3.5.1 Ibn Taymiyya über die universelle Regel
und die Wirklichkeit der metaphorischen Interpretation (taʾwīl)
Der große aschʿaritische Theologe Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 606/1209) stellte in seiner einflussreichen theologischen Abhandlung Asās at-taqdīs eine »universelle Regel« (qānūn kullī) auf, die den fortwährenden Kampf zwischen Offenbarung und Vernunft schlichten sollte. Diese Regel fand die Zustimmung der Mehrheit der aschʿaritischen Gelehrten, deren rationalistische Version der islamischen Theologie immer mehr zur vorherrschenden Schule in vielen Bereichen des islamischen Denkens wurde.
Die universelle Regel in der Fassung von ar-Rāzī wird von Ibn Taymiyya folgendermaßen wiedergegeben:
Wenn skripturale und rationale Belege oder Offenbarung und Vernunft oder die offenkundige äußere Bedeutung der offenbarten Texte und die definitiven Schlüsse des rationalen Denkens – oder andere Weisen, dies zu formulieren – in Konflikt stehen, dann entweder: (1) sie müssen beide anerkannt werden, was unmöglich ist, da dies das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch verletzen würde [indem sowohl p als auch -p behauptet wird]; (2) sie müssen beide verworfen werden, was ebenfalls unmöglich ist, da dies das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten verletzt [indem weder p noch -p behauptet wird]; (3) Vorrang muss der Offenbarung gegeben werden, was unmöglich ist, da Offenbarung auf Vernunft gegründet ist, so dass, wenn wir der ersteren Priorität vor der letzteren geben würden [d.h. Offenbarung vor Vernunft], dies gleichkommen würde einer Verwerfung sowohl der Vernunft als auch [folglich] dessen, was durch Vernunft gegründet ist [nämlich Offenbarung]. Man muss daher (4) Vernunft vor Offenbarung Vorrang geben, dann entweder eine figurative Interpretation der Schrift (taʾwīl) vornehmen [um Übereinstimmung mit der Vernunft herzustellen] oder die äußere Bedeutung der Schrift negieren, aber die Zuschreibung einer bestimmten, partikularen metaphorischen Bedeutung unterlassen (tafwīdh). (S. 132-133; zit. nach Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. I, S. 4; Hinzufügungen in eckigen Klammern und Hervorhebungen von El-Tobgui)
Ibn Taymiyya zitiert noch eine andere Formulierung von ar-Rāzī aus Nihāyat al-ʿuqūl fī dirāyat al-usūl, die folgenden bedeutsamen Zusatz enthält:
(Die Wahrheit der) Offenbarung kann nur durch rationale Mittel festgestellt werden, denn nur durch Vernunft können wir die Existenz des Schöpfers feststellen und (die Authentizität der) Offenbarung erkennen. (S. 133; zit. n. Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. V, S. 330-331; Hervorhebungen von El-Tobgui)
Ibn Taymiyya beklagt, dass ar-Rāzī und seine Nachfolger daraus eine universelle Regel für die Interpretation der Offenbarungsschrift bezüglich der Attribute Gottes und anderer Fragen gemacht haben, wenn ihnen die Aussage der Offenbarung im Widerspruch zur Vernunft zu stehen scheint. Manche von ihnen fügen noch hinzu, dass skripturale Belege oder Beweise (adilla samʿiyya) ihrem Wesen nach nicht zur Erzeugung von Gewissheit und daher nicht als verlässliche Grundlage für religiöses Wissen geeignet sind. Ibn Taymiyya weist darauf hin, dass andere vor ihnen, wie beispielsweise al-Ghazālī in seiner Schrift Qānūn at-taʾwīl, diese universelle Regel in unterschiedlichen Versionen aufgestellt haben, wobei jede Schule das, was sie jeweils als Erkenntnis ihrer Vernunft erachteten, als wahres und objektives Wissen angenommen hat, dem die Offenbarung mittels entsprechender Reinterpretation zu unterwerfen ist.
Solche Reinterpretationen konnten auf zwei Weisen erfolgen: durch figurative Interpretation (taʾwīl), indem einem offenbarten Text in Übereinstimmung mit einem durch Vernunft erlangten Schluss eine andere Bedeutung als seine äußere oder offenkundige (dhāhir) Bedeutung zugeschrieben wird, oder durch Suspension der Bedeutung (tafwīdh), indem die offenkundige Bedeutung als ungültig erklärt, aber unterlassen wird, eine spezifische alternative Interpretation beizubringen, wobei die wahre Bedeutung Gott überlassen wird.
Was versteht Ibn Taymiyya nun genau unter taʾwīl und tafwīdh? Und warum befasst er sich so eingehend damit?
3.5.1.1 Zwei Methoden des tabdīl (Abänderung der Bedeutung)
Die erste der beiden Methoden der Abänderung der Bedeutung nennt Ibn Taymiyya al-wahm wa at-takhyīl (Täuschung und Einbildung). Sie setzt voraus, dass Offenbarung vor allem aus Bildern und Metaphern besteht, die absichtsvoll nicht der Wirklichkeit der metaphysischen Gegenstände wie dem Wesen Gottes, der Engel oder der eschatologischen Wirklichkeit von Paradies und Hölle entsprechen. Die Offenbarung ruft demnach vielmehr falsche Vorstellungen – wie etwa von Gott als einem riesigen Körper oder von der leiblichen Auferstehung – hervor, weil es im moralischen Interesse und Nutzen (maslaha) der gemeinen Leute liegt, diese Dinge als wahr anzunehmen, da dies der einzige Weg ist, sie zur Religion zu rufen und ihnen damit den Erfolg im Jenseits zu bescheren. Obwohl diese Bilder also falsch sind, da sie der wahren Wirklichkeit nicht entsprechen, werden sie durch Nützlichkeitserwägungen gerechtfertigt. Ibn Taymiyya wirft z.B. Ibn Sīnā die Befürwortung dieser Methode vor.
Die zweite Methode der Abänderung der Bedeutung nennt Ibn Taymiyya at-tahrīf wa at-taʾwīl (Veränderung und Reinterpretation). Sie geht davon aus, dass die Propheten intendierten, dass ihre Zuhörerschaft nichts anderes glaubt als das Wahre an sich, wobei dieses Wahre mit der Erkenntnis durch die Vernunft gleichgesetzt wird, was bei Unstimmigkeiten mit der äußeren Bedeutung des Textes figurative Interpretationen erforderlich macht. Dabei werden typischerweise die Worte anders verstanden als in ihrem konventionell anerkannten Sinn (ikhrādsch al-lughāt ʿan tarīqatihā al-maʿrūfa) und weit hergeholte Metaphern und unwahrscheinliche figurative Verwendungen (gharāʾib al-madschāzāt wa al-istiʿārāt) eingesetzt.
Für viele ist ein verbreitetes Motiv für die Verwendung von taʾwīl die Beseitigung eines vermeintlichen Widerspruchs. Dabei interpretieren sie ein bestimmtes Wort im Sinne dessen, was ein Sprecher damit in abstrakter Weise meinen könnte, aber streben nicht danach, die Bedeutung festzustellen, die vom tatsächlichen Sprecher – in diesem Falle Gott –, der in diesem besonderen Fall gesprochen hat, intendiert wurde, oder die Worte des Sprechers im Lichte der relevanten kontextuellen Evidenz (mā yunāsibu hālahu) zu interpretieren. Daher beanspruchen sie nicht absolute Gewissheit für ihre Interpretation, sondern können nur feststellen, dass das betreffende Wort in Isolation von jeglichem Kontext eine solche Bedeutung tragen kann.
Ibn Taymiyya behauptet hingegen, dass die von ihnen gewählte Interpretation meist nicht der intendierten Bedeutung bei einem bestimmten Auftreten dieses Wortes in einem Text entspricht, da sich üblicherweise aufgrund des Kontextes und des Zustands des Sprechers definitiv bestimmen lässt, dass es in der Tat für diesen Sprecher nicht möglich ist, diese besondere Bedeutung mit diesem besonderen Ausdruck in diesem besonderen Kontext gemeint zu haben.
Die Methode des at-tahrīf wa at-taʾwīl wurde, so Ibn Taymiyya, von einer großen Zahl von Mutakallimun übernommen, und auf ihrer Grundlage haben alle Theologen, die sich der äußeren Bedeutung mancher Texte widersetzen, ihre verschiedenen Denkschulen aufgebaut.
Die beiden Methoden des tabdīl wurden nach Ibn Taymiyya von der Mehrheit der Philosophen (falāsifa) übernommen.
