Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat
Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat Yusuf Kuhn
Yusuf Kuhn
Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat
Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken
Band 2
Seitenanzahl: 408
ISBN Taschenbuch: 978-3-7482-3015-1
ISBN Hardcover: 978-3-7482-3016-8
ISBN e-Book: 978-3-7482-3017-5
Erscheinungsdatum: April 2019
Erhältlich als Paperback, Hardcover und e-Book (epub)
bei tredition und im Buchhandel
Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Welche Ressourcen stehen dem islamischen Denken zur Verfügung, um einen Beitrag zur gemeinsamen Suche nach einem Ausweg aus der globalen Krise der Moral leisten zu können?
Der »islamische Staat« ist, gemessen an irgendeiner Standarddefinition dessen, was den modernen Staat ausmacht, sowohl eine Unmöglichkeit wie auch ein Widerspruch in sich.
Wael Hallaq
Die rivalisierenden Ansprüche auf Wahrheit von konkurrierenden Traditionen der Untersuchung sind für ihre Rechtfertigung abhängig von der Angemessenheit und der Erklärungskraft der Geschichten, welche die Ressourcen jeder dieser Traditionen im Widerstreit ihre Anhänger zu schreiben befähigen.
Alasdair MacIntyre
Inhaltsverzeichnis (pdf)
Leseprobe (pdf)
INHALT
Erster Teil
Unmöglicher Staat?
Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität
Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq
Zweiter Teil
Unmögliche Moralphilosophie?
Moderne Moralphilosophie: Ausweg oder Irrweg?
Moralphilosophie – ein Irrtum?
Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition
Anhang
Vorwort
Vorwort Yusuf KuhnLiebe Leserin, lieber Leser,
die in diesem Buch versammelten Texte sind Teil eines größeren Projektes, das sich mit der Kritik der Philosophie im islamischen Denken befasst. Es trägt den Titel: alastu-Projekt – Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Eine Erläuterung dieses Titels und eine knappe Vorstellung des Projektes finden sich auf der Website des Projektes. Die Texte, die aus diesem Projekt hervorgehen, sollen in Gestalt von Büchern wie dem vorliegenden und auf der Website des Projektes alastu.net veröffentlicht werden.
Das vorliegende Buch ist der zweite Band der Reihe Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken. Bisher erschienen ist Band 1 mit dem Titel Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken.
Wie das Projekt als Ganzes so verstehen sich auch diese Texte als work in progress. Sie liefern also keine abschließenden Ergebnisse, sondern bieten vielmehr einen schlaglichtartigen Einblick in die Werkstatt einer fortschreitenden Arbeit, deren derzeitigen und vorläufigen Stand sie widerspiegeln. Die Texte könnten daher auch als Vorstudien bezeichnet werden.
Der vorliegende Band 2 trägt den Titel Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat, der etwas rätselhaft erscheinen mag. Denn: Was ist wohl ein unmöglicher Staat? Dieser „unmögliche Staat“ im Titel verdankt sich einem Buch von Wael Hallaq
Diese Darstellung füllt den ersten Teil, der mit Unmöglicher Staat? überschrieben ist, und damit etwa die Hälfte des Bandes. Im zweiten Teil mit dem Titel Unmögliche Moralphilosophie? werden im Anschluss an die Ausführungen von Wael Hallaq grundlegende moralphilosophische Fragen auf den Spuren der Moralphilosophen H. A. Prichard, Charles Taylor, Charles Larmore und insbesondere Alasdair MacIntyre behandelt.
Das erste Kapitel ist der Befassung mit Wael Hallaqs The Impossible State gewidmet und hat dessen Titel ererbt: Der unmögliche Staat. Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität. Hallaq vertritt die These, dass der moderne Staat und der Islam nicht vereinbar sind. Der unmögliche Staat (The Impossible State) des Titels ist also der moderne und zugleich islamische Staat. Die tieferen Gründe für diese Unvereinbarkeit liegen nicht, wie das Thema des Staates vermuten lassen könnte, allein auf der politischen Ebene, sondern im wesentlichen auf der moralischen Ebene. Daher besitzen in dieser Untersuchung moralphilosophische Überlegungen und insbesondere die Diagnose einer tiefen moralischen Krise der modernen westlichen Zivilisation einen zentralen Stellenwert. So erklärt sich auch der Untertitel: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament (Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität). Und diese Krise ist so tief, dass nicht nur der moderne islamische Staat, sondern der moderne Staat selbst und darüber hinaus das Überleben der Menschheit insgesamt fraglich werden.
Die Krise übergreift westliche und islamische Zivilisation. Sie strahlt vom Westen auf den ganzen Rest aus, ist universell und verlangt nach entsprechenden Lösungen. Schließlich haben, wie Hallaq resümiert, Muslime kein Monopol auf Krise. Welche Rolle spielt dabei der moderne Staat selbst und sein Verhältnis zum Islam? Welche Bedeutung kommt der moralischen Grundlagenkrise der westlichen Kultur und deren Verhältnis zum Islam zu? Gibt es einen Ausweg aus der universellen Krise? Hallaq wirft diese Fragen auf und stellt sich ihnen, übrigens nicht aus einer muslimischen Perspektive, sondern, wie er immer wieder betont, aus der Sicht eines Beobachters, der durch seine kulturübergreifenden Analysen diskursive Schnittstellen zwischen westlicher und islamischer Zivilisation schafft und so das Gespräch all derer befördert, die erkannt haben, dass die universelle Krise, welche die geistige wie die physische Existenz aller Menschen in einem Strudel der Sinnlosigkeit und Vernichtung zu verschlingen droht, nur durch gemeinsame Anstrengung und Verantwortlichkeit überwunden werden kann.
Für das Verständnis dieser These ist es von großer Wichtigkeit, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die Begründung, wie sie im Verlauf der Untersuchung vorgetragen wird, nicht ausschließlich auf der politischen Ebene verbleibt, sondern weit darüber hinausgeht, indem die Grundlagen des modernen Staates in den sehr viel weiter gefassten Strukturen des Projekts der Moderne verortet und auf dieser dann auch moralphilosophischen Ebene in ihrem Verhältnis zur Scharia verhandelt werden.
Das Projekt der Moderne und die moderne Gesellschaft selbst bedürfen der moralischen Erneuerung, zu der eine Wiederbelebung des islamischen Denkens und der Scharia einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten könnte, vorausgesetzt, dass das moderne Denken einer ernsthaften Prüfung und Kritik unterzogen wird. Wie sich zeigen wird, kann und muss dabei an die bereits geleistete interne Kritik angeknüpft werden, wodurch erstaunliche Überschneidungen und Parallelen kenntlich werden.
Die moderne Krise der Moral wird einer genaueren Untersuchung unterzogen. Die strukturellen und begrifflichen Grundlagen der modernen Moralphilosophie werden als die Wurzel der moralischen Misere ausgemacht, welche die Moderne in allen ihren Gestalten in Ost und West erfahren hat.
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin.
Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
Das zweite Kapitel enthält ein Interview mit Wael Hallaq mit dem Titel Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei. Hallaq behandelt darin umfassende Fragen hinsichtlich der moralischen und geistigen Grundlagen konkurrierender moderner Projekte. Im ersten Teil mit dem Titel Wissen als Politik mit anderen Mitteln beschäftigt er sich insbesondere mit dem Versagen westlicher Intellektueller, sich mit Gelehrten in islamischen Gesellschaften auseinanderzusetzen, wie auch mit den intellektuellen und strukturellen Herausforderungen, mit denen muslimische Gelehrte konfrontiert sind. Hallaq kritisiert zudem das zugrunde liegende hegemoniale Projekt des westlichen Liberalismus und seine unkritische Übernahme durch manche muslimische Denker.
Hallaq plädiert für eine engagierte Auseinandersetzung zwischen muslimischen Denkern und ihren westlichen Pendants, nicht nur für ein besseres westliches Verstehen des Islam, sondern auch für eine Erweiterung des Bereichs der intellektuellen Möglichkeiten innerhalb des euro-amerikanischen Denkens. Denn das islamische Denken hat einen großen Beitrag zur Bereicherung der Reflexionen über das Projekt der Moderne zu leisten, im Westen nicht weniger als im Osten.
Im zweiten Teil des Interviews mit dem Titel Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei geht Hallaq auf den Konflikt ein, den er in dem Verhältnis zwischen Gelehrten in der muslimischen Welt und der Tradition der westlichen Wissensproduktion erkennt. Er sieht dabei insbesondere eine unkritische Übernahme von westlichen intellektuellen Kategorien und Weisen der Wissensübermittlung entlang dessen, was er als »den Pfad der intellektuellen Sklaverei« bezeichnet. Er beschreibt das Unvermögen von Intellektuellen in der muslimischen Welt, das sich wandelnde Verhältnis zwischen Wissen und Macht in der Moderne zu erfassen. Aber tragen nicht auch die westlichen Intellektuellen einen Teil der Verantwortung dafür? Nur ein ernstliches Gespräch über die vermeintlichen Grenzen von Zivilisationen und Kulturen hinweg kann Auswege aus der globalen Krise eröffnen.
Der zweite Teil, der unter dem Titel Unmögliche Moralphilosophie? steht, erkundet die Frage, was die moderne Moralphilosophie zur Suche nach diesem Ausweg beizutragen hat. Wie steht es um das Projekt der Begründung einer modernen Moral? Liefert es eine moralphilosophische Grundlage oder ist es an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert? Kann das moderne Unterfangen einer rationalen Rechtfertigung der Moral überhaupt gelingen oder musste es scheitern? Unmögliche Moralphilosophie?
Das dritte Kapitel wirft die Grundfrage einleitend auf: Moderne Moralphilosophie – Ausweg oder Irrweg? Auf der Suche nach einem Ausweg aus der moralischen Misere begeben wir uns im Anschluss an Hallaqs Überlegungen auf den Weg einer moralphilosophischen Grundlagendiskussion. Die globale Krise verlangt einen globalen Blick. Die Tiefe ihrer Ursachen erfordert zudem eine grundsätzliche Erörterung des modernen Moralverständnisses weit über die bloß politischen Dimensionen des »unmöglichen Staates« hinaus. Und die zu behandelnden Probleme betreffen keineswegs lediglich dessen »islamische« Gestalt, sondern den modernen Staat selbst. Das Projekt der Moderne samt dem mit ihm untrennbar verbundenen Versuch einer Neufassung der Moral muss daher einer gründlichen Kritik unterzogen werden. Denn die grundlegendsten Probleme des modernen Islam sind nicht ausschließlich islamisch, sondern wohnen in der Tat gleichermaßen dem modernen Projekt selbst in Ost und West inne.
Hallaq stellt in seiner Krisendiagnose insbesondere zwei Probleme heraus, die als Grundbausteine der modernen Moralphilosophie eng miteinander verbunden sind: einerseits die Trennung von Sein und Sollen sowie andererseits das Projekt einer rationalen Begründung der Moral. Bei der Erörterung dieser Fragen stützt Hallaq sich vor allem auf die Untersuchungen von vier herausragenden Vertretern der modernen Moralphilosophie, die mehr oder weniger grundsätzliche Kritiken am modernen Moralverständnis entwickelt haben, namentlich Harold A. Prichard, Charles Larmore, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre. Die Kapitel des zweiten Teils folgen Hallaq auf diesem Weg, um seine Ausführungen allerdings in einigen wesentlichen Belangen zu vertiefen und zu erweitern.
Das vierte Kapitel greift insbesondere die Frage nach und der Sinnhaftigkeit des Projekts der modernen Moralphilosophie und ihrer Weise der Moralbegründung auf: Moralphilosophie – ein Irrtum? Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit Prichards einflussreichem Aufsatz
Die Argumente von Prichard mögen nicht immer überzeugend sein und die von ihm vorgeschlagene Lösung, der intuitionistische Ansatz, mag sogar unplausibel erscheinen, aber seine Überlegungen sind gewiss bezeichnend und aufschlussreich für die geistige Situation, in der sich die moderne Moralphilosophie befindet. Und er hat seine Wirkung getan, indem er neben der klassischen Frage nach der Begründung von Inhalten der Moral eine andere Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, die sich unter den Bedingungen einer modernen Moral besonders stark aufdrängt: Warum überhaupt moralisch sein?
Das fünfte Kapitel befasst sich unter dem Titel Moral, Vernunft und Gründe mit Charles Larmores Kritik an Grundgedanken der modernen Moralphilosophie, insbesondere in ihrer an Kant angelehnten Gestalt. Mit Prichard verbindet ihn dabei die These, dass der Versuch einer Begründung der Moral aus bloßer Vernunft nicht gelingen kann. Die Vernunft, wenn sie denn moralisch wirksam werden können soll, bedarf gewissermaßen der Unterstützung von außen, aus einem Bereich, der zudem über eine gewisse Selbständigkeit verfügt. Was bei Prichard moralische Intuitionen sind, wird bei Larmore daher zu moralischen Gründen.
Während Prichard der Vernunft lediglich eine sehr begrenzte Rolle zuweist, entwickelt Larmore eine wesentlich anspruchsvollere Konzeption der Vernunft, die letzterer in ihrem komplexen Wechselspiel mit dem unabhängigen Bereich des Moralischen größeres Gewicht verleiht. Bei allen Unterschieden lassen beide Konzeptionen sich als moralischen Realismus bezeichnen. Die objektiven Gründe, auf welche die Vernunft angewiesen ist, wurzeln nach Larmore in einer normativen Ordnung von Gründen, die ihn von einem Platonismus der Gründe sprechen lässt. Aus der Ablehnung der kantischen Moralkonzeption und der Entscheidung für den moralischen Realismus ergibt sich in Gegenüberstellung zur Ethik der Autonomie Larmores Formel von der Autonomie der Moralität.
Die Vernunft verliert damit ihren Status autonomer Spontaneität und wird zu einem heteronomen und rezeptiven Vermögen, das für Gründe empfänglich ist, die ihr von außen vorgegeben werden. Mit dieser Konzeption wendet sich Larmore gegen die vorherrschende Strömung in der modernen Moralphilosophie, die sich in der Nachfolge Kants bis heute, wie etwa auch in der Diskursethik, in einer Verbindung von Naturalismus und Vernunftautonomie den zahllosen Versuchen einer Neuauflage verschrieben haben, die noch auf jedes Scheitern dieses Ansatzes gefolgt sind.
Wer darin unzulässige Metaphysik wittert, dem erwidert Larmore, dass doch jeder, ob eingestanden oder nicht, seine Metaphysik, seine Auffassung von der Welt im Ganzen und von dem Platz des Menschen darin, hat, und es es vor allem darauf ankommt, Metaphysik verantwortlich zu betreiben, insbesondere wenn man sich mit solchen Grundfragen wie der nach der Natur der Vernunft befasst. Kann Larmore seinem Anspruch einer verantwortlichen Metaphysik gerecht werden? Wie weit reicht seine Kritik der modernen Moralphilosophie tatsächlich? Wie fasst er das Verhältnis von Moral, Vernunft und Gründen?
Das sechste Kapitel geht der Frage nach der Verfassung der modernen Moral und Moralphilosophie weiter auf den Grund: Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition. Kaum ein anderer hat die Krise der modernen Moral so gründlich ausgelotet wie Alasdair MacIntyre. In seinem 1981 erschienen Buch After Virtue
Hallaq greift die Grundgedanken und die Konzeption von MacIntyre auf, indem er sie in seinem Sinne weiterentwickelt und modifiziert. Kein anderer Denker dürfte in seiner Auseinandersetzung mit der modernen Moralphilosophie in Impossible State auch nur annähernd einen ähnlichen Stellenwert einnehmen. Daher rechtfertigt sich eine ausführliche und gründliche Befassung mit MacIntyres Denken. Sie ist für ein besseres Verständnis von Hallaqs Denken in Impossible State unerlässlich, da dessen Grundstruktur auf diese Weise in besonders deutlichen Konturen hervortritt.
Unter den Bedingungen der Krise der modernen Moral gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin.
Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational.
MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten, wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.
Es handelt sich also um ein Projekt, das gar nicht anders als gemeinsam verwirklicht werden kann. Und MacIntyre kommt dabei gewiss eine gewichtige Rolle zu. Das ist der Grund, warum eine eingehende Auseinandersetzung mit seinem Denken geboten ist, zu der hier ein weiterer und vertiefender Schritt beigetragen werden soll.
Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Welche Ressourcen stehen dem islamischen Denken zur Verfügung, um einen Beitrag zur gemeinsamen Suche nach einem Ausweg aus der globalen Krise der Moral leisten zu können?
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Mein Dank gilt all denen, die mich durch ihre anregenden und bereichernden Beiträge in Diskussionen und anderweitig bei der Arbeit an diesem Projekt, mitunter über viele Jahre, unterstützt haben und die viel zu zahlreich sind, um namentlich aufgeführt werden zu können. Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern des VDM
März 2019 / Radschab 1440 Yusuf Kuhn
Weiterlesen im Buch: Über Moral, Macht und Islam im unmöglichen Staat
ERSTER TEIL - UNMÖGLICHER STAAT?
ERSTER TEIL - UNMÖGLICHER STAAT? Yusuf Kuhn1 Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität
1 Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität Yusuf KuhnVorbemerkung
Dieser Text ist eine ausführliche Vorstellung des Buches The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament von Wael B. Hallaq.
1.1 Einführung
1.1 Einführung Yusuf KuhnWael B. Hallaq
1.1.1 Die moralische Dimension
An die Darstellungsweise seiner großen Studie über die Geschichte der Scharia knüpft Hallaq auch mit seinem Buch The Impossible State (Der unmögliche Staat) an, allerdings mit einem bemerkenswerten Unterschied, auf den der Autor ausdrücklich hinweist: Nicht nur werden die historische Darstellung des modernen Staates im islamischen Kontext und ihre theoretischen Implikationen breiter ausgeführt, indem sie mit Bezug auf westliche Wissenschaften wie Politologie, Rechtswissenschaft und Moralphilosophie erörtert werden, sondern vor allem besitzt diese Studie auch eine normative Dimension.
Hallaq stellt am Ende der Einleitung klar, dass »dieses Buch nicht lediglich eine Geschichte des islamischen Rechts ist«;
[…] während es Mannigfaltigkeit, Unordentlichkeit (messiness) und Verletzungen (violations) in der langen Geschichte der Scharia anerkennt und in Rechnung stellt, zieht es Nutzen aus dem Begriff des Paradigmas, um aus einer paradigmatischen Struktur heraus die moralische Dimension wiederzugewinnen, die gleichwohl diese komplexen und verworrenen Realien durchdringt. (S. xiv)
Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013.
Was dies genau zu bedeuten hat, wird sich hoffentlich im Verlauf der Vorstellung des Buches aufklären. Es sollte hier lediglich vorab schon auf diesen wichtigen Aspekt aufmerksam gemacht werden. Denn es soll dem Eindruck vorgebeugt werden, der gleichwohl häufig zu entstehen scheint und auch in etlichen Rezensionen des Buches zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich um eine historische Darstellung der Geschichte des islamischen Rechts handele, die allzu beschönigend, verklärt oder gar rosig ausfalle. Doch dabei gerät offenkundig die entscheidende Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer paradigmatischen Darstellung aus dem Blick. Es geht also keineswegs um eine Beschönigung, Verschleierung oder gar Leugnung von Unrecht, Unterdrückung, Gewalt oder Rechtsverletzungen in der islamischen Geschichte, die vielmehr als solche anerkannt werden, sondern um einen anderen Blick auf diese Geschichte, der den Begriff des Paradigmas ins Zentrum stellt. Hallaq versucht diesem Missverständnis in einer Anmerkung entgegenzuwirken, auf die eben schon Bezug genommen worden ist und die darüber hinaus zur weiteren Klärung vollständig wiedergegeben sei:
Es muss hier so klar wie möglich gemacht werden, dass mein Narrativ des vormodernen islamischen Rechts auf dem beruht, was ich in Sharīʿa
Siehe Wael B. Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, New York, Cambridge University Press, 2009. und IntroductionSiehe Wael B. Hallaq, An Introduction to Islamic Law, New York, Cambridge University Press, 2009. dargelegt habe. Das vorliegende Werk als Abweichung von diesen beiden Büchern oder als Ausdruck eines Wechsels in Richtung einer Reduktion der Komplexität dieses Narrativs zu betrachten, ist eine Versuchung, der widerstanden werden sollte. Wenn die Leserin, die mit meinem früheren Werk vertraut ist, eine derartige qualitative Differenz im Narrativ feststellt, so ist ihr dringlich anzuraten, dies in Begriffen der hier dargelegten Theorie des Paradigmas zu verstehen. Es sollte klar werden, dass unser Narrativ des vormodernen islamischen Rechts in einer Weise gestaltet ist, die dem vorliegenden Projekt angemessen ist, nämlich dem, was wir moralische Wiederherstellung genannt haben. Daher ist der vorliegende Band nicht eine Geschichte des islamischen Rechts und sollte nicht als solche betrachtet werden. (S. 174, Fußnote 22)
Damit sollte deutlich geworden sein, dass es keineswegs um ein nostalgisches Plädoyer für eine Rückkehr in eine vermeintliche Idylle geht, sondern vielmehr, in voller Anerkennung der Kluft zwischen sozialer Wirklichkeit und Norm, um eine vergleichende Reflexion über unterschiedliche Paradigmen, die zwar Einfluss auf die soziale Wirklichkeit haben, aber weit davon entfernt sind, diese kraft ihrer Normativität vollständig zu determinieren. Es ist hier nicht der Ort, diesen Ansatz weiter auszuführen, der durch die folgende Darstellung ohnehin ausführlich erläutert werden soll. An dieser Stelle muss es genügen, auf dieses mögliche Missverständnis mit aller Deutlichkeit hingewiesen zu haben, so dass die weitere Darlegung in diesem klärenden Lichte betrachtet werden kann. Wer dennoch dazu neigt, einen entsprechenden Vorwurf der Nostalgie zu erheben, sollte dies allerdings in voller Kenntnis der in obigem Zitat erwähnten beiden Bände tun, und nicht allein auf der Grundlage des hier erörterten Buches The Impossible State, das aus den genannten Gründen nicht der geeignete Adressat einer solchen Kritik sein kann.
Ein weiteres Missverständnis bestünde in der Annahme, dass sich aus der in diesem Buch vorgenommenen Analyse des modernen Staates unmittelbar Schlüsse über das politische Verhältnis von Muslimen, die in einem solchen Staat leben, zu eben diesem Staat ableiten ließen. Diese müssten in der Tat Kurzschlüsse sein, da diese Frage hier überhaupt nicht thematisiert wird und daher die nötigen Voraussetzungen gar nicht vorliegen, um daraus entsprechende Schlüsse ziehen zu können.
Nachdem also einiges dazu gesagt worden ist, worum es in diesem Buch nicht geht, um gängigen Missverständnissen möglichst vorzubeugen, nun aber näherhin zum eigentlichen Inhalt: Wovon handelt dieses Buch?
1.1.2 Staat, Islam, Moral: Worum geht es?
Zunächst sei der Titel kurz erläutert. Hallaq vertritt die These, dass der moderne Staat und der Islam nicht vereinbar sind. Der unmögliche Staat (The Impossible State) des Titels ist also der moderne und zugleich islamische Staat. Die tieferen Gründe für diese Unvereinbarkeit liegen nicht, wie das Thema des Staates vermuten lassen könnte, allein auf der politischen Ebene, sondern im wesentlichen auf der moralischen Ebene. Daher besitzen in dieser Untersuchung moralphilosophische Überlegungen und insbesondere die Diagnose einer tiefen moralischen Krise der modernen westlichen Zivilisation einen zentralen Stellenwert. So erklärt sich auch der Untertitel: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament (Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität). Und diese Krise ist so tief, dass nicht nur der moderne islamische Staat, sondern der moderne Staat selbst und darüber hinaus das Überleben der Menschheit insgesamt fraglich werden.
Die Krise übergreift westliche und islamische Zivilisation. Sie strahlt vom Westen auf den ganzen »Rest« aus, ist universell und verlangt nach entsprechenden Lösungen. Schließlich haben, wie Hallaq resümiert, Muslime kein Monopol auf Krise. Welche Rolle spielt dabei der moderne Staat selbst und sein Verhältnis zum Islam? Welche Bedeutung kommt der moralischen Grundlagenkrise der westlichen Kultur und deren Verhältnis zum Islam zu? Gibt es einen Ausweg aus der universellen Krise? Hallaq wirft diese Fragen auf und stellt sich ihnen, übrigens nicht aus einer muslimischen Perspektive, sondern, wie er immer wieder betont, aus der Sicht eines Beobachters, der durch seine kulturübergreifenden Analysen diskursive Schnittstellen zwischen westlicher und islamischer Zivilisation schafft und so das Gespräch all derer befördert, die erkannt haben, dass die universelle Krise, welche die geistige wie die physische Existenz aller Menschen in einem Strudel der Sinnlosigkeit und Vernichtung zu verschlingen droht, nur durch gemeinsame Anstrengung und Verantwortlichkeit überwunden werden kann.
1.2 Einleitung
1.2 Einleitung Yusuf Kuhn1.2.1 These der Unvereinbarkeit von Islam und modernem Staat
Der Autor beginnt die Einleitung mit einer knappen und klaren Darlegung der zentralen These:
Das Argument dieses Buches ist ziemlich einfach: Der »islamische Staat« ist, gemessen an irgendeiner Standarddefinition dessen, was den modernen Staat ausmacht, sowohl eine Unmöglichkeit wie auch ein Widerspruch in sich. (S. ix)
Das Buch dient der Darstellung, Erläuterung und Begründung dieser These samt ihrer weitreichenden Konsequenzen.
Die Scharia, das moralische Recht des Islam – wie Hallaq sagt –, hatte über zwölf Jahrhunderte lang Gesellschaft und Regierung als höchste moralische und rechtliche Kraft erfolgreich geordnet. Hallaq setzt dieses »Recht« ganz richtig in Anführungszeichen, denn die Scharia war immer sehr viel mehr und anderes als bloßes Recht. Scharia mit Recht gleichzusetzen, wäre daher ein großer Fehler. Um dem von vornherein zu wehren, betont Hallaq den moralischen Charakter der Scharia.
