5.4 Vernunft als Vermögen der Prinzipien: Kant

Autor: Yusuf Kuhn -

Die kantische Ethik der Autonomie ist zweifellos das vorherrschende Paradigma in jeder modernen Moralphilosophie, die Moralität auf Vernunft zu gründen versucht. Diese Ethik der Autonomie leitet sich aus dem kantischen Begriff der Freiheit ab, der unlöslich mit der Idee der autonomen und selbstgesetzgebenden Vernunft verbunden ist.

Es sei noch einmal die Stelle in Erinnerung gerufen, in der Hallaq auf diesen Zusammenhang hinweist:

Aber die Anziehungskraft der autonomen Rationalität, die in Freiheit gegründet ist, ist keineswegs zufällig, denn das Wesen dieser Art von Rationalität ist eben gerade der Wille zur Freiheit. Diese Freiheit erweist sich letztlich als nicht bloß unsere persönliche und private Freiheit – die sie natürlich ist -, sondern als die Freiheit des Menschen, über die Natur und allem, was sich in ihr befindet, zu herrschen, einschließlich »jegliches« Menschlichen, das als ein integraler Bestandteil von ihr definiert werden mag (z.B. der »edle Wilde«, jene Wesen, die »in einem Naturzustand« leben). Es ist die Freiheit von den Verpflichtungen eines Lebens unter den moralischen Forderungen dieser Welt als einer kosmischen Werteordnung, die uns als solche ihre eigenen Beschränkungen auferlegt.Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 162; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 164; Hervorhebungen im Original.

Daraus erschließt sich schon mit aller Deutlichkeit, welche Bedeutung die Widerlegung der kantischen Moralk0nzeption für Larmores Vorhaben hat, die Moralphilosophie auf eine objektive Werteordnung zu stützen. Er will deshalb zeigen,dass der kantische Begriff der autonomen Vernunft nicht haltbar ist, da die Vernunft selbst auf etwas außerhalb ihrer angewiesen ist, das sie nicht selbst erzeugen und daher nur anerkennen kann. Und er wirft daher die große Frage nach dem »Wesen der Vernunft« auf: »Was ist diese Vernunft«? (Larmore, 17)

Den Ausgangspunkt für diese kritische Betrachtung bilden zwei Definitionen, die Kant zur Bestimmung der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat. Die erste lautet: »das Vermögen der Prinzipien«.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 299/B 356, S. 312. Larmore leitet seine Überlegungen damit ein, dass er auf den Versuch vieler Philosophen verweist, das Wesen der Vernunft zu bestimmen, indem sie sich

mit der Angabe von Prinzipien [...] begnügen, die unser Denken und Handeln leiten sollen. Ein vernünftiges Wesen soll jemand sein, der sich in seinem Umgang mit der Welt von den richtigen Prinzipien leiten lässt. (Larmore, 17)

Daraus ergebe sich sodann die Unterscheidung zwischen den Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft. Als Beispiele für Prinzipien der theoretischen Vernunft nennt er das Prinzip des Empirismus und das Prinzip des zureichenden Grundes; für Prinzipien der praktischen Vernunft wiederum das Prinzip der instrumentellen Vernunft und das Prinzip der Uni­versalisierung. Daran schließt er sodann die Bemerkung an:

An einer Stelle in der Kritik der reinen Vernunft scheint sich Immanuel Kant einer solchen Auffassung der Vernunft anzuschließen. Die Vernunft, schreibt er da, ist »das Vermögen der Prinzipien«. (Larmore, 18)

Auch wenn Larmore hier das vorsichtige »scheint« benutzt, setzt seine Kritik genau an dieser Auffassung an, ohne näher zu erörtern, ob Kant sie tatsächlich vertritt. Er fragt nicht danach, was Kant unter Prinzipien versteht, sondern scheint ihm vielmehr dieses von ihm selbst eingeführte Verständnis umstandslos zuzuschreiben. Denn sogleich stellt er fest:

[…] die Auffassung, die Vernunft sei das Vermögen, sich nach Prinzipien zu richten, ist unzureichend, und zwar in mehreren Hinsichten. (Larmore, 18)

Die erste dieser Hinsichten ergibt sich daraus, dass Prinzipien sich mit Bezug auf den Bereich bestimmen, in dem sie gelten sollen, was sich schon aus der Unterschiedlichkeit der Prinzipien für den theoretischen und den praktischen Bereich erkennen lässt. Die Vernunft kann nicht als die bloße Disposition, sich nach Prinzipien zu richten, verstanden werden, da sie vorgängig erfassen muss, welche Prinzipien für den jeweiligen Bereich geeignet sind. Larmore folgert:

