnte ebenso gut jederzeit und nach Belieben wählen, das Prinzip aufzugeben. Das Prinzip selbst gehört daher wohl eher in den ästhetischen Bereich.
Damit ist der Widerspruch in Kierkegaards Lehre aufgezeigt. Und »falls das Ethische irgendeine Grundlage hat« (65), kann sie jedenfalls nicht durch den Begriff der radikalen Wahl geliefert werden. Damit scheitert Kierkegaards Versuch einer Grundlegung der Moral.
Bei aller Beliebigkeit der vermeintlichen Grundlage ist allerdings bemerkenswert, dass für Kierkegaard der Inhalt des Ethischen, den er bezeichnenderweise der überkommenen christlichen Moral entnimmt, völlig konservativ und traditionell ist. MacIntyre stellt dazu folgendes fest:
[...] Kierkegaard verbindet den Gedanken der absoluten Wahl mit einer nicht in Frage gestellten Konzeption des Ethischen. [...] Das zu erkennen heißt erkennen, daß Kierkegaard ein neues praktisches und philosophisches Fundament für eine ältere, ererbte Lebensanschauung liefert. Vielleicht ist es diese Kombination aus Neuem und Traditionen, die die Inkohärenz im Kern der Kierkegaardschen Position erklärt. Es ist, wie ich darlegen werde, sicher gerade diese zutiefst inkohärente Kombination aus Neuem und Ererbtem, die das logische Ergebnis des Projekts der Aufklärung ist, eine rationale Grundlage und Rechtfertigung der Moral zu liefern. (65-66)
Für Kierkegaards Konzeption der radikalen Wahl zwischen ethischer und ästhetischer Lebensweise bildet Kants Moralphilosophie mit ihrer radikalen Unterscheidung zwischen Pflicht und Neigung die »philosophische Kulisse« (66). Kierkegaards Begriff der Wahl als Grundlage des Ethischen kann als Reaktion auf das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen, verstanden werden.
MacIntyre verweist darauf, dass Kant den Gehalt der Moral ebenfalls als gegeben betrachtet und ganz konservativ aus dem Erbe der christlichen Moral übernimmt, und beschreibt Kants Konzeption der Moralphilosophie äußerst prägnant in folgenden knappen Sätzen:
Im Mittelpunkt der Moralphilosophie Kants stehen zwei trügerisch einfache Thesen: wenn die Gesetze der Moral rational sind, müssen sie für alle rationalen Wesen gleich sein, genauso wie es die Gesetze der Arithmetik sind; und wenn die Gesetze der Moral für alle rationalen Wesen bindend sind, dann ist die mögliche Fähigkeit dieser Menschen, sie auszuführen, unwesentlich - wesentlich ist ihr Wille, sie auszuführen. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ist daher nur ein Projekt zur Entwicklung eines rationalen Tests, der die Maximen, die den Willen als wahrhaften Ausdruck des Sittengesetzes binden, von den Maximen unterscheidet, die dem Sittengesetz nicht auf diese Weise entsprechen. (66; Hervorhebung im Original)
Das Moralgesetz als vernünftiges gilt für alle vernünftigen Wesen, also nicht nur für die Menschen, sondern über die Menschen als bedingt vernünftige Wesen hinaus insbesondere für alle wahrhaft vernünftigen Wesen, welche die intelligible Welt bevölkern. Und es kommt gar nicht darauf an, ob Menschen das Moralgesetz in ihrem Handeln umsetzen können, sondern vielmehr einzig darauf, ob der Wille von Menschen als vernünftigen Wesen durch das Moralgesetz bestimmt wird oder werden kann.
MacIntyre geht jedoch auf die dieser kantischen Konzeption ganz unverhohlen zugrunde liegenden metaphysischen Annahmen, wie beispielsweise die Spaltung in die empirische Sinnenwelt (mundus sensibilis), der die wirklichen Menschen angehören, und die nicht-empirische Geisterwelt (mundus intelligibilis), in der vernünftige Wesen nach moralischen Gesetzen Umgang pflegen, fast gar nicht ein, ohne die sich indes diese Konzeption kaum verstehen lässt, sondern geht direkt über auf die Funktion des kategorischen Imperativs als Test der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen, die so auf ihre Übereinstimmung mit dem Sittengesetz hin geprüft werden sollen.
Da Kant die Moralphilosophie auf die Vernunft gründet, die kein ihr äußerliches Kriterium duldet und daher alles der Erfahrung Entstammende von sich fernhält, müssen das Streben nach Glück und göttliche Gebote streng von der Moralität geschieden werden, so dass die Regeln der Moral ohne Bezug auf einen Zweck oder äußeren Inhalt, also rein formal nach dem Prinzip der Universalisierbarkeit bestimmt werden müssen.