Zudem führt er sogleich den Begriff des Paradigmas ein, dem in seiner Analyse große Bedeutung zukommt, wie sich im Fortgang zeigen wird, indem er feststellt:
Dieses »Recht« war paradigmatisch, da es als zentrales System von hohen und allgemeinen Normen von den Gesellschaften und den dynastischen Mächten, die über sie regierten, Anerkennung fand. (S. ix)
Doch die von der Scharia geleitete soziale und politische Ordnung wurde seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts durch das kolonialistische Europa strukturell zersetzt. Dadurch wurde die Scharia selbst ausgehöhlt und auf einen Status herabgesetzt, der ihr keine andere Rolle mehr beließ als die Lieferung von Rohmaterial für die Gesetzgebung des modernen Staates auf dem Gebiet des Personenstandsrechts. Und selbst in diesem beschränkten Bereich verlor die Scharia ihre Selbständigkeit und gesellschaftliche Wirksamkeit zugunsten des modernen Staates. Die Scharia sollte fortan nur noch als Lieferant bestimmter Vorkehrungen dienen, welche die Gesetzgebung des Staates legitimieren sollten und zu diesem Zweck umgeformt und geradezu wieder erschaffen wurden.
Diese Entwicklung änderte nicht allzu viel daran, dass die Scharia gleichwohl ihre zentrale Stellung für die große Mehrheit der Muslime als eine und wohl die entscheidende geistige Quelle für ihr Leben und für alle religiöse und moralische Autorität beibehielt. Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass sich daher die überwältigende Mehrheit der modernen Muslime eine Rückkehr der Scharia wünscht. Warum dies so ist, wird in der folgenden Untersuchung deutlich werden, obgleich dies, wie Hallaq betont, nicht die mit ihr verfolgte Absicht ist.
Dieser Wunsch heutiger Muslime mündet jedoch unter den Bedingungen der Moderne in eine ausweglose Lage, derer sich kaum jemand bewusst ist. Nicht nur wird kein Widerspruch erkannt, sondern die meisten Muslime und ganz besonders ihre führenden Intellektuellen betrachten den modernen Staat als selbstverständliche und natürliche Wirklichkeit. Sie nehmen nicht nur an, dass er während des gesamten Verlaufs der langen muslimischen Geschichte existiert habe, sondern darüber hinaus auch noch im Islam selbst seine Rechtfertigung finde. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Hallaq verweist u.a. auf den pakistanischen Intellektuellen al-Mawdudi.
Als wenn dies nicht schon genügen würde, wird überdies der Nationalismus, ein vor der Moderne unbekanntes Phänomen, das von einzigartiger Bedeutung für die Herausbildung des modernen Staates ist, auf islamische Grundlagen zurückgeführt, wie etwa die sogenannte Verfassung von Medina. Und auch so moderne Begriffe wie Bürgerschaft, Demokratie und Wahlrecht sollen in den islamischen Grundlagen verankert oder zumindest von den frühen islamischen Gesellschaften ausgebildet worden sein. Andere wiederum mit einem etwas mehr autoritären Staatsverständnis meinen, den modernen Staat islamisieren zu können, indem er um bestimmte drakonische Strafen bereichert wird, die vorgeblich aus der Scharia abgeleitet werden, jedoch in Wirklichkeit gegen die von ihr vorgesehene Verfahrensweise und Berücksichtigung der sozialen Umstände verstoßen.
Hallaq zieht daraus den Schluss:
Moderne Muslime sind daher mit der Herausforderung konfrontiert, zwei Tatsachen miteinander zu vereinbaren: erstens die ontologische Tatsache des Staates und seiner unbestreitbar mächtigen Präsenz und zweitens die deontologische Tatsache der Notwendigkeit, eine Form der Scharia-Gouvernanz herbeizuführen. (S. x)
Moderne Muslime stehen also vor der Aufgabe, angesichts der Existenz des modernen Staates und seiner Macht dem islamischen und moralischen Gebot gerecht zu werden, eine Gesellschaft zu schaffen, deren Ordnung und Zusammenhalt von der Scharia gewährleistet wird – mittels einer Form der Scharia-Gouvernanz. Ich habe den englischen Ausdruck governance absichtlich unübersetzt gelassen oder, genauer gesagt, durch die deutsche Entsprechung des französischen Wortes gouvernance ersetzt, daher »Gouvernanz«. Dieses Wort hat sich im Deutschen bisher zwar nicht wirklich durchsetzen können, bleibt aber mangels Alternative die bessere Wahl, wenn der Bedeutungshorizont nicht vorschnell eingeschränkt werden soll, was mit einer Übersetzung als Regierung oder auch Regierungsform geschehen würde. Denn der Begriff der governance (Gouvernanz) soll ja gerade auf die Wichtigkeit auch außerstaatlicher Lenkungsformen anspielen. Umgekehrt wäre eine Übersetzung mit Lenkungsform wiederum zu allgemein, da somit der Bezug auf den Staat verlorenzugehen drohte. Ich gehe hier deswegen so ausführlich auf Fragen der Übersetzung ein, weil damit inhaltliche Fragen eng verknüpft sind, die dadurch ersichtlich werden. Der Begriff der Gouvernanz soll daher im folgenden beibehalten werden, auch um den offenen Charakter der Frage zu betonen, was – im Unterschied und möglicherweise Gegensatz zu »Staat« oder »Regierung« – »Gouvernanz« wohl bedeuten wie auch worin diese Gouvernanz tatsächlich bestehen könnte.
Trotz der realen Schwierigkeiten und des Scheiterns vieler Versuche bei der Errichtung eines »islamischen Staates« bleibt der Staat die Folie, auf deren Hintergrund moderne muslimische Intellektuelle in der Gestalt von »Islamisten« ihre Projekte entwerfen. An Beispielen dafür, wie gesagt, mangelt es nicht. Hallaq führt eine »repräsentative Stellungnahme« der Organisation der Muslimbrüder (ikhwān al-muslimīn) an, in der es heißt, dass der moderne Nationalstaat »nicht im Widerspruch zur Anwendung der Scharia steht« oder zumindest »stehen sollte«, was durch entsprechende Maßnahmen im Rahmen einer fortschreitenden Entwicklung zu erreichen sei. Ein Zwischentitel dieses Dokuments bringt es auf den Punkt: »Es gibt keinen Widerspruch zwischen dem Nationalstaat und der islamischen Scharia« (siehe S. xi).
Gleiches gilt für die islamistische Konkurrenz auf der ägyptischen politischen Bühne in Gestalt der von Saudi-Arabien unterstützten wahhabitischen, ihrem Selbstverständnis zufolge salafistischen Partei an-Nūr. Sie spricht sich in ihren Erklärungen für die Anwendung der Scharia aus, ohne die Bedeutung dieses Ausdrucks näher zu erläutern, und erklärt zugleich, dass ihr höchstes Ziel darin bestehe, einen »islamisch gegründeten demokratischen Nationalstaat« (siehe S. xi) aufzubauen.
Gegenüber diesem Ansinnen betont Hallaq, dass es sehr wohl einen Widerspruch zwischen modernem Staat und Islam gibt:
Jedwede Konzeption eines modernen islamischen Staates ist inhärent selbstwidersprüchlich. (S. xi; Hervorhebungen im Original)
Für das Verständnis dieser These ist es von großer Wichtigkeit, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die Begründung, wie sie im Verlauf der Untersuchung vorgetragen wird, nicht ausschließlich auf der politischen Ebene verbleibt, sondern weit darüber hinausgeht, indem die Grundlagen des modernen Staates in den sehr viel weiter gefassten Strukturen des Projekts der Moderne verortet und auf dieser dann auch moralphilosophischen Ebene in ihrem Verhältnis zur Scharia verhandelt werden.
Das ist vielleicht der Ort, um deutlich darauf aufmerksam zu machen, worum es nicht geht. Denn es könnte sich angesichts dieser These das Missverständnis einstellen, es solle behauptet werden, dass die Scharia oder eine Form der islamischen Gouvernanz in dieser Welt überhaupt keinen Platz finden könne. Das Gegenteil ist richtig. Um nicht falsch verstanden zu werden, stellt Hallaq nachdrücklich fest:
Daher muss ein für alle Mal festgestellt werden, dass das Argument dieses Buches auf der Prämisse beruht, dass eine kreative Reformulierung der Scharia und der islamischen Gouvernanz eine der bedeutendsten und konstruktivsten Weisen sein kann, das moderne Projekt umzugestalten, denn es hat einen moralischen Wiederaufbau bitter nötig. […] Dieser Wiederaufbau und seine politischen und rechtlichen Folgeerscheinungen sind für Muslime nicht vorstellbar ohne eine richtige Diagnose des Problems des »islamischen Staates«, woraus sich ebenfalls erklärt, warum ein robuster Entwurf für solch eine zukünftige Rekonstruktion ein echtes Verstehen des vielschichtigen Widerspruchs, der jedwedem Konzept des »islamischen Staates« innewohnt, zur Voraussetzung hat. (S. 172-173, Fußnote 15)
Das Projekt der Moderne und die moderne Gesellschaft selbst bedürfen der moralischen Erneuerung, zu der eine Wiederbelebung des islamischen Denkens und der Scharia einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten könnte, vorausgesetzt, dass das moderne Denken einer ernsthaften Prüfung und Kritik unterzogen wird. Wie sich zeigen wird, kann und muss dabei an die bereits geleistete interne Kritik angeknüpft werden, wodurch erstaunliche Überschneidungen und Parallelen kenntlich werden.
Vielleicht muss an eine Tatsache erinnert werden, die allzu leicht aus dem Blick gerät: Auch die Muslime leben in der Modernität und sind insofern ebenfalls Teil des Projekts der Moderne. Wenn also diese Modernität eine moralische Misere erfährt, sind alle davon betroffen, die daran teilhaben. Hallaq vertritt die These, dass die Widersprüche, die das Konzept des modernen islamischen Staates birgt, ihre hauptsächlichen und wesentlichen Gründe in der moralischen Misere der Modernität haben. Die politischen und ökonomischen Probleme gehen letztlich auf diese moralische Misere zurück. Was bedeutet, dass die Aufhebung der moralischen Misere auch zu einer Lösung der politischen und ökonomischen Probleme führen würde, oder zumindest einen wesentlichen Beitrag dazu leisten würde.
Hallaq beschließt daher diesen Abschnitt seines Gedankengangs mit folgender Bemerkung:
Die inhärenten Widersprüche jeder Konzeption eines modernen muslimischen Staates erfassen – kraft des gewaltigen vertikalen Effekts und der horizontalen Macht des modernen Staates – nicht nur das gesamte Spektrum dessen, was als die »Krise des modernen Islam« beschrieben worden ist, sondern implizieren auch die moralischen Dimensionen des modernen Projekts in unserer Welt von Anfang bis Ende. Dieses Buch ist daher ein Essay in moralischem Denken mehr noch als ein Kommentar über Politik oder Recht. (S. xi-xii)
1.2.2 Wie wird die These der Unvereinbarkeit entfaltet?
Zur Entfaltung der These der Unvereinbarkeit ist es erforderlich, einerseits die »paradigmatische islamische Gouvernanz« wie auch andererseits den »paradigmatischen modernen Staat« zu beschreiben. Dies erfolgt jeweils in Kapitel 1 und 2. Zur Vorbereitung darauf wird der Begriff des Paradigmas vorgestellt. Da das Argument mit vielen Annahmen des Modernismus in Konflikt gerät, ist es unvermeidbar, die Ideologie zu erörtern, die einem weit verbreiteten Denken über Modernität und die Leistungen der Moderne zugrunde liegt. Und im Zentrum dieser Ideologie steht die Idee des Fortschritts.
In Kapitel 2 werden dann Eigenschaften des Staates ausgezeichnet, die trotz aller vielfältigen historischen Entwicklungen seinen Wesenskern ausmachen. Dazu gehören die Ideen des souveränen Willens und der Herrschaft des Rechts (rule of law). Ich übersetze rule of law nicht mit Rechtsstaatlichkeit, weil damit eine zu große Nähe zwischen Recht und Staat im Sinne von Gesetzmäßigkeit oder gar Identität von Recht und Staat vorausgesetzt wäre, was mit dem vorgetragenen Argument jedoch nicht vereinbar ist. Denn das auf moralischer Grundlage verstandene Recht im Sinne der Scharia kann und darf keinesfalls darauf eingeschränkt werden.
Die beiden genannten Ideen werden in Kapitel 3 in Begriffen der Theorie und Praxis der Gewaltenteilung untersucht. Dies dient dazu, den konstitutionellen Bezugsrahmen sowohl des modernen Staates als auch der islamischen Gouvernanz herauszustellen, um zugleich damit die konstitutionellen Unterschiede dieser beiden Formen der Gouvernanz aufzuzeigen.
Dies führt in Kapitel 4 zu einer weitergehenden Erkundung der Bedeutung des Rechts und seines Verhältnisses zur Moral. Diese eher philosophische Abhandlung rückt die qualitativen Differenzen der beiden Konzeptionen des Rechts in den Vordergrund. Darauf aufbauend werden sodann die politischen Differenzen analysiert, die sich als ebenso inkompatibel erweisen.
Kapitel 5 vollzieht dann einen Wechsel von den Ordnungen des Denkens und der Politik auf die Ebene des Selbst und der Subjektivität. Der moderne Nationalstaat und die islamische Gouvernanz verfügen über sehr unterschiedliche Verfahren, Subjektivität auszubilden, die Hallaq im Anschluss an Foucault als »Technologien des Selbst« bezeichnet. Die durch diese beiden paradigmatischen Felder erzeugten Subjekte verfügen dementsprechend über »zwei verschiedene Arten von moralischen, politischen, epistemischen und psychosozialen Konzeptionen der Welt.« (S. xiii)
In Kapitel 6 wird sodann die Frage aufgeworfen, was geschehen würde, wenn gegen alle Hemmnisse eine islamische Gouvernanz tatsächlich verwirklicht werden sollte. Hallaq argumentiert, dass die modernen Formen der Globalisierung und die Stellung des Staates darin jede Ausprägung der islamischen Gouvernanz völlig unmöglich oder zumindest auf längere Sicht nicht überlebensfähig machen würden. Das kann freilich nur als verstärkendes Argument verstanden werden, da die Hauptthese ja besagt, dass eine islamische Gouvernanz unter den Bedingungen der Moderne ohnehin unhaltbar ist, da sie schon aufgrund der Widersprüche unmöglich ist.
Im abschließenden siebten Kapitel wird die moderne Krise der Moral einer genaueren Untersuchung unterzogen. Die strukturellen und begrifflichen Grundlagen der modernen Moralphilosophie werden als die Wurzel der moralischen Misere ausgemacht, welche die Moderne in allen ihren Gestalten in Ost und West erfahren hat. Hallaq stellt fest:
Wir bestehen darauf, dass es, wenn die Unmöglichkeit der islamischen Gouvernanz in der modernen Welt direkt das Ergebnis des Fehlens einer günstigen moralischen Umgebung ist, die den minimalen Standards und Anforderungen dieser Gouvernanz genügen kann, dann geboten ist, diese moralisch begründete Unmöglichkeit mit den weiteren problematischen Kontexten in Verbindung zu bringen, welche die moralischen Schwierigkeiten der Modernität erzeugt haben. Daher argumentieren wir, dass diese Unmöglichkeit lediglich eine weitere Manifestation – und ein steter Begleiter – einer Reihe von anderen Problemen ist, zu denen nicht zuletzt der zunehmende Zerfall der organischen sozialen Einheiten, das Wachstum der ökonomischen Ungerechtigkeit und in erster Linie die Zerstörung der natürlichen Wohnstätte und der Umwelt gehören. All dies wird in diesem Buch als ebenso philosophisch-moralische und epistemische wie auch materielle und physikalische Angelegenheit betrachtet. Wir finden in der Tat bei näherer Betrachtung der internen moralischen Kritiken innerhalb der westlichen Postmodernität enge Parallelen, sogar eine virtuelle Identität, zwischen ihnen und den latenten Bedeutungen des modernen muslimischen Rufs nach der Errichtung einer islamischen Gouvernanz. (S. xiii)
1.3 Prämissen
1.3 Prämissen Yusuf KuhnWenn ein moderner islamischer Staat unmöglich und sogar ein Widerspruch in sich ist, drängen sich zwei Fragen auf: Welche Form der Gouvernanz haben Muslime in der Vergangenheit praktiziert? Und welche Regierungsformen bestehen in der gegenwärtigen muslimischen Welt? Diese Fragen stellen sich insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte der letzten zweihundert Jahre, die von Kolonialherrschaft und postkolonialer nationalistischer Reaktion und Kontinuität geprägt war.
1.3.1 Kolonialismus, Staat, Scharia
Hallaq geht davon aus, dass die postkolonialen nationalistischen Eliten die Machtstrukturen, die ihnen der Kolonialismus vermacht hatte, aufrechterhalten und nach der Erlangung der Unabhängigkeit keinen wirklichen Bruch mit der Kolonialpolitik vollzogen haben. Die europäischen Kolonialmächte vermachten ihnen einen Nationalstaat samt seiner konstitutiven Machtstrukturen, der nicht zu den bestehenden Gesellschaftsformen passte. Das paradigmatische Konzept des Bürgers, ohne das kein Staat bestehen kann, bildete sich nur sehr schleppend heraus. Die politischen Lücken, die durch die Zerstörung der traditionellen Strukturen aufbrachen, wurden nicht angemessen aufgefüllt. Der Nationalstaat stand daher immer in einem Spannungsverhältnis zu den Gesellschaften in der muslimischen Welt. Die politische Organisation, die vom Kolonialismus übernommen und danach weiter ausgebaut wurde, blieb stets von Autoritarismus und Unterdrückung gekennzeichnet. Soweit die Scharia für die Regierungsform in Anspruch genommen wurde, ging dies kaum über bloße Lippenbekenntnisse hinaus. Wo mehr angestrebt wurde, hat der Staatsapparat die Scharia-Normen der Gouvernanz in seinen Dienst gestellt und entstellt, woraus sich in der Folge ergeben hat, dass sowohl die islamische Gouvernanz als auch der moderne Staat als politische Projekte misslungen sind.
Das moderne Experiment in der muslimischen Welt muss daher als in politischer und rechtlicher Hinsicht gescheitert gelten. Aus ihm können keine positiven Lehren darüber gezogen werden, wie Muslime sich selbst regieren sollten. Dass die »Scharia« in etlichen Verfassungen als »eine« oder »die« Quelle des Rechts verankert wurde, ändert nichts daran, dass sie institutionell tot und politisch missbraucht ist. Für die Frage nach einer islamischen Gouvernanz hat die Erfahrung mit dem modernen Staat und seiner sogenannten »Scharia« keinen positiven Beitrag zu leisten. Daher muss sich unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was die Scharia für Muslime während der zwölf Jahrhunderte vor der Kolonialzeit bedeutete, als ihr noch der Rang eines Paradigmas zukam.
So bleibt einzig die Frage, wie sich Muslime in der vorkolonialen Geschichte organisiert und regiert haben. Wenn die These von der Unmöglichkeit eines modernen islamischen Staates zutrifft, kann es eine solche Regierungsform nicht gegeben haben. Aber auch historische Gründe schließen diese Möglichkeit aus, da der moderne Staat ausschließlich ein Produkt der europäischen Geschichte ist. Zudem sprechen nicht-historische Gründe dafür, denn es bestand eine qualitative Differenz bereits zwischen vormodernen prototypischen »Staaten« und vormodern islamischen Formen der Gouvernanz. Wer letztere unterschiedslos als vormoderne »Staaten« klassifiziert, macht sich Hallaq zufolge des Versäumnisses schuldig, die paradigmatischen Kräfte nicht gebührend zu berücksichtigen, die der »islamischen Gouvernanz« Form und Inhalt verliehen.
Gestalt und Verfassung der modernen Welt sind weitgehend von den materiellen und geistigen Institutionen des übermächtigen Europas samt seinem kolonialen Ableger Nordamerika bestimmt. Während der Westen in einer Gegenwart lebt, die immerhin aus seiner eigenen Geschichte mit Aufklärung, industrieller Revolution, moderner Wissenschaft, Nationalismus, Kapitalismus und amerikanisch-französischer Verfassungstradition hervorging, wurden dem »Rest« der Welt die Bedingungen der Modernität von außen aufgezwungen. Die meisten Menschen wurden ihrer eigenen Geschichte und Lebensweise beraubt. Die politischen, rechtlichen und kulturellen Kämpfe der heutigen Muslime entspringen daher in hohem Maße der durch die westliche Vorherrschaft gegen ihren eigenen Willen erzeugten Spannungen zwischen den moralischen Realitäten der modernen Welt, in denen sie zwangsweise leben müssen, einerseits und ihren eigenen moralischen und kulturellen Bestrebungen und Hoffnungen andererseits. Der hegemoniale Diskurs der Modernität lässt ihnen dabei nur die Wahl zwischen Untergang und Anpassung, bestenfalls Aufholen. Fortschritt jedenfalls gibt es nur um den Preis des Verlusts der eigenen Traditionen und historischen Erfahrungen. Und meist führen die Anstrengungen in diese Richtung ohnehin nur in verheerende Kriege, Armut, Elend, Krankheit und Zerstörung der Natur.
Die Fürsprecher des modernen Projekts mögen dagegenhalten, dass es Armut und Elend schon immer gegeben habe und gerade der Fortschritt einen Ausweg aufzeige. Hallaq begegnet ihnen mit drei Gegenargumenten. Erstens sind Armut und Elend unter den Bedingungen der Moderne allemal nicht mehr das Werk der Natur, sondern menschengemacht, also Produkt von Kapitalismus, Industrialismus und der damit einhergehenden Naturzerstörung; sie sind eben Wirkungen des sogenannten Fortschritts. Zweitens führt die durch den staatlichen Kapitalismus hervorgerufene Zersplitterung der Gesellschaft zur Auflösung der traditionellen Familie und Gemeinschaft und zur Herausbildung des entzauberten, fragmentierten und narzisstischen Individuums; dieser Zusammenbruch ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Projekts. Drittens kann es keinen Zweifel an den zerstörerischen Folgen des modernen Projekts für die natürliche Umwelt geben.
Dieses Projekt der Zerstörung muss auf einer moralischen Grundlage untersucht und bewertet werden, wie Hallaq unmissverständlich deutlich macht:
Es ist ein Desaster, für das wir alle verurteilt werden müssen, nicht als wissenschaftlich bestimmter homo oeconomicus oder bloß als unverantwortliche Konsumenten, sondern als moralisch verantwortliche Wesen. Die moralischen und anderen Implikationen dieses Projektes sind im wesentlichen epistemologischer Natur, denn sie betreffen unsere Philosophien, Soziologien, Wissenschaften, Technologien, Politiken und alles, was wir tun. (S. 4)
Alle drei Gegenargumente sind mit unserer Konstitution als moralische Subjekte untrennbar verbunden und müssen auf moralische Verantwortung hin befragt werden. Erst die Marginalisierung der moralischen Dimension und ihre Abspaltung von Wissenschaft, Ökonomie und Recht, die zum Wesen des modernen Projekts gehören, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass soziale Ungerechtigkeit, gesellschaftliche Auflösung und Naturzerstörung in einem solchen Ausmaß hervorgebracht werden konnten. Selbst nach Maßgabe der Aufklärung, die doch meist immerhin Moral auf rationaler Grundlage predigt, - geschweige denn nach islamischen Ansprüchen – sollte die Frage nach der moralischen Verantwortung nicht völlig aufgegeben werden. Und die Fürsprecher der Moderne müssen sich zumindest vorhalten lassen, dass das Verständnis moralisch verantwortlichen Handelns in vormodernen Gesellschaften eine hohe Hürde gegen die Durchführung des Projekts der Zerstörung gebildet hätte, wenn letzteres dieses Verständnis freilich nicht ohnehin völlig neutralisiert und unterminiert hätte. Menschen, die sich bewusst sind, für die Folgen ihres Handelns zur Verantwortung gezogen zu werden, und die mit den verheerenden Konsequenzen nicht leben können und wollen, bilden sich nur unter sorgsam gewählten und gehüteten Bedingungen heraus. Doch alle dafür erforderlichen Voraussetzungen und Schranken wurden vom Projekt der Moderne niedergerissen. Und der Staat hat dabei eine ebenso entscheidende wie unrühmliche Rolle gespielt.
1.3.2 Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin – »sogenannte«, weil es sich um eine konstruierte eurozentrische Tradition handelt. Denn Platon und Aristoteles sind keineswegs so eindeutig »europäisch«, sondern vielmehr durch einen Prozess der Ausblendung dazu gemacht worden, und Thomas von Aquin könnte durchaus als Schüler des arabischen und muslimischen Philosophen Ibn Ruschd gelten.
Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
So schreibt MacIntyre etwa:
Gibt es also solch eine alternative Weise des Verstehens? Wessen hat uns die Aufklärung beraubt? Wofür uns die Aufklärung größtenteils blind gemacht hat und was wir wiedererlangen müssen, ist, so werde ich argumentieren, eine Konzeption der rationalen Untersuchung als in einer Tradition verkörpert, eine Konzeption, der zufolge die Maßstäbe der rationalen Rechtfertigung selbst aus einer Geschichte hervorgehen und zu dieser gehören, in der sie bestätigt werden durch die Weise, in der sie die Grenzen überschreiten und Abhilfen für die Mängel ihrer Vorgänger innerhalb der Geschichte eben derselben Tradition liefern.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana, 1988, S. 7; Hallaq zitiert lediglich einen kleinen Ausschnitt davon.
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Hallaq beschreibt diese Lebensweise auch als paradigmatische islamische Gouvernanz, um einen qualitativen Unterschied zwischen einem Leben in, unter und mit dem modernen Staat einerseits und einem Leben in, unter und mit der vormodernen Scharia andererseits zu kennzeichnen. Beide Daseinsweisen verfügen zwar über eine ähnliche hegemoniale Reichweite, unterscheiden sich aber auf dramatische Weise in nahezu allen anderen Hinsichten.
1.3.3 Begriff des Paradigmas
Der Begriff des Paradigmas dient dazu, die beiden Phänomene miteinander vergleichen zu können, indem jeweils entsprechende systemische Eigenschaften und »Triebkräfte«, welche die »Ordnung der Dinge« bestimmen, identifiziert werden. Hallaq schließt dabei an Carl Schmitt, Thomas S. Kuhn und Michel Foucault an.
Hallaq wählt als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffs des Paradigmas den von Carl Schmitt geprägten Begriff des Zentralgebiets. Schmitt schreibt in Der Begriff des Politischen:
Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selbst ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebiets gelöst sind.
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München und Leipzig, 1932, S. 72.