Und daraus folgt, dass die Vernunft selber das tiefer liegende Vermögen sein muss, einzusehen, welche Prinzipien sich für welche Bereiche eignen. (Larmore, 18)

Aber nicht nur die Eignung vorgegebener Prinzipien steht in Frage, sondern die Prinzipien selbst. Es ist ja keineswegs ausgemacht, welche Prinzipien – theoretische, praktische oder welche auch immer – überhaupt die richtigen sind. Daraus ergibt sich für Larmore »ein zweites Bedenken gegenüber Kants Definition«:

[…] in der realen Welt wird darum gestritten, an welchen Prinzipien wir unser Denken und Handeln orientieren sollten. (Larmore, 19)

Dass die Frage, welche Prinzipien die richtigen sind, sich keineswegs einmütiger Antworten erfreut, sondern in der Tat Gegenstand andauernder Kontroversen ist, belegt und veranschaulicht Larmore durch eine Reihe berühmter Beispiele von Debatten um die einleitend genannten Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft. Das ist zweifellos richtig.

Und wenn die Gültigkeit der Prinzipien umstritten ist, - so folgert Larmore – kann die Vernunft nicht lediglich in einem »Vermögen der Prinzipien« bestehen, die doch allererst zu prüfen und gegebenenfalls anzuerkennen sind. Die Vernunft muss mehr sein als eine Reihe von Prinzipien, da zu ihrer Aufgabe die vorgängige Prüfung der Gültigkeit der Prinzipien gehört. Larmore stellt daher fest:

Sie muss etwas Tieferliegendes [...] sein [...]. (Larmore, 21)

Larmore bestimmt nun das Wesen der Vernunft unter Berücksichtigung der Konsequenzen, die sich aus den beiden Einwänden gegen Kants Definition ergeben:

Tiefer als die Fähigkeit, sich nach Prinzipien zu richten, liegt also das Vermögen, die Gültigkeit von Prinzipien sowie ihre Angemessenheit in bestimmten Situationen zu beurteilen, das selbst zum Wesen der Vernunft gehört. (Larmore, 21)

Und er stellt, diesen Abschnitt abschließend, fest:

Um das Wesen der Vernunft adäquater zu erfassen, müssen wir einen neuen Anlauf nehmen und diesmal auf einer abstrakteren Ebene als der von Prinzipien und Kritik ansetzen, ohne aber zu vergessen, was durch die Unzulänglichkeiten der hier vorgestellten Ansätze bereits sichtbar geworden ist – dass die Vernunft ein normatives Vermögen ist, das es uns ermöglicht, zu beurteilen. Ihr fällt es zu, uns zu zeigen, wie wir, sei es durch Prinzipien, sei es kritisch oder affirmativ, denken und handeln sollten. (Larmore, 22; Hervorhebungen im Original)

Bevor wir nun den angekündigten neuen Anlauf in den Blick nehmen, wollen wir die Frage aufwerfen, inwiefern dieser Gedankengang überzeugend erscheint. Dabei ist es wichtig, eine klare Unterscheidung zu treffen, die Larmore selbst eher verwischen zu wollen scheint, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Verständnis von Prinzipien, das Larmore einführt, und Kants Begriff des Prinzips. Das oben schon angemerkte »scheint« in der Zuschreibung »einer solchen Auffassung der Vernunft« zu Kant sollte sehr viel ernster genommen werden. Denn in der Tat ist Kants eigene Auffassung eine ganz andere. Und zwar eine so andere, dass sich zwar mit gutem Grund sagen lässt, dass die vorgebrachte Kritik durchaus überzeugend ist, wenn sie auf das von Larmore eingeführte Verständnis von Prinzipien bezogen wird, aber keinesfalls in bezug auf Kant selbst.

Es ist hier nicht der Ort, um in eine auch nur ansatzweise hinreichende Kant-Interpretation einzutreten. Larmore selbst will sich

[…] nicht auf die Komplikationen in Kants eigener Argumentation einlassen. Die Kant-Auslegung ist ein unendliches Geschäft – einmal drin, kommt man nicht mehr heraus –, und es ist leicht, das Wesentliche dann wegen der Einzelheiten aus den Augen zu verlieren. (Larmore, 24-25)

Die Warnung ist sicherlich berechtigt, aber ganz kann darauf auch nicht verzichtet werden, wenn schon von »Kants Definition« (Larmore, 19) der Vernunft gehandelt wird. Ich will versuchen, wenigstens knapp anzudeuten, warum Larmores Kritik an Kants Begriff der Vernunft als Vermögen der Prinzipien vorbeizielt.