MacIntyre erläutert:
Es gehört zum Wesen der Vernunft, daß sie Grundsätze darlegt, die umfassend, kategorisch und in sich schlüssig sind. Eine rationale Moral wird daher Grundsätze aufstellen, die sich alle Menschen zu eigen machen können und sollten, ungeachtet der Umstände und Bedingungen, und die konsequent von jedem vernünftig Handelnden bei jeder Gelegenheit befolgt werden könnten. Die Prüfung einer aufgestellten Maxime ist also leicht zu formulieren: können wir wirklich wollen - oder können wir das nicht, daß immer alle danach handeln? (68; Hervorhebung im Original)
Kant lehnt mithin die zwei wichtigsten Arten der Grundlegung in der traditionellen Moralphilosophie ab. Die Ableitung eines Gebotes aus einem vorgegebenen Zweck einerseits, wie etwa dem Glück, kann nur zu einem bedingten Gebot führen, das lediglich hypothetische Geltung besitzen und damit nicht dem Anspruch der Vernunft auf unbedingte, kategorische Gültigkeit genügen kann. Und auch göttliche Gebote andererseits können dieser Anforderung nicht genügen, da nach Kant die Pflicht zu ihrer Befolgung von der weiteren Bedingung abhängig ist, dass immer zu tun geboten ist, was Gott befiehlt. Um die Frage nach dieser Bedingung zu beantworten, bedürfte es allerdings eines von Gottes Geboten unabhängigen moralischen Kriteriums zur Beurteilung der göttlichen Gebote, was freilich letztere überflüssig machen würde. Der Bereich des Moralischen muss demzufolge strengstens sowohl vom Bereich des Strebens nach Glück als auch vom Bereich der göttlichen Gebote geschieden werden.
MacIntyres Kritik richtet sich nun vor allem auf die Eignung dieses Tests zur Entscheidung über die Moralität von Maximen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser Test als Auswahlkriterium nicht geeignet ist, da ihn auch der Moral offenkundig widersprechende Maximen überstehen.
So stellt MacIntyre folgendes fest:
Aber nicht nur, daß Kants eigene Argumente grobe Fehler enthalten, es ist auch ganz einfach zu erkennen, daß viele unmoralische und triviale, nicht moralische Maximen durch Kants Prüfung ebenso überzeugend und manchmal noch überzeugender unterstützt werden als die moralischen Maximen, die Kant unterstützen will. »Halte dein ganzes Leben alle Versprechen, bis auf eines«, »Verfolge alle, die falsche religiöse Überzeugungen haben« und »Iß im März am Montag immer Muscheln« bestehen die Prüfung Kants, denn sie alle können folgerichtig verallgemeinert werden. (69)
MacIntyre zeigt sodann auf, dass der kategorische Imperativ auch in einer anderen Formulierung keine Lösung des Problems darstellt, wie solche trivialen Maximen ausgeschlossen werden können:
Kant glaubte das, weil er meinte, daß seine Formulierung des kategorischen Imperativs im Sinne der Verallgemeinerbarkeit einer ganz anderen Formulierung entspreche: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«
Das Kant-Zitat findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Siehe Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Band VII, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1982, S. 61. (69)
MacIntyre sieht darin einen moralischen Gehalt, der in der Forderung besteht, den anderen nicht zum bloßen Werkzeug des eigenen Willens zu degradieren, sondern in ihm seine Vernunft zu achten, nämlich mit ihm in eine rationale Beziehung durch den Austausch von Gründen zu treten. In dieser Absage an manipulative Beeinflussung zugunsten vernünftiger Überzeugung kommt der Gegensatz von Kants Moralphilosophie zum Emotivismus sehr deutlich zum Ausdruck. MacIntyre erkennt dies an, bringt aber sogleich folgenden Einwand vor:
Aber Kant nennt uns keinen guten Grund, diese Position einzunehmen. Ich kann mich ohne jede Inkonsistenz darüber hinwegsetzen: »Jeder außer mir soll als Mittel betrachtet werden« mag unmoralisch sein, aber es ist nicht inkonsistent, und es ist nicht einmal inkonsistent, eine Welt aus Egoisten zu wollen, die alle nach dieser Maxime leben. (70)
Und Kant kann letztlich keinen Grund nennen, da er sich durch die radikale Trennung der Moralität von einer praktischen Vernunft, die sich auf Zwecke wie das Streben nach Glück oder auf göttliche Gebote beziehen könnte, jeglicher Möglichkeit beraubt hat, einen Grund anzubieten, der tatsächlich zum entsprechenden Handeln motivieren könnte. Damit ist gewiss längst nicht alles zu Kants Moralphilosophie gesagt, die eine weit ausführlichere und gründlichere Behandlung verdienen würde, für die hier allerdings nicht der Ort ist.
MacIntyre konstatiert jedenfalls hiermit das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen. Und wie Kierkegaards Begründung des Ethischen durch die radikale Wahl als ein Ersatz für Kants Vernunftbegriff verstanden werden kann, so Kants Berufung auf die Vernunft als Reaktion auf Diderots und Humes Versuch, die Moral auf Wunsch und Leidenschaft zu gründen, und dessen Scheitern.