3.5.1.2 Die Position des tadschhīl (unterstelltes Unwissen)
Ibn Taymiyya stellt vor seine Beschreibung der zweiten Methode eine kurze Erörterung des Wortes taʾwīl, das drei unterschiedliche Bedeutungen angenommen hat: (1) das, worauf etwas hinausläuft, das letztliche Ergebnis einer Sache; (2) die Erklärung eines Wortes, auch wenn die Bedeutung nicht von der äußeren Bedeutung eines Textes abweicht; dies ist der technische Sinn, in dem der Ausdruck taʾwīl von den frühen Gelehrten des tafsīr (Koranauslegung) gebraucht wurde; (3) die Ablenkung eines Wortes von seiner ursprünglichen, äußeren zu einer sekundären, allegorischen Bedeutung aufgrund einer relevanten textuellen Evidenz. Die Partikularisierung und Einschränkung des Wortes taʾwīl auf diese dritte Bedeutung findet sich nur bei den späteren Gelehrten, nicht bei den frühen Generationen (salaf).
Spätere Gelehrte, die taʾwīl in dieser technischen Bedeutung zur Interpretation des Koranverses 3:7 verwendeten und seine Satzstruktur so gliederten, dass sie lasen »und niemand kennt ihr [bestimmter Verse] taʾwīl außer Gott«, waren zu der Annahme gezwungen, dass solche Verse andere Bedeutungen besaßen als die auf natürliche Weise aus ihnen verstandenen (tukhālifu madlūlahā al-mafhūm minhā), was wiederum zu dem unausweichlichen Schluss führte, dass die tatsächliche intendierte Bedeutung nur Gott kennt und also selbst dem Propheten nicht bekannt ist – folglich auch den Prophetengefährten sowie allen späteren Generationen.
Ibn Taymiyya nennt diese Gruppe von Gelehrten ahl at-tadhlīl wa at-tadschhīl, nämlich Leute, die mangelnde Rechtleitung und Unwissen unterstellen, deren Position also impliziert, dass die Propheten selbst ohne Rechtleitung hinsichtlich der wahren Bedeutung der Offenbarung gelassen wurden und nicht wussten, was Gott mit bestimmten Ausdrücken meinte, in denen Er Sich in Seiner Offenbarung beschrieb.
Einige in dieser Gruppe nehmen an, dass das mit diesen Ausdrücken Gemeinte nicht der äußeren Bedeutung entspricht und niemandem außer Gott, nicht einmal den Propheten, bekannt ist. Andere hingegen sind der Ansicht, dass diese Ausdrücke gemäß ihrer äußeren Bedeutung stehengelassen werden sollten, wobei allerdings eingeräumt wird, dass diese Bedeutung nicht die »wahre« Bedeutung ist, da diese allein Gott kennt. Darin erkennt Ibn Taymiyya einen Widerspruch, da sie zugleich vertreten, dass diese Ausdrücke eine figurative Bedeutung (taʾwīl) im Unterschied zu ihrer äußeren Bedeutung besitzen und doch gemäß ihrer äußeren, nicht-intendierten Bedeutung stehengelassen werden sollen.
Zudem werden von den jeweiligen Gruppen je nach ihren vorgegebenen Lehren unterschiedliche Kategorien von Versen für mehrdeutig oder problematisch (mutaschābih) erklärt.
El-Tobgui resümiert:
Jede Fraktion erklärt Verse, die ihren eigenen Positionen zuwiderlaufen, für »problematisch« und fährt dann mit der Feststellung fort, dass der Prophet es unterließ, die Bedeutungen solcher »ambigen« Passagen zu klären. Manche dieser Gruppen […] sehen den Grund dafür darin, dass sogar der Prophet selbst die wahren Bedeutungen solcher Verse nicht kennt (dieses Prinzip bezeichnet Ibn Taymiyya als tadschhīl), während andere meinen, dass er sie kannte, aber absichtsvoll davon Abstand nahm, sie der Gemeinschaft zu erklären (dieses Verfahren nennt Ibn Taymiyya tadhlīl). Der Prophet übertrug, dieser Ansicht zufolge, vielmehr die Mitteilung der wahren Bedeutung solcher Verse auf spätere Gelehrte, um sie auf der Grundlage rationaler Beweise zu erklären, die aus ihren Anstrengungen (idschtihād) in der Wissenschaft der Interpretation (taʾwīl) hervorgehen. (S. 139-140)
3.5.2 Das Endergebnis der allegorischen Interpretation
(Der folgende Abschnitt basiert auf den Argumenten 30 und 32 im Darʾ.)
Der vermeintliche Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung bezieht sich meist auf das Wesen Gottes, indem behauptet wird, dass die in ihrem äußeren Sinn verstandene Offenbarung Gott bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben scheint, die Ihm nach dem Urteil der Vernunft nicht zugeschrieben werden können; denn dies führt entweder (1) zur Verletzung einer Prämisse eines rationalen Arguments, das dem Beweis der Existenz Gottes und/oder der Authentizität der Offenbarung dient, oder (2) zu einer Angleichung (taschbīh) Gottes an Erschaffenes, wodurch Seine einzigartige Göttlichkeit beeinträchtigt wird. Der qānūn kullī (universelle Regel) bestimmt nun, dass jeder solche Konflikt zugunsten der Vernunft aufzulösen und die Offenbarung entsprechend zu reinterpretieren ist, da das Wissen von der Authentizität der Offenbarung in der Vernunft gegründet ist.
Worum geht es dabei aus Ibn Taymiyyas Sicht genau? Und warum setzt er so große Mühe daran, diese universelle Regel auf Tausenden von Seiten zu widerlegen?
3.5.2.1 Widerspruch zu Gottesbeweis
Die obige Argumentation beruht auf der Annahme, dass ein rationaler Beweis (dalīl), auf dem die Erkenntnis Gottes und der Wahrheit der Offenbarung gründet, der äußeren Bedeutung einiger Aussagen der Offenbarung widerspricht. Dies lässt sich ein wenig formalisiert etwa so darstellen:
Eine Gruppe G hat einen Beweis B für die Existenz Gottes aufgestellt. Beweis B basiert auf den Prämissen x, y und z, aus denen folgt, dass Gott existiert. Doch die Prämisse y impliziert die Negation eines von der Offenbarung behaupteten Attributs Gottes A. Da der Beweis von der Prämisse y, die -A impliziert, abhängt, steht die Behauptung von A im Widerspruch zu y, wodurch das ganze Argument hinfällig würde. Um den Gottesbeweis zu retten, wird deshalb A fallengelassen. Dies wird »rationaler Einwand« gegen A genannt, der sodann gemäß des qānūn kullī (universelle Regel) zur Anwendung der Reinterpretation des Textes, der A behauptet, (taʾwīl) oder zur Suspension des Urteils hinsichtlich der wahren Bedeutung dieses Textes (tafwīdh) führt.
Gegen diese Argumentation erheben sich allerdings Zweifel, wenn man bedenkt, dass das Attribut A nicht nur durch authentische Texte der Offenbarung bestätigt wird, sondern von der autoritativen frühen Gemeinschaft und ihren von allen Gruppen von Muslimen anerkannten Gelehrten bewusst und einmütig aufrechterhalten und erst in späteren Generationen negiert oder reinterpretiert wurde. Ibn Taymiyya empfindet ganz deutlich, dass hier etwas im Argen liegt. Denn die Offenbarung begründet ohne jeden Zweifel das Wissen von der Wirklichkeit und tatsächlichen Existenz (thubūt) von Attribut A. Und da echtes Wissen nicht in Widerspruch zueinander stehen kann, muss das auf dem Beweis B gegründete Wissen bloß vermeintliches Wissen sein. Da die Offenbarung mit Gewissheit A behauptet und B -A impliziert, muss mit B etwas nicht stimmen. Was genau ist an dem Beweis B falsch? Hier setzt Ibn Taymiyyas minutiöse Suche nach einer Antwort ein.
Ibn Taymiyya führt zur Klärung ein Beispiel an, in dem es um einen Beweis der Existenz Gottes geht, der zugleich die Negation der Attribute Gottes (sifāt) in einem kleineren oder größeren Umfang impliziert. Es wird dabei behauptet, dass das Wissen von der Authentizität der Offenbarung von göttlichen Wundern abhängt, die den Anspruch des Propheten auf Wahrhaftigkeit verbürgen. Dies hängt wiederum davon ab, dass Gott keine Lügner mit göttlichen Wundern unterstützt, da dies moralisch verwerflich (qabīh) wäre und Gott keine moralisch verwerflichen Handlungen ausführt. Unser Wissen, dass Gott dies nicht tut, ist daraus abgeleitet, dass Er dieser Handlungen nicht bedarf und um ihre Verwerflichkeit weiß, in Verbindung mit der Prämisse, dass jemand, der um die Verwerflichkeit einer Handlung weiß und ihrer nicht bedarf, diese tatsächlich nicht ausführt. Sodann folgt Gottes Freiheit vom Bedürfnis, sie auszuführen, daraus, dass Er kein Körper ist. Die Negation Seiner Körperlichkeit erfordert wiederum die Negation Seiner Attribute und Handlungen, denn jede Entität, von der Attribute und Handlungen prädiziert werden können, besteht notwendig aus einem Körper. Und das Wissen, dass Gott nicht körperlich ist, beruht auf dem Beweis, dass Körper zeitlich entstanden sind (dalīl hudūth al-adschsām), während Gott anfangslos ewig ist.