Als Beispiel wählt Schmitt die europäische Vorstellung des Fortschritts, die zeitweilig paradigmatisch im Sinne von Hallaq war. Schmitt fährt also fort:
Ich darf das an einem Beispiel deutlich machen. Die Vorstellung eines Fortschritts z. B., einer Besserung und Vervollkommnung, modern gesprochen einer Rationalisierung, wurde im 18. Jahrhundert herrschend, und zwar in einer Zeit humanitär-moralischen Glaubens. Fortschritt bedeutete infolgedessen vor allem Fortschritt in der Aufklärung, Fortschritt in Bildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, moralische Vervollkommnung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens wird der Fortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomischer oder technischer Fortschritt gedacht, und der humanitär-moralische Fortschritt erscheint, soweit er überhaupt noch interessiert, als Nebenprodukt des ökonomischen Fortschritts.
Ebenda, S. 72.
Schmitt unterscheidet in der europäischen Geschichte vier große Stufen mit jeweils anderem Zentralgebiet: vom Theologischen, zum Metaphysischen, zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen. Das jeweilige Zentralgebiet bestimmt alle anderen Gebiete, was Schmitt folgendermaßen erläutert:
Alle Begriffe und Vorstellungen der geistigen Sphäre: Gott, Freiheit, Fortschritt, die anthropologischen Vorstellungen von der menschlichen Natur, was Öffentlichkeit ist, rational und Rationalisierung, schließlich sowohl der Begriff der Natur wie der Begriff der Kultur selbst, alles erhält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentralgebietes und ist nur von dort aus zu begreifen.
Ebenda, S. 73.
Die Aufklärung liefert Hallaq zufolge ein weiteres Beispiel eines Paradigmas. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen stellt die Aufklärung ein Paradigma dar, eine Menge von geteilten Annahmen und Voraussetzungen, die ihr eine gewisse Einheit verleihen. Den Kern des Projekts der Aufklärung erkennt Hallaq in der Auflösung aller traditionellen Formen von Moral und Glauben durch eine kritische oder rationale Moralität. Die von allen äußeren Schranken befreite Vernunft sollte so den Grund für den Aufbau einer universellen Zivilisation legen. Darauf beruht sowohl der Liberalismus samt seinen Abkömmlingen Marxismus und Sozialismus als auch der neue Konservativismus. Dieses Projekt bildete das Zentralgebiet, durch das alle großen Probleme gelöst werden sollten. Und es bestimmt die europäische Kultur und Lebensweise bis heute in erheblichem Maße.
Hallaq stellt über den Begriff des Paradigmas zusammenfassend fest:
In unserem Verständnis des Paradigmas handelt es sich um ein System von Wissen und Praxis, dessen konstitutiven Bereiche eine bestimmte Struktur von Begriffen teilen, die sie von anderen Systemen der gleichen Art qualitativ unterscheiden. Während es zutrifft, dass die Probleme im Zentralgebiet Priorität gewinnen und die anderen Gebiete diesen Prioritäten unterordnen, so funktionieren alle diese Gebiete innerhalb eines Wissenssystems, das die Prioritäten innerhalb der peripheren Gebiete selbst prägt. (8)
Paradigmen stellen Felder von »Kräfteverhältnissen« dar, die widerstreitende und konkurrierende Diskurse und Strategien umfassen. Machtkämpfe entscheiden darüber, welches Gebiet die Vorherrschaft gewinnt und zum Zentralgebiet wird. Ein Zentralgebiet bleibt solange zentral, als die Kräfteverhältnisse den entsprechenden Konzepten und Werten erlauben, die Spielregeln und Machtverhältnisse innerhalb des Systems zu diktieren.
Gelingt es einer subversiven Kraft, das bestehende Paradigma umzustürzen und an dessen Stelle zu treten, wird sich das ehemalige Zentralgebiet in die subversiven Kräfte einreihen oder ganz verschwinden. Dieser Paradigmenwechsel wird von der modernen Geschichte mannigfaltig bezeugt, angefangen mit der Schaffung einer Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert und endend mit dem modernen bürokratischen Staat, modernen Kapitalismus und Nationalismus. Es kann daher von einem Paradigma des modernen Staates gesprochen werden.
Hallaq fährt nun damit fort, das Paradigma der islamischen Gouvernanz in Grundzügen zu skizzieren. Eine ausführliche Darstellung ist späteren Kapiteln vorbehalten.
1.3.4 Paradigma und islamische Gouvernanz
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre. Die paradigmatische Stellung der Scharia geht darauf zurück, dass sie ein moralisches Gefüge ist, in welchem dem Recht (im modernen Sinn) lediglich der Status eines Werkzeugs zukommt, das der Moral untergeordnet ist. Das Recht ist kein Zweck an sich, sondern Mittel im Dienst der Moral.
Die Scharia bildete das Zentralgebiet, nach dessen Maßgabe die anderen Gebiete beurteilt wurden und dessen Lösungen weitgehend die Lösungen der anderen Gebiete bestimmten. Das gilt für die Bestimmung der Prioritäten sowohl für die intellektuellen Bereiche wie etwa Bildung, Linguistik, Hermeneutik, Logik und Epistemologie wie auch für die praktischen Bereiche der Ökonomie und Politik. Das wirtschaftliche und politische Leben wurde dadurch nicht nur von technischen Regeln, sondern auch von einer umfassenden Ethik auf der Grundlage der Scharia zutiefst geprägt.
Das heißt freilich nicht, dass das Leben ideal gewesen wäre, sondern dass es bei allen Unzulänglichkeiten und Regelverstößen an den Zielen der Scharia als vorherrschendem moralischen Paradigma ausgerichtet war. Das individuelle wie gesellschaftliche Leben stand im Zeichen des Strebens nach der Erfüllung des moralischen Zwecks: dschihād (wörtl.: Streben). Das ist der wahre Gehalt dieses tiefen und oft so falsch verstandenen islamischen Begriffs. Es wäre daher ein grobes Missverständnis, das Anliegen einer Wiederbelebung der Scharia als moralischer Ressource mit dem rückwärtsgewandten Trachten nach der Restauration bestimmter Verhältnisse der Vergangenheit zu verwechseln.
Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, hält Hallaq es für erforderlich, zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Welche Bestandteile einer nun institutionell toten Scharia können als derartige moralische Ressourcen identifiziert werden? Zweitens: Wie kann eine solche Identifikation dem Vorwurf der Nostalgie entgehen?
Die erste Frage verlangt eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem modernen muslimischen Subjekt und der Scharia als einem Ordnungsgefüge, das zugleich moralisch, rechtlich, kulturell und zutiefst psychologisch ist. Das Projekt der Säkularisierung, das auf das Auseinanderbrechen dieses Gefüges zielte, hat sich als weitgehend erfolglos erwiesen und im Endeffekt sogar als Gegenreaktion den Aufstieg des Islamismus befördert. Bei aller Politisierung ist der Islamismus als gesellschaftliche Erscheinung mehr als eine Ablehnung der herrschenden Politik. Er ist auch Ausdruck einer moralischen Bewegung, die soziale Ungerechtigkeit, politische Korruption und die Vorherrschaft des Westens in moralischen Begriffen kritisiert.
Die heutigen Muslime beziehen sich, auch aufgrund der Einsicht in das Scheitern der Anwendung vor allem aus dem Westen importierter Modelle, auf ihre eigene Geschichte als Quelle moralischer Ressourcen, um den Herausforderungen des modernen Projekts zu begegnen. So gewinnt das Paradigma der islamischen Gouvernanz seine aktuelle Bedeutung. Es geht dabei eben nicht um die bloße Wiederherstellung der Scharia in der vermeintlichen Gestalt ihrer traditionellen Formen und Institutionen, sondern vielmehr um die Einsetzung der Scharia als Zentralgebiet des Moralischen in gleichzeitigem Widerstreit und Ergänzung zu konkurrierenden Paradigmen wie etwa dem der europäischen Aufklärung, die sich als unfähig erwiesen hat, auch nur die eigenen Probleme zu lösen.
Obgleich die Scharia in institutioneller Gestalt nahezu vollständig abgestorben und vielfach durch westliche Institutionen ersetzt worden ist, hat sie doch im Bewusstsein der Muslime weithin überlebt. Es ist unübersehbar, dass die Säulen des Islam keineswegs abgestorben sind. Die Scharia lebt fort in der alltäglichen Praxis der Muslime wie auch als Anspruch und Erinnerung des Strebens nach der Erfüllung des moralischen Ziels. Sie ist lebendig als moralische Ressource.
Die Säulen des Islam bestimmen weiterhin, was es heißt, Muslim zu sein. Daher rückt Hallaq ins Zentrum seiner Betrachtung dieser moralischen Ressourcen die »Technologien des Selbst« (Foucault), die in den Diskursen und Praktiken der Säulen in reichem Maße bereitgestellt werden.
Hallaq erläutert:
Der Bezug auf die Technologien des Selbst bedeutet daher keineswegs eine Wiederherstellung von vormodernen scharʿi-Institutionen, Praktiken oder gar Erziehung. Es handelt sich um ein moralisches Projekt ersten Ranges, einen Versuch, sich im Streben nach moralischer Orientierung auf das historische Selbst zurückzubeziehen. Es ist ein Projekt der moralischen Kritik, der moralischen Reflexion und der moralischen Substitution, d.h. es ist ein Projekt, das darauf zielt, moralischen Raum für das muslimische Subjekt in der modernen Welt zu finden, ein Subjekt, das von der Modernität nicht weniger desillusioniert wurde als seine oder ihre westliche Entsprechung. Die Wiederherstellung der islamischen moralischen Ressourcen ist deshalb so sehr ein modernes Projekt wie die Modernität selbst. Und als ein modernes Projekt ist sie auch zutiefst postmodern. Postmodernität, das sei klar gesagt, geht davon aus und erstrebt zugleich, die Modernität zu übersteigen, aber Modernität gleichwohl. (13-14)
1.3.5 Nostalgie und Fortschrittsideologie
Dieses Projekt der Suche nach moralischen Ressourcen wird dennoch, insbesondere von Anhängern der westlichen liberalen Tradition, zweifellos den Vorwurf ernten, nostalgisch und rückwärtsgewandt zu sein und daher keinen Platz in der modernen Welt zu verdienen. Dem ist zu erwidern, dass dieser Vorwurf auf einem Missverständnis und einer unhaltbaren Voraussetzung beruht.
Das Missverständnis besteht in der Unterstellung, es ginge darum, das Rad der Zeit zurückzudrehen und vergangene Verhältnisse wiederherzustellen. Das wäre in der Tat fruchtlose Nostalgie. Die Suche nach moralischen Ressourcen in einer Situation, in der sich die Probleme häufen, Lösungen äußerst rar und moralische Quellen – insbesondere in der westlichen Kultur – nahezu ausgetrocknet sind, zielt hingegen darauf ab, den Herausforderungen der Gegenwart durch die Wiederbelebung der übergreifenden und umfassenden Werte zu begegnen, die den Islam und seine Lebensweise paradigmatisch bestimmen. Wer von vornherein ausschließt, aus der Geschichte und von anderen lernen zu können, schätzt entweder seine eigene Lernfähigkeit sehr gering oder ergeht sich in narzisstischem Hochmut, der durch den Glauben an die eigene Überlegenheit kraft unübertrefflichen Fortschritts verblendet.
Damit wären wir bei der unhaltbaren Voraussetzung des Vorwurfes der Nostalgie. Denn dieser setzt die Doktrin des modernen Fortschritts voraus, die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweist. Der Glaube an den Fortschritt ist im europäischen Denken selbst längst erschüttert, und dennoch behält die Ideologie des Fortschritts ihre fesselnde Kraft. Das dürfte ihrer engen Verzahnung mit dem Aufstieg des Kapitalismus einerseits sowie des Westens zur Herrschaft über die Welt andererseits und ihrer legitimatorischen Funktion geschuldet sein, auf die auch heute keinesfalls verzichtet werden kann. Die eigene Gegenwart wird absolut gesetzt und allem anderen gegenüber für überlegen deklariert, so dass jeder historisch begründete Anspruch, welcher der einsinnigen Herrschaft dieses Fortschritts zuwiderläuft, von vornherein als ungültig und überholt abgewiesen werden kann.
Diese Ideologie erhebt sich damit selbst zur einzig möglichen Quelle für Ressourcen zur Problemlösung. Im Auge des Fortschritts werden alle Problem zu technischen Problemen, für die es immer neue technische Lösungen zu schaffen gilt. Da dies auch für die durch diesen Prozess selbst geschaffenen Probleme gilt, ist die Selbstzentrierung perfekt. Die zerstörerischen Folgen dieses Prozesses mögen sich als noch so katastrophal erweisen, so gibt es dennoch nie einen Grund, aus dem in sich geschlossenen Kreis des Fortschritts herauszutreten. Wer und was sich darin nicht einfangen lässt, gilt als reaktionär, irrational und fundamentalistisch. Gegenüber genuin moralischen Fragen ist diese Ideologie entgegen ihrem eigenen Anspruch blind, denn Moral und Verantwortung wurden längst in wissenschaftliche Erkenntnis und technisch-instrumentelle Manipulation im Dienst des unvermeidlichen Fortschritts verflüchtigt.
Hallaq bemerkt dazu:
Die Doktrin des Fortschritts hat daher weder Grundlage noch Bezug, außer jeweils in und auf sich selbst. Sie ist ihre eigene Quelle der Autorität, und in diesem Sinne ist sie ein Gott. Da er rational autonom ist, wie ja uns allen unterstellt wird, hat dieser Gott durch Wissenschaft und Vernunft bestimmt, dass den großen Fragen der Vergangenheit kein Gehör geschenkt werden kann, da sie überholt und für die Fortschritte der modernen Zivilisation, modernen Wissenschaft und Vernunft irrelevant sind, wobei letztere selbstverständlich universell sind. (16)
Die Doktrin des Fortschritts entspringt der modernen Geschichtsphilosophie. Die Aufklärung verleiht der Geschichte eine neue Struktur, die alle menschliche Erfahrung vom Urbeginn der Zeit an in einen linearen Prozess einspannt. Diese Struktur wird vom liberalen universalistischen Postulat determiniert, dass die geschichtlichen Erfahrungen aller Gesellschaften und Kulturen, von dem einen Geist getrieben, dem einen Zweck der fortschreitenden Vervollkommnung dienen.
Im Gegensatz zu vielen Kulturen, in denen die Geschichte komplex und vielschichtig im Sinne einer Eschatologie strukturiert ist, welche die Menschen mit sinnhaften Erzählungen versorgt, die moralische Entscheidungen zur Wahl stellen, besitzt die moderne Zeit eine einsinnige und homogene Struktur, die von Anbeginn an teleologisch auf den Gipfel des menschlichen Fortschritts in Gestalt der westlichen Moderne festgelegt ist. Indem alles vergangene und gegenwärtige Geschehen einschließlich Leid und Übel dadurch als notwendige Bedingung des Fortschritts und somit als vorherbestimmt erscheint, wird damit auch eine säkularisierte Theodizee geboten. Umgekehrt ist alles, was sich diesem unvermeidlichen Lauf widersetzt, zum unwiderruflichen Untergang verdammt. Nicht anders konnte das Schicksal jeder Kultur außerhalb der modernen europäischen verlaufen. Dieser Eurozentrismus durchzieht das gesamte moderne europäische Denken. Hegel wollte bezeichnenderweise gar die Erfüllung der Geschichte des Geistes im modernen Staat, namentlich dem preußischen, erkennen, der ihm als die endlich verwirklichte objektive Gestalt des absoluten Geistes erschien.
Hallaq beschließt dieses Kapitel mit folgenden Worten:
Mit dem Vorstehenden im Geiste fahren wir nun unter der Annahme fort, dass es legitim ist, jedes Zentralgebiet des Moralischen, aus Vergangenheit oder Gegenwart, in Anspruch zu nehmen, das uns eine Ressource der moralischen Wiederherstellung zu liefern vermag. Während die Vergangenheit materiell und institutionell abgestorben ist, sind es ihre moralischen Prinzipien nicht. Daher ist die Inanspruchnahme des Paradigmas der islamischen Gouvernanz ein ebenso plausibles und legitimes Projekt wie die Inanspruchnahme von Aristoteles, Thomas von Aquin oder Kant. Diese Inanspruchnahme wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen. (18)
1.4 Der moderne Staat
1.4 Der moderne Staat Yusuf KuhnWas ist der moderne Staat? So sehr die Realität des modernen Staates im gesellschaftlichen Leben spürbar ist, so unklar ist, was ihn eigentlich ausmacht. Die herausragenden Denker, die sich mit dieser Frage befasst haben, sind allesamt zu ganz unterschiedlichen Antworten gekommen. Es ist kaum übertrieben festzustellen, dass es ebenso viele Theorien über den Staat gibt wie Theoretiker, die sich auf die Suche nach dem Wesen des Staates gemacht haben. Jeder Staatstheoretiker hat in seiner jeweiligen Konzeption einen anderen Aspekt unter Ausschluss oder zumindest Marginalisierung anderer Aspekte ins Zentrum gerückt: so etwa Weber das Bürokratische, Kelsen das Rechtliche, Schmitt das Politische, Marx das Ökonomische, Gramsci das Hegemonische und Foucault das Kulturelle.
Hallaq führt diese große Uneinigkeit darauf zurück, dass jeweils eine bestimmte Perspektive gegenüber anderen bevorzugt wird. Das Phänomen des Staates erscheint so in jeweils unterschiedlichem Licht. Hallaq wählt daher hingegen einen synthetischen Ansatz, der verschiedene Perspektiven mehr oder weniger kohärent zusammenfasst:
Für unsere Zwecke, zwangsläufig ebenso perspektivistisch, bleiben alle diese und verschiedene andere Theorien sehr nützlich, und wir werden uns deshalb darauf stützen.
Darüber hinaus muss unsere Betrachtung des Staates weder umfassend noch erschöpfend sein, obgleich es wichtig ist, dass wir keine Eigenschaften des Staates übersehen, die entweder ihm inhärent oder notwendig für unsere Frage nach dem islamischen Staat sind. Denn das Fehlen einer solchen Eigenschaft in unserer Betrachtung könnte offensichtlich der Einschätzung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieses Staates abträglich sein. (20-21)
Hallaq unterscheidet deshalb zwischen der Form und dem Inhalt des Staates, wobei der Inhalt als Variable und die Form als fundamentale Struktur betrachtet wird. Als fundamental gelten Strukturen oder Eigenschaften, die der Staat in der Realität für mindestens ein Jahrhundert besessen hat und ohne die er, da sie so wesentlich sind, nie als Staat hätte betrachtet werden können. Als Maßstab fungiert also der reale, existierende und paradigmatische Staat, nicht ein utopischer oder futuristischer. Unter dem wechselhaften Inhalt des Staates wird hingegen beispielsweise verstanden, welche Gruppe samt ihrer spezifischen Ideologie den Staat jeweils kontrolliert, wie etwa Liberale, Kommunisten, Oligarchen usw., ohne jedoch die Form des Staates zu verändern.
Der Staat muss als Produkt einer besonderen Geschichte aufgefasst werden, nicht als ahistorisches Wesen. Diese historische Abkunft gehört vielmehr selbst zum Wesen des Staates. Die Geschichte eines Staates ist der Prozess, durch den der Staat sich sowohl als abstraktes Konzept als auch als eine Menge von Praktiken herausbildet.
Als Voraussetzung dafür, dass ein Gemeinwesen die paradigmatischen Eigenschaften des modernen Staates erwirbt, muss es über die Mittel verfügen, Gesellschaft und Kultur in einer Weise zu durchdringen, die dazu geeignet ist, die Subjekte des Staates zu formieren. Ein voll herausgebildeter moderner Staat muss über die Fähigkeit verfügen, eine besondere Subjektivität hervorzubringen, nämlich den Staatsbürger (engl. citizen, franz. citoyen).
Hallaq betont wiederholt den historischen Charakter seiner Untersuchung. Dies gilt auch für die Unterscheidung von Form und Inhalt des Staates, so dass es beispielsweise durchaus möglich ist, dass ein bestimmter Inhalt sich in eine Formeigenschaft verwandelt und damit den Charakter des Staates grundlegend verändert. Hallaq wählt daher als Bezugspunkt für die Frage nach der Möglichkeit eines islamischen Staates den modernen Staat, wie er sich historisch entfaltet hat:
Die Frage – wiederum gestellt aus der Perspektive der Befassung mit dem islamischen Staat – setzt vielmehr einen besonderen Verlauf voraus, in dem das Paradigma des Staates bestimmte konstitutive Eigenschaften erfordert, die in der historischen Realität für das regelmäßige Funktionieren und die Existenz des modernen Staates wesentlich blieben. […] Aber wenn davon die Rede sein soll, wie ein islamischer Staat in der Gegenwart oder voraussehbaren Zukunft aussehen könnte, müssen wir die Tatsachen im realen Zusammenhang betrachten, wie sie für ein Jahrhundert oder länger wirklich bestanden haben. (22-23)
Vor diesem Hintergrund führt Hallaq nun fünf Formeigenschaften des modernen Staates an, ohne die er unter den historischen Voraussetzungen nicht vorstellbar ist:
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seine Konstitution als historische Erfahrung, die spezifisch und lokal ist;
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seine Souveränität und die dadurch hervorgebrachte Metaphysik;
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sein Monopol über die Gesetzgebung und über die damit verbundene legitime Gewalt;
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seine bürokratische Maschinerie;
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seine kulturell-hegemoniale Durchdringung der Gesellschaftsordnung einschließlich der Erzeugung des nationalen Subjekts.
Die Nation als politische Gemeinschaft und politisches Konzept wie auch die Bildung und die Bildungseinrichtungen der Nation sind von wesentlicher Bedeutung für diese kulturelle Hegemonie.
Diese fünf Eigenschaften werden zwar getrennt erörtert, müssen aber in einem unlösbaren Zusammenhang betrachtet werden, da sie sich gegenseitig beeinflussen und bedingen.
1.4.1 Der Staat ist ein spezifisches historisches Produkt
Der moderne Staat ist das Produkt der besonderen europäischen Geschichte. In Europa wurde er geschaffen und entwickelte er sich, so dass der paradigmatische Staat bis heute in Europa verortet ist. Er entstand auf der Grundlage paradigmatischer Wandlungen im 18. und 19. Jahrhundert, die aus ebenso radikalen wie raschen Veränderungen der Ökonomie, Technologie, Gesellschaftsordnung, Politik, Regierungsform und auch des Geistes hervorgingen.
Dazu zählt die gewaltige Bewegung der Aufklärung, die, obgleich sie Einflüssen aus dem islamischen Denken viel zu verdanken hat, gleichwohl europäischen Ursprungs ist. Aufklärung und Staat standen stets in einem engen Wechselverhältnis. Die Aufklärung trug nicht nur entscheidend zur Entstehung des modernen Staates bei, sondern lieferte auch dessen ideologische Rechtfertigung.
Durch die Verknüpfung des Begriffs des Staates mit den Theorien von Fortschritt, Rationalismus und Zivilisation erschien der moderne Staat im Lichte der Zeitlosigkeit und Universalität. Der Fortschritt der Menschheit schlechthin sollte in ihm seinen unvermeidlichen Höhepunkt erreichen. In Europa herrschte die Überzeugung, dass der wahrhaft zivilisierte Mensch in den Grenzen des Systems moderner Staaten lebt, während der »Rest« aus bedauernswerten Wilden, Stämmen, Barbaren und anderen Untermenschen besteht. Die Entwicklung zum modernen Staat folgte dieser Ideologie zufolge, ob metaphysisch wie beispielsweise bei Hegel oder positivistisch wissenschaftlich begründet, historischen Gesetzen mit universeller Gültigkeit. Der Staat galt als Objektivierung der Vernunft.
Diese ideologische Konstruktion des modernen Staates gehört zu dessen Formeigenschaften. Und sie ist ebenso historisch erwachsen wie der Staat selbst.
Hallaq stellt pointiert fest:
Die Geschichte des Staates ist der Staat, denn es gibt nichts im Staat, das der Zeitlichkeit entkommen kann. Er ist daher ein historisches Produkt eines besonderen, kulturspezifischen Ortes: Europa, Nordamerika – nicht Südamerika, nicht Afrika, nicht Asien. (24-25; Hervorhebung im Original)
1.4.2 Souveränität und ihre Metaphysik
Der Begriff der Souveränität ist eine der Formeigenschaften, die den modernen Staat bei allem Wandel seit über zweihundert Jahren kennzeichnen. Als abstrakter Begriff ist er wesentlicher Bestandteil seiner ideologischen Struktur und Rechtfertigung.
Die begriffliche Konstruktion der Souveränität kreist um den fiktiven Begriff der Repräsentation des Willens der Nation. Die Nation, die den Staat verkörpert, ist der alleinige Urheber ihres eigenen Willens und Schicksals. Damit diese Vorstellung historisch zum Durchbruch kommen konnte, bedurfte es der besonderen Bedingungen Europas, nämlich den Bruch mit der Tyrannei, wie sie sich paradigmatisch in der Französischen Revolution vollzog. Die Vorstellung des Willens der Nation als Herr ihres eigenen kollektiven Schicksals gehört mithin ebenso zu den Formeigenschaften des modernen Staates.
Souveränität bedeutet nach außen, auf der internationalen Ebene, dass die Staaten wechselseitig ihre jeweilige Souveränität anerkennen, die sie innerhalb ihrer Grenzen und als legitime Repräsentation ihrer Nation ausüben. Nach innen bedeutet sie, dass es keine höhere Ordnung gibt als die des Staates. Sein Recht ist das Recht des Landes. Als Ausdruck des souveränen Willens lässt sie es nicht zu, dass eine höhere Ordnung gegen sie in Anspruch genommen wird. Da es in diesem Rahmen mithin keine moralische Grundlage für eine Herausforderung der souveränen Herrschaft gibt, kann jegliche grundsätzliche Herausforderung nur auf Gewalt basieren, die sich auf einen alternativen Volkswillen und damit auf eine alternative Souveränität beruft. Die Legitimität einer solchen Ablösung der alten Ordnung hängt dann einzig vom Erfolg des Gewalteinsatzes ab, ohne den keine alternative Konstitution möglich ist. Gewalt ist daher unerlässlich und bildet eine notwendige Bedingung für die innere Souveränität des Staates.
Für die Entstehung von Souveränität bedarf es nicht nur eines Staates, sondern auch des imaginären Konstruktes der Nation. Aufgrund seiner Souveränität ist der Nationalstaat ausschließlich das Produkt seiner selbst. Er schafft sich kraft seiner konstitutionellen Gewalt selbst, was ihm in der Folge die ausschließliche Durchsetzung und Anwendung seines Rechts erlaubt. Er ist in diesem Sinne durchaus mit der Creatio ex nihilo (Schöpfung aus nichts) als reinem Ausdruck des göttlichen Willens vergleichbar.