Von Anfang an fällt auf, dass Larmore sich gar nicht darum bemüht, Kants eigenes Verständnis überhaupt ins Spiel zu bringen. Dafür wäre schon aufschlussreich gewesen, den ganzen Satz zu zitieren, in dem sich die von Larmore aufgegriffene Bestimmung findet. Denn Kant trifft hier eine Unterscheidung von grundsätzlicher Bedeutung, die von Larmore schlichtweg unbeachtet bleibt. Kant stellt dort nämlich fest:

Wir erkläreten, im erstern Teile unserer tranzendentalen Logik, den Verstand durch das Vermögen der Regeln; hier unterscheiden wir die Vernunft von demselben dadurch, daß wir sie das Vermögen der Prinzipien nennen wollen.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 299/B 356, S. 312 (Hervorhebungen im Original).

Diese so grundlegende Unterscheidung zwischen dem Verstand als Vermögen der Regeln und der Vernunft als Vermögen der Prinzipien wird von Larmore überhaupt nicht aufgegriffen. Das Wort Verstand kommt in der gesamten Vorlesung, die unter dem Titel Vernunft steht, nicht einmal vor. Da stellt sich unweigerlich der Verdacht ein, dass all die Prinzipien, die von Larmore angeführt werden, womöglich als Regeln in den Bereich des Verstandes fallen könnten, so dass die gesamte Kritik den kantischen Vernunftbegriff gar nicht treffen würde. Wenn wir in der Kritik der reinen Vernunft auch nur einen weiteren Satz lesen, der auf die obige Stelle unmittelbar folgt, stoßen wir auf eine Warnung vor der Verwechslung zweier Bedeutungen des Ausdrucks Prinzip. Denn Kant gibt hier zu bedenken:

Der Ausdruck eines Prinzips ist zweideutig, und bedeutet gemeiniglich nur ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprunge nach kein Principium ist. Ein jeder allgemeiner Satz, er mag auch sogar aus Erfahrung (durch Induktion) hergenommen sein, kann zum Obersatz in einem Vernunftschlusse dienen; er ist darum aber nicht selbst ein Principium.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 300/B 356, S. 312 (Hervorhebung im Original).

Larmore wiederum verwendet Prinzip eben in diesem eher umgangssprachlichen Sinne für »ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprunge nach kein Principium ist«, also kein Prinzip im Sinne der Bestimmung der Vernunft als Vermögen der Prinzipien. Das wird noch deutlicher, wenn wir eine weitere Erläuterung Kants hinzuziehen, die kurz darauf folgt und zwischen den Leistungen des Verstandes und dem Vermögen der Vernunft noch klarer unterscheidet:

Betrachten wir aber diese Grundsätze des reinen Verstandes an sich selbst ihrem Ursprunge nach, so sind sie nichts weniger als Erkenntnisse aus Begriffen. Denn sie würden auch nicht einmal a priori möglich sein, wenn wir nicht die reine Anschauung (in der Mathematik), oder Bedingungen einer möglichen Erfahrung überhaupt herbei zögen. Daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, kann gar nicht aus dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen werden; vielmehr zeigt der Grundsatz, wie man allererst von dem, was geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff bekommen könne.

Synthetische Erkenntnisse aus Begriffen kann der Verstand also gar nicht verschaffen, und diese sind es eigentlich, welche ich schlechthin Prinzipien nenne: indessen, daß alle allgemeine Sätze überhaupt komparative Prinzipien heißen können.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 301/B 358, S. 313.

Es stellt sich hiermit die Frage, ob die von Larmore genannten Prinzipien nicht lediglich »komparative Prinzipien« sind. Larmore hätte zumindest auf diese Frage eingehen und zeigen müssen, dass das, was er unter Prinzipien versteht, für den kantischen Begriff der Vernunft überhaupt von Relevanz ist. So hängt seine Kritik an Kant in der Luft. Larmore scheint davon auszugehen, dass sich die Prinzipien, wie er sie versteht, direkt auf ihre Gegenstände und damit auf Erfahrung beziehen. Das ist bei Kant keineswegs der Fall. Denn die Prinzipien der Vernunft gehen zunächst auf den Verstand mit dessen Regeln – und nicht auf einen anderen Gegenstand -, um diesem Einheit unter Prinzipien zu verleihen. Kant schließt daher den Abschnitt Von der Vernunft überhaupt mit folgender Feststellung:

Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 303/B 359, S. 314.

