Den Prozess, der zur Entstehung der emotivistischen Kultur führt, beschreibt MacIntyre im nächsten Kapitel, in dem einige Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung näher beleuchtet werden. Die Probleme, mit denen die moderne Moralphilosophie zu kämpfen hat, gehen aus der Weise hervor, in der dieses Projekt fehlgeschlagen ist.
Einerseits verfügt das moderne Selbst über moralische Autonomie. Andererseits haben die Regeln der Moral sowohl ihren teleologischen Charakter als auch ihren kategorischen Charakter als Ausdruck eines göttlichen Gesetzes eingebüßt. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht mithin darin, den moralischen Normen einen neuen Status zu verleihen, indem sie entweder mit einer neuen Teleologie oder mit einer neuen Art von Gebotensein versehen werden, so dass sie nicht als bloße Instrumente von individuellem Wunsch und Wille erscheinen. Da diese Aufgabe aufgrund der inneren Widersprüche, die eine Versöhnung von moralischer Autonomie mit Teleologie oder kategorischen Geboten vereiteln, nicht gelingen kann, steht jede moderne Moralphilosophie unvermeidlich in Gefahr, als Werkzeug im Dienste von Interesse und Macht entlarvt zu werden.
6.3.7.1 Utilitarismus und kantische Pflichtethik
Die zwei Hauptströmungen der modernen Moralphilosophie, Utilitarismus und kantische Pflichtethik, gehen als Lösungsversuche aus dieser Problemstellung hervor. Während der Utilitarismus mit seiner Berufung auf den Nutzen versucht eine neue Teleologie zu entwickeln, strebt der Kantianismus nach einem neuen kategorischen Status durch die Begründung in der Vernunft.
Am Anfang des Utilitarismus steht Jeremy Bentham, der einen Ansatz für die Lösung der moralphilosophischen Probleme in der Annahme erkannt zu haben meint, dass die einzigen Motive für menschliches Handeln im Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerzen liegen. Der neue telos wird im Zweck des Lebens als Maximierung von Lust und Minimierung von Schmerzen gefunden. Lust und Schmerz gelten dabei als quantifizierbare Empfindungen. Von dieser psychologischen Annahme geht Bentham sodann zum moralischen Kriterium über, demzufolge immer die Handlung gewählt werden sollte, »die als Ergebnis der größtmöglichen Zahl von Menschen das größtmögliche Glück bringt - das heißt, die größtmögliche Menge an Lust bei gleichzeitig kleinstmöglicher Menge an Schmerzen.« (90)
Die utilitaristischen Nachfolger von Bentham wiederum, insbesondere John Stuart Mill, erkannten in dieser einfachen Bestimmung der Lust eine Hauptursache für die Schwierigkeiten des Utilitarismus. Mill versuchte daher einen Unterschied zwischen »höherer« und »niedriger« Lust einzuführen. Aber worauf sollte diese Unterscheidung ihrerseits basieren? Welche Lust, welches Glück sollte wirklich leitend sein?
Auf diese Fragen kann jedoch der Utilitarismus, wenn er sich auf den Grundbegriff der Lust stützen will, keine befriedigende Antwort geben. Denn die Vorstellung von Lust oder Glück ist eben keine einheitliche, sondern viel zu unterschiedlich und vielgestaltig. Sie kann weder an quantitativen noch an qualitativen Maßstäben gemessen werden. Da sie kein Kriterium für grundlegende Entscheidungen liefern kann, erweist sie sich als untauglich für die Zwecke des Utilitarismus. MacIntyre kommt daher zu dem Schluss:
[…] der Gedanke des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl [ist] ein Gedanke ohne jeden klaren Inhalt [...]. Er ist tatsächlich ein Pseudokonzept, das für eine Vielzahl ideologischer Verwendungen genutzt werden kann, aber mehr auch nicht. Wenn wir daher im täglichen Leben auf seine Verwendung stoßen, ist es stets notwendig zu fragen, welches eigentliche Vorhaben oder Ziel durch seine Verwendung verschleiert wird. (92)
In der Folge führte die utilitaristische Selbstkritik, die immer weiter vorangetrieben wurde, schließlich bei Sidgwick zu der Einsicht, dass die Psychologie keine Grundlage für eine Teleologie, die utilitaristische Regeln abzuleiten erlaubt, abgeben kann. Sidgwick zog daher daraus den Schluss, dass moralische Auffassungen keine Einheit bilden, sondern unaufhebbar heterogen sind und dass sich für sie keine weiteren Gründe anführen lassen. Er bezeichnet moralische Auffassungen daher als Intuitionen. MacIntyre merkt dazu an:
Sidgwicks Enttäuschung über das Ergebnis seiner Untersuchung kommt in seiner Bemerkung zum Ausdruck, daß er, wo er nach dem Kosmos gesucht, tatsächlich nur Chaos gefunden habe. (93)
Im direkten Anschluss daran ebnete sodann Moore in den Principia Ethica über den Intuitionismus hinaus dem Emotivismus den Weg, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass für ihn das, was Sidgwick als Scheitern erachtet, »eine aufklärerische und befreiende Entdeckung« (93) ist. Und dieser Schritt wurde nicht nur als Befreiung von Sidgwick und dem ganzen übrigen Utilitarismus, sondern weit darüber hinaus vom Christentum und allerlei anderen verstaubten Traditionen gefeiert. Zugleich wurde freilich allen Ansprüchen auf Objektivität in der Moral die Grundlage entzogen und damit dem Emotivismus der Boden bereitet.