Der Staat als Erbe des Begriffs der göttlichen Souveränität maßt sich eine Reihe von deren Eigenschaften an: Allmacht, Allgegenwart, Monopol der Gesetzgebung usw. Und er erhebt vor allem auch den normativen Anspruch der Identifikation der staatsbürgerlichen Subjekte mit ihm.
Somit läuft die Identifikation des Selbst mit dem Souverän darauf hinaus, das Subjekt durch den souveränen Willen zu betrachten und zu formen, der wiederum als Quelle sowohl des Rechtes wie auch der Nation gilt, die als Kollektivität wiederum im Spiegel des Rechts geformt wird. Das Recht, das den souveränen Willen widerspiegelt, und mithin der Wille, der das Subjekt erschafft und nach seinem eigenen Bild formt, ist wenig mehr als ein Ersatz und Stellvertreter für den christlichen Begriff des Willens.
Carl Schmitt hat dies mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht:
Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur [...]
Carl Schmitt, Politische Theologie, München und Leipzig, 1922, S. 37.
Der Nationalstaat ist weder ein Mittel zu einem Zweck, noch verfolgt er selbst einen höheren Zweck als seine eigene Existenz. Er verkörpert den höchsten Zweck, dem alle anderen zu opfern sind. Die Überlegenheit des Staates als höchster Wert, die der Staatsbürger stets zu respektieren hat, ist diesem nicht äußerlich.
Hallaq führt dazu aus:
Es gibt nichts im Willen des paradigmatischen Staatsbürgers, das außerhalb des Willens des Souveräns ist, da der letztere Wille […] nicht nur den individuellen Willen subsumiert, sondern auch alle anderen Willen. Aber das ist nicht alles: Der Staatsbürger selbst steht nicht darüber, für diesen höchsten Zweck geopfert zu werden. Der Staatsbürger ist in der Tat der Archetyp und die vollste Manifestation des Opfers, denn es gibt nichts Wertvolleres als das Leben außer dem Nationalstaat, die Sache sui generis, die legitimerweise das höchste Opfer verlangen und erhalten kann. Ein Staatsbürger zu sein, bedeutet daher, unter einem souveränen Willen zu leben, der über seine eigene Metaphysik verfügt. Das heißt, mit und unter noch einem anderen Gott zu leben, einem, der das Leben der Gläubigen fordern kann. (28)
1.4.3 Gesetzgebung, Recht und Gewalt
Die bedeutendste paradigmatische Manifestation der Souveränität des modernen Staates besteht darin, Recht zu setzen. Als Ausdruck des souveränen Willens ist der Staat der gottgleiche Gesetzgeber. Hallaq schreibt:
Wenn Souveränität zum Wesen des Staates gehört, dann ist die Fähigkeit, Recht zu erzeugen, eine weitere damit verwandte Wesenseigenschaft, ein Attribut, ohne das kein Staat weiterhin als Staat betrachtet werden kann. (29)
Nach Hans Kelsen geht die traditionelle Staatslehre davon aus, dass der Staat aus drei Elementen besteht: Territorium, Volk und Macht.
Da der moderne Staat durch den souveränen Willen geschaffen wird und dieser souveräne Wille sich selbst durch das Recht manifestiert, wird die Durchsetzung des Rechts zur Realisierung dieses Willens. Und da der Staat und somit das Recht, das er ist, sein eigener Zweck ist, also kraft seiner Konstitution keine höhere Ordnung kennt, werden die Grenzen der Gewalt ausschließlich vom Staat gesetzt. Das exklusive Recht, Gewalt auszuüben und zur Durchsetzung des souveränen Rechtswillens mit ihrem Einsatz zu drohen, gehört zu den wesentlichsten Eigenschaften des modernen Staates.
Hallaq merkt pointiert an:
Der Staat ist der höchste Akteur bei der Rechtfertigung von Gewalt, denn selbst wenn angenommen würde, dass irgendeine gottgebotene Strafe angewendet oder eingeführt werden sollte, würde sie als eine Wahl des Staates, als Ausdruck seines Willens eingeführt werden. Hier ist es der Staat, der den göttlichen Willen ratifiziert, nicht umgekehrt. Hier steht, noch deutlicher ausgedrückt, der Staat als Gott der Götter. Wenn, wie wir gesehen haben, der souveräne Wille der neue Gott ist, dann gibt es keinen Gott außer dem Staat. (30)
1.4.4 Die rationale bürokratische Maschine
Es gibt wohl kaum eine weniger umstrittene Charakterisierung des modernen Staates als folgende von Max Weber:
Den Staatsbegriff empfiehlt es sich, da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend – aber wiederum: unter Abstraktion von den, wie wir ja gerade jetzt erleben, wandelbaren inhaltlichen Zwecken – zu definieren. Dem heutigen Staat formal charakteristisch ist: eine Verwaltungs- und Rechtsordnung, welche durch Satzungen abänderbar ist, an der der Betrieb des Verbandshandelns des (gleichfalls durch Satzung geordneten) Verwaltungsstabes sich orientiert und welche Geltung beansprucht nicht nur für die – im wesentlichen durch Geburt in den Verband hineingelangenden – Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln (also: gebietsanstaltsmäßig). Ferner aber: daß es »legitime« Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt oder vorschreibt (z.B. dem Hausvater das »Züchtigungsrecht« beläßt, einen Rest einstmaliger eigenlegitimer, bis zur Verfügung über Tod und Leben des Kindes oder Sklaven gehender Gewaltsamkeit des Hausherrn). Dieser Monopolcharakter der staatlichen Gewaltherrschaft ist ein ebenso wesentliches Merkmal ihrer Gegenwartslage wie ihr rationaler »Anstalts«- und kontinuierlicher »Betriebs«-Charakter.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, in: Max Weber, Gesammelte Werke, S. 1499-1500, http://www.digitale-bibliothek.de/band58.htm.
Eine herrschende bürokratische Struktur ist eine wesentliche Eigenschaft des modernen Staates. Darin stimmen nahezu alle Theoretiker mit Weber überein.
In Webers politischer Soziologie besitzt die Verwaltungsordnung, die selbst Teil und Erweiterung der Rechtsordnung ist, eine eigentümliche rationale Herrschaftsform. Die zentralen Eigenschaften dieser Herrschaft sind die Prinzipien des Voluntarismus und der Systematisierung.
Voluntarismus bedeutet, dass die Schaffung der politischen Organisation auf rationaler Grundlage geschieht, was den Einfluss von Tradition und Religion ausschließt. Diese Rationalität rechtfertigt beliebige Veränderungen jeder bestehenden Ordnung und erzeugt so ein hohes Maß an Kontingenz und Willkürlichkeit.
Die Systematisierung wiederum zielt auf die Berechenbarkeit und Standardisierung der Verwaltungsordnung. Die unpersönliche Struktur der bürokratischen Herrschaft trägt aufgrund ihrer Rationalität zur Gleichbehandlung aller Bürger bei. Weber hat jedoch dabei die komplexen Beziehungen zwischen der herrschenden Elite einerseits und den rechtlichen und bürokratischen Strukturen andererseits nicht angemessen berücksichtigt. Die Bürokratie wird vielmehr, wie der Staat insgesamt, in den Dienst der herrschenden Klasse gestellt, die damit die Unterdrückung und Ausbeutung der »niederen« Klassen aufrechterhält. Hallaq führt aus:
Bürokratie ist das Werkzeug und Instrument der Verwaltung, und Verwaltung im modernen Staat ist die Organisation von Kontrolle, Regierung, Gouvernementalität
und Gewalt. (32)
Die staatliche Bürokratie reguliert nicht nur die Verwaltung selbst, sondern übt einen weitreichenden Einfluss auf die gesamte Gesellschaft und jeden Einzelnen aus, von der Geburt bis zum Tod über Schule, Bildung, Gesundheitsversorgung, Sicherheit, Steuern, Arbeit, öffentliche Einrichtungen und Unterhaltung, um nur ein paar Bereiche zu nennen. Hallaq schreibt dazu:
Die Bürokratie dringt nicht nur in die Privatsphäre und Zivilgesellschaft ein, sondern – und von großer Bedeutung für uns – ordnet und setzt die Maßstäbe für die Gemeinschaft. […] Die Bürokratie erzeugt daher ihre eigene Gemeinschaft, die Gemeinschaft des Staates. (33)
1.4.5 Kulturelle Hegemonie oder die Politisierung des Kulturellen
Hallaq bezieht sich hier besonders auf Foucault, mit dem er betont, dass es erforderlich ist, nicht nur die Funktionsweise des Staates und seiner Organe zu untersuchen, sondern darüber hinaus sowohl den Diskurs der ideologischen Rechtfertigung des Staates selbst zu entmythologisieren als auch den Bereich der Kultur in die Analyse einzubeziehen. Denn hier ist das Feld, auf dem sich Staat und Kultur/Gesellschaft gegenseitig dialektisch erzeugen (Gouvernementalisierung) und durch den zunehmend ausgreifenden Einfluss des Staates auf die kulturelle Ordnung bestimmte Arten von Subjektivität produziert und reproduziert werden. Die Gesellschaft kann daher nicht als vom Staat getrennt betrachtet werden.
Diese dialektische Beziehung von Staat und Kultur ist eine wesentliche Formeigenschaft des Staates. Der innere Zusammenhalt und die Stärke jedes Staates hängt in erheblichem Maße nicht nur von seiner Fähigkeit ab, die Gesellschaft zu organisieren, was bereits durch seine Konstitution erfolgt, sondern auch von seiner Macht, sie kulturell zu durchdringen. Da innerhalb des Staates keiner Instanz eine autonome Autorität zuerkannt werden darf, hat der europäische Staat alle unabhängigen Wesenheiten zerstört. Hallaq legt dar:
Die Vernichtung solcher internen Entitäten ist freilich der erste konkrete Schritt in der »kulturellen« Durchdringung des Staates, wie sich an den klassischen Beispielen des Aufstiegs des englischen und französischen Staates seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert zeigt. Die kulturelle Durchdringung setzt die Zerstörung (und Rekonstitution) der traditionellen vorstaatlichen soziokulturellen Einheiten voraus, und beide sind daher sukzessive Stadien, durch die der souveräne Wille sich selbst manifestiert. (34)
Kultur und Gesellschaft eine Unabhängigkeit oder gar Autonomie gegenüber dem Staat zuzuschreiben, widerspricht dem Wesen des souveränen Willens, der sich im modernen Staat manifestiert. Diesen falschen Schein als ideologische Rechtfertigung des Staates zu erzeugen, ist die Aufgabe von politischer Philosophie und Wissenschaft, die selbst Teil des Staates sind.
Soviel die politische Wissenschaft auch tut, so trägt sie zur Legitimierung des Staates und seines ideologischen Apparates bei, indem sie den Staat erforscht – oder zu erforschen behauptet. Dieses legitimierende wissenschaftliche Projekt exemplifiziert eben das hier behandelte Thema: dass durch staatliche Schulen und eine Erziehung, die durch staatliches Recht reguliert wird – was frühere Formen zerstört -, eine paradigmatische wissenschaftliche Elite als ein kultureller Bereich geschaffen und aufrechterhalten wird, der für die allumfassende Durchdringung der Gesellschaftsordnung durch den Staat empfänglich ist.
1.4.6 Verflechtungen
Hallaq betont abschließend zwei Punkte.
Erstens: Die erörterten Formeigenschaften besitzt der Staat zweifellos tatsächlich; kein paradigmatischer Staat kann ohne sie bestehen.
Zweitens: Diese Formeigenschaften sind strukturell derart miteinander verwoben, dass sie wechselseitig aufeinander einwirken. Hallaq erläutert:
Dass sie in einer wechselseitig dialektischen Beziehung stehen, ist nicht nur offensichtlich, sondern auch wesentlich für die fortgesetzte Existenz des modernen Staates und sein regelmäßiges Funktionieren. (36)
1.5 Gewaltenteilung: Herrschaft des Rechts oder Herrschaft des Staates?
1.5 Gewaltenteilung: Herrschaft des Rechts oder Herrschaft des Staates? Yusuf KuhnEs hat sich gezeigt, dass der paradigmatische moderne Staat Politik, Recht und Gesellschaft zu einer eng verwobenen Einheit zusammenschweißt. Er ist überall, und nichts ist außerhalb seiner.
Hallaq argumentiert nun, dass diese Einheit nicht den Kriterien der islamischen Gouvernanz entspricht. Denn die Instanzen, die im Rahmen der islamischen Gouvernanz das Politische und Gesellschaftliche regeln, sind nicht so eng miteinander verflochten wie im modernen Staat.
Der moderne Staat bildet trotz aller relativen Heterogenität und inneren Konflikte eine strukturelle Einheit, die vom Recht als Ausdruck des souveränen Willens durchdrungen wird. Die Verteilung der rechtlichen Macht erreicht alle Elemente, aus denen sich der Staat zusammensetzt. Daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Recht als normativer Ordnung und den Institutionen als dessen Verkörperung, die auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekution seiner spezifischen Normen spezialisiert sind.
Es gilt daher, die Theorie und Praxis zu untersuchen, die sich in der sogenannten Gewaltenteilung manifestiert. Hallaq geht es dabei nicht um eine umfassende Darstellung, sondern lediglich darum, die strukturellen Probleme aufzuzeigen, auf die bereits viele Verfassungsrechtler hingewiesen haben:
Wenn es sich herausstellen sollte, dass die Probleme im westlichen Konzept der Teilung [der Gewalten] strukturell und vielfältig sind, dann können wir zu Recht sagen, dass Muslime, wie auch weitere nicht-westliche Andere, diesem Konzept mit der gebührenden Vorsicht begegnen sollten. (39)
1.5.1 Gewaltenteilung im Nationalstaat
In der modernen Staatstheorie wird gemeinhin vorgebracht, dass die Trennung der drei Staatsgewalten – Legislative, Judikative, Exekutive – die Grundlage von Freiheit, Demokratie und Verfassungsstaat bildet. Durch die wechselseitige Unabhängigkeit dieser Gewalten soll die Herrschaft des Rechts sichergestellt werden. Dafür ist neben der völligen Unabhängigkeit der Legislative auch erforderlich, dass sie ihre Befugnisse nicht an andere Organe, insbesondere die Exekutive, überträgt. Nur durch eine klare Bestimmung dieser Gewaltentrennung kann ein Staat daher konstitutionell und demokratisch sein.
In der am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündeten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) heißt es daher in Artikel 16 sogar:
Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.
Siehe den Wikipedia-Eintrag Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: https://de.wikipedia.org/wiki/Erkl%C3%A4rung_der_Menschen-_und_B%C3%BCr…
Hallaq fügt beiläufig, aber trefflich an:
Es sei zugleich festgestellt, dass diese geläufige Konzeption des Verhältnisses zwischen Demokratie und der staatlichen Herrschaft des Rechtes nie dazu fähig ist, solche Phänomene wie das Dritte Reich, Israel und die südafrikanische Apartheid richtig zu erklären, die allesamt starke Formen der Herrschaft des Rechtes darstellen. (39)
Wenn diese Staatstheorie ihren Ansprüchen gerecht werden könnte, wäre sie auch für Muslime als Ausgangspunkt für den Aufbau eines islamischen Staates von Interesse, da sie in Einklang mit den vormodernen islamischen Regierungsformen stünde und daher eine Anknüpfung an die eigene Tradition erlaubte. Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, dass die Rhetorik und Theorie der Gewaltenteilung keineswegs der realen Praxis entspricht. Sie verschleiert vielmehr eine Wirklichkeit, in der die Trennung ebenso problematisch erscheint wie die Behauptung, dass sie Grundlage einer demokratischen Regierung sei.
Hallaq führt nun eine ganze Reihe von Staatswissenschaftlern an, welche die in der Theorie und Praxis der Gewaltenteilung angelegten begrifflichen Probleme erkannt, anerkannt und beschrieben haben. Dabei ist die Rede von »notorischen Schwierigkeiten« bis hin zu völligem Versagen.
Die Probleme entspringen letztlich der strukturellen Einheit des Nationalstaats, wie sie oben beschrieben wurde und die sich in der vormodernen islamischen Gouvernanz nie herausgebildet hat. Die Vorstellung der gegenseitigen Kontrolle der drei Staatsgewalten zum Zweck der Machtbegrenzung führte, da eine vollständige Trennung in den Strukturen des modernen Staates offenkundig unmöglich ist, in das Dilemma der Verbindung von Trennung und Einheit. Da es sich nur noch um die Frage des Maßes der Trennung handeln konnte, wurde anstelle von Gewaltenteilung immer mehr von Gewaltenverschränkung gesprochen.
Wie viele andere Kritiker hat daher Hans Kelsen sich dafür ausgesprochen, dass der Begriff der Gewaltenteilung ungenau und falsch ist, da das Verhältnis der drei Gewalten eher durch Verteilung bestimmt ist. Denn es kann kaum von einer Trennung der Legislative von anderen Funktionen des Staates gesprochen werden. Die Legislative hat kein Monopol über die Gesetzgebung, sondern ist lediglich darauf spezialisiert. Das gilt entsprechend genauso für die beiden anderen Gewalten. Von einer echten Trennung der Staatsgewalten in der politischen Theorie und Praxis der westlichen Staaten zu sprechen, ist aufgrund ihrer realen Verschränkung vielmehr eine Übung in ideologischer Fiktion. Die Beispiele dafür sind Legion, und Hallaq listet eine ganze Reihe auf, worauf wir hier verzichten wollen.
Es sei nur stichwortartig auf die Rolle der immer mächtiger werdenden Verwaltung als geradezu vierter Gewalt im Verwaltungsstaat, die Einbettung der Richterschaft als Teil der herrschenden Elite in den Staatsapparat und der Parteienpolitik bei der zunehmenden Aushöhlung der Gewaltenteilung hingewiesen.
Hallaq fasst die Ergebnisse der Betrachtung von verschiedenen Beispielen der realen Verschränkung und Verstrickung der Staatsgewalten in mehr allgemeinen Aussagen zusammen:
Die vorstehenden Merkmale, die wir beschrieben haben, führen auf zwei Hauptpunkte zurück. Erstens: Die gesetzgebende Gewalt schafft nicht alle allgemeinen Normen der Staatsordnung; sie wird nur deshalb gesetzgebend genannt, weil sie ein Organ ist, das sich auf die Schaffung allgemeiner Normen spezialisiert hat. Zweitens: Ein Großteil der Gesetzgebung von allgemeinen und besonderen Normen entspringt außerhalb des Bereichs der legislativen Gewalt, nämlich in der Exekutive und Judikative. […] Wenn der souveräne Wille im Recht verkörpert ist, dann ist die Legislative (vermeintlich das Organ, das den Ausdruck dieses Willens in Gesetze formt) nicht dessen Sprecher im vollen Sinne des Wortes. Denn unter diesem System des souveränen Willens wird beispielsweise die Exekutive mit einer inkompatiblen Dualität ausgestattet: Gesetze zu erlassen und ihre eigene Gesetzgebung zu vollziehen. In dieser Hinsicht hat sie vieles gemeinsam mit der judikativen Gewalt, die eine ähnliche Rolle ausführt: Sie schafft Normen durch Präzedenz, hebt Gesetzgebung durch gerichtliche Überprüfung auf (was »negative Gesetzgebung« genannt wurde) und vollzieht sodann eine Kehrtwendung, um über Fälle auf der Basis eines Rechts, das sie teilweise selbst geschaffen hat, gerichtlich zu urteilen, und schreitet fort, Sanktionen zu erlassen. (46-47)
Die Praxis und selbst die Theorie der Gewaltenteilung werfen tiefe Fragen auf. Wie kann die Legislative als Vertretung der Souveränität des Volkes und des souveränen Willens nicht das alleinige gesetzgebende Organ des Staates sein? Wie können gesetzgebende Funktionen an Organe übertragen werden, deren Aufgabe darin besteht, das Recht anzuwenden und zu vollziehen? Wie kann derart Machtbegrenzung als eigentlicher Zweck der Trennung der Gewalten erreicht werden?
Die reale Entwicklung im modernen Staat führt indessen zu einer immer weiteren Konzentration der Macht in den Händen der Exekutive. Hallaq stellt daher fest:
Die grundsätzliche Frage ist: Wie kann es eine Herrschaft des Rechts geben, wenn eine Exekutive und eine Judikative ermächtigt werden, allgemeine Normen als Gesetze zu erlassen? Zumindest muss der Anspruch auf die Herrschaft des Rechts in Frage gestellt werden und damit der Anspruch auf Demokratie. (47-48)
Hallaq meint, dass dieses Paradox vielleicht niemand besser erfasst hat als Hans Kelsen, von dem er ein etwas längeres Zitat anführt, dessen Aussage ihn durch ihre außergewöhnliche Schärfe besticht und für das im weiteren Verlauf des Kapitels verhandelte Thema von unmittelbarer Relevanz ist:
Das Prinzip der Gewaltentrennung wörtlich verstanden oder interpretiert als ein Prinzip der Teilung der Gewalten ist nicht wesenhaft demokratisch. Der Idee der Demokratie entspricht im Gegenteil der Begriff, dass alle Gewalt im Volk konzentriert sein sollte; und wo nicht direkte, aber indirekte Demokratie möglich ist, dass alle Macht von einem einzigen Kollegiatsorgan ausgeübt werden sollte, dessen Mitglieder vom Volk gewählt sind und das dem Volk gesetzlich verantwortlich sein sollte. Wenn dieses Organ nur gesetzgebende Funktionen hat, sollten die anderen Organe, welche die vom gesetzgebenden Organ erlassenen Normen zu vollziehen haben, letzterem verantwortlich sein, auch wenn sie selbst ebenfalls vom Volk gewählt sind. Es ist das gesetzgebende Organ, dem es am meisten an einer strikten Vollziehung der generellen Normen, die es erlassen hat, gelegen ist. Kontrolle der Organe der exekutiven und judikativen Funktionen durch die Organe der legislativen Funktionen entspricht dem natürlichen Verhältnis, das zwischen diesen Funktionen besteht. Folglich erfordert Demokratie, dass dem legislativen Organ Kontrolle über die administrativen und judikativen Organe gegeben werden sollte. Wenn die Trennung von der gesetzgebenden Funktion von den gesetzanwendenden Funktionen oder einer Kontrolle des gesetzgebenden Organs durch die gesetzanwendenden Organe und insbesondere wenn die Kontrolle der legislativen und administrativen Funktionen durch die Gerichte von der Verfassung einer Demokratie vorgesehen ist, kann dies nur durch historische Gründe erklärt, nicht als spezifisch demokratische Elemente gerechtfertigt werden.
Hans Kelsen, General Theory of Law and State. Cambridge, 1945, S. 282 (Übersetzung ins Englische von Anders Wedberg; deutsches Original unveröffentlicht); Hervorhebungen von Wael Hallaq.
1.5.2 Das Paradigma der islamischen Gouvernanz
Es hat nie einen islamischen Staat gegeben. Der Staat ist modern [...]. (48)
So beginnt Hallaq seine Erörterung der islamischen Gouvernanz. Mit »modern« ist hier nicht so sehr ein Abschnitt der Geschichte gemeint, sondern vielmehr eine »bestimmte Struktur von Verhältnissen« (48), die den Staat zu einem einzigartigen Phänomen machen. Dadurch ist der Staat von allen seinen »Vorgängern« und insbesondere der islamischen Gouvernanz grundsätzlich, strukturell und qualitativ unterschieden.
Die islamische Gouvernanz und der moderne Staat ruhen auf jeweils völlig unterschiedlichen rechtlichen, politischen, sozialen und metaphysischen Grundlagen. An der Stelle der Nation des modernen Staates steht die umma (Gemeinschaft), die in ihrer ideellen wie realen Gestalt von moralisch-rechtlichen Begriffen bestimmt und begrenzt wird, die in der Scharia zusammengefasst sind. Jedes Gebiet, auf dem die Scharia als paradigmatisches moralisches Recht angewandt wird, gilt als islamisch. Die Scharia gehört zum Wesen des Islam.
1.5.2.1 Souveränität im Lichte der Scharia
Der Nationalstaat ist als Verkörperung des souveränen Willens Selbstzweck. Die Gemeinschaft (umma) und ihre Mitglieder sind hingegen Mittel zu einem höheren Zweck und verfügen nicht über Souveränität und einen autonomen politischen oder rechtlichen Willen. Denn der Souverän ist Gott allein.
Die Gemeinschaft besitzt zwar die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Diese beschränken sich aber auf die Interpretation allgemeiner moralischer Prinzipien, die sich als Repräsentation des göttlichen moralischen Willens der Verfügung der Gemeinschaft entziehen. Die Scharia hat als Ausdruck dieses souveränen Willens die moralischen Prinzipien durch ein moralisch gegründetes Recht artikuliert.
Die Gemeinschaft besteht aus der Gesamtheit der Gläubigen, die als solche alle vor Gott und untereinander gleich sind. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft wie auch mit anderen Gruppen sind nicht durch äußerliche Faktoren wie Abstammung, Reichtum oder soziale Stellung bestimmt, sondern in erster Linie durch den Glauben, der das Wissen einschließt, dass die moralischen Werte, auf denen er gründet, von Gott als dem einzigen Souverän aufgestellt werden. Gott ist der höchste Zweck, dem gegenüber das irdische Dasein in seiner Vergänglichkeit seine höhere Bedeutung lediglich dadurch gewinnt, dass es in den kosmischen Zusammenhang der göttlichen Schöpfung eingebunden ist.
Der »Staat« oder vielmehr die sultanische Exekutive, wie Hallaq sagt, ist der Gemeinschaft und ihrer Scharia nachgeordnet. Die Exekutive besitzt nicht die religiöse Autorität. Und der Einzelne dient nicht dem »Staat« als höchstem Zweck zum Mittel, sondern letzterer hat vielmehr dem Wohl des Einzelnen zu dienen, der eigentlich nur Gott verpflichtet ist. Die Exekutive findet ihre Rechtfertigung letztlich in dem Maße, in dem sie die Anstrengungen des Einzelnen, Gott zu dienen, fördert.
Gott als Souverän gehört in Wahrheit alles. Menschlicher Besitz ist lediglich abgeleitet und geht daher mit Pflichten und Verantwortung einher. Da beispielsweise das Vermögen der Wohlhabenden in Wahrheit Gott gehört, kann Gott in Seiner Fürsorglichkeit den Bedürftigen ein Recht an diesem Vermögen zusprechen. Diese Beschränkung betrifft die Verfügung über jegliches Eigentum, auch den Besitz eines Gesetzes oder moralischer Regeln. Daher ist Gott der einzige Gesetzgeber. Und bei Gott allein liegt jegliche Souveränität.