Wenn die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien ist, hat der Ausdruck Prinzip hier in der Tat eine sehr eigentümliche Bedeutung, die sich letztlich nur erfassen lässt, wenn der Begriff der Vernunft im Lichte der kantischen Konzeption der Transzendentalphilosophie, die darin zum Ausdruck kommt, verstanden wird. In Anbetracht dieser wenigen Zitate und ohne weiter in die Kant-Auslegung einzudringen, drängt sich gleichwohl eher der Eindruck auf, dass sich Larmore nicht einmal im Ansatz um ein solches Verständnis bemüht. Dann kann diese Kritik Kants Vernunftbegriff und seine Philosophie überhaupt nur verfehlen.

Wie steht es nun mit der zweiten Definition Kants für die Vernunft, die Larmore in Aussicht gestellt hat? Sie lautet: »das Vermögen zu schließen«.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355/A 299, S. 312, und B 386/A 330, S. 333. Larmore gibt zwei Stellen in der Kritik der reinen Vernunft dafür an. Er meint offensichtlich die erste, wenn er sagt:

In diese Richtung geht eine andere Definition, mit der Kant, jetzt unter Berufung auf »die Logiker«, die Vernunft bestimmt, nämlich als »das Vermögen zu schließen«. (Larmore, 22)

Denn es ist diese Stelle, an der Kant in der Tat »von den Logikern« spricht und auf die übrigens im nachfolgenden Absatz die Definition der Vernunft als Vermögen der Prinzipien folgt. Beide Definitionen hängen also sehr eng miteinander zusammen. Kant erklärt ihr Verhältnis, indem er zwei Weisen des Gebrauchs der Vernunft unterscheidet, nämlich einen »bloß formalen, d.i. logischen Gebrauch« von einem »realen«:

Es gibt von ihr, wie von dem Verstande, einen bloß formalen, d.i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, aber auch einen realen, da sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder von den Sinnen, noch vom Verstande entlehnt.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355/A 299, S. 312.

Der formale Gebrauch wird sodann als »Vermögen mittelbar zu schließen«Ebenda. Larmore hat »mittelbar« stillschweigend eliminiert. bestimmt, während es von dem dem realen Gebrauch entsprechenden Vermögen, »welches selbst Begriffe erzeugt«, heißt, dass es »dadurch noch nicht eingesehen« wird. Da Kant dieses letztere Vermögen auch als transzendental bezeichnet, kann er sodann feststellen:

Da nun hier eine Einteilung der Vernunft in ein logisches und transzendentales Vermögen vorkommt, so muß ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden, welcher beide Begriffe unter sich befaßt, [...]Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355-356/A 299, S. 312.

Unmittelbar darauf folgt die Bestimmung der Vernunft als Vermögen der Prinzipien, die offenkundig dem bloß logischen Vermögen übergeordnet ist, das Kant kurz darauf konsequenterweise bezeichnet als »ein bloß subalternes Vermögen, gegebenen Erkenntnissen eine gewisse Form zu geben, welche logisch heißt«.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 362/A 305, S. 316. Es macht durchaus Sinn, dass Kant im Rahmen seiner transzendentalen Konzeption der Philosophie bei der Bestimmung des Wesens der Vernunft vom logischen Vermögen des Schließens ausgeht, denn zum Schließen bedarf die Vernunft nicht des Rückbezugs auf die Erfahrung. Die Schlussregeln selbst sind evident, bedürfen keiner Begründung, sondern werden umgekehrt in jedem Denken vorausgesetzt. Und beim Schließen, »d.i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert«, hat das Denken keinen Gegenstand außer sich, sondern beschäftigt sich lediglich mit sich selbst.