Auf den Utilitarismus folgte also der Intuitionismus, und auf diesen wiederum der Emotivismus, der sich indes in der analytischen Moralphilosophie nie ganz durchsetzen konnte, »hauptsächlich weil es offenkundig ist, daß moralisches Folgern stattfindet, daß moralische Schlußfolgerungen oft schlüssig aus einer Reihe von Prämissen abgeleitet werden können« (94). Und so ergab es sich, dass der zweite Hauptstrang der modernen Moralphilosophie wieder aufgegriffen wurde, nämlich das Projekt Kants, die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln in der Vernunft zu gründen.
MacIntyre beschreibt dieses Projekt der Vernunftbegründung der Moral nunmehr folgendermaßen:
Diese analytischen Philosophen griffen den Plan Kants wieder auf, darzulegen, daß die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln genau jene Autorität und Objektivität sind, die zur Ausübung der Vernunft gehören. Ihr Hauptanliegen war und ist also nachzuweisen, daß jeder vernünftig Handelnde durch seine Vernunft den Regeln der Moral logisch verpflichtet ist. (94)
Es gibt zweifellos viele Versuche, dieses Projekt zu realisieren. Sie sind jedoch miteinander unvereinbar. Und ihre jeweiligen Kritiken an den anderen Versuchen fallen regelmäßig vernichtend aus. Von Erfolg kann daher nicht die Rede sein. Und die Projekte, wenn sie denn nicht aufgegeben werden, verbleiben bestenfalls im Status eben eines Projekts, das im akademischen Betrieb endlos fortgeführt werden kann, ohne, nicht zuletzt aufgrund der unaufhörlichen wechselseitigen Kritik, je zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden zu können.
MacIntyre geht sodann der Frage nach, warum dieses Vorhaben scheitert, und wählt als Anschauungsmaterial den Versuch von Alan Gewirth in dessen Buch Reason and Morality aus.
»Da der Handelnde Freiheit und Wohlbefinden, die Gattungsmerkmale seines erfolgreichen Handelns, als notwendige Güter betrachtet, muß er logischerweise auch der Meinung sein, daß er ein Recht auf diese Gattungsmerkmale hat, und er erhebt implizit einen entsprechenden Rechtsanspruch«
Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago, 1978, S. 63. . (91)
Gewirth nimmt also an, dass es bestimmte Voraussetzungen für rationales Handeln gibt, die der Handelnde als notwendige Güter betrachtet, auf die er daher einen Rechtsanspruch erhebt. MacIntyres Kritik richtet sich vor allem auf die Einführung des Rechtsbegriffs, die nicht ohne Begründung erfolgen darf, und zwar insbesondere deshalb, weil der Begriff des Rechts selbst notwendige Bedingungen wie das Bestehen bestimmter sozialer Institutionen oder Gewohnheiten voraussetzt.
MacIntyre gelangt daher zu folgendem Ergebnis:
So hat Gewirth in seine Beweisführung unzulässigerweise einen Begriff eingeschmuggelt, der in keiner Weise zu den Grundeigenschaften eines rational Handelnden gehört, was aber der Fall sein muß, wenn die Beweisführung mit Erfolg abgeschlossen werden soll. (96)
Diese Kritik mag auf Gewirths Versuch zutreffen, aber sie ist gewiss nicht ausreichend, um die Frage zu beantworten, warum die Vorhaben zur Realisierung des kantischen Projektes scheitern mussten. Dafür wäre eine viel gründlichere Untersuchung von Kants Moralphilosophie selbst sowie den daran anknüpfenden Versuchen der Begründung der Moral auf die Vernunft, wie es beispielsweise in der Diskursethik als einem herausragenden Projekt dieser Art angestrebt wird, erforderlich.