Im modernen Staat ist das Recht der Ausdruck des souveränen Willens des Staates; im Islam ist das Recht der Ausdruck des souveränen Willens Gottes. Das von Gott kraft Seines moralischen Willens erlassene Recht ist die Scharia. Alles weitere wie die technische Ausarbeitung des Rechts und noch vielmehr jede Form der weltlichen politischen Herrschaft ist dem nach- und untergeordnet.
Die Scharia als moralisch gegründete Rechtsordnung, die sich aus hermeneutischen, begrifflichen, theoretischen, praktischen, pädagogischen und institutionellen Elementen zusammensetzt, geht aus der Absicht und dem Bemühen hervor, Gottes moralischen Willen auf Grundlage der Offenbarung zu entdecken. Hallaq spricht dabei von einer Dialektik zwischen dem Soziologischen und dem Metaphysischen, zwischen der Gemeinschaft (umma) als weltlicher Gesellschaft und ihrer anhaltenden Anstrengung, sich selbst in einer bestimmten moralischen Kosmologie zu verorten.
Auf dieser Grundlage trifft Hallaq nun folgende entscheidende Feststellung:
Es kann keinen Islam ohne moralisch-rechtliches System, das in einer Metaphysik verankert ist, geben; es kann kein solches Moralgefüge ohne oder außerhalb göttlicher Souveränität geben; und zugleich kann es keinen modernen Staat ohne seine Souveränität und seinen souveränen Willen geben, denn niemand kann meines Erachtens überzeugende Gründe dafür anführen, dass der moderne Staat ohne diese wesentliche Formeigenschaft der Souveränität auskommen kann. Wenn alle diese Prämissen wahr sind, wie sie es unausweichlich sein müssen, dann kann der moderne Staat ebenso wenig islamisch sein, wie der Islam zu einem modernen Staat kommen kann. (51)
Diese ebenso bedeutsame wie grundlegende Aussage besitzt wiederum zahlreiche Implikationen, von denen Hallaq einige mit besonderer Bedeutung für die Frage nach dem islamischen Staat ausführt. Dazu gehört die Frage nach der konstitutionellen Kraft der Scharia: Was ergibt sich aus der Scharia für die Verfassung eines politischen Gemeinwesens?
1.5.2.2 Scharia und Herrschaft des Rechts
Die Scharia als Ausdruck von Gottes souveränem Willen regelt alle Bereiche des menschlichen Lebens, alle gesellschaftlichen Institutionen. Daher ist auch jede politische Institution dem moralischen Willen der Scharia untergeordnet. Dies betrifft selbstverständlich auch die vollziehende und die richterliche Gewalt. Die Scharia selbst kann in dieser Hinsicht als die gesetzgebende Gewalt schlechthin betrachtet werden.
Im Gegensatz zum modernen Staat gibt es in der islamischen Gouvernanz keine andere Gewalt mit gesetzgebender Funktion neben der Scharia. Die Scharia allein ist gesetzgebend. Die Judikative kann nicht zur Gesetzgebung beitragen. Der Exekutive sind von der Scharia allenfalls in sehr beschränkten Bereichen gewisse Befugnisse zur Gesetzgebung übertragen worden, die aber immer abgeleitet und ergänzend sowie im Vergleich zum modernen Staat äußerst marginal blieben.
Die islamische Gouvernanz mit ihrer strikten Gewaltentrennung und der Vorherrschaft der Legislative könnte mithin im Vergleich zum modernen Staat die von Kelsen aufgestellten Voraussetzungen für eine demokratische Verfassungsordnung besser erfüllen.
Hallaq wirft nun einen näheren Blick auf diesen Themenkomplex, indem er die Rolle der Gewaltenteilung und somit der Herrschaft des Rechts im Rahmen der Scharia als gelebte Wirklichkeit untersucht. Bei der Beschreibung der Geschichte der Scharia geht er von der Frage aus: Wenn die Scharia nicht das Produkt des islamischen Herrschers oder des islamischen Staates ist, wer hat sie dann gemacht?
Die Scharia als gelebte Wirklichkeit ist aus der Verbindung von Offenbarung und menschlicher Anstrengung des Verstehens hervorgegangen, indem die Gemeinschaft (umma) ihre Rechtsgelehrten hervorgebracht hat, die eine Vielzahl von rechtlichen Aufgaben erfüllt haben, die in ihrer Gesamtheit wiederum die islamische Rechtsordnung geschaffen und entfaltet haben.
Die Rechtsgelehrten teilten die gleichen Werte und Normen wie die soziale Welt, der sie entstammten. Ihre Aufgabe selbst war eben durch diese Gebote bestimmt, wozu auch der starke Egalitarismus der koranischen Offenbarung gehört. So sahen sie sich selbst und so wurden sie von anderen gesehen als die Fürsprecher der Gesellschaft, insbesondere der Schwachen und Bedürftigen gegenüber den herrschenden Schichten.
Die Rechtsgelehrten und Richter kümmerten sich kraft ihrer Aufgabe um allerlei gesellschaftliche Belange und stiegen zu Führungspersönlichkeiten auf. Sie galten als Vorbilder der Gottesfurcht, Aufrichtigkeit und Bildung sowie des tugendhaften muslimischen Lebensstils. Sie wurden sogar als »Erben der Propheten« betrachtet, wie es in einem Wort des Gottesgesandten Muhammad (sas) heißt. Die einfachen Menschen erkannten in ihnen nicht nur Vertreter ihrer Interessen, sondern auch den paradigmatischen Ort der Legitimität sowie der religiösen und moralischen Autorität.
Als Rechtsgelehrte erfüllten sie viele Funktionen auf den Gebieten der Bildung, des Rechts, der sozialen Aufsicht usw., von denen in unserem Zusammenhang am wichtigsten die Rollen des muftī (Mufti) und des qādhī (Richter) sind. Dem Mufti kommt dabei die höchste sozialrechtliche Funktion zu, da er die zentrale Rolle spielte sowohl bei der frühen Entwicklung des islamischen Rechts als auch bei dessen fortlaufenden Weiterentwicklung und Anpassung über viele Jahrhunderte und Regionen der Welt hinweg.
Der Mufti war als privater Rechtsgelehrter nicht dem Herrscher und dessen Interessen, sondern der Gesellschaft, in der er lebte, rechtlich und moralisch verantwortlich. Die Aufgabe, die seine Rolle in erster Linie bestimmte, bestand darin, eine fatwā zu erlassen, nämlich auf eine Frage, die ihm gestellt wurde, eine schariarechtliche Antwort zu geben. Für seine Dienste nahm er keine Gebühren, so dass Rechtsberatung gleichermaßen für alle, für Arme wie Reiche, leicht zugänglich und erhältlich war. Die Fragen an den Mufti kamen von Mitgliedern der Gemeinschaft oder auch von Richtern, die mit für sie schwierig zu entscheidenden Problemen konfrontiert waren. Das islamische Recht hat sich von Anfang an ausgehend von solchen Fragen und Antworten entwickelt und ausgebildet. Mit der Zeit wurden die Antworten gesammelt, geordnet und schließlich mündlich wie schriftlich in Rechtskompendien überliefert.
Der Mufti gibt allerdings keine universell gültige Antwort. Er stellt vielmehr lediglich fest, was das Recht in einer bestimmten tatsächlichen Situation seiner Auffassung nach ist. Obgleich er die höchste rechtliche Autorität darstellt, ist seine Meinung (fatwā) nicht bindend. Gleichwohl trugen die Rechtsauskünfte der Muftis zur Beilegung vieler Streitigkeiten bei, auch vor Gericht. Das Gericht selbst konnte hingegen nicht gesetzgebend tätig werden, sondern unterstand immer der schariarechtlichen Autorität der Rechtsgelehrten und keinesfalls einer exekutiven Autorität.
Entscheidend war die Autorität der Fatwa (fatwā). Wenn eine Fatwa keine Beachtung fand, dann nicht, weil ein Richter sie schlichtweg abgelehnt hätte, sondern weil eine andere Fatwa eine überzeugendere Antwort bot.
Hallaq fasst zusammen:
[…] die Fatwa ist das Produkt von rechtlicher Expertise und hochentwickelter Rechtskenntnis und wurzelt insgesamt in einer tiefen Sorge für die Gesellschaft und ihre allgemeinen moralischen Prinzipien und nicht für einen Staat oder ein von oben verordnetes Recht. (54)
Hallaq betont dabei, dass das Recht in islamischen Gesellschaften ein soziales Phänomen ist und nicht ein politisches, das von oben, d. h. vom Staat verordnet wird und mit dem Staat geradezu gleichgesetzt werden kann. Nicht Recht und Staat, sondern Recht und Gesellschaft sind so eng miteinander verwoben, dass es kaum möglich ist, sie auseinanderzuhalten.
So waren beispielsweise auch die Gerichte leicht zugänglich. Die Parteien konnten ihren Fall ohne Zwang zu besonderen Formen vor den Richter bringen. Es bedurfte weder einer rechtlichen Vertretung, denn die Scharia kannte keine Rechtsanwälte, noch eines technischen Jargons. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass das Gericht als Rechtsinstitution in die Gesellschaft eingebettet war, da beide die selbe moralische Welt der schariarechtlichen Werte und Gebote teilten.
Das moralische Recht der vormodernen muslimischen Gesellschaften war eine lebendige und gelebte Tradition, mit der die Menschen vertraut waren. Sie kannten das Recht, da Rechtskenntnisse weit verbreitet und zugänglich waren. Schließlich waren die Muftis und andere Rechtsgelehrte, ohne Gebühren zu verlangen, jederzeit bereit, Rechtsauskünfte zu erteilen.
Hallaq führt dazu näherhin aus:
Wenn das gemeine Volk vor Gericht erschien, sprach es eine »rechtliche« Sprache, die für den Richter ebenso völlig verständlich war, wie die volkstümliche »moralische« Sprache des Richters für sie verständlich war. Rechtliche Normen und gesellschaftliche Moralität waren weithin untrennbar, wobei sie zugleich aufeinander aufbauten und sich gegenseitig stützten. Das muslimische Gericht als ebenso soziale wie rechtliche Institution war in hohem Maße das Produkt eben der Gemeinschaft, der es diente und in deren Schoß es seine Funktion erfüllte.
Es trifft wohl zu, dass die Scharia gewisse Besorgnisse (oder in der amerikanischen konstitutionellen Redeweise »Misstrauen«) gegenüber der exekutiven politischen Gewalt entwickelte, Besorgnisse, welche die Fähigkeit der Scharia bezeugen, der Gesellschaft und Moralität, in der sie wirkte und lebte, Loyalität abzuverlangen. Es ist keineswegs eine Übertreibung, zu sagen, dass die Scharia und ihre Rechtsgelehrten aus der Mitte der Gesellschaft hervorgingen und dieser Gesellschaft fortgesetzt dienten, bis die Scharia effektiv niedergerissen wurde. (56)
Nach dieser Erörterung der legislativen Gewalt wirft Hallaq nun die Frage nach der richterlichen Gewalt auf:
Wenn die »legislative Gewalt« im Islam völlig eingebettet war in ein gesellschaftlich verankertes göttliches Gesetzeswerk (und daraus muss kein Widerspruch erwachsen) und wenn die Scharia eine unabhängige »legislative Gewalt« war, in welcher Art von Beziehung steht sie dann mit der judikativen Gewalt? (57)
Wie der Mufti war auch der Richter ein Mitglied der Gemeinschaft, der er diente. Ihm fielen dabei neben seiner Funktion, über Rechtsstreitigkeiten zu urteilen, viele verschiedene Aufgaben zu, zu denen auch die Aufsicht über etliche Belange des gesellschaftlichen Lebens wie etwa öffentliche Einrichtungen, Stiftungen, Märkte, Schließungen von Verträgen usw. gehörte. Er sah dabei seine Aufgabe vor allem in der Vermittlung und Schlichtung, um möglichst die sozialen Verhältnisse für ein geselliges Zusammenleben zu schützen und zu bewahren. Das islamische Gericht war mithin mit der Gesellschaft, der es diente, zutiefst verwoben.
Das von den Richtern angewandte Recht war das Ergebnis eines kumulativen hermeneutischen Projekts, das über Jahrhunderte hinweg von den Rechtsgelehrten selbst betrieben wurde. Sie entwickelten Methoden der Findung und der Interpretation des Rechts, die als usūl al-fiqh (Grundlagen des Rechts) bekannt wurden. Sie bildeten eine systematische Zusammenstellung von Wissen aus einer ganzen Reihe von Bereichen: Logik, Theologie (kalām), Sprache, Linguistik, Hermeneutik, Rechtsdenken und vieles mehr.
Hallaq erläutert:
Diese interpretativen Methoden bildeten die Werkzeuge des idschtihād, der Prozesse des kreativen Denkens, die der dazu befähigte Rechtsgelehrte einsetzt, um zu der besten Vermutung dessen zu gelangen, was seines Erachtens das Recht hinsichtlich eines besonderen Falles sein mochte. (58)
Bis auf einige Normen, die aus eindeutigen Texten der Offenbarung unmittelbar hervorgehen und als gewiss gelten, war der größte Teil des Rechts Produkt des idschtihād (selbständige Urteilsfindung), der auf Ableitungen basiert und daher in den Bereich des Wahrscheinlichen fällt.
Die Rechtsgelehrten konnten durch ihren idschtihād in der gleichen Frage also durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, wobei Gott allein weiß, wer die Wahrheit gefunden hat. Da die verschiedenen Meinungen der Rechtsgelehrten gleichwohl als richtig galten und für die Rechtsbildung zur Auswahl standen, bildete sich ein beachtlicher Rechtspluralismus heraus. Dieser Pluralismus wurde zur Grundlage für die Entstehung einer vielfältigen Rechtskultur, die sich sowohl durch unterschiedliche Rechtsschulen als auch eine Vielzahl von Rechtsmeinungen innerhalb einer Schule auszeichnete. Es gab also nicht die eine und einzige Rechtsetzung, die über ein Monopol oder ausschließliche Geltung verfügt, wie das im modernen Staat vorgesehen ist.
Dieser Pluralismus verlieh dem islamischen Recht drei seiner grundlegenden Eigenschaften: ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an sehr unterschiedliche soziale und regionale Bedingungen; die Fähigkeit der Berücksichtigung neuer Entwicklungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben; die Widerspiegelung einer in Raum und Zeit schier endlosen Vielfalt von gesellschaftlichen Interessen, wobei immer diejenigen der Unterdrückten und Bedürftigen im Vordergrund standen, was auch für die Herrschenden rechtlich verpflichtenden Ausdruck fand.
Hallaq bemerkt:
Der muslimischen Richterschaft fiel daher nicht die Aufgabe zu, ein Recht anzuwenden, das von den herrschenden Gewalten eines Staates oder eines gebieterischen Herrschers bestimmt wurde, sondern vielmehr, ein Scharia-Recht zu verbürgen, dessen hauptsächliche Sorge die Regelung von sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen auf moralischer Grundlage war. Es war ein Recht des Volkes, wiewohl eines, das gleichermaßen dazu diente, den Herrscher in seiner Behandlung der Bevölkerung einzuschränken. (59)
Der Herrscher hatte zwar die Befugnis, Richter einzusetzen und zu entlassen, aber keinerlei Einfluss auf die Arbeit der Richter selbst. Außerdem beruhte die Ernennung der Richter durch den Herrscher auf dem Begriff der Delegation, der auf die Frühzeit der islamischen Geschichte zurückgeht, in der der Kalif als Vertreter des Propheten zugleich als Rechtsgelehrter galt und als solcher die Richter ernannte. Jedenfalls muss unabhängig von der Art der Ernennung betont werden, dass vom Richter verlangt wurde, die Scharia samt ihrer Normen und Regeln anzuwenden und keinesfalls irgendein anderes Recht. Die muslimische Richterschaft war in der Ausübung ihrer Aufgabe also völlig unabhängig von der Exekutive.
Dem steht eine Auffassung entgegen, die vom libanesischen Orientalisten Émile Tyan vertreten wurde und jahrzehntelang großen Einfluss hatte. Sie besagt, dass eine der Konsequenzen des Begriffs der Delegation das vollständige Fehlen der Trennung zwischen Judikative und Exekutive sei.
Hallaq begegnet dieser Auffassung mit vier Gegenargumenten. Erstens: Das Recht des Scharia-Gerichtes ist nicht vom Rechtswillen des Herrschers abhängig, sondern vielmehr untersteht der Herrscher bzw. die sultanische Exekutive dem Scharia-Recht. Zweitens: Der Richter wird nicht wirklich, sondern nur nominell vom Herrscher ernannt, da dieser als Repräsentant der Gemeinschaft (umma) gilt und somit die Ernennung und Entlassung von Richtern lediglich in Ausübung seiner Repräsentation in einer Vermittlerrolle durchführt. Drittens: Der Begriff der Delegation könnte auch als Kontrolle der Judikative durch die Exekutive verstanden werden, da die Entlassung aus dem Amt aus moderner Sicht als Untergrabung der richterlichen Unabhängigkeit gilt, aber die Richter und andere Rechtsgelehrte in muslimischen Gesellschaften waren nicht in der gleichen Weise von ihrem »Beruf« als Richter abhängig, da sie über andere Einkommensquellen beispielsweise als Handwerker, Lehrer, Schreiber oder Händler verfügten. Viertens: Neben diesen praktischen oder funktionalen Gründen lässt sich noch die paradigmatische moralische Kraft der Scharia anführen, die in der Regel Richter wie Herrscher gleichermaßen dazu anhielt, die richterliche Unabhängigkeit zu respektieren.
Hallaq kommentiert diesen Punkt folgendermaßen:
Die richterliche Unabhängigkeit war integraler Bestandteil der Kultur. Dass das moralische Argument in Tyans Analyse keine Rolle spielt, sagt weniger über die beschriebene Ordnung aus als über Tyans eigene modernistische und positivistische Konzeptionen. (62)
Die bisherige Betrachtung des auf die Scharia gegründeten Verhältnisses von gesetzgebender und richterlicher Gewalt hat gezeigt, dass die Legislative völlig unabhängig und souverän war, während die Judikative das moralische Recht der Scharia in Übereinstimmung mit dem Willen der gesetzgebenden Gewalt zur Anwendung brachte. Nun stellt sich die Frage: In welchem Verhältnis standen diese Gewalten zur Exekutive?
Hallaq beginnt die Antwort mit einer Beschreibung der Exekutive als einer gedungenen Klasse, die zur Ausübung bestimmter Funktionen verpflichtet war. An ihrer Spitze stand ein dynastischer Herrscher, der sich üblicherweise auf eine Söldnertruppe (»Sklaven«) stützte und die Vorschriften der Scharia ausführte, denen er selbst sich fügte im Austausch gegen eine Rente, die er von der Bevölkerung erhob. Diese Rente bestand vor allem aus Steuern, die unter Umständen zwar die schariarechtlichen Bestimmungen übersteigen konnten, aber allemal relativ niedrig waren.
Die einigermaßen provisorische Natur des exekutiven Sultanismus kommt auch in dessen üblicher Bezeichnung zum Ausdruck. Denn die dynastische Herrschaft wurde dawla genannt. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert wurde dieser Ausdruck für den modernen Staat verwendet. Davor aber hatte er eine ganz andere Bedeutung. Er bezeichnete nämlich eine dynastische Herrschaft, die in irgendeiner Region, ob islamisch oder nicht, an die Macht kommt und dann wieder verschwindet. Der Wechsel und die Abfolge von Dynastien ist ein wesentliches Merkmal der dawla, das diese Regierungsform im Gegensatz zur Gemeinschaft (umma), die beständig ist bis zum Tag des Gerichts, als temporär und flüchtig erweist, ohne innere Bindung an die Gemeinschaft und deren Scharia. Sie ist lediglich ein Mittel zum Zweck, von der Gemeinschaft gedungen und in Dienst gestellt, um die von der Scharia geprägte Gesellschaft im Auftrag der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Allerdings wurde das Ende einer dawla nicht durch eine Entscheidung der Gemeinschaft besiegelt, sondern durch den Aufstieg einer neuen und mächtigeren dawla, die sich gleichwohl wiederum in den Dienst der Scharia stellte.
Hallaq hebt hervor:
Diese provisorische Natur der dynastischen Herrschaft, die in krassem Gegensatz zur dauerhaften Beständigkeit der Gemeinschaft und ihrer Scharia steht, ist grundlegend für ein Verständnis des islamischen Begriffes der Gewaltentrennung und daher für die islamische Verfassungstheorie und -praxis. (63)
Besonders augenfällig wird dieser Kontrast, wenn man sich vergegenwärtigt, dass über zwölf Jahrhunderte der islamischen Geschichte hinweg, bis zur Zerstörung vieler islamischer Einrichtungen durch den Kolonialismus, die Gemeinschaft und ihre Scharia eine für die menschliche Geschichte herausragende Stabilität erlebten, während sich der Wechsel der Dynastien in rascher Abfolge vollzog.
Die Herrscher und ihre Söldnertruppen drangen zumeist von außen in die Gebiete vor, die sie unter ihre Herrschaft brachten. Oftmals waren es Nicht-Muslime, die sich erst nach einer gewissen Zeit zum Islam bekehrten. Da es ihnen in jedem Fall an der bürokratischen Maschinerie ermangelte, über die der moderne Staat verfügt, konnten sie die Gesellschaft nicht durchdringen und mussten sich der lokalen von der Scharia geprägten Kultur fügen. Sie erkannten daher die schariarechtlichen Gebote und ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft an und versuchten ihren finanziellen Nutzen vor allem aus Steuern zu ziehen. Natürlich kam es dabei zu Konflikten verschiedener Art, wodurch jedoch die allgemeinen Strukturen dieses Verhältnisses im Kern nicht berührt wurden.
Hallaq legt zusammenfassend dar:
[…] der exekutive Herrscher hielt sich fern von der »legislativen« und sogar der judikativen Gewalt, während er in vielerlei Hinsicht ihren Geboten unterstand. Die islamische rechtlich-politische Theorie und Praxis (siyāsa scharʿiyya) verlangte eben dies, und die Theorie wurde weitgehend in die Praxis umgesetzt. Eine wesentliche konstitutionelle Tatsache ist hier, dass es die Scharia selbst war, die dem Herrscher gewisse Befugnisse zugestand. Während nicht jeder Herrscher jede einzelne Vorschrift der siyāsa scharʿiyya befolgte, so bleibt es doch eine Tatsache, dass das paradigmatische Recht eben dies war, nämlich paradigmatisch, d. h. dass die Handlungen des Herrschers nach Kriterien beurteilt wurden, die dem Geiste der Scharia folgten und auf dieser gegründet waren. Verrat der Prinzipien der siyāsa scharʿiyya war schlechte Regierung. (64-65)
1.5.3 Vergleiche und Schlussfolgerungen
Die Erörterungen dieses Kapitels münden in zwei Schlussfolgerungen, die sich auf vier der fünf Formeigenschaften des Staates beziehen.
Erstens: Der Islam als Weltzivilisation hat eine historisch verankerte paradigmatische moralisch-rechtliche Ethik entwickelt, die seine Identität bestimmt. Ohne sie kann es keinen Islam und keine muslimische Identität geben. Heute ein Muslim zu sein, heißt, auf ganz grundlegende Weise mit der durch die Scharia bestimmten Ethik verbunden zu sein. Die Entwicklung einer muslimischen Identität bedeutet die Anerkennung der übergeordneten Stellung der Scharia als Ethik, die das menschliche Handeln orientiert und regelt.
Hallaq erläutert näherhin:
Ebensosehr wie der moderne Staat und seine Bürger mithin das Produkt eines historisch bestimmten Phänomens sind, ist daher die heutige muslimische Identität unauflöslich verbunden mit einer besonderen moralisch-rechtlichen Ethik, die durch die übergeordneten zentralen Werte der Scharia historisch bestimmt wurde. (70-71)
Und zur zweiten Schlussfolgerung legt Hallaq dar:
[…] in dieser Geschichte und der Identität, die sie hervorbrachte, war die Scharia der Ausdruck von Gottes Souveränität, denn die paradigmatische Anrufung »la ilāha illā Allāh« (»Es gibt keine Gottheit außer Gott«) fasst das grundlegende Wissen sowie die religiöse und diskursive Praxis zusammen, dass Gott der einzige Souverän ist. Dieses Wissen war strukturell: es durchdrang das Gefüge des muslimischen Lebens, von der sozial-praktischen Ethik bis zur politischen Gouvernanz. (71)
Und das Konzept von Gottes Souveränität wiederum prägte ein besonderes Paradigma der Gewaltentrennung. Die »legislative« Funktion wurde von privaten Rechtsgelehrten ausgeführt, die in und mit der Gesellschaft und ihren Gemeinschaften lebten und ihre Stellung vor allem ihrem Ansehen als religiöse und moralische Vorbilder verdankten. Sie folgten dem Geist der Scharia, indem sie die einfachen Menschen und deren Belange gegenüber den herrschenden Schichten vertraten. Denn das auf die Scharia gegründete Recht selbst steht – im Gegensatz zum Recht des modernen Staates – auf der Seite der Schwachen und Bedürftigen.
Daraus ergibt sich für Hallaq:
Und wenn man somit die Repräsentation der Rechtsgelehrten zur privilegierten Stellung der gemeinen Gesellschaftsschichten im Recht hinzufügt, heißt dies, eine Repräsentation auf intensive, extensive und substantielle Weise zu gewährleisten. (71)
Hans Kelsen hat die Auffassung vertreten, dass »Demokratie verlangt, dass dem legislativen Organ die Kontrolle über die administrativen und judikativen Organe gegeben werden sollte.«
Die Oberhoheit der Scharia verbürgte eine Herrschaft des Rechts, die ihrer westlichen Entsprechung überlegen war.
