7 Zum Schlusswort

Autor: Yusuf Kuhn - Mi., 31.01.2018 - 18:23

Was wir bisher als Schlusswort bezeichnet haben, ist eine magere Seite mit einigen Zeilen am Ende des Werkes, die al-Ghazālī selbst mit khātima al-kitāb überschrieben hat: Abschluss des Buches. Diese Zeilen sind zu so großer Berühmtheit gelangt, dass sie den Rest des Werkes zu überschatten drohen, da angenommen wurde, darin eine Fatwa samt Todesurteil ausfindig machen zu können. Manche meinten gar, al-Ghazālī habe darin nicht nur das Todesurteil einiger Philosophen gesprochen, sondern der gesamten Philosophie.

Wir wollen in diese Debatte hier nicht eintreten, sondern uns darauf beschränken, genau darzustellen, was auf dieser Seite tatsächlich gesagt wird und was nicht, um an die Stelle übereilter Schlüsse Bedachtsamkeit treten zu lassen. Ohnehin kann es uns hier nicht darum gehen, die so schwierige und unübersehbare Frage nach den Folgen von al-Ghazālīs Kritik an den falāsifa für das Schicksal der Philosophie im – nicht nur islamischen – Denken zu erörtern.

al-Ghazālī eröffnet das Schlusswort mit einer Frage, die ihm von einer nicht näher bezeichneten Person gestellt wird:

Wenn jemand sagt: Du hast nun die Lehren jener (falāsifa) erklärt; sprichst du also mit Bestimmtheit das Wort über ihren kufr und die Pflicht der Tötung desjenigen, der ihre Glaubenslehren vertritt?, sagen wir: […] (S. 230)

Es wird nach zweierlei gefragt: erstens, ob jene – wir nehmen an die falāsifa, ausdrücklich genannt werden sie nicht – mit ihren Lehren, die im Tahāfut dargelegt und kritisch erörtert werden, kufr (Nicht-Islam, Ablehnung des Islam) begehen, und zweitens, ob sich daraus eine Pflicht zur Tötung desjenigen ableitet, der diese Lehren vertritt.

Was antwortet al-Ghazālī darauf?

Ihr takfīr (takfīrihim: sie – die falāsifa – des kufr zu bezichtigen), ist unvermeidlich in Hinsicht auf drei Fragen: Eine von ihnen ist die Frage der Ur-Ewigkeit der Welt und ihre Behauptung, dass alle Substanzen ur-ewig sind. Die zweite ist ihre Behauptung, dass Allāhs Wissen die geschehenden Einzelheiten von den Individuen (Einzeldingen) nicht umfasst. Die dritte ist ihre Leugnung der Auferstehung der Leiber und ihrer Versammlung. (S. 230)

al-Ghazālī äußert sich ganz klar. Drei der von den falāsifa vertretenen Thesen stellen kufr dar, bündig zusammengefasst: die Ur-Ewigkeit der Welt, Allāhs Unwissen von Einzeldingen und die Leugnung der leiblichen Auferstehung. Mehr sagt er zunächst nicht. Es ist nicht die Rede von einer Fatwa; das Wort fatwā kommt gar nicht vor. Und selbst wenn es im Text vorkäme oder der Text als Fatwa gemeint sein sollte, obwohl die formalen Mindestanforderungen für eine fatwā im rechtlichen Sinne wohl kaum erfüllt sein dürften, so läge allenfalls eine Rechtsmeinung des Gelehrten al-Ghazālī vor.

Und von einem Urteil, gar einem Todesurteil ist noch weniger die Rede. Es wird zwar in der Frage »die Pflicht zur Tötung« erwähnt, aber es gibt keine ausdrückliche Antwort auf diesen Teil der Frage.

So ist in aller Deutlichkeit zu erkennen, was al-Ghazālī im Text tatsächlich sagt und was nicht. Mir scheint es daher ratsam zu sein, voreilige Schlüsse zu vermeiden und bedächtige Umsicht walten zu lassen.

