6.6.1 Drei Einwände

Autor: Yusuf Kuhn -

MacIntyre zieht abschließend drei Einwände in Betracht, die gegen diese Schlussfolgerung erhoben werden könnten. Der erste Einwand könnte von Vertretern des liberalen Individualismus vorgebracht werden und bezieht sich auf den Begriff der Rationalität. Denn wie lassen sich grundsätzliche Fragen in der Philosophie klären, wo Argumente doch selten die Form von Beweisen haben?

MacIntyre vertritt dazu folgende Auffassung:

Wir können die Wahrheit oft in Bereichen begründen, wo keine Beweise verfügbar sind. Aber wenn eine Frage gelöst werden konnte, dann häufig deshalb, weil die streitenden Parteien - oder jemand aus ihren Reihen - aus der Kontroverse zurückgetreten sind und systematisch gefragt haben, welches die geeigneten rationalen Methoden sind, speziell diese Art von Kontroverse beizulegen. Ich bin der Meinung, daß wieder einmal die Zeit gekommen ist, wo es dringend erforderlich ist, diese Aufgabe in der Moralphilosophie durchzuführen; aber ich gebe nicht vor, dies im vorliegenden Buch unternommen zu haben. Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus. (346; Hervorhebungen im Original)

Dieser Aufgabe einer Darstellung der Rationalität, die von größter Bedeutung für die Wiederherstellung der Ethik ist, wird MacIntyre sich in einem späteren Buch zuwenden, das eine originelle Konzeption der Rationalität entwickelt und im Titel die Fragen aufwirft: Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988.

Der zweite Einwand könnte von traditionellen Aristotelikern und Thomisten erhoben werden, die MacIntyres Interpretation der klassischen Tradition aus der Perspektive unterschiedlicher Interpretationen ebendieser Tradition kritisieren. MacIntyre betrachtet diese Kritik als Bestandteil einer Debatte innerhalb der von ihm selbst vertretenen Tradition, wobei er davon ausgeht, dass die Tradition dadurch nicht gefährdet, sondern gestärkt wird. Denn sein Begriff einer moralischen Tradition ist keineswegs statisch, sondern offen für dynamische Entwicklungen, da »eine Tradition durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben« (346-347) wird. Auch dieser Aufgabe wird MacIntyre sich in späteren Werken und insbesondere in dem eben genannten Buch Whose Justice? Which Rationality? zuwenden.

Der dritte Einwand könnte von Marxisten erhoben werden, die die Alternative zum liberalen Individualismus nicht in der aristotelischen Tradition, sondern in der einen oder anderen Version des Marxismus sehen. Doch der Marxismus hat erstens seinen Anspruch auf einen moralischen Standpunkt durch seine eigene moralische Geschichte untergraben, da er stets in Varianten des Kantianismus oder Utilitarismus zurückgefallen ist. Und das ist nur eine Folge des von Anfang an im Kern des marxistischen Denkens selbst mehr oder weniger verborgenen radikalen Individualismus. Denn der Marxismus basiert nicht anders als die bürgerliche Ökonomie auf dem Konzept des modernen Individuums.

Die Marxisten erweisen sich zweitens auf ihrem Weg zur Macht meist als Weberianer, die ihre Autorität jenseits der Moral auf bürokratische Effektivität stützen. Daher ist für MacIntyre der Marxismus als politische und moralische Tradition erschöpft, obgleich er »noch immer eine der reichsten Quellen für Ideen über die moderne Gesellschaft ist« (349). Das zeigt, dass es sich hier nicht um eine billige Kritik von einem liberalen oder konservativen Standpunkt aus handelt, sondern vielmehr um eine interne Kritik eines Denkers, der sich selbst der marxistischen Tradition verbunden fühlt.