So kann Hallaq darlegen:
Für Muslime heute bedeutet das Trachten nach der Übernahme des Systems der Gewaltenteilung des modernen Staates, auf einen Handel zu setzen, der demjenigen unterlegen ist, den sie für sich selbst über die Jahrhunderte ihrer Geschichte gewährleisteten. Der moderne Handel repräsentiert die Macht und Souveränität des Staates, der […] für seine eigene Fortdauer und Interessen arbeitet. Die Scharia hingegen – weil sie nicht dafür bestimmt war – diente nicht dem Herrscher oder irgendeiner Form der politischen Macht. Sie diente dem Volk, den Massen, den Armen, Unterdrückten und Reisenden, ohne den Händler und seinesgleichen zu benachteiligen. In diesem Sinne war sie nicht nur zutiefst demokratisch, sondern menschlich in einer Weise, wie es für den modernen Staat und sein Recht nicht wiederzuerkennen ist. Wenn die Probe ist, »was die unveräußerlichen Rechte jenseits des Zugriffs jeglicher Regierung bilden sollte,« um die Worte von Robert Dahl
Siehe Robert A. Dahl, On Removing Certain Impediments to Democracy in the United States, in: Robert H. Horwitz (Hg.), The Moral Foundations of the American Republic, 3. Auflage, Charlottesville: University Press of Virginia, 1986, S. 230–252, hier S. 235; Hervorhebungen von Hallaq. zu entleihen, dann hat die Scharia die Probe bestanden, indem sie die Herrschaft des Rechts über die des Staates erhebt. (72; Hervorhebungen im Original)
Hallaq stellt abschließend fest, dass die paradigmatischen Strukturen der Scharia für eine »wohlgeordnete Gesellschaft« sorgten – ein Begriff von John Rawls, der meinte, dass unter den aktuellen Bedingungen eine solche Gesellschaft höchstens in »hochgradig idealisierter« Gestalt vorstellbar sei.
Hallaq kommentiert:
Er wusste wohl kaum, dass jedes Detail seiner Beschreibung einer »wohlgeordneten Gesellschaft« in der paradigmatischen islamischen Gouvernanz nicht nur, mutatis mutandis, gültig war, sondern auch als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. (72-73)
Hallaq bezieht sich auf die Kennzeichnung einer wohlgeordneten Gesellschaft, wie sie Rawls in seinem Buch Politischer Liberalismus vorgenommen hat:
Wenn wir sagen, eine Gesellschaft sei wohlgeordnet, so teilen wir dadurch drei Dinge mit: Erstens (und dies folgt aus der Vorstellung einer öffentlich anerkannten Gerechtigkeitskonzeption) handelt es sich um eine Gesellschaft, in der alle genau dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennen und in der jeder weiß, daß dies der Fall ist; zweitens (und dies folgt aus der Vorstellung, daß eine solche Konzeption wirksam regulativ ist) ist öffentlich bekannt oder wird aus guten Gründen geglaubt, daß ihre Grundstruktur – das heißt ihre wichtigsten politischen und sozialen Institutionen und die Art und Weise, in der sie sich zu einem System der Kooperation zusammenfügen – diesen Grundsätzen genügt; drittens haben ihre Bürger einen normal wirksamen Gerechtigkeitssinn und befolgen deshalb im allgemeinen die Regeln der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen, die sie als gerecht betrachten. In einer solchen Gesellschaft bildet die öffentlich anerkannte Gerechtigkeitskonzeption eine gemeinsame Basis, von der aus die Ansprüche der Bürger an ihre Gesellschaft beurteilt werden können.
Wir haben es hier mit einem stark idealisierten Begriff zu tun. Doch jede Gerechtigkeitskonzeption, die nicht in der Lage ist, einen demokratischen Verfassungsstaat wohlzuordnen, ist für eine demokratische Konzeption unangemessen.
John Rawls, Politischer Liberalismus, Übersetzt von Wilfried Hinsch, Frankfurt am Main, 2017 (Erste Auflage 1998), S. 105; Hervorhebungen im letzten Absatz von Hallaq.
Und Hallaq merkt abschließend dazu an:
Hier könnte Rawls leicht als muslimischer Rechtsgelehrter ausgemacht werden, der die Realität seiner eigenen Rechtskultur beschreibt, indem er die Unzulänglichkeiten der modernen konstitutionellen Demokratie scharfsichtig kommentiert. (73; Hervorhebung im Original)
1.6 Das Rechtliche, das Politische und das Moralische
1.6 Das Rechtliche, das Politische und das Moralische Yusuf KuhnMuslime, die danach trachten, den westlichen Staat zu übernehmen, begegnen unvermeidlich zwei weiteren grundsätzlichen Schwierigkeiten, die zumindest große Besorgnis, wenn nicht die Aufgabe dieses Projektes nach sich ziehen sollten. Das erste Problem besteht in der Unterscheidung, ja Trennung von Sein und Sollen, die sich im modernen Europa herausgebildet hat. Hallaq bezeichnet dieses Problem als Aufstieg des Rechtlichen. Das zweite Problem steht im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Politischen, der seinen prägnantesten Ausdruck im neo-hobbesianischen Denken von Carl Schmitt gefunden hat. Beide sind historisch und inhaltlich eng miteinander verwoben und beziehen sich auf einen bestimmten Begriff und Praxis der Herrschaft.
Hallaq geht es nun um den Nachweis,
dass der Aufstieg des Rechtlichen und des Politischen im modernen Projekt sie unvereinbar macht mit den konstituierenden Formen jeglicher Weise der islamischen Gouvernanz, weil sie in Widerspruch stehen auch nur zum Mindestmaß an moralischem Gehalt, das in jeder derartigen Gouvernanz bestehen muss, damit sie überhaupt sinnvoll als islamisch bezeichnet werden kann. (75; Hervorhebungen im Original)
1.6.1 Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen
Von zahlreichen kritischen Beobachtern wie beispielsweise Friedrich Nietzsche, Max Scheler, Michel Foucault und der Frankfurter Schule wurde immer wieder festgestellt, dass sich die Kultur des modernen Westens durch ein obsessives Streben nach Wissen zur Kontrolle und Manipulation auszeichnet. Die moderne Wissenschaft zielt auf eine Erklärung der Natur, die letztlich auf den Gebrauch und die Beherrschung der Natur abgestellt ist.
Dieses Streben ist eng verbunden mit dem durch das Denken der Aufklärung entwickelten Begriff des autonomen Selbst, der seine paradigmatische Gestalt in Kants berühmtem Aufsatz »Was ist Aufklärung?« gefunden hat. Durch die objektive Erklärung und rationale Beherrschung der Natur gewinnt das moderne Selbst die für es wesentliche Autonomie und Freiheit. Die Freiheit von den Lasten der Geschichte, Autorität und Unterdrückung schlägt in der Praxis sogleich um in die Freiheit, zu kontrollieren und zu beherrschen.
Das Streben nach Wissen gründet in einem Willen zur Macht, der nach der Beherrschung der materiellen Welt trachtet. Der moderne Mensch erscheint in diesem Denken als souveränes Wesen, das über aller Natur steht. Und damit ist nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur gemeint. Das moderne Subjekt, das sich in seiner Autonomie über alles erhebt, unterwirft schließlich auch seine eigene Natur seinem Drang nach universeller Herrschaft. Beherrschung war daher die paradigmatische Einstellung nicht nur gegenüber der für »nackt« und »tot« erklärten Materie, sondern auch gegenüber dem Menschen als natürlichem Wesen selbst. Dem transzendentalen Subjekt, das sich gottgleich ins Zentrum der Welt setzte, wurde alles um es herum zur beliebig nach seinem souveränen Willen manipulierbaren Masse.
Wenn das moderne System des westlichen Wissens seinem Wesen nach auf das Streben nach Macht, Disziplin, Beherrschung und Verwandlung der Welt ausgerichtet ist, so schließt dieses Wissen zugleich ein, sich der Welt zu bemächtigen und sie in Dienst zu stellen. Das brachte Francis Bacon Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in seinem Novum Organum (Das Neue Organon) mit unübertroffener Klarheit zum Ausdruck: »Wissen ist Macht«. Keine Form des modernen Wissens, einschließlich des rechtlichen und des politischen, kann der Verstrickung in diesen Willen zur Macht entkommen.
Indem durch die Aufklärung alle ihrem Paradigma des Wissens als Beherrschung zuwiderlaufenden Überreste des aristotelischen, christlichen und teleologischen Denkens fortschreitend aus dem Begriff der Natur getilgt wurden, wurde diese vollends mechanisiert und auf bloße Materie herabgesetzt, die dem willkürlichen Gebrauch des modernen Menschen keinen Widerstand entgegenzusetzen hat. Durch das mechanistische Denken wurde sie aller spirituellen Kräfte und moralischen Werte beraubt und stand somit als natürliche Ressource zur Ausbeutung und Unterdrückung bereit. Sie konnte nun der gewaltsamen Nutzung ohne jede moralische Schranke zugeführt werden, was seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert durch die kapitalistische Industrialisierung mit der vollen Wucht und Zerstörungskraft der modernen Technologie geschah.
Die »Objektivität« der Wissenschaft und der schrankenlose Zugriff der Technik wurden nicht nur durch die Herabsetzung der Natur auf mechanisierte Materie erkauft, sondern, bedingt durch die Austreibung aller Werte und Normen, auch durch die Trennung von Tatsache und Wert. Die strikte Scheidung von Sein und Sollen ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Projekts. Was sich dieser zur wissenschaftlichen Weltanschauung geronnenen Denkstruktur der Herrschaft widersetzte, wurde schlicht eliminiert.
Freilich kam dem modernen Staat bei der Ausgestaltung und Beförderung dieser Weltanschauung eine herausragende Rolle zu. Und er war selbst Bestandteil dieser Weltanschauung. Der moderne Staat mit seinem souveränen Willen als einziger Quelle des Rechts war selbst Produkt dieses Denkens, wie es mustergültig in der Staatsphilosophie von Hobbes zum Ausdruck kommt. Recht ist, was der Staat kraft seiner Macht gebietet und für rechtlich gültig erklärt. Die Austreibung der Moral aus dem Bereich des Politischen ist die Voraussetzung für die Entwicklung des Begriffs des politischen souveränen Willens.
Auf der scharfen begrifflichen Trennung zwischen dem Recht des Souveräns und dem moralischen Recht beruht der Rechtspositivismus, dem zufolge jedes tatsächlich bestehende Recht, wie unmoralisch es auch immer sein mag, Recht ist. Das Band zwischen Sein und Sollen ist damit vollends zerschnitten.
Die Trennung von Tatsachen und Werten hat die gesamte moderne Moralphilosophie zutiefst durchdrungen. Der Begriff der Autonomie des Selbst als Zentrum des Projekts der Aufklärung überträgt Willen, Freiheit und Macht, die einstmals Gottes Prärogative waren, auf das transzendentale Subjekt. Die menschliche Vernunft wird nun zum alleinigen Herrscher über die vergegenständlichte Welt, die sie ihren eigenen manipulativen und instrumentalistischen Interessen unterwirft. Die vormals von der Offenbarung eingeschränkte Vernunft befreit sich von allen Fesseln und erhebt sich selbst zur einzigen Autorität.
Die souverän gewordene Rationalität erkennt keine anderen Quellen von Vernunft und somit von Moral, Pflicht und solchen Begriffen wie Kants kategorischem Imperativ an als sich selbst. Auch die Menschenwürde verbindet sich nun mit dem Begriff der souveränen Vernunft, denn Würde kann eben letztlich nur durch die Verwirklichung dieser Souveränität erlangt werden.
Die Spaltung von Sein und Sollen erweist sich als Ergebnis besonderer geschichtlicher Umstände, einer bestimmten philosophischen Entwicklung, die Begriffen wie Wille, Freiheit, Würde und Vernunft eine neue Bedeutung verliehen hat. Wie viele andere Elemente der Modernität wurde diese Entwicklung jedoch mit dem Siegel der Zeitlosigkeit versehen und zur universalen Wahrheit verklärt, deren Imperativen jegliches Denken sich zu fügen habe, wenn es nicht dem Urteil der Irrationalität verfallen wollte.
Hallaq geht nun zum Vergleich mit dem islamischen Diskurs über und stellt einleitend fest:
Die Trennung zwischen Sein und Sollen im modernen Recht, ein maßgeblicher Grundsatz, kann in jedweder Form der islamischen Gouvernanz niemals Bestand haben, wenn wir auch nur auf eine minimale moralische Bestimmung dessen bestehen, was der Islam ist oder sein kann. Dieses wie auch immer relative Minimum übersteigt, wie wir sehen werden, in Dichte und Textur bei weitem die »internen« moralistischen Interventionen im modernen Recht. (82)
In der vormodernen islamischen Tradition und ihren Quellen wie dem Koran gab es, im Gegensatz zum modernen europäischen Denken, keine Trennung zwischen dem Rechtlichen und dem Moralischen. Es gab sie übrigens auch nicht im Europa vor der Aufklärung. Sein und Sollen bildeten vielmehr eine unauflösliche Einheit. Dies zeigt sich auch daran, dass es weder im Altgriechischen und Lateinischen noch im Arabischen ein Wort gibt, das dem modernen Begriff der Moral entspricht.
Auch der Begriff des Rechts ist ideologisch derart aufgeladen mit Assoziationen an die diversen Mechanismen der Kontrolle und Herrschaft des modernen Staates – Überwachung, unauffällige Bestrafung sowie Hegemonie über das und Unterwerfung des gefügigen Subjekts, Begriffe, die insbesondere von Foucault untersucht worden sind -, dass sich seine moderne Bedeutung grundlegend von früheren oder anderen Vorstellungen von Recht und Moral unterscheidet.
Was im Koran und der darauf gründenden Scharia als »rechtlich« erscheint, ist ebenso »moralisch« und umgekehrt. Eher ließen sich noch Gründe dafür finden, dass im Gegensatz zum modernen Vorurteil das Recht von der Moral als mustergültiger Struktur abgeleitet war – wenn man das moderne Vokabular zur Anwendung bringen will, was leider unvermeidlich ist, wenn man sich einer modernen europäischen Sprache bedient. Die »moralische« Botschaft und Struktur des Koran hat die Bildung der Scharia und damit der muslimischen Subjektivität in einem Maße geprägt, dass ohne sie ihre »rechtliche« Ausgestaltung und Praxis nicht verstanden werden kann.
Der Koran lieferte den Muslimen von Beginn an eine Kosmologie, die zutiefst in moralischen Naturgesetzen verankert ist und zudem tiefe und machtvolle psychologische Wirkungen zeitigt. Diese Kosmologie beinhaltet eine Metaphysik, ja ist selbst Teil einer umfassenden moralischen Ordnung, welche die Begriffe der Metaphysik übersteigt. In diesem weiten Sinne von Kosmologie kann gesagt werden, dass der Koran nicht weniger als eine Theorie der kosmologischen Moralität aufbietet, die nicht nur zutiefst moralisch ist, sondern selbst in Inhalt und Form als moralisches Anliegen gebildet ist. Alles, was dieses Universum enthält, wurde für den Genuss und Nießbrauch der Menschen erschaffen, aber nicht in utilitaristischer Weise, sondern vielmehr in einer Weise, die tiefe moralische Verantwortlichkeit erzeigt. Denn Handlungen haben trotz ihrer und unserer vergänglichen Existenz unausweichliche Konsequenzen.
Die koranische Schöpfungsgeschichte legt die Grundlagen für eine moralische Kosmologie. Denn ihr zufolge wurden die Himmel und die Erde gemäß dem Prinzip von Wahrheit und Gerechtigkeit (haqq) erschaffen (siehe Koran 39:5). Und auch die Botschaft des Koran folgt dem gleichen Prinzip. Nur drei Verse davor heißt es nämlich, dass die Herabsendung des Koran ebenfalls gemäß dem Prinzip der Wahrheit und Gerechtigkeit (haqq) erfolgte (siehe Koran 39:2). Botschaft und Schöpfung sind untrennbare Teile des selben Projekts und gehorchen den gleichen Regeln und Prinzipien im Rahmen einer moralischen Kosmologie.
Die Schöpfungstätigkeit Gottes erstreckt sich ebenso auf das Geschehen im Universum, das von Gesetzen des Entstehens und Vergehens gelenkt wird, die wiederum gleichermaßen moralisch gegründet sind.
Hallaq erläutert:
Hier ist die physikalische Welt nicht ein wissenschaftlicher Schauplatz, der kalter und farbloser rationaler Erklärung und Berechnung unterliegt, sondern vielmehr eine natürliche Welt, die von Spiritualität und Psychologie erfüllt und den moralischen Handlungen völlig dienstbar ist, die von eben den Menschen unternommen werden, die von Gott erschaffen worden sind. (84)
Keine entleerte und entzauberte Welt erwartet den Menschen, sondern eine sinnerfüllte. So heißt es im Koran nach Muhammad Asads Übertragung in Die Botschaft des Koran
Gott hat nicht die Himmel und die Erde und alles, was zwischen ihnen ist, ohne (eine innere) Wahrheit erschaffen und eine (von Ihm) gesetzte Frist. (Koran 30:8)
Und mit scharfem Blick auf die Folgen menschlichen Tuns:
Fürwahr, Gott gehört alles, was in den Himmeln ist, und alles, was auf Erden ist: und so wird Er jenen vergelten, die Übles tun, in Übereinstimmung mit dem, was sie taten, und wird jenen vergelten, die Gutes tun, mit letztem Gutem. (Koran 53:31)
Jedes im Universum läuft »auf eine (von Ihm) gesetzte Frist« (Koran 13:2) zu, eine Frist, an deren Ende die kosmische Ordnung umgestürzt wird, worauf der Tag des Gerichts folgt, da jeder einzelne für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.
Die koranischen Naturgesetze sind mithin moralisch und nicht physikalisch. Hinter ihnen stehen erklärbare, rationale Absichten, die letztlich in Moralgesetzen gründen. Die von Gott in seiner Güte und Macht zur Regelung des Laufs der Schöpfung bestimmten Gesetze verfolgen in erste Linie die Absicht, die Menschen zu guten Taten anzuspornen. Die Rede von den guten Taten ist in der Offenbarung allgegenwärtig, kommt aber besonders kraftvoll in folgendem Vers zum Ausdruck, in dem Gottes Allmacht mit dem natürlichen Projekt des Entstehens und Vergehens verbunden wird, das wiederum mit der Herausforderung Gottes an die Menschen verknüpft wird, gute Taten zu wirken:
Geheiligt sei Er, in dessen Hand alle Herrschaft liegt, da Er die Macht hat, alles zu wollen: / Er, der den Tod erschaffen hat wie auch das Leben, so daß Er euch einer Prüfung unterziehen möge und (also zeige), welcher von euch am besten im Verhalten ist, und (euch erkennen lasse, daß) Er allein allmächtig, wahrhaft vergebend ist. (Koran 67:1-2)
Damit ist von der Offenbarung selbst bereits die moralische Richtschnur allen menschlichen Handelns gesetzt, auf die sich die Verantwortung im Leben jedes einzelnen gründet. Das Gesetz der Folgen ist somit ein Gesetz der Natur, das dem Zweck der Verwirklichung des Guten dient. Das Leben ist der Grund, auf dem sich die Probe vollzieht, für die – nicht nur – die Menschen erschaffen wurden:
Siehe, Wir haben gewollt, daß alle Schönheit auf Erden ein Mittel sei, mit dem Wir die Menschen einer Prüfung unterziehen, (die zeigt,) welche von ihnen am besten im Verhalten sind. (Koran 18:7)
Das Leben endet nicht mit dem Tod, sondern findet seine Fortsetzung im jenseitigen Leben, das wiederum dem diesseitigen Leben seine Struktur verleiht, indem es immer schon darauf ausgerichtet ist – als Prüfung des Menschen in Verantwortung für die Gesetzmäßigkeit seiner Taten, die als unausweichliche Folge mit Lohn oder Strafe vergolten werden.
Den Gläubigen (muʾmin) zeichnet aus, Gott zu dienen, Ihm für Seine Wohltaten (niʿma) und Seine Barmherzigkeit (rahma) dankbar zu sein und Seine Gebote zu befolgen, indem er seiner Verantwortung gerecht wird und auf die göttliche Gerechtigkeit vertraut. Das ist der Geist der Ethik des Koran, der wiederum die Scharia nicht nur durchdringt, sondern aus dem die Scharia selbst hervorgegangen ist. Den Zusammenhang von Glauben (imān) und Handeln bringt nichts so deutlich zum Ausdruck wie die Tatsache, dass die gemeinsame Erwähnung von Glauben und Handeln zu den häufigsten Wendungen im Koran gehört: »jene, die Glauben erlangt haben und gute Werke tun« (z. B. Koran 2:25). Der Glaube muss durch Taten erwiesen werden, dann wartet der gerechte Lohn. Das ist gewissermaßen das vertragliche Angebot, das Gott dem Menschen unterbreitet. Der Gläubige (muʾmin) nimmt es an und richtet sein Leben danach aus. Dadurch entsteht die unlösliche Verbindung von Glauben und Handeln im Herzen der islamischen Ethik.
Diese koranische Moral, die auf dem inneren Zusammenhang von Glauben und guten Taten beruht, hat nicht nur die Scharia durchdringend geprägt, sondern ist für Denken und Handeln der Muslime stets von zentraler Bedeutung geblieben. Der Koran selbst bildet kein Recht im technischen Sinne, das vielmehr von den Rechtsgelehrten im Laufe der Zeit entwickelt wurde und als solches Teil der Scharia ist. Die Scharia als ethisches Projekt, in dem die moralische Botschaft des Koran und das darauf gegründete Recht eine Einheit bilden, schließt völlig aus, dass es zu einer Trennung von Recht und Moral wie im modernen europäischen Denken kommen könnte.
Hallaq beschließt die Erörterung zum Aufstieg des Rechtlichen mit folgenden Bemerkungen:
Paradigmatisches modernes Recht ist positives Recht, das Gebot der Fiktion des souveränen Willens. Islamisches Recht ist nicht positives Recht, sondern substantielle, auf Grundsätzen basierende atomistische Normen, die ihrem Wesen nach pluralistisch und letztlich in einen kosmischen moralischen Imperativ eingebettet sind. Für Muslime heute bedeutet die Übernahme des positiven Rechts des Staates und seiner Souveränität ganz unzweifelhaft die Annahme eines Rechts, das aus einem politischen Willen hervorgeht, eines Rechts, das von Menschen gemacht ist, die ihre ethischen und moralischen Richtlinien ändern, wie es die modernen Bedingungen erfordern. Es heißt, zu akzeptieren, dass wir in einem kalten Universum leben, das uns gehört und mit dem wir nach unserem Belieben verfahren können. Es heißt, zu akzeptieren, dass die ethischen Prinzipien des Koran und der jahrhundertealten moralisch gegründeten Scharia beiseite gelegt werden zugunsten von sich ändernden menschengemachten Gesetzen, Gesetzen, die nichts weniger als die Beherrschung und Zerstörung eben der Natur sanktioniert haben, die Gott der Menschheit gegeben hat, um sie mit moralischer Verantwortlichkeit zu genießen. Ob dies zu akzeptieren ist oder nicht, ist eine Frage, die nur Muslime für sich selbst beantworten können. Unsere eigene Auffassung ist hingegen, dass – aus einer gewissen Entfernung betrachtet – Muslime sehr wenig Grund haben, für das Recht des modernen Staates zu optieren, da sie sich einer Rechtskultur erfreut haben, die über mehr als zwölf Jahrhunderte lang an einem Recht festgehalten hat, das von einer übergreifenden moralischen Quelle paradigmatisch strukturiert und mit Leben erfüllt worden ist. (89)
In einer bemerkenswerten Fußnote erläutert Hallaq darüber hinaus:
Keines meiner Argumente hier sollte so verstanden werden, dass die islamische Gouvernanz dem Untergang geweiht ist, denn wenn sie dieses Schicksal ereilen sollte, so würde sie einfach das Schicksal der Modernität selbst teilen. Und wie das letzte Kapitel dieses Buches aufzeigt, so ist die Moderne selbst unhaltbar und muss überwunden werden. Die Frage, die offen bleibt, ist, ob die nächste Phase der Weltgeschichte (die sogenannte Zukunft) der islamischen Gouvernanz mit der Einsicht Platz bieten kann, dass dieses Gefüge auf das spirituell-moralische Selbst, auf die Familie und Gemeinschaft, auf wirtschaftliche Gerechtigkeit und, ebenso wichtig, auf die Umwelt achtet. Denn um die Probleme des modernen Projekts wahrhaft zu übersteigen, muss diese Liste von Belangen für alle Gesellschaften in unserer Welt Vorrang erlangen, nicht nur für die islamische. In einem wichtigen Sinne sind die paradigmatischen Probleme und scheinbaren Sackgassen, denen die islamische Gouvernanz begegnet, praktisch identisch mit jenen, denen nicht-muslimische Gesellschaften fast überall begegnen. Der Islam und sein Versprechen einer islamischen Gouvernanz haben kein Monopol auf Krise. (Daher wäre das Wort »unmöglich« im Titel dieses Buches ebensosehr eine Feststellung über die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands des modernen Projekts wie eine über den islamischen Staat.) (198, Fußnote 99)
1.6.2 Opfer und der Aufstieg des Politischen
Zusammen mit dem Aufstieg des Rechtlichen vollzog sich der Aufstieg des Politischen. Dieser Begriff wurde von Carl Schmitt in seiner Schrift Der Begriff des Politischen
Das Politische ist nicht ein getrennter Bereich von Machtverhältnissen, sondern umfasst und durchdringt alle Bereiche. Das gewaltsame Wesen des Politischen, das im Kontext des Tötens oder Getötetwerdens geschmiedet wurde, zwingt dazu, alle anderen Gebiete in Anspruch zu nehmen und sich zu unterwerfen.
Gewalt bildet die wichtigste und zuverlässigste Quelle der Macht auf dem Gebiet des Politischen. Das Politische ist daher die höchste Manifestation des modernen Projektes der Trennung von Sein und Sollen. Noch mehr als die Gebiete des Ethischen und Rechtlichen, in denen Überreste der Vorstellungen von Gerechtigkeit und dem moralisch Guten überleben, ist das Politische ausschließlich mit dem befasst, »was ist«.
Das entscheidende Merkmal des Politischen ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, durch die Form und Inhalt der Politik bestimmt wird. Schmitt gibt folgende Begriffsbestimmung:
Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München und Leipzig, 1932, S. 14.
Diese Bestimmung verleiht dem Politischen seine Stellung als selbständigen Bereich und Zentralgebiet, dem alles andere unterworfen ist, da es um Leben und Tod geht. Das Politische entspringt also der Erkenntnis einer Gesellschaft, dass ihr Dasein auf Gewalt und Krieg zurückgeht, sich mithin in einem Naturzustand befindet, in dem das Überleben stets bedroht ist.
So stellt Schmitt überdies fest:
Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz und jede konkrete Gegensätzlichkeit um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte der Freund-Feindgruppierung nähert.
Ebenda, S. 17.