Im nächsten Absatz folgen einige zusätzliche Erläuterungen:

Diese drei Thesen stimmen mit dem Islam überhaupt nicht überein. Wer sie glaubt, glaubt, dass die Propheten Lügen äußern und dass sie, was immer sie sagten, um des Nutzens (maslaha) willen sagten als Gleichnis für die Massen der Menschen und zur Unterweisung. Und das ist offenkundiger kufr, an den keine einzige von den Gruppen (firaq) der Muslime geglaubt hat. (S. 230)

al-Ghazālī betont zuerst noch einmal, dass die genannten drei Thesen mit dem Islam nicht vereinbar sind, und zwar ganz und gar nicht. Das kann so verstanden werden, dass es auch beim besten Willen nicht möglich ist, diese Thesen in irgendeiner Weise durch eine Umdeutung (taʾwīl) der Aussagen der Offenbarung nach den Interpretationsregeln des qānūn at-taʾwīl in Übereinstimmung mit dem Islam zu bringen, um dadurch den Widerspruch aufzulösen. Da diese Reinterpretation nicht möglich ist, bleibt der Widerspruch zwischen diesen Thesen der falāsifa und den Aussagen der Offenbarung bestehen, so dass unter der Voraussetzung der Wahrheit dieser Thesen die betreffenden Worte der Propheten zwangsläufig Unwahrheiten sein müssen. Der Schluss ist unter diesen Bedingungen nicht zu vermeiden: Die Propheten lügen.

Da sich die falāsifa gleichwohl als »islamische Philosophen« verstehen und von der Vereinbarkeit ihrer philosophischen Religion mit dem Islam ausgehen, stellt sich die Frage, wie sie diesen Widerspruch ihrerseits auflösen wollen. Für die falāsifa steht fest, dass ihre Anschauungen wahr sind, da sie diese im Sinne der aristotelischen Wissenschaftstheorie als bewiesen erachten. Das ist für sie also sicheres und zweifelsfreies Wissen, an dem nicht zu rütteln ist. Wie wir bereits gesehen haben, ist dieses Wissen jedoch nur dem kleinen Kreis einer Elite zugänglich, die über die nötigen geistigen Fähigkeiten verfügt, über ein Begriffsvermögen, das die begrenzten Verstandeskräfte der Masse der gemeinen Menschen bei weitem übersteigt. Ihnen muss die hehre Philosophie der falāsifa für immer verschlossen bleiben. Nur letzteren steht der exklusive Zugang zur Wahrheit in ihrer reinen Gestalt offen.

Wenn die Wahrheit in diesem Sinne schon vergeben ist, bleibt für das gemeine Volk eben bestenfalls eine mindere Gestalt derselben. In ihrer reinen begrifflichen Form kann es diese überlegene Wahrheit nicht erfassen. Also dient die Religion dazu, sie den Massen im Gewand von Gleichnissen und Bildern wenigstens näherzubringen. Das ist die Aufgabe und Rolle der Propheten. Den falāsifa zufolge sprechen die Propheten mithin eigentlich keine Lügen aus, sondern die Wahrheit in einer bildlichen Form, wie sie einzig dem gemeinen Menschen zugänglich ist. Durch diese Unterweisung werden die Propheten zu Erziehern der breiten Masse, die in ihrer Unverständigkeit und Vernunftferne sonst zügellos den niedersten Trieben verfallen würden.

Und so ahnt man auch bereits, zu welchem Nutzen (maslaha) gemäß den falāsifa die offenbarte Religion mit ihrer gleichnishaften Gestalt dem einfachen Menschen frommt: der Kontrolle. Während die von der Philosophie zur wahren Tugendhaftigkeit erhobenen falāsifa in ihrem Hochmut die Zügel der Religion abwerfen zu können glauben, bedarf das Volk ihrer umso mehr. Die Herrschaft der Elite geht somit weit über das rein Geistige hinaus. Und es verwundert nicht, dass die philosophische Elite in der Geschichte allenthalben die Nähe zur staatlichen Macht gesucht hat, die ihrerseits gerne auf erstere zurückgriff, um sich ideologische Legitimität zu verschaffen. Rechtfertigung fand dieses Vorgehen dadurch, dass dem gemeinen Menschen nebenbei doch auch die Aussicht auf Glückseligkeit im Jenseits in Aussicht gestellt wurde. Denn schließlich konnte von ihm nicht mehr verlangt werden, als sich in das von den philosophischen Intellektuellen und ihren staatlichen Bündnispartnern gesponnene Netz zu fügen.

al-Ghazālī hingegen deckt diese Täuschung auf und beharrt darauf:

Und das ist offenkundiger kufr.