Das Ergebnis dieser Verkettung von Prämissen ist nun, dass der Ausfall eines Arguments, beispielsweise für die zeitliche Entstehung der Körper, eine dramatische Kettenreaktion auslöst, die den gesamten Argumentationsgang zunichte macht und uns ohne schlüssigen Beweis für die Wahrhaftigkeit des Propheten zurücklässt.
Zudem ist das Argument für die zeitliche Entstehung der Körper eine Prämisse für den Beweis, dass die Welt nicht ewig (qadīm), sondern in der Zeit entstanden (hādith) ist und folglich einen zeitlosen, notwendig existierenden Urheber oder Hervorbringer (muhdith), nämlich Gott, haben muss. Dabei wird vorausgesetzt, dass alles, in dem Attribute oder zeitlich aufeinander folgende Handlungen subsistieren, gleichfalls zeitlich entstanden ist.
Wenn dies nun der einzige schlüssige Beweis für die Existenz des göttlichen Urhebers ist, wie viele Gruppen behaupten, so untergräbt jeder Bruch eines Glieds in der Schlusskette das Argument als Ganzes, so dass überhaupt kein rationaler Beweis für die Existenz Gottes bleibt, was doch als die wichtigste Aufgabe der Theologie angesehen wird.
Aus all dem wird sodann der Schluss gezogen, dass das Wissen von der Existenz Gottes und der Authentizität der Offenbarung von der Negation der Attribute und Handlungen Gottes abhängig ist. Denn deren Anerkennung, wie sie in der Offenbarung zu finden sind, würde den ganzen Beweis für die Existenz Gottes und die Authentizität der Offenbarung untergraben. Die Überzeugung, dass der Islam nur auf diesem Wege verteidigt und philosophische Einwände widerlegt werden können, führte zur Negation der Subsistenz von Attributen und Handlungen im Wesen Gottes.
Als weitere Konsequenz ergibt sich daraus, dass es nie die ursprüngliche Absicht der Offenbarung gewesen sein kann, Gottes Attribute und Handlungen im Sinne tatsächlicher Wirklichkeit zu behaupten. Eine solche Behauptung ist vielmehr durch die Vernunft als rational unmöglich erwiesen. Und da die Offenbarung nicht behaupten kann, was die Vernunft als unmöglich erkennt, muss der Schluss gezogen werden, dass die Texte der Offenbarung, die scheinbar die Wirklichkeit solcher Attribute und Handlungen aussagen, nicht in ihrem äußeren Sinn genommen werden dürfen, sondern vielmehr eine wahre innere Bedeutung verbergen. Das Argument mündet also in die Folgerung, dass es keine Alternative zur Interpretation solcher Texte mittels taʾwīl oder tafwīdh gibt.
3.5.2.2 taschbīh
Ein weiteres Motiv für die Negation von Attributen Gottes ist die Vermeidung von taschbīh, Angleichung oder Assimilation Gottes an Erschaffenes. Die oftmals verwendete Übersetzung von taschbīh mit Anthropomorphismus greift zu kurz, da es sich dabei nur um eine Angleichung an menschliche Wesen handelt. Typisch dafür ist, so Ibn Taymiyya, das Argument, das im späten 4./10. Jahrhundert der ismaʿilitische (bātinī) Missionar und neoplatonische Philosoph Abū Yaʿqūb as-Sidschistānī (gest. ca. 331/970) in seinem Werk al-ʿAqālīd al-malakūtiyya vorbrachte und das sogleich vorgestellt werden wird. Mit genau dieser Art von Argument gelingt es den extremen Negationisten (nufāh), alle mehr oder weniger negationistisch gestimmten Gruppen angefangen von den Aschʿariten über die Muʿtaziliten bis hin zu den Philosophen letztlich auf ihre Linie zu bringen. Möglich wird dies dadurch, dass alle diese Gruppen mit den extremen Negationisten in der prinzipiellen Legitimität der figurativen Interpretation offenbarter Texte übereinstimmen, indem sie die Notwendigkeit der Negation jeglicher Art von taschbīh zugestehen.
El-Tobgui gibt das Argument des Negationisten folgendermaßen wieder:
Der Negationist, erklärt Ibn Taymiyya, behauptet, dass die Klasse der »lebenden Dinge« und die Klasse der »existierenden Dinge« jeweils eine logische Unterscheidung in das, was anfangslos ewig (qadīm) ist, und das, was in der Zeit entstanden (muhdath) ist, zulässt. Die Tatsache, dass die Grundlage dieser Unterscheidung (mawrid at-taqsīm) von den beiden Kategorien geteilt wird, impliziert Zusammensetzung (tarkīb), was für den Negationisten eine besonders schädliche Form der Assimilation darstellt, nämlich die des Korporealismus (tadschsīm). Sie impliziert, dem Argument zufolge, weiterhin Assimilationismus in einem allgemeineren Sinn: wenn sowohl das, was ewig ist, (Gott) als auch das, was zeitlich entstanden ist, (das Universum) als »existierend« bezeichnet wird, dann sind sie einander gleich (ischtabahā), insofern sie unter das subsumiert werden, was mit dem Ausdruck »Existenz« konnotiert wird (ischtarakā fī musammā al-wudschūd), ein Umstand, der unausweichlich auf Assimilationismus hinausläuft. Und wenn darüber hinaus etwa angenommen wird, dass eine von zwei existierenden Entitäten (nämlich Gott) weiter charakterisiert wird durch die Tatsache, notwendig existierend durch sich selbst (wādschib bi-nafsihi) zu sein, dann teilt diese Entität mit der anderen, nicht-notwendigen Entität all das, was mit dem Ausdruck »Existenz« konnotiert wird (musammā al-wudschūd), ist aber zugleich von ihm unterschieden unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit, und dieser Aspekt, in dem sie der nicht-notwendigen Entität ähnelt, (nämlich Existenz) ist unterschieden von jenem Aspekt, in dem es sich von dieser Entität unterscheidet, (nämlich ihre Notwendigkeit). Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass das notwendig durch sich selbst Existierende (al-wādschib bi-nafsihi) »zusammengesetzt« ist aus dem, was es mit der anderen Entität teilt, (Existenz) und dem, was es davon unterscheidet, (seine einzigartige Notwendigkeit); und was immer in irgendeiner Form zusammengesetzt (murakkab) ist, ist dem Urteil der Vernunft zufolge, so sagt man uns, notwendig zeitlich entstanden (muhdath) und nicht anfangslos ewig, kontingent (mumkin) vielmehr als notwendig (wādschib). Dieses verderbliche Ergebnis, dass Gottes Wesen aus zwei Teilen, »Existenz« und »Notwendigkeit« »zusammengesetzt« ist, soll von der Tatsache herrühren, dass eine solche »zusammengesetzte« Entität abhängig (wörtl. »bedürftig«) wäre von jedem seiner Teile (muftaqir ilā dschuzʾihi), und, so das Argument weiter, da der Teil eines Dinges notwendig etwas anderes ist als das Ding selbst, folgt daraus, dass das notwendig Existierende von etwas anderem als sich selbst abhängig ist (muftaqir ilā). Doch das, was für seine Existenz von etwas anderem als sich selbst abhängig ist, kann nicht gleichzeitig für notwendig durch sich selbst existierend (wādschib bi-nafsihi), inhärenter Notwendigkeit durch nicht mehr und nicht anderes als sein eigenes Selbst sich erfreuend erachtet werden. Es folgt daher, dass Gott, wenn Er wahrlich Gott kraft Seiner selbst-notwendigen, anfangslos ewigen Existenz ist, gänzlich und völlig einfach und in keiner Weise »zusammengesetzt« sein muss, auch wenn solche »Zusammensetzung« lediglich darin besteht, dass Er eine Entität besitzt, die durch Attribute qualifiziert ist (und es verdient wiederholt zu werden, dass unter den Attributen, die durch dieses Argument negiert werden, das Attribut der Existenz selbst ist!). (S. 145-146)
Auf diese Weise gelingt es also dem extremen Negationisten jeden, der ihm sein zugrunde liegendes ungültiges Prinzip (usūl fāsida) zugesteht, zur völligen Negation der Existenz selbst des notwendig Existierenden zu bringen. Allerdings verliert der Batinit am Ende doch, da er nun eine ernsthafte Entgegnung auf sich zieht. Denn er verfällt durch seine Behauptung, dass Gott weder existent noch lebendig noch tot ist, schließlich selbst dem Assimilationismus in einer noch ungeheuerlicheren Form, indem er Gott nicht einem Existierenden angleicht, sondern dem Nichtexistierenden. Und wenn er diesem Dilemma auszuweichen versucht, indem er erklärt, dass Gott weder existierend noch nicht-existierend ist, muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er gegen das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten verstößt. Die letzte Ausflucht des Batiniten besteht sodann darin, zu erklären: »Ich vertrete keine der vorstehenden Aussagen. Ich behaupte weder ›Er ist existierend‹ noch ›Er ist nicht existierend‹ noch ›Er ist nicht-existierend‹ noch ›Er ist nicht nicht-existierend‹.« Und darin erkennt Ibn Taymiyya letztlich die Position der Atheisten (malāhida). Das Bestreben, den Assimilationismus zu vermeiden, hat schließlich dazu geführt, Gott mit dem logisch Unmöglichen und dem sogar geistig völlig Unwirklichen gleichzusetzen.