Gewalt und Feindschaft sind der Gehalt des Politischen. Der Krieg bricht zuzeiten aus, aber die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist jederzeit vorhanden, denn der Feind ist einfach nur der Andere, wie Schmitt ausführt:
Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der Andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind [...].
Ebenda, S. 14.
Diese Möglichkeit von Konflikten ist entscheidend. Von daher bestimmt das Politische alle anderen Bereiche. Der Konfliktfall ist die Ausnahme, aber von diesem Ausnahmezustand her bezieht das Politische seinen Sinn und Zweck. Er bestimmt das politische Verhalten. Und da das Politische ein selbständiges Gebiet bildet, bestimmt es alle anderen Bereiche des menschlichen Handelns.
Um Feind zu sein, genügt es nicht, einfach nur ein Konkurrent oder ein Gegner im Allgemeinen oder ein privater Feind zu sein, sondern es bedarf einer organisierten Gesamtheit, wie Schmitt betont:
Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht.
Ebenda, S. 16.
Es ist offensichtlich, dass hier dem Staat eine zentrale Rolle zukommt. Denn der Staat ist die »organisierte politische Einheit, die als Ganzes für sich die Freund-Feindentscheidung trifft«
In welchem Verhältnis steht vor diesem Hintergrund der Staat als zentraler Ort des Politischen zum Bürger?
Es gibt keinen neutralen Ort ohne Staatlichkeit, der es einem Menschen erlaubte, einfach nur Mensch zu sein ohne politische Zugehörigkeit zu einem Staatswesen. Der Bürger gehört zum Staat wie der Staat zum Bürger gehört. Niemand kann sich dem entziehen. Und die Beziehung wird dadurch noch enger, dass der Nationalstaat aus einer Nation besteht, wobei der Bürger sowohl die Nation bildet als auch von dieser gebildet wird. Staat, Nation und Bürger sind untrennbar in einer politischen Einheit verschmolzen.
Das moderne Subjekt ist ein nationalisiertes Wesen, das sich mit der Nation als Lebensweise identifiziert. Der Bürger ist der Ort des Politischen als Lebensweise, indem er die Bedeutung von Staat, Territorium und Nation als Großfamilie als Sinn seiner Bürgerschaft in sich aufnimmt. Eine Folgerung aus dieser Angleichung ist, dass der Bürger sich selbst mit der Fähigkeit ausgestattet sieht, sich für den Staat zu opfern. Dies steht in enger Verbindung zum Begriff des Politischen von Schmitt.
So legt Paul W. Kahn dar:
Nur das Politische hat die Macht über Leben und Tod. […] Das Politische beginnt, wenn ich mir vorstellen kann, mich selbst zu opfern und andere zu töten, um den Staat zu bewahren. Der moderne Staat ist nicht dann vollends angekommen, wenn er mich gegen Gewalt verteidigt, sondern wenn er mich zu den bewaffneten Kräften einberuft.
Paul W. Kahn, Putting Liberalism in Its Place, Princeton, 2005, S. 231 u. 240.
Die volle Bedeutung der Bürgerschaft erschließt sich erst aus der Bereitschaft zum Selbstopfer. Der Staat setzt diese Bereitschaft als selbstverständlich voraus. Sie stellt ein Potential dar, das in der Nation als Nation und ihren Mitgliedern als Bürgern angelegt ist. Schmitt hat diese Vorstellung mit der geziemenden Kaltblütigkeit zum Ausdruck gebracht:
Mit jedem neugeborenen Kind wird eine neue Welt geboren. Um Gottes Willen, dann ist ja jedes neugeborene Kind ein Aggressor!
Carl Schmitt, Glossarium, Berlin, 1991, S. 320.
Dieser Begriff des Politischen schreibt dem Staat das Recht zu, zu töten und seine Bürger töten zu lassen, zu keinem anderen Zweck als seinem eigenen Erhalt.
Paul W. Kahn führt näherhin aus:
Die Politik liefert eine Lizenz zum Töten und Getötetwerden, die nicht auf der Grundlage irgendeiner moralischen Überlegung gerechtfertigt werden kann. Die grundlegende moralische Botschaft des Westens ist, dass es kein Töten geben sollte: »Du sollst nicht töten.« Aber die Politik des Westens war eine lange Geschichte des Tötens und Opferns. Das war nicht nur die Geschichte der Kolonisation von nicht-westlichen Bevölkerungen, sondern auch des Massenopfers ihrer eigenen politischen Gemeinschaften durch westliche Staaten in den Kriegen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Wie Michael Waltzer schreibt: »Es hat sicherlich niemals einen erfolgreicheren Prätendenten des menschlichen Lebens gegeben als den Staat.«
Paul W. Kahn, Putting Liberalism in Its Place, Princeton, 2005, S. 238–239. Das Zitat von M. Waltzer findet sich in: Michael Waltzer, Obligations: Essays on Disobedience, War and Citizenship, Cambridge, 1970, S. 77.
Der Staat ist der Prätendent, der neue Gott, der über Leben und Tod gebietet, um seiner selbst willen und kraft seiner bloßen Selbstermächtigung. Wie kann unter diesen Bedingungen der Begriff des Opfers des Bürgers mit dem Paradigma der islamischen Gouvernanz vereinbart werden?
Hallaq formuliert die Frage folgendermaßen:
Wenn der moderne Staat auch die Verkörperung des Rechtlichen und seines Positivismus ist […]; wenn seine konstitutionellen Strukturen in ihrer besten Gestalt nicht mehr sind als eine schwache Repräsentation der Herrschaft des Rechts […]; und wenn es der neue Gott ist, der kraft eines positivistischen, souveränen Rechtswillens über Leben und Tod gebietet, dann stellt das Sterben für ihn ein erhebliches begriffliches Problem im Kontext eines islamischen Staates dar. Mit anderen Worten, wie können Muslime, die danach trachten, einen islamischen Staat aufzubauen, Opfer für einen Staat rechtfertigen, der sich dem Moralischen nicht verpflichten konnte und nicht verpflichten kann, der sich nicht binden konnte und nicht binden kann außer, bestenfalls, an eine amoralische Weise des Daseins, an Positivismus, Faktizität und Ist-heit (Is-ness)? (92-93)
Wie kann der Begriff des Opfers um des Staates, einer amoralischen Wesenheit willen in den Rahmen der islamischen Gouvernanz sich einfügen?
Und Hallaq beantwortet diese Frage zunächst folgendermaßen:
Die relativ einfache Antwort ist, dass der Islam den Begriff der Wehrpflicht niemals kannte. Noch gebot er in irgendeiner wirksamen Weise über Leben und Tod um irgend jemandes willen, nicht einmal um Gottes willen. Der Begriff der Wehrpflicht als potentielles Opfer war unbekannt. Und wie wir in Kürze sehen werden, gab es nichts im dschihād, der hauptsächlichen Theorie über Krieg und Frieden, um dieses Opfer zu gebieten. (93; Hervorhebungen im Original)
Im exekutiven Sultanismus stützte sich das Militär auf Söldnertruppen, die für das Geschäft des Krieges eingesetzt wurden. Sie lebten zudem oftmals getrennt von der zivilen Bevölkerung. Die gewöhnlichen Muslime hingegen beteiligten sich normalerweise nicht am Krieg. Und der einzige Weg zum Krieg, den die Scharia erlaubte, war der über den dschihād. Die vielen Kriege, die muslimische Sultane und Machthaber gegeneinander führten und die häufiger waren als die Kriege gegen Nicht-Muslime, fielen gar nicht unter den Begriff des dschihād und blieben daher eine Angelegenheit der Sultane und ihrer Söldner.
Nur wenn es um einen Verteidigungskrieg gegen nicht-muslimische Armeen ging, die muslimische Bevölkerungen erobern wollten, handelte es sich um einen dschihād, an dem teilzunehmen, zur individuellen Pflicht wurde, allerdings auch nur für die Muslime, die in der Nähe des bedrohten Gebiets lebten.
Hallaq erläutert:
Diesem Begriff des dschihād liegt – insbesondere nach dem achten Jahrhundert – stets die stillschweigende Annahme zugrunde, dass die Hauptstütze und der Kern der militärischen Kräfte nicht die Zivilisten sind, die sich der dschihād-Anstrengung anschließen, sondern die Reihen der Söldnertruppen im bezahlten Dienst des exekutiven Sultanismus. (94)
Auch wenn der dschihād als eine wichtige Pflicht dargestellt wurde, erhoben die muslimischen Rechtsgelehrten ihn nicht über zivile Pflichten. So konnten beispielsweise Schulden oder die fehlende Zustimmung der Eltern einen Hinderungsgrund für die Teilnahme am dschihād bilden.
Außerdem brachten muslimische Rechtsgelehrte vor, dass die Verteidigung gegen nicht-muslimische Feinde von der Scharia nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Zweck der Aufrechterhaltung der islamischen Ordnung geboten wurde. Für diesen Zweck genügt die Teilnahme einiger Muslime, so dass die anderen von der Pflicht befreit sind. Als Grund dafür wird angeführt, dass die allgemeine Pflicht zur Teilnahme am Verteidigungskrieg die religiöse wie weltliche Ordnung zugrunde richten würde, die doch gerade geschützt werden sollte.
Hallaq fügt schließlich noch zwei Bemerkungen an:
Erstens: dschihād ist kein staatliches Gesetz, sondern eine moralisch gegründete Menge von Vorschriften, deren Verletzung eine Sache des Gewissens ist. Zweitens: Selbst wenn der dschihād als Pflicht für jeden erwachsenen männlichen Muslim betrachtet wird, bleibt die Verpflichtung eine moralische, und daher gibt es keine vorgeschriebene irdische Strafe in der Scharia für die Weigerung, sich der Kriegsanstrengung anzuschließen, außer der Drohung, den Lohn im Jenseits zu verlieren. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu den staatlichen Strafmaßnamen, die für jene vorgesehen sind, die sich der Wehrpflicht entziehen, geschweige denn für Deserteure. Im letzteren Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass das Verlassen der dschihād-Schlacht (sogenanntes Desertieren) rechtlich erlaubt war, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt waren, einschließlich Müdigkeit, Zusammenbruch oder Tod des Pferdes des Kavalleristen oder sogar in Fällen, in denen die feindlichen Kräfte die muslimischen Kämpfer zahlenmäßig übertrafen. (95)
1.6.3 Die moralische Dimension: eine abschließende Bemerkung
Der moderne Staat formt die Identität des Bürgers auf ganz andere Weise, als die islamische Gouvernanz die Identität ihrer Subjekte auf der Grundlage der Werte der Scharia formt, so dass diesen das Politische und der politische Sinn des Opfers fremd, ja unbekannt sind. Opfer in der paradigmatischen islamischen Gouvernanz war eine moralische Pflicht, die ausschließlich im Rahmen der Selbstverteidigung auferlegt wurde und die Liebe für die Nation sowie die daraus hervorgehende gesetzlich vorgeschriebene Wehrpflicht nicht kannte. Denn die islamische Gemeinschaft dreht sich um die Achse der Scharia als Zentralgebiet des Moralischen.
Hallaq legt näherhin dar:
Die Scharia, das Paradigma der islamischen »legislativen« Gewalt, besaß keinen politischen Willen, zumindest keinen, der mit dem Willen des Staates vergleichbar wäre. Die Scharia handelt von der Gesellschaft, sehr viel weniger von der Politik […] Das moderne Projekt repräsentiert und konstituiert in der lebendigen Realität der gegenwärtigen muslimischen Welt eine tiefe Transformation vom Zeitalter der rechtlichen Moralität zum Zeitalter des Politischen. In der Modernität sind die Politik und das Politische überall, und sie haben die Vorherrschaft. (96)
Während die islamische Kultur von moralischen Geboten und dem von der Scharia vorgeschriebenen ethischen Verhalten durchdrungen war, ist sie nun von Positivismus, Politik und dem Politischen kraft der Begriffe der Bürgerschaft und des politischen Opfers durchsetzt. Der Bürger steht dabei im Dienst des Staates, der nicht nur durch Krieg hervorgebracht wurde, sondern ihn auch stets fortführt und seine Bürger darin opfert.
Dazu bemerkt Hallaq abschließend:
Wenn der Staat nur »Tatsachen« und das Sein anerkennen kann, das tatsächlich aus einer Welt besteht, die aller Werte und moralischen Antriebe beraubt ist, und wenn der Staat durch seine Gesetze über das Leben seiner Bürger und ihre Kraft zum Kampf für und in diesem wertlosen mundus verfügt, heißt dies dann, dass der Bürger sich selbst um des Staates willen opfert, der keinen Wert, keinen moralischen Imperativ und kein Wohl jenseits seines eigenen kennt? Das ist eine Frage, der sich Muslime in der Gegenwart stellen müssen, klaren Auges und ohne Abschwächung, auch wenn Muslime – wie wir sehen werden – nicht die einzigen sind, die mit dieser Frage konfrontiert sind. (96-97)
1.7 Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst
1.7 Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst Yusuf KuhnJede Gesellschaft bedarf ordnender Strukturen und Formen der Disziplin. Bei aller Unterschiedlichkeit ist den meisten Gesellschaften gemeinsam, dass sie ihre Ordnung organisch herausgebildet haben. Vormoderne Gesellschaften, also vorstaatliche und außereuropäische, waren weitgehend autonom und haben sich selbst geregelt. Sie waren nur selten und oberflächlich von bürokratischen Apparaten durchdrungen. Der Herrscher war fern und machte sich vor allem durch seine gelegentlichen Versuche der Besteuerung bemerkbar. Abgesehen davon praktizierten diese Gesellschaften Selbstregierung.
Davon unterscheidet sich grundsätzlich die Ordnung und Disziplin, die der moderne Staat der Gesellschaft auferlegt. Hallaq geht es nun vor allem darum, was diese Unterschiede für die Formation besonderer Subjekte bedeuten. Da der moderne Staat einzig das Produkt der europäischen Geschichte ist, sind auch seine Systeme der Ordnung und Disziplin geschichtlich einzigartig. Und da der Staat eine durchdringende Kontrolle über seine Bevölkerung ausübt, erzeugt er Individuen mit einer völlig neuartigen Subjektivität. Wie ist diese Subjektivität beschaffen? Und ist sie mit der von der islamischen Gouvernanz hervorgebrachten Subjektivität vereinbar?
1.7.1 Die Produktion der Staatssubjekte
Die vom europäischen Staat geschaffene einzigartige Form der Disziplin zielte darauf ab, die Subjektivität des neuen Bürgers zu formen, der sich mit dem Staat identifiziert und willens ist, für ihn zu sterben. Der Ursprung dieses Staates geht auf den Aufstieg mächtiger Monarchien zurück, denen es an der Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle über die Bevölkerung gelegen war, um sich ungestört bereichern zu können. Durch Industrialisierung und Kolonialismus wuchsen die Profite der herrschenden Klasse, während die arbeitenden Klassen verarmten. Der Staat entwickelte sich im Dienst dieser Klassenherrschaft.
Angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit und daraus entspringender Unruhen sollte die Klassenherrschaft mithilfe des Staates gesichert werden, der deswegen Systeme der Ordnung einführte. Ein ausgefeilter Polizeiapparat, der allmählich die gesamte Gesellschaft überwachte, allein reichte dafür nicht aus. Neben der physischen Gewalt bedurfte es subtilerer Mechanismen, welche der Bevölkerung gutes Verhalten im Dienst der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung beibrachten. Unter kapitalistischen Verhältnissen schließt dies freilich zudem die Fähigkeit ein, zu arbeiten und zu produzieren. Die Disziplinierung des Subjekts verlangte daher ein System der Ordnung und instrumentellen Nützlichkeit.
Das System, das zu diesem Zweck eingerichtet wurde, war die Schule. Sie wurde gesetzlich zur Pflicht erhoben, damit kein Kind als angehender Bürger sich dem staatlichen Eintrichtern bestimmter Ideen und Ideale entziehen konnte. In rascher Folge kamen weitere Institutionen der staatlichen Kontrolle, Überwachung, Erziehung, sozialen Wohlfahrt und Gesundheitsversorgung hinzu: Armeen, soziale Einrichtungen, Gefängnisse, Schulen, Krankenhäuser usw. Sie bildeten zusammengenommen eine bürokratische Maschinerie, die bestimmte ideologische Ziele verfolgte und die Gesellschaft mit einer spezifischen Handlungsweise und »Ordnung der Dinge« (Foucault) überzog und durchdrang.
Bei der Disziplinierung der Operationen des Körpers ging es vor allem um Unterwerfung und Nützlichkeit. Dazu wurde der Körper erforscht und dadurch kolonisierbar gemacht, um ihn nach den Erfordernissen eines bestimmen Willens nach Belieben formen und manipulieren zu können. Dieser Wille war neu, denn er entsprang nicht dem Innern des Subjektes oder der lokalen Gemeinschaft, sondern einer äußeren Macht, einem politischen Willen, der von außen auf es einwirkte.
Michel Foucault beschreibt diesen Prozess so:
Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine »politische Anatomie«, die auch eine »Mechanik der Macht« ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 1989, S. 176-177.
Das ist nicht nur Kontrolle, sondern Abrichtung durch die Techniken der Disziplinierung, die dem Körper von außen ihre Imperative diktieren und ihn dadurch umformen. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen modernen Techniken und vormodernen Formen der Disziplin besteht eben darin, dass sie dem Körper von außen aufgezwungen werden, während die klassische Askese darin besteht, durch inneren Willen und Anstrengung die Beherrschung über den Körper zu gewinnen und zu vergrößern.
Wenn die Institutionen der Disziplinierung voll ausgebildet sind und das Staatssubjekt dadurch geschaffen ist, kann der Staat sich des abgerichteten Subjekts bedienen, das sich im Erfolgsfall durch selbstauferlegte Loyalität und effiziente Nützlichkeit auszeichnet. Dieses Subjekt ist nun ebensosehr Produkt wie Teil des Staates, so dass der Eindruck entsteht, dass nicht mehr eine bestimmte Gruppe, sondern die Gesamtheit der sozialen und bürokratischen Institutionen, die freilich immer auf dem Staat basieren, regieren. Das ist der Hintergrund für eine beliebte Erklärung des Erfolgs westlicher Demokratien, nämlich dass Machtteilung die Macht vergrößert, die zugleich zur ideologischen Rechtfertigung dieser Herrschaftsform dient. Übersehen werden dabei nicht zuletzt die vorgängigen Prozesse der Disziplinierung, die allererst das fügsame Subjekt erschaffen, das dem Geheiß des Staates willenlos Folge leistet.
Das ist kaum irgendwo anders so offensichtlich wie in der akademischen Welt, die sich doch ihrer geistigen Unabhängigkeit rühmt und einer wissenschaftlichen Methode folgt, die objektive Erkenntnis der Welt verspricht. Gleichwohl ist der Wissenschaftsbetrieb eine staatliche Institution aus zumindest drei Gründen. Denn er übernimmt erstens fraglos den Positivismus des Staates und erhebt ihn zum wissenschaftlichen Paradigma; er erkennt zweitens den Staat als selbstverständliches Phänomen an und nimmt ihn als unhinterfragte Voraussetzung in den Diskursen der Sozial- und Geisteswissenschaften an; und er spielt drittens eine große Rolle im Staatsbetrieb, und zwar nicht nur durch seine direkte Zuarbeit durch Forschung im Dienste von Militär und Politik, sondern weit darüber hinaus.
Denn in einem viel tieferen Sinn verhilft der Wissenschaftsbetrieb der modernen Regierung dazu, sich als problemlösende Maschine zu präsentieren. Dieses Merkmal ist immer hintergründig im Spiel, wenn die Regierung ihre Aufgabe bekundet, »im Dienst des Volkes« zu stehen. Der historische Ursprung dieses ideologischen Musters geht auf die Entstehung des Staates selbst zurück, der im Zuge seiner Herausbildung die traditionellen Gesellschaften gewaltsam aufgelöst hat. Durch die Zerstörung dieser Ordnung und ihre permanente Reorganisation durch Reformen in Wirtschaft, Erziehung, Bildung, Recht usw. wurden sicherlich einige als solche deklarierte Probleme behoben, aber oftmals eben auch neue und völlig unvorhergesehene geschaffen.
Hallaq erläutert:
Die Wahrnehmung, dass ein »Problem« besteht und dass es daher einer Lösung bedarf, muss auch im Verhältnis zu den Wissensformen des Staates gesehen werden, nämlich dass »Probleme« ontologisch nur dann möglich werden, wenn der Staat möglich wird. So kommt es, dass eine große Mehrheit von diesen »Problemen« die normale und sogar natürliche Ordnung der vormodernen Gesellschaften waren, »Probleme«, mit denen diese Gesellschaften seit unvordenklichen Zeiten gelebt hatten (ohne sie als Probleme zu betrachten). Das Attribut der »problemlösenden Maschine« gehört daher zum Wesen des paradigmatischen Staates. (103)
Der Regierungsapparat setzt bei der Lösung der allgegenwärtigen Probleme stets auf die unvermeidlichen Experten, die meist Wissenschaftler sind. Damit etwas als Lösung überhaupt in Betracht kommen kann, muss es sich im Rahmen der vom Staat geforderten Ideologie des positivistischen Realismus bewegen.
Der Wissenschaftsbetrieb muss unentwegt unter Beweis stellen, dass er den Interessen des Staates dient, indem er die Nation und ihre Elite im rechten Geiste erzieht. Die diversen Wissenschaften wie etwa Soziologie, Ökonomie und Psychologie stellen dazu eine Art intellektuelle Maschinerie für die Regierung zur Verfügung. Die Erziehung im modernen Staat, in der diese wissenschaftlich gestützten Verfahren zum Einsatz kommen, ist das Gebiet, auf dem das Subjekt sein Leben lang in »Obhut« genommen wird. Der Bildung in den entscheidenden Lebensjahren der Kindheit kommt dabei größte Bedeutung zu.
Dazu führt Hallaq aus:
Es beginnt damit, dem Kind Fertigkeiten und Wissen von der Nützlichkeit und Effizienz, von der Liebe zum Heimatland und seiner Güte einzuflößen, und es wird darauf aufbauend und schrittweise mit dem erwachsenen Studenten fortgefahren, um staatliche Interessen, staatliche Prioritäten, staatliche Programme, Nationalismus und die staatliche »problemlösende« Ideologie einzuschärfen. Das ist keine eindimensionale Macht, die einem außen gelegenen Objekt eine Menge von fremden Regeln auferlegt, sondern vielmehr eine Macht, die sich in das Subjekt einschreibt, das durch Bildung und Abrichtung mit der Fähigkeit ausgestattet worden ist, politisch und willentlich reguliert zu werden. (104)
Der paradigmatische Staat produziert den paradigmatischen Bürger und umgekehrt. Der Bürger lebt nicht nur im Staat, sondern gehört dem Staat und ist Teil des Staates, so dass eine totalisierende Subjektivität erzeugt wird, die auf der sozialpsychologischen Ebene wesentliche Eigenschaften des Staates widerspiegelt.
Hallaq stellt pointiert fest:
Das bedeutet die Einführung einer Subjektivität in das menschliche Subjekt, da der Staat relativ neu ist. Es bedeutet die Produktion des einzigartigen homo modernus. (104)
Dafür durchdringt der Staat auch die Familie, die ihm als Produktionseinheit gilt, deren Erzeugnis der Bürger, das nationale Subjekt ist. Die Familie wird kraft des souveränen Rechtswillens umgeformt, um in den Dienst des Staates genommen werden zu können. Diese Umformung wird vorgeblich im Interesse des Kindes vollzogen, das über die Interessen der Eltern und insbesondere des Vaters gestellt wird.
Hallaq beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen:
Das Kind wird der Ort, auf dem die Autorität des Staates ein Reformprogramm durchführt, bevölkert von Recht, Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern und Technikern. Das Patriarchat der Familie wird durch das des Staates ersetzt: Gericht, Schule, Psychiater und Sozialarbeiter lösen weithin die Eltern ab. (105)
Die Krise der modernen Familie, die einst eine Säule der Gesellschaft war, und die Auflösung der Familienstrukturen ist das Ergebnis der staatlichen Politik, mittels derer die Familie in den Disziplinarapparat des Staates eingespannt wird.
Hallaq legt dar:
Ebenso wie der Staat den Bereich des Politischen hervorgebracht hat, so hat er auch durch seine disziplinierende Sozialtechnik den Bereich des Sozialen geschaffen, wo die Gesellschaft sich nach dem Bild des Staates entwickelt. (105)
Das Soziale ist der Bereich, in dem das Politische die Gesellschaft, insbesondere ihre Kinder, nach dem Modell des Bürgers des Nationalstaats samt all der Eigenschaften, welche die nationale Identität erfordert, formt.
Der Aufbau der staatlichen Maschinerie zur Erzeugung des fügsamen Staatssubjekts ging mit dem Aufstieg des Nationalismus einher, der durch die politische Integration der Subjekte deren Unterwerfung weiter verstärkte, indem an die Stelle der traditionellen sinnstiftenden Moralordnung die Metaphysik des Staates und der Nation gesetzt wurde. Die dadurch geschaffene Nation ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Staates.
Der Nationalismus ist die wichtigste Quelle von Sinn für den nationalen Bürger und seine Identität. Die Bürger sind die Nation, und die Nation ist ihre Bürger. Damit wird sowohl die individuelle wie auch die kollektive Identität gebildet. Die Nation erzeugt das »Ich« und »Wir«, die unlöslich ineinander verwoben sind.
Der Nationalismus als sinnstiftende Kraft bildet die Gemeinschaft als Sozialordnung und wird umgekehrt von dieser gebildet. Das Individuum ist in diese Gemeinschaft in einer Weise eingebettet, dass es weitgehend von deren Kultur, Geschichte und Ethos bestimmt und gestaltet wird.