Es mag hier aufschlussreich sein, einen kurzen Blick auf die Überlegungen von Ernst Tugendhat zu werfen, der in seinem eigenen Versuch einer Moralbegründung zwar an Kant anknüpft, aber eine »absolute Vernunftbegründung« als aussichtslos ablehnt und lediglich einen »Plausibilitätsanspruch« erhebt. Tugendhat macht in seinen Vorlesungen über Ethik im Hinblick auf die Vernunftbegründung der Moral im allgemeinen und Gewirths Ansatz im besonderen folgende erhellende Bemerkung als Schlussfolgerung aus seinen Überlegungen in den vorausgegangenen Vorlesungen:
Ich habe in der 2. Vorlesung die Auffassung vertreten, daß moralische Regeln sich nicht als Vernunftregeln verstehen lassen, und in der 4. und 5. Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß moralische Regeln sich nicht in einem absoluten Sinn begründen lassen und insbesondere nicht im Rekurs auf einen angeblichen absoluten Vernunftbegriff. In der vorigen Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß, so wertvoll die Idee des kategorischen Imperativs ist, Kants Versuch, ihn als Vernunftprinzip zu verstehen und ihm eine absolute Vernunftbegründung zu geben, als gescheitert angesehen werden muß. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, obwohl auf Grund meiner vorgängigen grundsätzlichen Bedenken unwahrscheinlich, daß sich die moralischen Regeln auf andere Weise als bei Kant als auf Vernunft begründet erweisen ließen.
Es gibt in der Gegenwart einige solcher Versuche. Einer ist der von A. Gewirth, der jedoch auf einem besonders leicht durchschaubaren Trugschluß aufgebaut ist und auf den sich angelsächsische Autoren, die den Vernunftansatz diskreditieren wollen, besonders gerne beziehen. Der interessanteste zeitgenössische Versuch einer absoluten Vernunftbegründung der Moral, der auch die größte Popularität gewonnen hat, ist jedoch der diskursethische. […] Die Diskursethik, besonders in der Form, die sie durch Apel und Habermas gewonnen hat, wird inzwischen überall auf der Welt diskutiert und verdient schon deswegen eine Erörterung.
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main, 1995, S. 161.
So treffend diese Bemerkung sein mag, so wenig kann hier der Ort dafür sein, diesen Andeutungen näher nachzugehen. Festzuhalten bleibt gleichwohl, dass alle Versuche einer Vernunftbegründung der Moral bislang zumindest in dem Sinne faktisch gescheitert sind, dass sie sich alle gegenseitig bekämpfen und keine Anhänger über den engsten Kreis ihrer jeweiligen Verfechter hinaus gefunden haben. Und dies gilt übrigens gleichermaßen für die Diskursethik in ihren verschiedenen Versionen. Diese Vorhaben sind und bleiben allesamt im besten Fall eben Projekte, ohne bereits berechtigten Anspruch auf eine erfolgreiche Durchführung erheben zu können. Dieser Zustand, der aus dem Scheitern nicht nur der kantischen, sondern auch der utilitaristischen Versuche resultiert, wird indes meist nicht eingestanden, woraus sich weitreichende Konsequenzen für die moderne Kultur ergeben.
MacIntyre beschreibt dieses Phänomen nachdrücklich:
Dennoch sprechen und schreiben fast alle, Philosophen wie Nichtphilosophen, weiterhin so, als hätte eines dieser Vorhaben Erfolg gehabt. Und daraus leitet sich eines der Merkmale des gegenwärtigen moralischen Diskurses ab, auf das ich zu Beginn hingewiesen habe, nämlich die Kluft zwischen der Bedeutung moralischer Ausdrücke und der Art ihres Gebrauchs. Denn die Bedeutung ist und bleibt so, wie sie verbürgt worden wäre, wenn wenigstens eines dieser philosophischen Vorhaben Erfolg gehabt hätte; aber der Gebrauch, der emotivistische Gebrauch, ist genau so wie er zu erwarten wäre, wenn diese philosophischen Vorhaben ausnahmslos gescheitert wären. (97)
Die gegenwärtige moralische Erfahrung hat daher einen paradoxen Charakter. Der moralisch Handelnde gilt einerseits als autonom und andererseits wird er in ästhetische oder bürokratische Praktiken im Rahmen manipulativer Sozialbeziehungen verstrickt. Der Handelnde versucht seine Autonomie zu wahren und sich Manipulationen zu entziehen, verfügt jedoch, wenn er andere von seinen Auffassungen und Präferenzen überzeugen will, mangels objektiver und rationaler Bezugspunkte über keine anderen als manipulative Mittel. Diese Unstimmigkeit zwischen moralischer Autonomie und systemischer Manipulation geht aus dem inkohärenten Begriffsschema hervor, das der modernen Moralphilosophie zugrunde liegt.