El-Tobgui fährt fort:
Die praktische Konsequenz ihrer Position, erklärt Ibn Taymiyya, ist, dass es nicht möglich ist, die gesamte Offenbarung als wahr anzuerkennen, sondern nur Teile von ihr als wahr anzuerkennen, und andere Teile von ihr als im wesentlichen falsch zu verwerfen – falsch in dem Sinn der Unterstellung, dass die Bedeutung, die sich aus dem Wortlaut der offenbarten Texte am natürlichsten ergibt, der äußeren objektiven Realität der Dinge, über die sie sprechen, nicht entspricht. Daher, so schließt Ibn Taymiyya, dienen ihre rationalen Argumente bestenfalls dazu, die Wahrheit der Offenbarung lediglich in dieser partiellen und mangelhaften Weise festzustellen, mit dem Ergebnis, dass sie fortfahren, von der Offenbarung alles zu leugnen, was immer mit ihren rationalen Schlussfolgerungen in Konflikt steht – ein Prozess, der in den Händen der extremsten Negationisten bis zu dem durchgeführt werden kann, was einer völligen Leugnung sogar der Existenz Gottes gleichkommt, des notwendig Existierenden, von dem die Existenz aller anderen existierenden Entitäten völlig und gänzlich abhängig ist.
Das ist also, was Ibn Taymiyya als das unausweichliche Ergebnis einer konsistenten und rigorosen Anwendung der universellen Regel und des taʾwīl ansieht, den sie als Mittel zur Anpassung der Offenbarung an die vermeintlich rationalen Einwände, die gegen einzelne Teile ihres objektiven Gehalts erhoben werden, verschreibt. (S. 148-149; Hervorhebung im Original)
3.5.3 Defektive Rationalität und ihre Unzufriedenen: Vernunft in einer Sackgasse
(Dieser Abschnitt basiert auf Argument 9.)
Gibt es einen anderen Ausweg? Ja, meint Ibn Taymiyya, durch einen anderen Begriff der Vernunft, an dem gemessen der Begriff der Vernunft, der in die Sackgasse geführt hat, sich als unvernünftig erweist. So lassen sich die auf dieser mangelhaften, defektiven Rationalität beruhenden »rationalen Einwände« gegen das Verständnis der Offenbarung in ihrem offenkundigen Sinn als unvernünftig erkennen. Ibn Taymiyya will zeigen, dass diese Einwände aus rein rationalen Gründen unhaltbar sind. Und was als Vernunft an sich ausgegeben worden ist, erweist sich als einem immer stärkeren Zerfall unterliegend, je größer die Entfernung von der wahren, eingeborenen reinen Vernunft (ʿaql sarīh) wird, die von der Offenbarung eingesetzt und von den Salaf beispielhaft gepflegt wurde.
Ibn Taymiyya beginnt seine Argumentation mit der Beobachtung, dass das Prinzip, das der Vernunft den Vorrang vor der Offenbarung einräumt, in Wirklichkeit gar keine universell anwendbare Regel darstellt, da sich die Mutakallimun darüber keineswegs einig sind, sondern verschiedene Auffassungen darüber vertreten, was unter »rationalem Wissen« zu verstehen ist.
Was durch rationale Notwendigkeit oder rationale Erforschung erkannt werden kann, ist unter den Mutakallimun sogar äußerst umstritten. Mitunter werden von ihnen völlig gegensätzliche Positionen vertreten, was auch vor Themen, die von der Offenbarung ausdrücklich angesprochen werden, wie Gottes Wesen und Attribute, Seine Bestimmung usw. nicht halt macht. Was Fragen betrifft, die erst in späterer Zeit aufgetreten sind, wie beispielsweise philosophische Fragen zum Status der Atome, der Identität von Körpern, der Beständigkeit von Akzidenzien usw., so können die Meinungsverschiedenheiten unter den verschiedenen Gruppen kaum aufgezählt werden, wobei allerdings jede Gruppe nichtsdestotrotz für ihre jeweilige Position in Anspruch nimmt, über schlüssige rationale Beweise zu verfügen.
Ibn Taymiyya, für den Vernunft und Offenbarung übereinstimmen, sieht darin einen Zerfallsprozess, der immer weiter wegführt sowohl von der Vernunft als auch von der Offenbarung. Je weiter das Denken einer Schule sich von der Sunna entfernt, desto größer werden auch ihre internen Streitigkeiten über das, worin die Vernunft und ihre Diktate tatsächlich bestehen. Ein solches Denken gerät damit nicht nur in immer größeren Widerspruch zur Offenbarung, wobei es dazu genötigt ist, offenbarte Texte mittels einer zunehmend ausgreifenden Verwendung von taʾwīl zu reinterpretieren oder gar wegzuerklären, sondern verfängt sich zugleich in wachsende unauflösbare rationale Unstimmigkeiten, Widersprüche, Unwahrscheinlichkeiten und Zweifel.
Dieser Prozess lässt sich mithilfe der taymiyyanischen Pyramide veranschaulichen, die bereits in der Einleitung erläutert wurde und hier noch einmal dargestellt sei:
Mit zunehmender Entfernung vom Konvergenzpunkt von gesunder Vernunft und authentischer Offenbarung an der Spitze der Pyramide nehmen die Meinungsverschiedenheiten (ikhtilāf) und Zweifel zu. Dieser Prozess schreitet über Aschʿariten und Muʿtaziliten so weit fort, bis am unteren Ende der Pyramide die Philosophen (falāsifa) in so große Uneinigkeit verfallen, dass es nahezu unmöglich ist, noch etwas zu finden, dem sie gemeinsam zustimmen können. Jeder Philosoph scheint eifersüchtig seine exklusive Meinung allen anderen entgegenzusetzen und mit dem Anspruch auf rationale Begründung und Gewissheit zu versehen. Dies gilt schon auf den Gebieten der Astronomie, Mathematik und Physik, geschweige denn der Metaphysik, in der die Schlacht widerstreitender und unversöhnlicher Ansichten aufgrund ihrer Unlösbarkeit nicht selten den Eindruck der Aussichtslosigkeit erweckt. So gestehen die führenden Philosophen selbst oftmals ein, dass es ihnen letztlich nicht gelingt, in irgendeiner Frage Gewissheit zu erlangen.
Was als sicheres rationales Wissen ausgegeben wird, wird mithin sowohl durch die Widersprüchlichkeit der rivalisierenden Positionen als auch durch das Eingeständnis mangelnder Gewissheit seitens ihrer Vertreter untergraben. Das vermeintlich rationale Wissen, das der Offenbarung widerspricht, enthält also nichts, was die Rationalisten selbst gemeinsam mit Gewissheit als gültig und rational begründet erachten.
Wenn keine Einigung darüber besteht, was als gültiges rationales Wissen gilt, lässt sich der Streit der Meinungen und Lehren nicht lösen. Einzig der Rückgriff auf die gesunde innere Natur, die eingeborene Veranlagung (fitra) und ihre treffliche Intuition, die nicht von willkürlichen und subjektiven Meinungen, Neigungen und Leidenschaften verfälscht ist, kann hier Abhilfe schaffen, indem sie den Einklang von Vernunft und Offenbarung erweist.
Um den trügerischen Charakter des rationalistischen Kalam noch deutlicher hervortreten zu lassen, führt Ibn Taymiyya eine Reihe von großen spekulativen Denkern (nudhdhār) wie etwa al-Ghazālī und ar-Rāzī als Zeugen für die Vergeblichkeit ihres lebenslangen Bemühens um Gewissheit an. Denn sie mussten am Ende ihres Lebens trotz ihrer überragenden Kenntnisse und intellektuellen Fähigkeiten die Sinnlosigkeit der rationalen Methoden von Theologie und Philosophie einsehen, da diese nur zu einer Anhäufung von Unsicherheiten und Zweifeln führten. Und sie haben sich daher letztlich auf Koran und Sunna besonnen.