Denn in Wirklichkeit zeigt die kritische Anwendung des qānūn at-taʾwīl auf, dass die Thesen der falāsifa nicht bewiesen sind, ja sogar aufgrund ihrer Inkohärenz in sich zusammenstürzen, und daher überhaupt keinen Rechtsanspruch darauf geltend machen können, die Aussagen der Offenbarung derart herabzusetzen, dass sie nicht mehr als Wahrheit gelten können. Und die Behauptung, dass die Propheten Falschheiten als Offenbarung anbieten, ist für al-Ghazālī ein entscheidendes Kriterium für kufr.

Diese Bemerkung von al-Ghazālī verdiente eine eingehendere Erläuterung, da sie einen zentralen Aspekt der philosophischen Religion der falāsifa betrifft. Es ist gewiss kein Zufall, dass sie an dieser Stelle im Tahāfut steht. Und sie schließt zugleich den Kreis, da sie an die Einleitung anknüpft, in der diese These, wie wir gesehen haben, bereits erwähnt wurde. Das verdeutlicht den zentralen Stellenwert, der dieser Kritik im Tahāfut zukommt.

Dieser elitistischen Theorie der falāsifa gebührte eine ausführliche Darstellung und Kritik, die hier keinen Platz finden kann. Sie wurde nicht nur von al-Fārābī und Ibn Sīnā vertreten, sondern ist tief im philosophischen Denken in der griechischen Tradition verwurzelt. Sie reicht einerseits mindestens bis Platon und sogar bis Parmenides zurück und hat andererseits das gesamte philosophische Denken, das sich auf der Grundlage der griechischen Philosophie entwickelte, zutiefst geprägt – bis in die heutige Zeit mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit und ihrem Expertenkult.

Etliche muslimische Denker waren davon überzeugt, dass sie sich mit dem islamischen Denken in Einklang bringen ließe. Und es gibt sogar Stimmen, die behaupten, al-Ghazālī selbst sei doch auch, trotz all seiner Kritik, die wir uns vor Augen geführt haben, in der einen oder anderen Weise dieser Auffassung verfallen. Nach alledem scheint es eher unwahrscheinlich, ja kaum vorstellbar. Doch die Frage muss gestellt werden: Könnte es sein, dass al-Ghazālī sich so tief in Widersprüchlichkeit verstrickt hat, dass er trotz all seiner scharfsinnigen Kritik selbst Anhänger dieses Konzeptes einer philosophischen Religion werden konnte?

Die damit zusammenhängenden Fragen weisen weit über den Horizont hinaus, den wir uns hier als Rahmen gesetzt haben. Wenden wir uns also wieder dem Tahāfut und seinen abschließenden Worten zu.

Im letzten Absatz geht al-Ghazālī auf die Frage ein, wie die anderen siebzehn Thesen – außer den drei genannten – zu bewerten sind. Er hebt hervor, dass alle diese Thesen von der einen oder anderen Gruppe (firaq) des Islam vertreten worden ist. Ausdrücklich nennt er die Muʿtazila, der er eine besondere Nähe zu den Anschauungen der falāsifa zuschreibt. Aus seinen Aussagen geht hervor, dass er diese Thesen der falāsifa als bidʿ einschätzt, d.h. als problematische Neuerung, die aber nicht zwangsläufig dem Islam widerspricht. Die Anhänger dieser Thesen nennt er daher »Leute der problematischen Neuerung« (ahl al-bidʿ). Er macht zudem deutlich, dass er über dieses Urteil nicht hinausgehen will, und schließt seine Überlegungen daher mit folgenden Worten, die auch den Tahāfut insgesamt beschließen:

Wir ziehen es allerdings vor, nicht auf die Frage des takfīr (des kufr Bezichtigens) der Leute der problematischen Neuerung (ahl al-bidʿ) einzugehen und nicht zu entscheiden, was davon richtig ist und was nicht, damit die Rede nicht vom Zweck dieses Buches abkommt. Und Allāh der Erhabene ist der Bescherer des Rechten.