Larmore kommt sodann im Anschluss an den »Haupteinwand« zu folgendem Schluss:
Ihre (der Gründe) Gültigkeit kann nur anerkannt werden, und damit wird übrigens sichtbar, was im Allgemeinen der spezifische Gegenstand ist, den die Vernunft zu erfassen hat. Die Vernunft ist ein Vermögen, dessen Ausübung darin besteht, sich nach Gründen zu richten. (Larmore, 27; Hervorhebungen im Original)
Der gesuchte Gegenstand der Vernunft sind nach Larmore somit Gründe. Die letztlich heteronome Vernunft muss also die schon bestehende Autorität dieser Gründe anerkennen und erhält damit ihr Gesetz von außen. Larmore fasst das Ergebnis seiner Überlegungen folgendermaßen zusammen:
Mit der vorhergehenden Kritik an Kant haben wir also eine Antwort auf unsere Frage und eine, so scheint es zumindest, adäquate, dem aristotelischen Grundsatz entsprechende Definition erhalten. Die Vernunft ist das Vermögen, dessen Ausübung darin besteht zu schließen (wie Kant selbst sagt) oder, besser, zu urteilen, und dessen spezifischer Gegenstand, auf den diese Tätigkeit gerichtet ist (und über den Kant nichts zu sagen hat), Gründe sind. Auf englisch klingt es schöner und vielleicht auch einleuchtender: reason is the faculty of reasoning, which consists in responding to reasons. Auf deutsch ließe sich etwas weniger elegant sagen, »die Vernunft ist das Vermögen des Schließens, welches darin besteht, sich nach Gründen zu richten«. (Larmore, 34; Hervorhebungen im Original)
In diesen Zeilen finden wir die wesentlichen Elemente von Larmores Überlegungen vereint: die Kritik an Kant, die Hinwendung zu Aristoteles und die sich daraus ergebende Definition der Vernunft als Vermögen, das sich heteronom nach Gründen als seinem Gegenstand richtet. Mit der Abkehr von Kants transzendentaler Subjektphilosophie und der Rückwendung zur »vorkritischen« klassischen Ontologie erbt diese Position allerdings nicht nur die Vorzüge letzterer, sondern auch deren Nachteile und Schwierigkeiten, zu deren Behebung Kant mit seiner kritischen Philosophie gerade angetreten war. Larmore gesteht daher selbst auch ein:
Zugleich ist jedoch klar, dass die von mir vorgeschlagene Analyse noch weit davon entfernt ist, in allen Hinsichten hinreichend ausgearbeitet zu sein. (Larmore, 34)
Denn seine Position provoziert geradezu eine Flut von Fragen, wie sie gemeinhin mit jeglicher Gestalt der klassischen Ontologie in Verbindung gebracht werden. Darauf weist auch Rainer Forst in seinem Vorwort hin, indem er einige Beispiele für zu erwartende Fragen anführt:
Viele Fragen werden gestellt werden – über den Zusammenhang von Gründen und Vernunftprinzipien, über die Rezeptivität der entthronten Vernunft, die historische Wandelbarkeit der normativen Ordnung der Gründe, die Existenzform der Gründe, [...] um nur einige Punkte zu nennen. (Larmore, 12)
Auch Hallaq beschließt übrigens seine Erörterung von Larmores Auffassung mit einer Reihe von entsprechenden Fragen, woran erinnert sei:
Welche Eigenschaft der Welt genau den Kontext der Gründe für diese Autonomie bilden mag, ist eine Frage, die Larmore in allgemeinen platonischen Begriffen beantwortet. [...] Doch wohin gehen wir von hier aus, so dass wir Gründen eine spezifisch bestimmte Substanz und eine besondere Bedeutung zuschreiben können? Was in einer mit Werten gesättigten Welt ist es, das uns in konkreten und genauen Begriffen sagt, worin das Wohl eines anderen besteht? Und wie bestimmen wir dieses Wohl in einem spezifischen kulturellen Kontext und zu jedwedem konkreten Zeitpunkt?
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 164; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 165.