Ibn Taymiyya setzt dem agnostischen Pessimismus, der in vielen Äußerungen dieser spekulativen Denker zum Ausdruck kommt, die ruhige Zuversichtlichkeit derer entgegen, die über wirkliches Wissen verfügen und entschieden am ursprünglichen, unverfälschten »offenbarten muhammadischen salafitischen sunnitischen prophetischen Weg« (at-tarīqa al-nabawiyya al-sunniyya as-salafiyya al-muhammadiyya asch-scharʿiyya) festhalten. Diese unverzagten Denker wiederum, so El-Tobgui weiter,
sind sowohl mit dieser Methode wie auch mit den Lehren völlig vertraut, die angeblich in Widerspruch zur Offenbarung stehen (wie etwa die These von der Erschaffenheit des Koran oder von der rein symbolischen Realität der Attribute Gottes), woraufhin sie die Ungültigkeit solcher Lehren unschwer erkennen können kraft der Einsichten aus der von Ibn Taymiyya so genannten »reinen natürlichen Vernunft« (al-maʿqūl as-sarīh), die sich immer als in voller Übereinstimmung mit dem erweist, was von der authentischen Offenbarung (al-manqūl as-sahīh) versichert wird. (S. 157)
3.5.4 Ibn Taymiyyas Projekt: Widerlegung der universellen Regel
Ibn Taymiyya erkannte die Widerlegung der universellen Regel (qānūn kullī), in der er die hauptsächliche Ursache für die geistige Ausweglosigkeit und Verwirrung seiner Zeit sah, als notwendige Voraussetzung, um nicht nur die Integrität der Offenbarung, sondern auch die Vernunft selbst retten zu können. Diese Aufgabe nahm er sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql vor, indem er nicht weniger als 44 Argumente (wudschūh; wörtl. Aspekte) gegen die universelle Regel vorbrachte, um den Nachweis zu führen, dass diese logisch unstimmig und daher theoretisch unhaltbar und grundlos ist.
Die 44 Argumente überschneiden sich mitunter und folgen keiner erkennbaren Ordnung, sondern werden vielmehr als getrennte Einwände gegen die universelle Regel präsentiert. El-Tobgui hat sie allerdings nach Themen sortiert und in eine ihm sinnvoll erscheinende Reihenfolge gebracht.
Die drei nachfolgenden Abschnitte behandeln verschiedene Kritikpunkte, die das Ziel einer Verschiebung des überkommenen Paradigmas von Vernunft und Offenbarung verfolgen. Darauf folgen mehr allgemeine Argumente gegen die Kohärenz und logische Gültigkeit der universellen Regel insgesamt. Im letzten Abschnitt werden rein schriftbasierte Argumente dargestellt, die der Verstärkung der primär rationalen Argumente dienen, die das Rückgrat des Darʾ taʿārudh bilden.
Einschließlich der Abschnitte 3.5.2 und 3.5.3 werden somit 38 von 44 Argumenten behandelt. Die verbleibenden sechs Aspekte erweisen sich in Wirklichkeit nicht als bloße Argumente, sondern als ausführliche Abhandlungen über komplexe philosophische und theologische Themen, die sich teils über Hunderte von Seiten erstrecken. Einige Elemente davon werden in den folgenden Kapiteln aufgegriffen, in denen bestimmte theologische und philosophische Fragestellungen erörtert werden, die Ibn Taymiyya im Darʾ taʿārudh aufwirft.
3.5.5 Über Vernunft als »Gründung« unseres Wissens der Offenbarung
(Dieser Abschnitt basiert vor allem auf den Argumenten 3, 24 und 29.)
Ibn Taymiyya macht sich daran, die Hauptprämisse der universellen Regel zu widerlegen, die besagt: Wenn Offenbarung gegenüber Vernunft der Vorrang gegeben wird, bedeutet dies eine Verwerfung eben dessen, worauf sie gründet, nämlich der Vernunft, was wiederum Offenbarung selbst unterhöhlt. Mit »gründen« ist hier gemeint, dass die Vernunft die Grundlage bildet, auf der das Wissen der Wahrheit und Gültigkeit der Offenbarung ruht. Vernunft gilt mithin als Erkenntnisgrund der Offenbarung.
Ibn Taymiyya erklärt indes: »Wir geben nicht zu, dass, wenn Offenbarung Vorrang gegeben wird, dies darauf hinausläuft, eben das zu bestreiten, was Offenbarung gründet – nämlich Vernunft -, was gleichbedeutend wäre mit der Unterhöhlung der Vernunft selbst.« Denn selbst wenn durch Vernunft erworbenes Wissen den Erkenntnisgrund unseres Wissens der Offenbarung bildet, so doch nicht alles Wissen durch Vernunft. Die verschiedenen Gegenstände des Wissens, die durch Vernunft erfasst werden, sind zahllos, und das Wissen der Wahrheit der Offenbarung ist allenfalls lediglich von bestimmten Erkenntnissen abhängig, wie etwa der Beweis der Existenz Gottes oder der Wahrhaftigkeit des Propheten durch Wunder.
El-Tobgui gibt Ibn Taymiyyas Gedankengang wie folgt wieder:
Wenn nun das rationale Wissen, das angeblich der Offenbarung widerspricht, nicht Teil des rationalen Wissens ist, auf dem unser rationales Urteil beruht, dass Offenbarung authentisch ist, dann wäre seine Bestreitung in der Tat nicht gleichbedeutend mit der Bestreitung jenes Wissens, auf dem Offenbarung gründet, denn die Bestreitung einiger Objekte dessen, was als rationales Wissen (ʿaqliyyāt) kategorisiert wird, bedeutet nicht, alle von ihnen zu bestreiten, genauso wie die Bestreitung einzelner Elemente dessen, was unter die Kategorie des offenbarten Wissens (samʿiyyāt) fällt, nicht die Kategorie solchen Wissens als Ganzes untergräbt. […] Der hauptsächliche Irrtum der Verfechter der universellen Regel, erklärt Ibn Taymiyya, besteht darin, dass sie alle Formen von rational gegründetem Wissen hinsichtlich Gültigkeit und Ungültigkeit zu einer einzigen Kategorie machen, während ein positives Urteil hinsichtlich der Gültigkeit der Offenbarung [...] lediglich die Gültigkeit jenes Teils des rational gegründeten Wissens verlangt, das mit ihm einhergeht (mulāzim), nicht die Gültigkeit jenes Teils, das ihm widerspricht oder ihn negiert (yunāfī). Und da die Leute darin übereinstimmen, dass das, was »rationales Wissen« (ʿaqliyyāt) genannt wird, wahre wie auch falsche Propositionen umfasst, ist somit bewiesen, dass die Priorisierung der Offenbarung gegenüber dem, von dem gesagt wird, dass es unter die allgemeine Kategorie des rationalen Wissens fällt, nicht damit gleichbedeutend ist, alles zu untergraben, was dazu dient, unser rationales Urteil über die Authentizität der Offenbarung zu gründen. (S. 161-162; Hervorhebungen im Original)
Ibn Taymiyya geht dabei davon aus, den Nachweis erbringen zu können, dass alles rationale Wissen (maʿqūl), das der Offenbarung widerspricht, nicht zu der Menge von rationalen Schlussfolgerungen gehört, die zur Gründung des Wissens der Offenbarung dienen, so dass die Bestreitung einer dieser echten oder vermeintlichen rationalen Erkenntnisse die Grundlagen der Offenbarung nicht untergräbt. Denn die wahren Grundlagen der Offenbarung sind für Ibn Taymiyya etwa das Wissen von der Existenz Gottes und der Wahrhaftigkeit des Propheten, worin die meisten Leute übereinstimmen. So teilen viele Mutakallimun selbst, wie etwa al-Ghazālī und ar-Rāzī, die Auffassung Ibn Taymiyyas, dass beispielsweise das Wissen der Existenz Gottes ein eingeborenes, notwendiges Wissen (fitrī dharūrī) ist. Außerdem, so fährt Ibn Taymiyya fort, ist es bekannt, dass die Offenbarung selbst voller rationaler Argumente für die Existenz und Allmacht Gottes sowie die Wahrhaftigkeit des Propheten ist.
Ibn Taymiyya kehrt die universelle Regel um, um damit zu zeigen, dass das gegenteilige Prinzip, nämlich die Priorisierung der Offenbarung gegenüber der Vernunft im Konfliktfall, auf analoge Weise begründet werden kann. Und wenn mithin die Priorisierung sowohl der Vernunft als auch der Offenbarung rational inkohärent ist, dann muss die Wahrheit darin liegen, dass es keinen echten Widerspruch zwischen diesen beiden Quellen des Wissens geben kann.
Die umgekehrte Regel würde folgendes besagen, wie Ibn Taymiyya darlegt:
Wenn Vernunft und Offenbarung einander widersprechen, dann muss der Offenbarung gegenüber der Vernunft Vorrang gegeben werden, da die Vernunft geurteilt hat, dass Offenbarung in allem, was sie beinhaltet, wahrheitsgemäß ist, wohingegen die Offenbarung nicht geurteilt hat, dass die Vernunft in allen unterschiedlichen Folgerungen, zu denen sie gelangen mag, richtig ist, und unser Wissen der Authentizität der Offenbarung ist auch nicht abhängig (mawqūf ʿalā) von all den verschiedenen Folgerungen, zu denen die Vernunft gelangt sein mag. (S. 164; Hervorhebung im Original; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. I, S. 138, Z. 1-3)
Diese Position ist für Ibn Taymiyya sogar vorzuziehen, da die Vernunft die Wahrheit der Offenbarung in einem allgemeinen und unbeschränkten Sinn aufzeigt (dalāla ʿāmma mutlaqa).
Zur weiteren Bestärkung und Veranschaulichung seines Gedankengangs führt Ibn Taymiyya eine Reihe von Beispielen an, wie etwa des einfachen Muslim, der einem anderen zu einem Mufti rät, oder des Zeugen vor Gericht, wobei der Zeuge für die Vernunft als Gründendes und das Bezeugte für die Offenbarung als Begründetes stehen.