Ohne große Kant-Auslegung, durch die bloß erläuternde Aneinanderreihung einiger Zitate sind wir durch das sich daraus ergebende grobe Bild von Kants Konzeption darauf vorbereitet, einen Vergleich mit Larmores Darstellung anzustrengen. Larmore setzt mit einer Erläuterung zu Kants Definition ein:

Durch den Gebrauch unserer Vernunft sind wir befähigt, von etwas auf etwas anderes zu schließen, Schlussfolgerungen aus Prämissen zu ziehen. Gerade auf diese Weise sind wir ja imstande zu beurteilen, wie wir denken oder handeln sollten. Aber auch diese Definition, obwohl sie einen Fortschritt gegenüber der ersten darstellt, ist unvollständig. (Larmore, 22)

Zunächst fällt auf, dass Larmore schlicht alle begrifflichen Bestimmungen, Unterscheidungen und Einteilungen Kants keiner Beachtung würdigt. Nach Kant selbst stellt die zweite Definition keinen Fortschritt in der Bestimmung des Wesens der Vernunft dar, sondern steht, wie wir gesehen haben, im Gegenteil für »ein bloß subalternes Vermögen«. Das Verhältnis der beiden Vermögen zueinander und die Rolle, die ihnen in Kants Konzeption der Vernunft jeweils zukommt, scheinen für Larmore bedeutungslos zu sein. Jedenfalls geht er mit keinem Wort darauf ein. Wie soll seine Kritik unter diesen Bedingungen überhaupt sinnvoll auf Kants Auffassung bezogen werden?

Wir wollen nun sehen, wie Larmore erklärt, dass diese Definition, wie er sagt, »unvollständig« ist. Er schreibt dazu:

Denn ein vernünftiger Mensch zieht natürlich nicht beliebige Schlüsse aus gegebenen Prämissen, sondern nur diejenigen, die sich aus ihnen korrekterweise folgern lassen. Das heißt aber, dass die Vernunft ein Vermögen sein muss, durch das wir einsehen können, was wirklich aus dem Gegebenen folgt. Die Tätigkeit des Schließens enthält also ein rezeptives Moment, indem sie auf das reagiert, was den Schluss gültig macht. Und das führt zur Frage: Worin besteht die Gültigkeit eines Schlusses? (Larmore, 22-23)

Larmore scheint also die Definition für unvollständig zu halten, da ihr das Element der Gültigkeit fehlt, weil durch das formale Schließen allein noch nicht ausgemacht ist, »was wirklich aus dem Gegebenen folgt«. Und mit »wirklich« wiederum scheint er tatsächlich nicht lediglich eine Betonung zu meinen, sondern die Übereinstimmung der Konklusion des Schlusses mit der Wirklichkeit, also mit einem Gegenstand. Daher ergibt sich natürlich, dass die Vernunft dafür irgendwie empfänglich sein muss, indem sie darauf »reagiert«. Und dieses Etwas nennt er »die Gültigkeit«.

Dass er damit nicht die formale Gültigkeit des Schließens meint, wird sich sogleich noch deutlicher zeigen. Aber schon jetzt lässt sich festhalten: Wenn Larmore nicht einen ganz anderen Begriff des Schließens als Kant ansetzt, wird er kaum vermeiden können, die Gültigkeit des Schließens und die Schlussregeln, nach denen dies erfolgt und beurteilt wird, als evident vorauszusetzen. Denn wie sollten sie begründet werden, ohne sie schon selbst in Anspruch zu nehmen?

Wenn wir diese Ausführungen im Lichte der Zitate betrachten, die wir der Kritik der reinen Vernunft entnommen haben, und einen auch nur oberflächlichen Vergleich anstellen, springt der Unterschied geradezu ins Auge. Während Kant es darum zu tun war, die Vernunft in ihrem logischen Gebrauch als rein formales Vermögen unter Fernhaltung jeglichen Inhalts zu bestimmen, unterschiebt Larmore ihr sogleich einen Gegenstand, ohne auch nur den Versuch zu machen, dies in ein Verhältnis zu Kants Begriff der Vernunft zu setzen. Dass Kant hier nicht immanent kritisiert, sondern ihm vielmehr eine andere Auffassung abstrakt und unvermittelt entgegengesetzt wird, verrät sich auch an der Feststellung, die Larmore darauf folgen lässt:

Bei Aristoteles finden wir eine allgemeine psychologische These, die uns hier und in dieser ganzen Problematik als Leitsatz dienen sollte. Jedes geistige Vermögen (δύναμις), bemerkt er, bestimmt sich durch die Tätigkeit (ἐνέργεια), die als seine charakteristische Ausübung gilt, und diese Tätigkeit selbst wiederum durch die Art von Gegenständen (ἀντικείμενα), auf die sie sich richtet. (Larmore, 23)Larmore verweist dabei auf: Aristoteles, Über die Seele. De Anima, hg. von Horst Seidl, Hamburg 1995, II.4.