Der Aufklärer Diderot verteidigt ebenfalls die konservativen Sittengesetze und vertritt die Ansicht, dass diese, wenn alle mit aufgeklärtem Blick ihre Wünsche auf lange Frist verfolgen, »im großen ganzen die Gesetze sind, die durch die Berufung auf ihre Grundlagen Wunsch und Leidenschaft gerechtfertigt werden.« (71) Doch welche Wünsche können als legitime Richtlinien für das Handeln anerkannt werden und welche nicht? Darauf kann es im Rahmen dieser Konzeption keine Antwort geben, denn die Wünsche sind dafür viel zu mannigfaltig und heterogen und Regelungen für die Ordnung der Wünsche können nicht selbst wieder von Wünschen abgeleitet werden. Daher scheitert auch Diderots Versuch.
Hume wiederum hat mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da er in der Vernunft nur eine Sklavin der Leidenschaften sieht, können es nur letztere sein, die zum Handeln bewegen. Und er versteht moralische Urteile als Ausdruck von Leidenschaften und Gefühlen, wobei er gleichwohl erkennt, dass moralische Urteile sich auf allgemeine Gesetze berufen. Diesen Zwiespalt versucht er aufzuheben und die Regeln der Moral dadurch zu rechtfertigen, dass er ihre Nützlichkeit zum Erreichen der von den Leidenschaften aufgegebenen Ziele aufzeigt.
MacIntyre macht indes darauf aufmerksam, dass Hume bei seinem Versuch einer Begründung auf versteckte normative Kriterien zurückgreift, indem er aus der Vielfalt möglicher Leidenschaften diejenigen eines normalen oder vernünftigen Menschen herausgreift und damit lediglich die von ihm bevorzugten Normen hineinprojiziert.
Zudem weist MacIntyre auf eine weitere Schwierigkeit hin. Hume stellt fest, dass moralische Regeln nur im Dienste des langfristigen Interesses befolgt werden sollten, und wirft dann die Frage auf, warum es nicht gerechtfertigt sein sollte, »sie zu brechen, wann immer sie uns nicht nützten und der Bruch keine weiteren nachteiligen Folgen hätte.« (73) Durch diesen Mangel einer Begründung, die sich ausschließlich auf Interessen und Nützlichkeit stützt, sieht er sich schließlich genötigt, sich auf eine angeborene Triebfeder zur Uneigennützigkeit zu beziehen.
MacIntyre hält indes dagegen:
Es ist klar, daß Humes Berufung auf die Sympathie ein Einfall ist, der die Kluft überbrücken soll zwischen den Gründen, die ein bedingungsloses Festhalten an allgemeinen und uneingeschränkten Gesetzen unterstützen könnten, und den Gründen zum Handeln oder Urteilen, die sich aus unseren individuellen, schwankenden, umstandsbedingten Wünschen, Empfindungen und Interessen herleiten. Adam Smith sollte sich später auf die Sympathie für genau den gleichen Zweck berufen. Aber die Kluft ist selbstverständlich logisch nicht zu überbrücken, und »Sympathie«, wie Hume und Smith sie verwendet haben, ist die Bezeichnung einer philosophischen Fiktion. (73)
Hume geht bei seiner Argumentation von der Annahme aus, dass die Moral entweder der Vernunft oder den Leidenschaften entspringen muss. Und da er meint, gezeigt zu haben, dass es die Vernunft nicht sein kann, bleibt nur der Schluss auf die Leidenschaften. MacIntyre macht auf die folgenreiche Bedeutung solcher »negativer Argumente« (73) aufmerksam, deren Wirkung sich bei Kant und Kierkegaard nicht weniger deutlich zeigt, und stellt das Kapitel beschließend fest:
So wie Hume die Moral auf die Leidenschaften zu gründen sucht, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Vernunft zu gründen, so gründet Kant sie auf die Vernunft, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Leidenschaften zu gründen, und Kierkegaard gründet sie auf die kriterienlose, absolute Wahl aufgrund dessen, was er für das zwingende Wesen der Überlegungen hält, die sowohl die Vernunft wie die Leidenschaften ausschließen.
So beruhte die Bestätigung der jeweiligen Position in wesentlichen Teilen auf dem Scheitern der beiden anderen, und die wirksame Kritik jeder Position durch die anderen erwies sich unter dem Strich als Scheitern aller. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral war eindeutig gescheitert; und seitdem fehlte der Moral der uns vorausgegangenen Kultur - und anschließend auch unserer eigenen - jede öffentliche, gemeinsame logische Grundlage oder Rechtfertigung. (73-74)
Da Theologie und Teleologie im aufgeklärten Denken ausgedient hatten, war diese Aufgabe der modernen Moralphilosophie zugefallen. Doch die Philosophie konnte ihr nicht gerecht werden. Ihr Scheitern trug wesentlich mit dazu bei, dass die Philosophie ihre zentrale Stellung verlor und marginalisiert wurde. Dieses Scheitern ergab sich aus den historischen Voraussetzungen mit zwingender Konsequenz.