Die allgemeine Struktur der beispielhaften Argumentation sieht grob folgendermaßen aus: Wie die Gültigkeit der Zeugenschaft des Zeugen nicht durch ein einmaliges Irren völlig annulliert wird, so wird auch die Gültigkeit der Zeugenschaft der Vernunft durch ein falsches Urteil in einem bestimmten Fall nicht insgesamt außer Kraft gesetzt. Die von Ibn Taymiyya angeführten Beispiele lassen ganz besonders deutlich erkennen, wie tief sein Denken von Methoden und Begriffen der Hadithwissenschaft und des Fiqh geprägt ist. Seine ganze Denkweise samt allen Begriffe, einschließlich des zentralen Begriffs der Vernunft, ist davon zutiefst eingefärbt.
El-Tobgui resümiert:
Ibn Taymiyya entgegnet der Konzeption der Philosophen und Theologen dessen, was es für unser Wissen der Offenbarung bedeutet, auf Vernunft »gegründet« zu sein, indem er im Kern argumentiert, dass das, was wir »Vernunft« nennen, nicht, wie viele meinen, eine undifferenzierte Kategorie bildet, so dass die Bestreitung von irgendeiner der verschiedenen Folgerungen, zu denen die Vernunft vermeintlich gelangt ist, bedeutet, alle von ihnen zu untergraben. […] Die Negation bestimmter anderer Folgerungen der Vernunft (wie etwa jene, die bestimmten Behauptungen der Offenbarung widersprechen) kompromittiert daher, wie die meisten Theologen und Philosophen glauben, nicht automatisch das eigentliche Vermögen der Vernunft selbst und jede ihrer verschiedenen Folgerungen, zu denen nicht zuletzt die rationale Basis gehört, kraft derer wir auf die Authentizität der Offenbarung schließen. (S. 170; Hervorhebungen im Original)
3.5.6 Wissen vs. Vermutung: Was zählt, ist definitive Gewissheit
(Dieser Abschnitt basiert vor allem auf den Argumenten 1, 2, 4 und 5.)
Die Widerlegung der universellen Regel verfolgt Ibn Taymiyya, indem er die Falschheit ihrer Prämissen aufzeigt. Die Begründung der universellen Regel basiert auf drei Prämissen. Daran sei noch einmal erinnert:
1. Tatsächliches Vorkommen (thubūt) eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung;
2. Begrenzung der theoretisch möglichen Optionen bei der Behandlung des vermeintlichen Widerspruchs auf vier: a) Annahme der beiden widersprüchlichen Aussagen zur gleichen Zeit; b) Verwerfung beider zur gleichen Zeit; c) Priorisierung der Offenbarung gegenüber der Vernunft als Regel; d) Priorisierung der Vernunft gegenüber der Offenbarung als Regel;
3. Ungültigkeit der ersten drei Alternativen in Prämisse 2;
Schluss: Notwendigkeit der vierten Option, also Priorisierung der Vernunft gegenüber der Offenbarung als Regel und entsprechende Reinterpretation der Offenbarung.
Hier geht es Ibn Taymiyya um die Widerlegung von Prämisse 2, indem er die Unterteilung in vier Optionen verwirft, die darauf basiert, dass Vernunft und Offenbarung einander jeweils als Ganzes, als einheitlicher Block entgegengesetzt werden. Es kann nach Ibn Taymiyya hingegen durchaus sein, dass dem rationalen Beweis in manchen Fällen der Vorrang gegenüber dem textuellen Beleg gegeben werden muss, während in anderen Fällen umgekehrt dem textuellen Beleg der Vorrang gebührt. Und welchem Beweis der Vorrang gegeben werden muss, sollte nicht von seiner Erkenntnisquelle, also Vernunft oder Offenbarung, abhängig gemacht werden, sondern von seiner Erkenntnisgüte.
Ein Beweis oder Beleg (dalīl) ist entweder schlüssig und definitiv gewiss (qatʿī) oder nicht schlüssig und präsumtiv (dhannī). Im Falle eines Widerspruchs zwischen einem definitiv gewissen und einem präsumtiven Beweis muss nach dem Konsens aller vernünftigen Personen (ʿuqalāʾ) dem definitiv gewissen Beweis unabhängig von seiner Erkenntnisquelle der Vorrang gegeben werden, da bloße Präsumtion oder Vermutung definitive Gewissheit nicht aufheben kann. Wenn beide Belege präsumtiv sind, muss untersucht werden, welcher Beleg stärkere Beweiskraft besitzt und daher vorzuziehen (rādschih) ist, wiederum unabhängig davon, woher die Erkenntnis stammt. Einen echten Widerspruch zwischen definitiv gewissen Beweisen kann es nicht geben, da das dadurch Bewiesene notwendig wahr ist und ein Widerspruch daher logisch unmöglich ist. Wird also ein Widerspruch zwischen zwei definitiv gewissen Beweisen angeführt, so muss es sich um einen bloß vermeintlichen Widerspruch handeln und bei näherer Untersuchung sich herausstellen entweder, dass sich die beiden Aussagen gar nicht widersprechen, oder, dass mindestens eine der beiden Aussagen in Wirklichkeit nicht definitiv gewiss ist.
Es ist mithin falsch, wie in Prämisse 2 angenommen, im Falle eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung einer Kategorie von Beweis (z. B. Vernunft) gegenüber einer anderen (z. B. Offenbarung) automatisch und im Ganzen den Vorrang zu geben. Vielmehr muss man die beiden spezifischen Belege, die in einer bestimmten Frage als widersprüchlich erachtet werden, auf ihre Erkenntnisqualität hin untersuchen und demjenigen, der sich als definitiv gewiss (qatʿī) erweist, oder, wenn beide nicht definitiv gewiss sind, demjenigen, der sich als beweiskräftiger oder wahrscheinlicher (rādschih) erweist, den Vorrang geben unabhängig davon, ob die Erkenntnisquelle die Vernunft oder die Offenbarung ist.
Ibn Taymiyya weist auf einen entscheidenden Punkt hin: Der einzig mögliche Einwand gegen diese Argumentation ist die Behauptung, dass ein textueller Beleg oder ein auf Offenbarung beruhender Beweis niemals definitiv gewiss sein kann. Er scheint dabei anzunehmen, dass ein Beweis für diese Behauptung unmöglich ist. Leider setzt er sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql damit nicht weiter auseinander.
Diese Frage ist allerdings von entscheidender Bedeutung für die gesamte Argumentation und Widerlegung der universellen Regel, da sich sagen ließe, dass es hier um eine weitere versteckte Prämisse von deren Begründung handelt, die besagt: Nur auf Vernunft gegründetes Wissen ist echtes, definitiv gewisses, notwendiges Wissen, während alles Wissen aus einer anderen Erkenntnisquelle, wie etwa Offenbarung, diesen epistemischen Rang nicht erreichen kann und demgegenüber immer defizitär, also bloß wahrscheinlich und letztlich zweifelhaft bleiben muss; und daher ist im Falle eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung immer der Vernunft der Vorrang zu geben.
Diese Auffassung wird wohl in der Tat von den meisten falāsifa und mutakallimūn vertreten, so auch von ar-Rāzī, dessen Position von El-Tobgui in einer Fußnote erwähnt wird. Es ist nämlich nach ar-Rāzī unmöglich, die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) durch textliche Belege auf definitiv gewisse Weise (qatʿī) zu begründen, da die Ableitung aus offenbarten Texten von präsumtiven (dhannī) Faktoren wie der Übermittlung von Lexikon, Syntax und Morphologie der Sprache wie auch in den Methoden der Auslegung abhängig ist.
Ibn Taymiyya bemerkt, dass er ein Werk, das eben diese Thesen widerlegt, vor etwa dreißig Jahren geschrieben und einen Teil dieser Widerlegung auch in einem Buch mit dem Titel Scharh awwal al-muhassal erwähnt hat, in dem er ar-Rāzīs Muhassal erörtert. Leider scheint dieses Buch verloren zu sein. Ibn Taymiyya stellt dazu fest, dass er im Scharh awwal al-muhassal gegen ar-Rāzīs Behauptung, dass aus der Offenbarung abgeleitete Argumente niemals definitiv gewiss sein können, argumentiert hatte, dass solche Argumente sehr wohl zu Gewissheit führen können.
Indem Ibn Taymiyya sich dafür ausspricht, demjenigen Beweis mit der höheren epistemischen Qualität den Vorrang zu geben, also beispielsweise Wissen gegenüber Vermutung vorzuziehen, weil es sich eben um Wissen handelt und nicht weil es auf Vernunft oder Offenbarung basiert, strebt er danach, an die Stelle des Gegensatzes von Vernunft und Offenbarung den Gegensatz von Wissen und Vermutung treten zu lassen.
