08 Fünf Stufen der Existenz

Autor: Yusuf Kuhn - Do., 01.02.2018 - 18:01

Die fünf Stufen der Existenz sind also: ursprüngliche (dhātī, Jackson: ontologische), sinnliche (hissī), imaginative (khayālī), intellektuale (ʿaqlī) und ähnliche (schabahī) Existenz.

al-Ghazālī gibt nun Erläuterungen zu den verschiedenen Existenzweisen. Sie seien ganz knapp wiedergegeben:

1. Die ursprüngliche Existenz ist die reale Existenz außerhalb unserer Wahrnehmung und unseres Verstandes.

2. Die sinnliche Existenz ist das, was nur in der sinnlichen Wahrnehmung vorhanden ist, dem aber keine reale Existenz in der Außenwelt entspricht.

3. Die imaginative Existenz ist das Abbild der sinnlich wahrgenommenen Objekte, wenn diese nicht mehr in der Wahrnehmung vorhanden sind, sondern von der Einbildungskraft erzeugt werden.

4. Die intellektuale Existenz ist das, was nur als Wesen oder Begriff eines Gegenstandes im Denkvermögen vorhanden ist und nicht in der Außenwelt, der Wahrnehmung und der Einbildungskraft. al-Ghazālī veranschaulicht:

Ein Beispiel liefert die Hand. Zur Hand gehört ein wahrgenommenes und vorgestelltes Bild. Zu ihr gehört auch eine Bedeutung und dies ist das Wesen. In diesem Fall ist dies: »die Fähigkeit zum Greifen«. Die Fähigkeit zum Greifen ist die intellektuale Hand. (S. 62)

5. Die ähnliche Existenz betrifft einen Gegenstand, der weder als Realität noch als Abbild vorhanden ist, sondern dem ursprünglichen Gegenstand in einer seiner Eigenschaften ähnlich ist.

Im Anschluss daran führt al-Ghazālī eine Reihe von Beispielen für die Existenzweisen aus der Interpretation (taʾwīl) von Aussagen der Offenbarung an.

Die Stufen sind hierarchisch geordnet, ausgehend von realer Existenz zu immer niedrigeren Existenzweisen. Bei der ersten Stufe, also der ursprünglichen Existenz, wird noch keine Auslegung (taʾwīl) vorgenommen, da sie ganz dem »äußeren Wortsinn« (dhāhir) folgt.

Sie ist die absolute und reale Existenz. Also z. B. die Verkündigungen des Gesandten über den Himmelsthron [ʿarsch], den Thronsitz [kursī] und die sieben Himmels­sphären. Sie folgen ihrem äußeren Wortsinn [dhāhir] und werden nicht ausgelegt, denn diese Körper sind für sich selber existent, gleichgültig ob sie von dem Sinnesvermögen und dem Vorstellungsvermögen wahrgenommen werden oder nicht. (S. 63)

Ab der zweiten Stufe ergibt sich die Notwendigkeit, auf die Auslegung (taʾwīl) des äußeren Wortsinns überzugehen, wenn ein Beweis erbracht werden kann, dass die Annahme der Bedeutung bzw. der Existenzweise der jeweils übergeordneten Stufe unmöglich ist. Es ist bemerkenswert, dass al-Ghazālī diesen Übergang immer konditional formuliert und zudem personalisiert in Gestalt von Formulierungen wie:

Wer in einer Argumentation den Beweis erbringen kann, wonach […] unmöglich ist, der vermindert die Aussage dahingehend, daß […] (S. 63-64)

Damit scheint der subjektiven Überzeugung hinsichtlich des Vorliegens eines Beweises wie auch dessen, was überhaupt ein Beweis ist, Raum gegeben zu werden. Mit der Verminderung der Aussage ist der Übergang zu einer untergeordneten Stufe der Existenz gemeint.

Wir wollen der Kürze halber nicht näher auf die Beispiele eingehen und uns der Allgemeinen Regel zuwenden. Angemerkt sei nur, dass auch hier wieder auffallend ist, welch große Rolle der Streit um das Verhältnis von Substanz und Attributen dabei spielt.