Da MacIntyres Argument zufolge, weit über den Marxismus hinaus, jede moralische und politische Tradition in der modernen Kultur erschöpft ist, stellt sich die Frage, ob es unter diesen Bedingungen überhaupt eine sinnvolle Form von Politik geben kann und ob daraus nicht wiederum ein tiefer Pessimismus im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung zwingend folgt.
MacIntyre gibt zur Antwort: »Nicht im mindesten.« (349) Denn er verwirft zwar die im engeren Sinne politische Reform als Weg zur Wiederherstellung der moralischen Kultur, schlägt aber als Ausweg die Bildung von lokalen Gemeinschaften vor, in denen im Streben nach geteilten Gütern durch Praktiken das moralische Leben wiederbelebt und bewahrt werden kann. Die menschlichen Beziehungen in solchen Gemeinschaften können einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung und Verfeinerung der Tugenden leisten.
MacIntyre beschließt After Virtue in diesem Geiste mit folgenden Sätzen:
Es ist immer gefährlich, zu enge Parallelen zwischen einer historischen Periode und einer anderen zu ziehen; und zu den irreführendsten dieser Parallelen gehören jene, die zwischen unserer eigenen Zeit in Europa und Nordamerika und der Epoche vom Niedergang des Römischen Reichs bis ins frühe Mittelalter gezogen worden sind. Dennoch gibt es gewisse Parallelen. Es stellte einen entscheidenden Wendepunkt in der älteren Geschichte dar, als Männer und Frauen mit guten Absichten Abstand davon nahmen, das Römische Imperium zu stützen und aufhörten, den Fortbestand der Zivilisation und der moralischen Gemeinschaft mit dem Fortbestand dieses Imperiums gleichzusetzen. Statt dessen machten sie sich daran, oft ohne genau zu erkennen, was sie taten, neue Formen von Gemeinschaft aufzubauen, in denen das moralische Leben aufrechterhalten werden konnte, so daß Moral und Zivilisation die heraufziehende Zeit der Barbarei und Finsternis überleben konnten. Wenn meine Darstellung unserer moralischen Lage richtig ist, sollten wir ebenfalls zu dem Schluß kommen, daß auch wir nun seit einiger Zeit ebenfalls diesen Wendepunkt erreicht haben. Was in diesem Stadium zählt, ist die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können, das bereits über uns gekommen ist. Und da die Tradition der Tugenden die Schrecken der letzten Finsternis überstanden hat, sind wir nicht ganz ohne Grund zur Hoffnung. Diesmal warten die Barbaren allerdings nicht jenseits der Grenzen; sie beherrschen uns schon seit einer ganzen Weile. Und gerade das mangelnde Bewußtsein dessen macht einen Teil unserer mißlichen Lage aus. Wir warten nicht auf einen Godot, sondern auf einen anderen, zweifelsohne völlig anderen heiligen Benedikt. (349-350)
Christopher Stephen Lutz erläutert in seinem Kommentar zu After Virtue den Verweis auf einen »anderen heiligen Benedikt« treffend:
Nach einem neuen Sankt Benedikt Ausschau zu halten, heißt, nach einem Architekten für dieses neue Modell des gesellschaftlichen Lebens zu suchen, das Gemeinschaften, die die Tradition der Tugenden verkörpern, befähigen wird, inmitten einer sozialen und politischen Kultur, die diese Tradition verwirft, zu gedeihen.
Christopher Stephen Lutz, Reading Alasdair MacIntyre’s After Virtue, London, 2012, S. 140.
Dieser äußerst verdichtete und metaphorisch aufgeladene Beschluss von After Virtue ist darüber hinaus eher dazu angetan, allerlei Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben. Da MacIntyre es bei diesen kryptischen Andeutungen bewenden lässt, ohne zu deren weiterer Aufhellung beizutragen, muss jeder Versuch einer näheren Deutung hoch spekulativ bleiben. Davon sei daher hier abgesehen. MacIntyres Worte müssen daher für sich selbst sprechen.