6.3.7.2 Rechte, Protest und Entlarvung
Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass in der modernen Moraldebatte drei Begriffe eine Schlüsselstellung einnehmen: Rechte, Protest und Entlarvung. Mit Rechten meint MacIntyre hier »nicht jene Rechte, die bestimmten Klassen von Menschen durch das positive Recht oder die Gewohnheit verliehen werden«, sondern »vielmehr jene Rechte, die als zum Menschen an sich gehörend gelten und die angeführt werden als ein Grund für die Meinung, daß man sich nicht in das Leben eines Menschen und sein Streben nach Freiheit und Glück einmischen sollte.« (97) Damit gemeint sind also die sogenannten Natur- und Menschenrechten, die weitgehend negativ bestimmt wurden, also als Rechte, in die nicht eingegriffen werden sollte. Heute ist zumeist von Menschenrechten die Rede, die allen Menschen gleichermaßen eignen und »eine Grundlage für eine Vielzahl individueller moralischer Haltungen« (98) bieten.
MacIntyre bestreitet indes die Existenz solcher Rechte mit folgendem Argument:
[…] alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, daß es solche Rechte gibt, sind gescheitert. (98; Hervorhebung im Original)
Die Verfechter der Naturrechte im 18. Jahrhundert betrachteten diese als selbstevidente Wahrheiten, manche Moralphilosophen im 20. Jahrhundert als Intuitionen. Da diese »Gründe« kaum mehr zu überzeugen vermögen, ist man gemeinhin dazu übergegangen, wie etwa in der UN-Menschenrechtserklärung von 1949, »keine guten Gründe mehr geltend« (99; Hervorhebung im Original) zu machen, also schlichtweg auf Begründung zu verzichten. MacIntyre erklärt derartige Rechte aufgrund ihrer Grundlosigkeit zu »Fiktionen – wie die Nützlichkeit -« (99), da der Begriff des Rechts, wie auch der Begriff der Nützlichkeit, lediglich vorgibt, einen eindeutigen Inhalt und objektive Kriterien zu liefern, ohne dies jedoch wirklich zu leisten. Schon daraus erwächst eine Kluft zwischen ihrer angeblichen Bedeutung und ihrem tatsächlichen Gebrauch.
Die aus dieser Paradoxie erwachsende politische Kultur des bürokratischen Individualismus ist daher von endlosen Debatten über unvereinbare Standpunkte gekennzeichnet, die aus dem Gegensatz zwischen »einem Individualismus, der seine Ansprüche auf Rechte gründet, und Formen bürokratischer Organisation, die ihre Ansprüche auf die Nützlichkeit gründen« (100), hervorgehen. Die moralische Sprache kann aufgrund der Unvereinbarkeit der jeweiligen Ansprüche in der modernen politischen Auseinandersetzung bestenfalls einen Anschein von Rationalität erwecken, der die Willkürlichkeit von Willen und Macht, die in ihrer angeblichen Lösung in Wirklichkeit zum Ausdruck kommt, lediglich verdeckt.
So wird »Protest zu einem besonderen moralischen Merkmal der modernen Zeit« und »Empörung eine überwiegend moderne Empfindung« (100; Hervorhebungen im Original). Der Protest ist vor allem ein »negatives Phänomen, das bezeichnenderweise als Reaktion auf den vermeintlichen Eingriff in die Rechte von jemandem im Namen der Nützlichkeit für jemand anderen auftritt.« (100; Hervorhebungen im Original)
MacIntyre führt dazu aus:
Zu der auf die eigenen Rechte pochenden Heftigkeit des Protests kommt es, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit nie eine Beweisführung gewinnen können; die empörte Selbstgerechtigkeit des Protests entsteht, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit ebenso nie eine Beweisführung verlieren können. (100; Hervorhebung im Original)
Die Unvereinbarkeit führt dazu, dass der Protest, da er »rational nichts bewirken« (100; Hervorhebung im Original) kann, sich nur als Werkzeug manipulativer Bestrebungen hinter der Maske der Moral zur Geltung bringen kann. Aus dieser Verquickung als Grundelement der modernen Kultur erklärt sich wiederum die zentrale Stellung der Entlarvung, die die uneingestandenen Motive des willkürlichen Willens und Wunsches hinter den moralischen Masken des manipulativen Umgangs enthüllt.