Die Anleihe bei Aristoteles, die das Verhältnis von Denken und Gegenstand im Gegensatz zu Kant geradezu auf den Kopf stellt – oder vielleicht besser gesagt: vom Kopf auf die Füße stellt -, zeigt, wie sehr die Kritik von außen kommt. Der darin vorgebrachte »Leitsatz« ist dem kantischen Denken nicht nur fremd, sondern schlichtweg entgegengesetzt. Larmore glaubt nun, auf dieser Grundlage folgern zu können, dass sich aus der Unvollständigkeit der Definition Kants und der rezeptiven Angewiesenheit der Vernunft auf etwas, das ihr von außen zukommt, unabweisbar folgende Frage ergibt:

Was ist also in diesem Sinne der spezifische Gegenstand der Vernunft als Vermögen des Schließens? (Larmore, 23)

Larmore scheut in der Tat nicht zurück, den Begriff des Gegenstands ganz ausdrücklich auf die Vernunft als logisches Vermögen des Schließens zu beziehen. Diese Frage hält er also für unvermeidlich und verweist, bevor er im nächsten Abschnitt selbst eine Antwort darauf gibt, zunächst auf zwei Weisen, ihr aus dem Weg zu gehen. Die erste Weise besteht darin, auf die formale Gültigkeit von Schlüssen im Sinne der Wahrheitsbewahrung zu verweisen. Das könnte eine vermeintlich leichte Antwort sein, aber Larmore sagt in seiner Entgegnung ausdrücklich, dass es ihm gar nicht um die bloß formale Gültigkeit geht, sondern vielmehr um eine besondere Art von Schlüssen, denn es

[…] beziehen sich manche Schlüsse, und um diese geht es mir jetzt, auf das, was wir denken oder tun sollten – nicht auf alles, was logisch aus gegebenen Prämissen folgt –, und sind daher an unseren jeweiligen Standpunkt gebunden. (Larmore, 23)

Damit hat er sich nun allerdings so weit von dem, was Kant als Vernunft als logischem Vermögen beschreibt, entfernt, dass dies wahrlich nicht mehr als Einwand gegen die kantische Konzeption betrachtet werden kann. Denn somit ist völlig klar, dass es um einen spezifischen Inhalt geht und nicht um die rein logische Gültigkeit.

Die zweite Weise, der vermeintlich unabweisbaren Frage nach dem Gegenstand der Vernunft aus dem Weg zu gehen, sieht Larmore in Kants Auffassung von der Autonomie der Vernunft, derzufolge sich die Vernunft, die theoretische wie die praktische, ihre eigenen Gesetze gibt und auch über deren Autorität als Urheber verfügt. Ist die Vernunft im Sinne dieser Selbstgesetzgebung autonom, stellt sich in der Tat die Frage nach dem die Gültigkeit von Schlüssen verbürgenden Gegenstand nicht. Doch Larmore hält dem abermals seinen von Aristoteles inspirierten Leitsatz entgegen und folgert:

Denn wenn es etwas gibt, das die Ausübung der Vernunft erfassen muss, um die Gültigkeit von Schlüssen anerkennen zu können, dann muss der Gegenstand dieses Erfassens etwas sein, das der Vernunft ihr – lässt sich das Wort vermeiden? – »heteronomes« Gesetz gibt. (Larmore, 24)

Noch immer ist kein überzeugendes Argument erkennbar, das sich aus einer wirklich an Kants Philosophie ansetzenden Kritik ergeben würde. Die These, dass die Vernunft in Wirklichkeit heteronom ist, steht freilich in schroffem Gegensatz zu Kants Auffassung, aber sie ist nicht aus einer immanenten Kritik entwickelt, sondern, nicht anders, als wir beim ersten Einwand bereits feststellen mussten, entgegen dem Anschein einer Argumentation ihr abstrakt und unvermittelt von außen entgegengesetzt.

Für den nächsten Abschnitt stellt Larmore allerdings einen weiteren Einwand in Aussicht, der seine Ansicht begründen soll, dass »Kants Begriff der Autonomie in sich widersprüchlich ist.« (Larmore, 24) Und dies ist schließlich sein »Haupteinwand« (Larmore, 27), wie er seine Argumentation einleitend feststellt.