El-Tobgui stellt zusammenfassend fest:
Wenn Ibn Taymiyya erst einmal die beiden Quellen – Vernunft und Offenbarung – im wesentlichen epistemisch gleichgesetzt hat, während er zugleich jedes einzelne Element beider Kategorien einer gemeinsamen Prüfung der Beweiskraft unterwirft, vervollständigt er dieses zweite Manöver gegen die universelle Regel, indem er erklärt, dass der Streitpunkt nicht, wie alle angenommen zu haben scheinen, Vernunft vs. Offenbarung ist, sondern vielmehr Wissen vs. Vermutung, Gewissheit vs. Ungewissheit, stärkere vs. schwächere Beweise der Wahrheit. (S. 178-179; Hervorhebung im Original)
3.5.7 Nicht »Vernunft vs. Offenbarung« sondern »skriptural validiert vs. skriptural nicht-validiert«
(Dieser Abschnitt basiert weitgehend auf Argument 15.)
Ibn Taymiyya arbeitet an einer weiteren Verschiebung des begrifflichen Bezugsrahmens, indem er an die Stelle der üblicherweise vorgenommenen Kategorisierung der Beweise und Methoden in »skriptural« vs. »rational« (scharʿī - ʿaqlī) die Unterscheidung »skriptural validiert« vs. »skriptural nicht-validiert« (scharʿī - bidʿī) setzt. Skriptural validierte Beweise umfassen wiederum sowohl offenbarte (samʿī) als auch rationale (ʿaqlī) Belege. Diese Verschiebung wird damit begründet, dass die Unterscheidung zwischen »skriptural« und »rational« lediglich die Erkenntnisquelle betrifft, nicht aber die Gültigkeit der Erkenntnis.
In der Reklassifikation ist der Gegensatz zu einem skripturalen (scharʿī) Beleg nicht ein rationaler, sondern ein innovierter (bidʿī), dem die skripturale Gültigkeit fehlt, da er als unzulässige Innovation (bidʿa) im Gegensatz zur wahren Offenbarung (scharīʿa) steht und daher notwendig ungültig und falsch ist. Ein skriptural validierter Beleg kann entweder aus einem offenbarten Text oder aus einer durch die Vernunft erreichten Schlussfolgerung bestehen. Denn die skripturale Gültigkeit eines Beweises kann sowohl ausdrückliche Bestätigung als auch Billigung bedeuten, wobei Bestätigung heißt, dass die Offenbarung ihn bestätigt und ausdrücklich belegt hat, und Billigung, dass die Offenbarung ihn erlaubt und als gültig und zulässig erklärt hat.
Wenn »skriptural« (scharʿī) im Sinne von Bestätigung verwendet wird, kann ein skripturaler Beweis auch durch die Vernunft erkannt werden, wobei die Rolle der Offenbarung darin besteht, auf ihn hinzuweisen und auf ihn aufmerksam zu machen. In diesem Fall wird der Beleg klassifiziert als »skriptural validierter rationaler Beleg« (scharʿī-ʿaqlī). Als Beispiele dafür nennt Ibn Taymiyya die verschiedenen im Koran erwähnten Parabeln (amthāl) und andere Argumente für die Einheit Gottes und die Authentizität des Propheten, die Affirmation der Attribute Gottes usw. Denn all dies sind Beweise, deren Wahrheit durch die Vernunft erkannt wird, da sie aus rationalen Demonstrationen und Schlussfolgerungen bestehen (barāhīn wa maqāyīs ʿaqliŷya), und die auch als skriptural validiert klassifiziert werden, da sie von der Offenbarung erwähnt und ausdrücklich bestätigt werden. Ein skriptural validierter Beleg hingegen, der ausschließlich durch offenbarte Texte erkannt wird, wird klassifiziert als »skriptural validierter offenbarter Beleg« (scharʿī-samʿī). Somit werden gültige skripturale Belege kategorisiert entweder als »skriptural-rational« (scharʿī-ʿaqlī) oder »skriptural-offenbart« (scharʿī-samʿī).
Wenn hingegen »skriptural« (scharʿī) im Sinne von Billigung verwendet wird, umfasst diese Kategorie verschiedene Unterkategorien, nämlich die authentische prophetische Sunna, das, worauf der Koran aufmerksam gemacht und durch rationale Beweise und Argumente hingewiesen hat, und das, was auf der Grundlage empirischer Beobachtung von existierenden Dingen abgeleitet werden kann.
Viele Mutakallimun, so Ibn Taymiyya, haben die fehlerhafte Annahme gemacht, die Kategorie der skripturalen Belege ausschließlich auf die skriptural-offenbarten zu beschränken und die skriptural-rationalen auszuschließen, so dass der Offenbarung lediglich die Funktion als Beleg in dem Sinne zukommt, dass sie über etwas informiert, das auf andere Weise nicht erkannt werden könnte. Daher trennen sie die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) in die beiden Kategorien »rational« und »skriptural«, die sich gegenseitig ausschließen.
Doch das ist falsch, da der Koran selbst auch rationale Belege und Hinweise verwendet. Dazu gehören auch rationale Belege, die durch die Vernunft aus empirischer Beobachtung abgeleitet werden können, worauf der Koran in Versen wie dem folgenden hinweist:
Beizeiten werden Wir sie Unsere Botschaften voll verstehen lassen (durch das, was sie wahrnehmen) an den äußersten Horizonten (des Universums) und in sich selbst, so daß es ihnen klar werden wird, daß diese (Offenbarung) fürwahr die Wahrheit ist. (Dennoch,) genügt es nicht (ihnen zu wissen), daß dein Erhalter über alles Zeuge ist? (Koran 41:53; Ü.: Asad)
El-Tobgui erläutert:
Ibn Taymiyya vervollständigt sein Bestreben, die Begriffe der Debatte über Vernunft und Offenbarung anders zu fassen, indem er nun eine dritte begriffliche Verschiebung vorschlägt: nämlich, dass Beweise nicht in einem diametralen Gegensatz von »skriptural« (scharʿī) versus »rational« (ʿaqlī) stehen, sondern vielmehr von »skriptural validiert« (scharʿī) versus »skriptural nicht-validiert« (bidʿī). Die Kategorie der skriptural validierten (scharʿī) Beweise, so argumentiert Ibn Taymiyya, umfasst sowohl die authentischen Texte der Offenbarung im rechten Verständnis als auch gültige rationale Argumente auf der Basis richtiger Prämissen. Ibn Taymiyya versucht mithin, das, was als »Vernunft« erachtet wird, in zwei Kategorien zu unterscheiden – gültig/wahr und ungültig/falsch – und den ersteren Teil, d.h. das Gültige, in die umfassendere Kategorie der »skriptural validierten« (scharʿī) Beweise aufzunehmen. Durch seine strenge Betonung der epistemischen Qualität eines Beweises unter Ausschluss aller anderen Aspekte – einschließlich dessen, ob der Beweis Offenbarung oder Vernunft entspringt – versucht Ibn Taymiyya die starren Kategorien von »Vernunft« als Ganzes und »Offenbarung« als Ganzes zu umgehen, indem er stattdessen jedes einzelne Element beider Kategorien einer gemeinsamen Prüfung der epistemischen Rechtfertigung unterzieht, wobei vorausgesetzt wird, dass Offenbarung alles, was wahr und gewiss ist, billigt und legitimiert, und alles, was falsch und grundlos ist, verwirft – ungeachtet dessen, ob es der Vernunft entspringt oder als göttliche Offenbarung behauptet wird. (S. 183; Hervorhebung im Original)
3.5.8 Weitere Argumente hinsichtlich der rationalen Widersprüchlichkeit der universellen Regel
(Dieser Abschnitt basiert weitgehend auf den Argumenten 8, 10, 11, 13, 14, 21, 29.)
Im folgenden Abschnitt wird eine Reihe von unterschiedlichen Argumenten dargestellt, die zusammen genommen eine gute Vorstellung von etwa der Hälfte der 44 Argumente gegen die universelle Regel vermitteln.
3.5.8.1 Argument 8
Die Mehrzahl der Fragen, in denen ein Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung behauptet wird, betreffen schwierige und vieldeutige Themen – wie etwa Gottes Namen, Attribute und Handlungen, Lohn und Strafe nach dem Tod sowie anderes, was den Bereich des Verborgenen anbelangt –, die viele spekulative Denker selbst verwirren, da sie nicht in der Lage sind, mittels rationaler Reflexion darüber zu sicherem Wissen zu gelangen. Daher begeben sich viele auf dieses Gebiet auf der Grundlage bloßer Meinung, was entweder zu Streit und Unstimmigkeit oder zu Verzweiflung und Verwirrung führt.
Außerdem erweisen die meisten dieser Denker den großen Gestalten ihrer jeweiligen Schule unbeschränkte Verehrung, so dass sie deren Ansichten sogar dann übernehmen, wenn sie selbst zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Dies gilt auch für die Anhänger des Aristoteles wie überhaupt für die Philosophen und ebenfalls für die Anhänger aller großen Schulen unter den Muslimen. Deren Lehren widersprechen daher oftmals nicht nur dem Koran, der Sunna und dem Konsens der Gemeinschaft (idschmāʿ), sondern ebenso der Vernunft selbst.
