Im zweiten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Tugenden und die Frage des Relativismus setzt MacIntyre sich mit dem Einwand auseinander, dass seine Konzeption der Tugenden einen Relativismus impliziert, wobei er zugesteht, dass seine Darstellung Anlass zu Missverständnissen geben konnte. Irrig wäre insbesondere die Annahme, dass es ausreicht, aus einer Praktik Tugenden abzuleiten, also nur das erste Stadium, statt aller drei Stadien, der Bestimmung von Tugenden zu durchlaufen, um zu einer angemessenen Vorstellung einer Tugend zu kommen. MacIntyre gibt zu, diesen Eindruck zwar befördert, in Wirklichkeit aber immer die Auffassung vertreten zu haben, »daß keine menschliche Eigenschaft als Tugend bezeichnet werden sollte, bevor sie nicht die in jedem der drei Stadien spezifizierten Bedingungen erfüllt.« (365)
Zur Erinnerung sei kurz erwähnt: Die erste Stufe der Bestimmung von Tugenden bezieht sich auf eine Praktik, die zweite auf die narrative Einheit des Lebens und die dritte auf die Integration in eine soziale Tradition. Damit eine menschliche Eigenschaft in den Rang einer Tugend erhoben werden kann, muss sie auf allen drei Stufen die Bedingung erfüllen, zur jeweiligen Art von Gütern beizutragen. Die dritte Stufe ist dadurch ausgezeichnet, dass sie die Suche nach dem Guten und dem Besten betrifft.
MacIntyre räumt überdies ein, dass er mit seiner Beschreibung der dritten Stufe Gründe für den Vorwurf des Relativismus liefert, nämlich für die Annahme, dass seine »Darstellung kompatibel mit der Anerkennung der Existenz gesonderter, unvereinbarer und rivalisierender Traditionen der Tugenden sei.« (366) MacIntyre widerspricht dem allerdings nicht. Denn zwei moralische Traditionen, die rivalisierende Behauptungen über wichtige Fragen aufstellen, müssen eben daher einiges gemeinsam haben, und ihren Anhängern wird es mithin zumindest manchmal möglich sein, mit ihren jeweiligen Maßstäben sich gegenseitig zu verstehen und zu beurteilen. Aus solchen Begegnungen können sich Berichtigungen, Lernprozesse und Einsichten in die Vorzüge und Mängel der vertretenen Traditionen ergeben, wobei die Maßstäbe selbst Veränderungen erfahren können. Gelingt es einer Tradition solche Herausforderungen zu bestehen, »dann werden die Anhänger dieser Tradition rational Anspruch auf ein großes Maß an Vertrauen darauf haben, daß die Tradition, in der sie leben und der sie das Wesen ihres moralischen Lebens verdanken, die Mittel finden wird, zukünftigen Herausforderungen mit Erfolg zu begegnen.« (367) Diese Tradition beziehungsweise die in sie eingebettete Theorie der Moral hat sich somit als »die bisher beste Theorie erwiesen« (368; Hervorhebung im Original) und bewährt.
Dies heißt freilich nicht, dass es nicht eine Situation geben kann, in der es keine rationale Auflösung der Konflikte zwischen rivalisierenden Traditionen gibt. Einem daraus möglicherweise abgeleiteten Relativismus zu widersprechen, macht für MacIntyre keinen Sinn. Diese Auffassung begründet er folgendermaßen:
Denn meine Position bringt mit sich, daß es keine erfolgreichen Argumente a priori gibt, die im voraus garantieren, daß eine solche Situation nicht doch eintreten könnte. In der Tat könnte uns nichts eine solche Garantie geben, was nicht die erfolgreiche Wiederbelebung des transzendentalen Projekts von Kant enthielte.
Es muß eigentlich kaum wiederholt werden, daß es die zentrale These meines Buches ist, daß die aristotelische moralische Tradition das beste Beispiel für eine Tradition ist, deren Anhänger rational Anspruch auf ein hohes Maß an Vertrauen in ihre epistemologischen und moralischen Mittel haben. (368)
Den Nachweis, dass das Unterfangen einer historistischen Verteidigung der aristotelischen Tradition kein Paradoxon darstellte, betrachtet MacIntyre als eine weitere notwendige Aufgabe, die er im nächsten Buch in Angriff zu nehmen gedenkt; gemeint ist wohl wieder: Whose Justice? Which Rationality?.