6.3.7.3 Expertentum der Manager und Bürokraten
Die drei Charaktere der emotivistischen Kultur, denen es an jeglicher rationalen und objektiven Grundlage für ihre moralischen Ansprüche gebricht, gebrauchen daher die Sprache der Moral dazu, um andere dahingehend zu manipulieren, sich ihren eigenen Auffassungen und Präferenzen anzuschließen. Sie handeln mit moralischen Fiktionen, nehmen sie in Kauf und können gar nicht anders.
Dies gilt gleichermaßen für den Ästheten, den Therapeuten und den Manager, die alle mehr oder weniger für Fiktionen anfällig sind. Der Manager unterscheidet sich allerdings in einer entscheidenden Hinsicht, denn zur Definition seiner Rolle gehört geradezu eine bestimmte Fiktion, wie MacIntyre erläutert:
Denn neben Recht und Nützlichkeit haben wir als eine der wichtigsten moralischen Fiktionen der Zeit die besondere Fiktion des Managers zu setzen, die in dem Anspruch zum Ausdruck kommt, systematische Effektivität bei der Überwachung bestimmter Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu besitzen. (104)
Es mag überraschend sein, Effektivität als moralischen Begriff zu verstehen. Aber gegen seine vermeintliche Wertneutralität spricht, dass er gar nicht von Formen des sozialen Lebens zu trennen ist, in denen
das Finden von Mitteln im wesentlichen aus der Manipulation menschlicher Wesen in vorgegebene Verhaltensmuster besteht; und durch die Berufung auf die eigene Effektivität beansprucht der Manager in dieser Hinsicht Autorität in der manipulativen Methode. (104)
Der Begriff der Effektivität dient zweifellos der Aufrechterhaltung der Autorität und Macht der Manager. Aber verfügen sie tatsächlich über die dafür nötigen Fertigkeiten und Kenntnisse? Ist Effektivität lediglich eine moralische Fiktion im Dienst einer Verschleierung sozialer Kontrolle? Könnte es sein, dass die Anwendung des Begriffs der Effektivität unerfüllbare Ansprüche auf Wissen voraussetzt? Gilt auch für Effektivität die emotivistische Analyse mit ihrer charakteristischen Unterscheidung von Bedeutung und Gebrauch?
MacIntyre bezeichnet die vermeintliche Eigenschaft der Effektivität als Expertentum, womit er keineswegs das Vorhandensein wirklicher Experten auf vielen Gebieten bestreiten will, und bemerkt dazu:
Ich stelle lediglich das Expertentum der Manager und Bürokraten in Frage. Und ich gelange letztlich zu dem Schluß, daß sich dieses Expertentum in der Tat als eine weitere moralische Fiktion erweist, weil die Art von Wissen, auf das es sich stützen müßte, nicht existiert. Aber wie würde es aussehen, wenn soziale Kontrolle tatsächlich eine Maskerade wäre? Betrachten wir die folgende Möglichkeit: Wir werden nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht unterdrückt […] die Schalthebel der Macht - eine Schlüsselmetapher für das Expertentum der Manager - erzielen Wirkungen, die ohne System und oft rein zufällig mit den Ergebnissen zusammenhängen, mit denen sich die Leute an diesen Schalthebeln brüsten. Wäre all das der Fall, wäre es natürlich sozial und politisch wichtig, diese Tatsache zu verschleiern, und die Anwendung des Begriffs der Effektivität des Managers, wie ihn die Manager und diejenigen, die über das Management schreiben, anwenden, wäre ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Verschleierung. (106)
Der Anspruch des Managers auf Effektivität muss also einer Überprüfung unterzogen werden. Sollte sich herausstellen, dass er jeglicher rationalen Grundlage entbehrt, wäre er als eine weitere moralische Fiktion enttarnt – »und vielleicht die kulturell mächtigste von allen« –, nämlich die »Hauptfigur des modernen sozialen Dramas« (107), der bürokratische Manager.
Um nun die Ansprüche des Managers, der sich auf moralische Neutralität und wissenschaftliche Objektivität beruft, einer Überprüfung zu unterziehen, müssen insbesondere zwei Fragen geklärt werden: Gibt es wirklich einen Bereich moralisch neutraler Fakten, in dem der Manager Experte sein soll? Und verfügt er tatsächlich über das nötige Wissen, über die gesetzesgleichen Verallgemeinerungen, mit denen sich die spezifischen Erklärungen und Voraussagen treffen lassen, die für die Gestaltung, Manipulation und Kontrolle der sozialen Umwelt erforderlich sind? Mit diesen beiden Fragen befassen sich nacheinander die nächsten zwei Kapitel.