El-Tobgui legt weiterhin dar:
Bei sorgfältiger Untersuchung, so merkt Ibn Taymiyya an, erweist sich, dass den authentischen Texten der Offenbarung nicht von klaren und eindeutigen Schlüssen der Vernunft widersprochen wird, sondern vielmehr lediglich von dem, was viel Ambiguität und Konfusion beinhaltet, und dem, was als wahr erkannt ist, kann legitimerweise nicht von dem widersprochen werden, was ambig und konfus und daher im Gegensatz dazu nicht als wahr erkannt ist. (S. 187)
3.5.8.2 Argument 11
Vieles von dem, was als Beweis, sei es rational oder skriptural, ausgegeben wird, ist in Wirklichkeit kein Beweis. Alle Parteien stimmen darin überein, was die Texte der Offenbarung in ihrem offensichtlichen äußeren Sinn bedeuten, während es unter den spekulativen Denkern große Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, was gültiges rationales Wissen bildet. Der Offenbarung, deren Bedeutung übereinstimmend bekannt ist, kann legitimerweise nicht durch etwas widersprochen werden, über deren Bedeutung es kein Wissen und keine Einigkeit gibt, sondern vielmehr Streit und Ungewissheit.
Dabei geht es nicht um rationale Beweise insgesamt, sondern lediglich um diejenigen, die angeblich der Offenbarung widersprechen. Und hier erhebt Ibn Taymiyya den Anspruch, dass kein einziger von ihnen wirklich einen intrinsisch gültigen Beweis darstellt, oder auch einen von der Mehrheit der spekulativen Denker akzeptierten Beweis oder wiederum einen Beweis, der nicht von der Vernunft selbst untergraben und widerlegt worden ist.
3.5.8.3 Argument 12
Von allen auf Vernunft gründenden Behauptungen, die vermeintlich der Offenbarung widersprechen, kann durch die Vernunft selbst gezeigt werden, dass sie ungültig sind. Ibn Taymiyya stellt in Aussicht, dass er dies bei der Behandlung der spezifischen Argumente im Einzelnen nachweisen wird.
3.5.8.4 Argument 13
Von den Aspekten der Offenbarung, die angeblich der Vernunft widersprechen, wie etwa die Attribute Gottes, weiß man mit Notwendigkeit, dass sie Teil der Religion sind. Die Authentizität der Offenbarung vorausgesetzt, ergibt sich also, dass die Behauptung, dass der Prophet diese Lehren nicht als Teil der Offenbarung übermittelt hat, notwendig falsch ist.
3.5.8.5 Argument 14
Die Absichten und Intentionen des Propheten sind wohlbekannt und durch vielfache Überlieferung (tawātur) von seinen Gefährten und deren Nachfolgern weitergegeben worden. Dies gilt mithin nicht nur für den Text, sondern auch für die Bedeutung der Offenbarung.
El-Tobgui referiert sodann:
Nun ist es bekannt, so fährt Ibn Taymiyya fort, dass vielfache Überlieferung der mutawātir-Art gewisses Wissen liefert, unabhängig davon, ob das, was vielfach überliefert wurde, der Wortlaut (lafdh) eines Textes oder seine Bedeutung (maʿnā) ist. Beispiele von Dingen, von denen wir kraft unserer Erkenntnis durch vielfache Überlieferung mit Gewissheit wissen, dass sie wahr sind, sind: die Tapferkeit von Khālid ibn al-Walīd; […] die verschiedenen militärischen Expeditionen des Propheten; Galens herausragende Kenntnis der Medizin; Sībawayhis meisterliche Beherrschung der arabischen Grammatik, usw. Wenn nun jemand auf dem Gebiet der Medizin oder Grammatik eine Behauptung erheben würde, die im Widerspruch zu dem steht, wovon die spezialisierten Gelehrten dieser Gebiete aus den Werken von beispielsweise Galen oder Sībawayhi wissen, dass es wahr ist, würde man wissen, dass seine Behauptung ungültig ist. (S. 189)
Und dies gilt ebenso für eine Behauptung über den Inhalt der Offenbarung, die dem widerspricht, wovon die besten Gelehrten wissen, dass es wahr ist. Diese Behauptung wäre sogar noch offensichtlicher ungültig, da sie nicht nur dem widerspricht, was große Wissenschaftler erkannt haben, sondern dem, was der Gesandte Gottes gebracht hat.
3.5.8.6 Argument 21
Wer der Offenbarung lediglich auf der Basis seiner eigenen Meinungen und Wünsche widerspricht, macht sich des regelrechten Abfalls vom Glauben (ilhād) schuldig. Dies gilt beispielsweise auch für viele Philosophen, die für sich Zugang zu einer höheren Wahrheit in Anspruch nehmen als derjenigen, die von den Propheten gebracht wurde. Wenn Offenbarung wahr ist, sind alle Argumente, auf denen ein auf bloße Meinung gegründeter Widerspruch zur Offenbarung basiert, falsch und nichtig.
3.5.9 Über die Inkohärenz der universellen Regel mit der Epistemologie des islamischen Glaubens
Während die große Mehrheit der 44 Argumente gegen die universelle Regel rationale Kritiken von deren Kohärenz und logischen Implikationen darstellen, werden die folgenden Überlegungen aus der Perspektive der Offenbarung und des weiteren Kontextes des islamischen Glaubens vorgenommen.
3.5.9.1 Aus Argument 3
Wer mit der Botschaft des Islam auch nur in geringem Maße vertraut ist, weiß, dass der Prophet nicht zum Glauben gerufen hat, indem er Argumente über Akzidenzien, die Negation von Attributen, die Negation von »Körperlichkeit« im philosophischen Sinn oder die Unmöglichkeit einer Unendlichkeit von vergangenen oder künftigen Ereignissen anführte. Dies ist für die Gelehrten, die über genaue Kenntnis der offenbarten Texte verfügen, notwendiges Wissen. Rationale Methoden der Argumentation und Positionen, die im Widerspruch dazu stehen, wie etwa die Negation der Attribute Gottes, sind mithin notwendig falsch.
3.5.9.2 Aus Argument 15
Die Verwendung von Argumenten, die falsch sind, ist ebenso verboten wie Falschheit und Lügen im allgemeinen (siehe z. B. Koran 7:169). Gott hat auch den Gebrauch von Argumenten für denjenigen verboten, der dies ohne Wissen tut (siehe z. B. Koran 17:36) oder um des bloßen Streitens willen (siehe z. B. Koran 18:56).
Ibn Taymiyya geht offensichtlich davon aus, dass diese ursprünglich an die götzendienerischen Mekkaner gerichteten Verse auf die späteren Philosophen und Theologen übertragbar sind, deren Prämissen und Argumente ihm gefährlich und schädlich erscheinen, da sie auf der Basis nichtiger Argumente ohne Wissen über Gott sprechen und über die Wahrheit streiten, nachdem sie durch Koran und Sunna offenkundig gemacht worden ist.
3.5.9.3 Aus Argument 21
Die vermeintlich rationalen Ansichten von Menschen, die in Wirklichkeit bloß auf Meinungen, Vorurteilen und Wünschen beruhen, über die Offenbarung zu stellen, ist gleichbedeutend damit, die Propheten der Lüge zu bezichtigen, und öffnet die Tür zur Leugnung des Glaubens.
3.5.9.4 Argument 22
Gott verbietet, die Menschen dazu aufzurufen, von Seinem Weg abzuweichen und den Propheten nicht zu glauben oder zu gehorchen. Dies gilt auch für jemanden, der dazu auffordert, nicht zu glauben, was den Propheten offenbart wurde, indem er als Begründung vorbringt, dass seine eigenen rationalen Überlegungen dazu in Widerspruch stehen und diesen der Vorrang zu geben ist.
3.5.9.5 Argument 23
Ibn Taymiyya zitiert viele Koranverse darüber, dass der Prophet geschickt worden ist, um eine klare Erklärung (balāgh mubīn) der Wahrheit vorzubringen, und stellt fest, dass er diese Aufgabe nicht erfüllt hätte, wenn die offensichtliche Bedeutung dessen, was er gebracht hat, tatsächlich im Widerspruch zur Vernunft stünde. Wenn der Negationismus richtig wäre, so wäre offenkundig, dass die Offenbarung diesen Negationismus nicht in einer Weise darstellt, die dazu geeignet ist, die Menschen in einer klaren und eindeutigen Weise rechtzuleiten.
Die Offenbarung zeigt hingegen vielmehr einen klaren und eindeutigen Affirmationismus, so dass sogar die meisten Negationisten selbst zugeben, dass dies die offensichtliche Bedeutung der offenbarten Texte ist. Die Annahme, dass der Negationismus wahr ist, läuft daher darauf hinaus, dem Propheten zu unterstellen, die Wahrheit wissentlich unterdrückt und ihr genaues Gegenteil erklärt zu haben. Solch eine Position steht in offenem Widerspruch zu den Lehren der Offenbarung, zu Elementen, deren Zugehörigkeit zur Religion des Islam notwendiges Wissen ist.
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