Das führt Hallaq folgendermaßen aus:
Wie das Recht ist auch der Nationalismus überall: Er schafft die Gemeinschaft und verleiht der Weltgeschichte Gestalt, noch bevor der Nationalismus in sie eintritt. Hier liegt kein Widerspruch vor, denn der Nationalismus ist eine Metaphysik. Er hebt die Geschichte nicht nur auf; er macht und schreibt sie nach Belieben um. […] Der Staat und sein Nationalismus, welche die Gemeinschaft sowohl als politisch opferbare wie auch sozialpsychologisch untertänige Mitglieder einberuft, sind zwei Götter in einem. Das ist der politische Bezugsrahmen und die Metaphysik, innerhalb derer der Bürger geboren wird. Sie gestalten ihn nach ihrem Bild, so dass er sie reproduzieren kann, ewig, um ihrer selbst willen. (107)
Die der disziplinierenden Abrichtung des modernen Subjekts auf instrumentelle Nützlichkeit und Effizienz entsprechende Form der Rationalität wurde von Max Weber als »stählernes Gehäuse« bezeichnet, in dem die Moralität des modernen Subjekts mittels Recht, Bürokratie, Mechanisierung, Materialismus und Instrumentalismus gefangen ist. Das »stählerne Gehäuse« ist auch der Ort der modernen Pädagogik, wo Heere von technischen und intellektuellen Experten die Individuen auf deren Funktionieren in der bürokratischen und kapitalistischen Maschinerie einschwören, statt im Rahmen einer umfassenden praktischen Ethik zur Bildung des Menschen zu einer rundum ausgebildeten Persönlichkeit zu verhelfen, über die der technische Experte selbst freilich schon lange nicht mehr verfügt.
Diese moderne Pädagogik wird von Hallaq so beschrieben:
Sie weist Disziplin, Effizienz und Arbeit höchste Bedeutung zu, drei der vielen Lektionen, die der Staat seinen Bürgern als zweite Natur eingeimpft hat. Arbeit um der Arbeit willen, genauso wie das Geld des Kapitalismus um der Anhäufung des Reichtums willen gemacht ist, genauso wie der Staat um seiner selbst willen existiert und sich selbst erhält um seiner Selbsterhaltung willen. Weber sah im Anspruch der Moderne auf Fortschritt einen Begriff, der gleichbedeutend ist mit der »Produktion und Akkumulation von Reichtum und der Beherrschung der Natur … sowie der Idee der Emanzipation des rationalen Subjekts.«
Lawrence A Scaff, Weber on the Cultural Situation of the Modern Age, in: Stephen Turner (Hg.), The Cambridge Companion to Weber, Cambridge, 2000, S. 103. Doch der Preis des Fortschritts war das, was er »Entzauberung« nannte, ein tiefes Empfinden von Verlust, des Verlustes des Heiligen, eines Zustandes der Ganzheit, der spirituellen Verankerung des Selbst in der Welt, in der Natur und in dem, was ich moralische Kosmologie genannt habe. (108)
Das durch die Standardisierung und Automatisierung seiner Psychologie und Rationalität verarmte moderne Subjekt, das immer weiter isoliert und fragmentiert wird, erhält als Ersatz für den Verlust an Sinn die Produkte der Kulturindustrie, die für es eine neue Identität schaffen.
Hallaq erläutert:
Die Spaltungen des inneren Selbst haben ein narzisstisches Individuum hervorgebracht, dessen Bezugsrahmen und Sinn von den unpersönlichen, von den idealen Machttypen (repräsentiert in Nationalismus, Faschismus, Nazismus usw.) abgeleitet sind, die es in einen Zustand der Betäubung verführen.
Siehe Theodor W. Adorno, Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda (Freudsche Theorie und das Muster der faschistischen Propaganda), in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden - Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main, 1972, S. 408-433. In diesen Machttypen findet das narzisstische Ego Zuflucht, Stabilität und sogar Zufriedenheit. (109)
Der Nationalismus kann so als vermeintlich heilsame Kraft in Erscheinung treten, die der Auflösung des modernen Subjekts, dem Sinnverlust und der Entzauberung entgegenwirkt, eben den Effekten, die der Staat durch die Zerstörung und den sozialtechnischen Umbau der Gesellschaft selbst ausgelöst hat.
Diesen Prozess beschreibt Hallaq so:
Durch die Übernahme von Vergangenheit und Zukunft und die Schaffung einer eigenen universalen Historiographie wird die Nation zu einer natürlichen Ontologie, die nicht nur Werte enthält, die alle Werte zersetzen und ersetzen, sondern auch, wie wir gesehen haben, eine historische Transzendenz, eine Metaphysik. […] Die metaphysische Dimension des Nationalismus und seiner psychologischen Investition in die Sozialordnung schaffen für das Subjekt nicht nur einen Bezugsrahmen, sondern eine Welt des Sinns, welche die nunmehr verlorene Welt ersetzt. Deshalb kann es einen Staat ohne Nation nicht geben, und deshalb muss der moderne Staat stets ein Nationalstaat sein, denn ohne Nationalismus hätte der Staat eine so geringe Aussicht auf Überleben wie der Krebspatient ohne Behandlung. Aber wie bei jeder modernen Behandlung hat die Kur Nebenwirkungen. Im Falle des Nationalismus waren diese so schwerwiegend, dass es unmöglich ist, nicht den Schluss zu ziehen, dass die Genozide und Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts (und die gegenwärtigen) das direkte Produkt des Phänomens des Nationalstaats sind. (109)
1.7.2 Die moralischen Technologien des Selbst
Das Paradigma des modernen Staates samt seiner Fähigkeit zur Produktion von Subjekten hat keine Gemeinsamkeit mit dem Paradigma der islamischen Gouvernanz. Im Gegensatz zur europäischen Erfahrung, die den modernen Staat hervorbrachte, beruht die islamische Gouvernanz auf einer ganz anderen historischen Erfahrung mit ihrer eigenen Kultur, Werteordnung und Denkweise. Von entscheidender Bedeutung für die Differenz ist das Fehlen von Monarchie oder Staat, der die Gesetzgebung beherrschte und diese in den Dienst schrankenloser Bereicherung der kleinen herrschenden Schicht und der Unterdrückung der großen Masse stellte, was schließlich Revolutionen notwendig machte. Die muslimischen Gesellschaften waren hingegen von weit geringerer Ungleichheit und vor allem von einer Herrschaft des Rechts geprägt.
Die islamische Gouvernanz kannte keine den Disziplinierungsapparaten des modernen Staates wie Polizei, Gefängnis, Überwachung usw. vergleichbaren Einrichtungen. Die Bildung blieb stets privat, informell und leicht zugänglich. Die sultanische Exekutive gründete zwar Bildungseinrichtungen wie die madrasa, hatte aber keinen Einfluss auf Inhalt und Form der Lehre. Die Bildungsinhalte waren auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichtet und standen im Dienst des Strebens nach dem guten Leben. Die Bildung war daher wie die Scharia selbst weitgehend unabhängig vom Willen der Exekutive. Die politische Macht verfügte nicht über die Fähigkeit, Subjekte zu produzieren, die sich mit dieser Macht identifizierten und sich selbst darin wiedererkannten.
Die islamische Gouvernanz brachte allerdings sehr wohl Subjektivitäten hervor, die paradigmatisch auf der Scharia als Ausdruck der Souveränität Gottes auf Erden gründeten und sich daher grundsätzlich vom Subjekt des modernen Staates unterschieden. Während es dem modernen Subjekt vor allem um die Erkenntnis des Selbst ging, stand hier die Sorge um das Selbst im Vordergrund.
Hallaq wendet sich nun einer methodologischen Frage zu, die sich aus der orientalistischen Betrachtung der Scharia ergibt, welche die Bereiche des Rechtlichen und Moralischen strikt voneinander trennte. Indem diese Trennung auf die Scharia projiziert wird, in der Recht und Moral unauflöslich miteinander verschmolzen sind, wird der islamischen Kultur eine ihr fremde Konzeption aufgezwungen, die das Verstehen verhindert, da der Gegenstand der Untersuchung dadurch verzerrt und entstellt wird. Dieser epistemische Eingriff bleibt nicht nur oberflächlich, sondern führt weit darüber hinaus geradezu zu einer Rekonstitution des Untersuchungsgegenstandes.
Hallaq führt dazu aus:
Die Unterscheidung zwischen – und die Trennung von – dem Rechtlichen und dem Moralischen bildete in der Tat den ersten Akt in der Heraufkunft des akademischen Themas des »islamischen Rechts« im kolonialen Europa des neunzehnten Jahrhunderts. Von diesem »Recht« – eine weitere Fehlbezeichnung – wurde und wird bis auf den heutigen Tag weiterhin behauptet, dass es »versagt« habe, zwischen dem Moralischen und dem Rechtlichen zu unterscheiden. Dieses vermeintliche Versagen – ein begriffliches Urteil, dessen Maßstab das paradigmatische Modell des europäischen Rechts war – lief auf eine Anklage hinaus, die fest auf den vom modernen Staat geschaffenen ideologischen Grundlagen aufruhte. Die Wissenschaftler, die das Wissen schufen, welches das »islamische Recht« ist, und deren Maß einer Rechtskultur eine solche ist, die von der zudringlichen und allgegenwärtigen Aktivität des Staates erfüllt ist, hielten ein »Recht« für unverständlicherweise mangelhaft, das nicht nur nahtlos mit Moralität verwoben war, sondern für seine Durchsetzung von Moralität abhing. Denn in ihrer rechtlichen Weltanschauung zählte eine Durchsetzung durch Moralität nur wenig, wenn überhaupt. (112)
Diese Geringschätzung des Moralischen passt zu einer Kultur, in deren Moralphilosophie eine Frage zentrale Bedeutung gewinnen konnte, die in der islamischen Tradition niemals ernstlich gestellt wurde, nämlich: »Warum überhaupt moralisch sein?« Diese Frage kann nur einem Denken entspringen, in dem die Moral als gesonderter Bereich und nicht als selbstverständlich gilt. Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Dilemma der Modernität. Die Frage ist schlechterdings modern und hätte sich so wohl in keiner vormodernen Kultur gestellt.
Dieser Unterschätzung der »moralischen« Kraft, die in der islamischen Tradition als wesentlicher und integraler Bestandteil des »Rechts« gilt, liegt eine ideologisch bedingte Geringschätzung der Religion, zumindest der islamischen, zugrunde. Die Abscheu gegen die Religion als moralischer Kraft macht blind gegen die Einsicht in die Rolle, welche die Moral tatsächlich auf dem Gebiet des Rechts und umgekehrt spielt. Im Rahmen der modernen moralfeindlichen Denkweise mussten daher andere Erklärungen gesucht und die Geschichtsschreibung entsprechend angepasst werden.
Hallaq richtet dagegen seine Aufmerksamkeit gerade auf die Verwobenheit von Moral und Recht in der islamischen Kultur. So stellt sich nicht die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?«, deren Antwort für muslimische Rechtsgelehrte allzu offensichtlich war, um eine entsprechende Stellung wie in der modernen Moralphilosophie einnehmen zu können, sondern vielmehr die Frage: Wie wird das moralische Subjekt gebildet?
Diese Frage untersucht Hallaq aus einer Perspektive, welche die Herausbildung des moralischen Subjekts in einer Sphäre ansetzt, die dessen Kontakt mit dem »Recht« im engeren Sinne und insbesondere der Judikative vorausliegt:
Denn das moralische Subjekt wurde vorausgesetzt als bereits gebildet qua moralisches Subjekt innerhalb des »Rechts« zum Zeitpunkt des rechtlichen Ereignisses (judicial event), also zu dem Zeitpunkt, da das »Recht« die Präsenz der moralischen Kraft – wie es dies immer tat – als gegeben ansah. Wenn die Moralität sich innerhalb des Habitats des »Rechts« ununterscheidbar verortete, so deshalb, weil das Subjekt dieses »Rechts« in seinen individuellen und kollektiven Formen uneingeschränkt als moralischer Akteur angenommen wurde. Sonst hätten die allgemeinen Weisungen der Scharia im Kontext der sozialen Verhältnisse keine Bedeutung gehabt und wären nicht mehr als ein Gespinst in der Einbildung der Rechtsgelehrten gewesen. (114; Hervorhebung im Original)
Und Hallaq setzt hinzu:
Unser schematischer Ansatz nimmt eine theoretische und praktische Interaktion zwischen der Rechtslehre und dem individuellen muslimischen Subjekt als Mitglied der Gemeinschaft voraus. Es wird als gegeben angesehen, dass die Scharia, wie sie sich durch die Rechtslehre (in ihren substantiellen wie auch prozeduralen und verfahrensrechtlichen Vorgaben) manifestierte, in muslimischen Gesellschaften die höchste Form der Legitimität erworben hatte, dass sie als exemplarisch für das akzeptiert wurde, was das »Recht« sein sollte und ist, dass sie die vollkommen legitime kontextuelle Struktur und Paradigma war, in der die »wohlgeordnete Gesellschaft« funktionierte und lebte, und dass die richtige und gute Praxis das war, was ihren Vorschriften entsprach. Diese Interaktion, eine sozialrechtliche Dialektik erster Ordnung, findet umfassende Bestätigung insbesondere in der Weise, in der ich die Frage nach der Bildung des moralischen Subjekts angehe. Meine Betonung auf die sogenannten rituellen Aspekte des Rechts bestärken Annahmen über die historische Existenz dieser Dialektik, denn meines Wissens hat niemand die Behauptung erhoben, dass diese Aspekte der Scharia irgendeine Abtrennung von der praktischen und sozialen Realität erlitten hätten. Auch wenn der skeptische Orientalismus (fälschlicherweise) eine Trennung zwischen dem »substantiellen Recht« der Scharia einerseits und den sozialen und politischen Praktiken andererseits behauptet hat, so hat er doch nie die spirituelle und religiöse (und, so können wir hinzufügen, praktische) Bedeutung des »Rituellen« für Muslime infrage gestellt. (114-115; Hervorhebungen im Original)
Wie die religiöse und soziale Moralität die Scharia stützte, so bestärkten sich die verschiedenen Teile der fiqh-Lehre (Rechtslehre) gegenseitig in moralischer Hinsicht. Dies kommt in der sorgfältig angelegten, reich ausgearbeiteten und hochgradig strukturierten Darlegung der Rechtslehre zum Ausdruck und ist ein erheblicher Faktor in ihrer Wirksamkeit.
Dass die moderne Wissenschaft diesem Umstand keine Aufmerksamkeit schenkte, führt Hallaq darauf zurück, dass die Schaffung des Untersuchungsgegenstandes »islamisches Recht« unter der Voraussetzung vorgenommen wurde, einen Bereich der »Riten« vom eigentlichen Recht trennen zu können und zu müssen. Als das »islamische Recht im eigentlichen Sinne« galt dabei der Teil der Scharia, der Gebiete des Rechts behandelte, die dem entsprachen, was im westlichen Verständnis als »Recht« galt.
Hallaq erläutert:
Diese Gebiete des »eigentlichen Rechts« waren als muʿāmalāt bezeichnet worden, um darauf hinzuweisen, dass diese Bereiche die Rechtsverhältnisse zwischen und unter Individuen betrafen, wie etwa Familienrecht, Handelsrecht und Strafrecht. Im Gegensatz dazu bezogen sich die ʿibādāt auf jene Gesetze, die vermeintlich die Beziehung des Menschen zu Gott regelten, offensichtlich eine Reihe religiöser Praktiken. Dieser Bereich des Rituellen wurde daher in der Wissenschaft weitgehend außer Acht gelassen bis zum Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als sehr wenige Schriften, die sich mit Waschung und Reinheit befassten, schließlich erschienen. (115-116)
Hallaq weist darauf hin, dass diese Unterscheidung zwar ursprünglich vormodern ist, aber im modernen Diskurs zwangsläufig eine ganz andere Bedeutung gewinnt.
Im Orientalismus wurden jedenfalls die »Rituale« nie als Teil des »Rechts« betrachtet, geschweige denn als konstitutiv für das »eigentlich Rechtliche«. Die Trennung des Rechtlichen vom Moralischen beruht auf einer Blindheit gegenüber der moralischen Kraft des Rechts, welche den Blick für die rechtlichen Wirkungen der »gottesdienstlichen« ʿibādāt wie auch die moralischen Wirkungen der »strikt rechtlichen« Vorschriften der muʿāmalāt verstellt.
Dass es schon einer fortgeschrittenen Schwachsichtigkeit bedarf, um dies nicht zu sehen, beweist bereits die Tatsache, dass alle muslimischen Rechtswerke mit fünf großen Kapiteln beginnen, in denen der Reihe nach die fünf Säulen des Islam (arkān al-islām) ausführlich behandelt werden, d.h. neben der Glaubensbezeugung (schahāda) insbesondere die vier grundlegenden religiösen, gottesdienstlichen Praktiken des Gebets (salāt), der sozialen Pflichtabgabe (zakāt), der Pilgerfahrt (hadschdsch) und des Fastens (sawm).
Aus dem Aufbau der Rechtswerke lässt sich unschwer die vorrangige Bedeutung dieser religiösen Praktiken ersehen. In ihnen kommt die enge und unmittelbare Beziehung des Gläubigen zu Gott zum Ausdruck. Indem sie als Erfüllung eines Abkommens zwischen Gott und dem Gläubigen verrichtet werden, wird nicht nur diese Beziehung bestärkt und stets erneuert, sondern durch ihre tiefen psychologischen Wirkungen zugleich die Grundlage für die willige Befolgung des Rechts geschaffen, das in den Rechtswerken im Anschluss daran dargelegt wird.
Am Anfang steht immer das Gebet, das die Hingabe an Gott ausdrückt und durch seine Regelmäßigkeit beständig übt. Beim Fasten wird ebenfalls die Selbstbeherrschung eingeübt, und durch den erfahrenen Verzicht entsteht zudem ein Mitgefühl für das Leid anderer Menschen und zugleich Dankbarkeit für Gottes Gaben, mit denen Er die Menschen in Seinem Großmut und Seiner Fürsorge bedenkt. Auch die Zakat weckt durch die reinigende Gabe das Mitgefühl und das Verantwortungsgefühl gegenüber den bedürftigen Mitmenschen sowie das Bewusstsein, nichts wirklich selbst zu besitzen, da alles letztlich Gottes Eigentum ist und dem Menschen nur zum rechten Gebrauch anvertraut wurde. Und die anspruchsvolle Pilgerfahrt stellt überdies die Demut und Geduld der Gläubigen gegenüber Gott und in ihrer Gleichheit vor Gott auf die Probe. Schon in dieser rudimentären Skizze einiger weniger Aspekte dieser Praktiken, die angesichts ihrer wahren Tiefe nur eine winzige Andeutung sein können, erweist sich unübersehbar ihr »moralischer« Gehalt.
Die Scharia kann ohne ihre moralischen Stützen gar nicht verstanden werden, und auch nicht, wie sie ihre Wirkung in der Gesellschaft entfalten und diese zu einer wohlgeordneten bilden konnte. Die Moralität, auf der die Scharia gründet, hat ihre Quelle in großem Maße in der performativen Kraft der fünf Säulen.
Hallaq legt dazu weiterhin dar:
Die Moralität, welche die willige Unterwerfung unter die Autorität des »Rechts« beflügelte, wurde durch diese performativen Handlungen konstituiert. Dass ihnen eine hervorragende Stellung und Vorrang eingeräumt wurde, war nicht nur Zeugnis ihrer rituellen religiösen Bedeutung, sondern auch, wenn nicht primär, ihrer grundlegenden moralischen Kraft. Diese Säulen aus dem fiqh zu vertreiben, heißt, die moralischen Grundlagen des Rechts aufzulösen, letzteren den stärksten Antrieb für Rechtsgehorsam zu entziehen. Ein muʿāmalāt-Recht, das seines ʿibādāt-Untergrunds beraubt wurde, ist daher ein Recht, das nicht nur der moralischen Kraft ermangelt, sondern ein Recht, das nicht anwendbar, unwirksam und häufig nicht durchsetzbar ist. (118; Hervorhebung im Original)
Wir können die anschließende Beschreibung der islamischen Praxis der »fünf Säulen« (arkān al-islām) als moralische Grundlage der Scharia, die in viele Einzelheiten geht, hier nicht wiedergeben, da dies zu großen Raum einnehmen und eigentlich eine eigene Darstellung erfordern würde. Daher sei nur noch der Satz zitiert, mit dem Hallaq seine Darlegung zusammenfassend beschließt:
In ihrer vereinigten Kraft sorgen diese performativen Handlungen für die Vorbedingungen, durch welche die moralische Grundlage und moralische Dimension des Rechts konstituiert werden. (129)
Diesen Verzicht auf eine breitere Darstellung müssen wir desgleichen üben, was die darauf folgende Vertiefung der Untersuchung betrifft, die im Anschluss an den großen muslimischen Denker Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) und dessen vielschichtige Verbindung von Scharia, Sufismus und Philosophie zu einer umfassenden Ethik vorgenommen wird. Für Hallaq spiegelt diese Ethik die »scharʿi-sufische Orthopraxis, die vieles von dem ausmachte, was der Islam als eine gelebte spirituelle und weltliche Erfahrung war.« (129) Und sie gilt ihm daher als paradigmatisch.
Wie Kant das Zeitalter der Moderne überschattete, so überschattete al-Ghazālī etliche Jahrhunderte in der Mitte der islamischen Geschichte. Da für eine eingehendere Darstellung und Erörterung hier nicht der Ort ist, wollen wir uns auf ein für unseren Zusammenhang unmittelbar relevantes Zitat beschränken, das dem Kontext von reiner Absicht (niyya), Ehrfurcht gegenüber und Liebe zu Gott sowie dem Wissen um die eigene Beschränktheit im Gebet entstammt:
Letzteres repräsentiert ein denkendes Bewusstsein des beständigen Wunsches und Strebens nach der »Sorge um das Selbst«, das heißt ein Bewusstsein einer grundlegenden Ethik, die allen anderen Handlungen und Verrichtungen zugrunde liegt. Eingebettet in das Gebet (die erste Säule von allen) legt der Wunsch nach Übung des Selbst und stetiger Verbesserung die logische und chronologische Grundlage für die angemessene Ausführung anderer Pflichten. Hierin liegen daher die Samen des ethischen Verhaltens. […] Liebe zu Gott überwiegt für Ghazālī offenkundig die Furcht vor göttlicher Bestrafung […] Gott zu lieben, heißt, für das Selbst zu sorgen, es zu üben und es einer selbstreflektiven und bewusst beabsichtigten Routine performativer Handlungen zu unterziehen. (134; Hervorhebungen im Original)
1.7.3 Unvereinbarkeit der Subjektivitäten
Die Verbindung von Recht, Moral und maßvollem Sufismus führt eine Vertiefung des Sinns der religiösen Praxis mit sich.
Hallaq erläutert:
Liebe und Furcht verbinden sich, um ein tiefes Gefühl der Ergebenheit gegenüber einer höheren Macht zu wecken, die alles in diesem Universum erschaffen hat – und daher besitzt. In Ghazālīs Konzeption wie in der sufischen Tradition, welche die Begriffe des moralischen Rechts zutiefst durchdrungen haben, gewann die Liebe eine herausragende Stellung im Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Die Sorge für das Selbst und die Übung des Selbst sind Mittel, um diese Liebe auszudrücken, denn der Ausdruck selbst repräsentiert eine Gewähr der qurba, das Erlangen eines Platzes in Gottes Nähe. (135-136)
In diesem Denken stellt sich nicht die Frage, warum man überhaupt moralisch sein sollte, sondern vielmehr die Frage, wie man sich selbst als moralisches Wesen bildet. Und der Weg dieser Bildung besteht aus einer Reihe von sich gegenseitig unterstützenden Handlungen, die am Selbst verrichtet werden. Diese Übungen wirken zugleich auf Körper und Geist des Gläubigen, der dadurch lernt, den moralischen Imperativen des Herzens zu folgen.
In der modernen Kultur ist durch eine epistemische Transformation an die Stelle der Sorge für das Selbst die bloße Selbsterkenntnis getreten, in deren Verlauf die Technologien des Selbst in Technologien des Körpers verwandelt wurden. Die Betonung des Selbst, des Ich und seiner Interessen und Wünsche, die Verlagerung des Ortes der Bildung des Individuums vom inneren Selbst zum äußeren Körper führen zu den modernen Phänomenen des Narzissmus und Hedonismus. Da die neuen Technologien des Körpers die Imperative der materiellen Welt in den Mittelpunkt stellen, tragen sie zur Entzauberung und Fragmentierung des Selbst bei. Statt wie in den Technologien des Selbst Körper und Geist zu üben, stärken die Technologien des Körpers ausschließlich den Körper und setzen ihn so zur seelenlosen Hülle herab.
Das gleiche Schicksal widerfährt darüber hinaus der äußeren Welt insgesamt. Indem ihr jeglicher Sinn und Wert ausgetrieben werden, verkommt sie als natürliche Ressource zum beliebig verfügbaren Spielball der beschränkten Interessen des seinerseits sinnentleerten Menschen.
Hallaq führt aus:
Das ist der Mensch, der in einer modernen Welt Einzug gehalten hat, die nicht viel anderes anerkennt als das Politische, als die Eroberung der Welt, die normativ stumm und bar aller moralischen Weisungen ist. Das ist der Mensch, der die Welt sieht »wie sie ist«, ein positivistisches Wesen, das Macht und Stärke als einzige Logik und Gesetz der soziopolitischen Verhältnisse zulässt. [...]
Das ghazālische Projekt stellt daher nicht nur eine intellektuelle Synthese von Moralität, Recht, Theologie, Mystik und Philosophie dar, sondern auch einen »anthropologischen« Streifzug in die muslimische Subjektivität, der die geistigen, sozial-gemeinschaftlichen und psychologischen Kräfte, die diese Subjektivität geformt haben, in ein Paradigma zusammenfasst. Die juristischen Erörterungen der fünf konstitutiven Säulen – die unzweifelhaften Grundlagen des Konzepts, was es heißt, ein Muslim zu sein – werden nicht nur als selbstverständlich angenommen, sondern auch in soziopsychologische Werkzeuge der Bildung von Denken und Handeln verwandelt. (137)
So erstreckt sich die Scharia weit über das »Recht« hinaus in den Bereich der Kultur. In der gesamten vormodernen islamischen Tradition ist das Recht nicht nur in eine Dialektik mit sozialen und kulturellen Normen verwoben, sondern insbesondere im Bereich des Sufismus auch mit der Psychologie, dem Seelenleben.
Diese Dialektik beschreibt Hallaq folgendermaßen:
Wenn die Scharia auch ein psychologisch-mystisches Unternehmen war und wenn sie die paradigmatische und unbestrittene »legislative« Gewalt der islamischen Gouvernanz bildete, dann betraf diese Gouvernanz nicht nur Recht, Moralität und deren organischen Zusammenfluss; sie betraf auch und gleichermaßen die mystische Wahrnehmung der Welt, eine Wahrnehmung, die tief in einer Gesellschaft – repräsentiert von einer Klasse von Mystiker-Rechtsgelehrten – verankert war, die in der Lebenspraxis nicht zwischen den Bedeutungen des Rechtlichen, des Moralischen und des Mystischen unterschied. (137-138; Hervorhebungen im Original)
Hallaq beschließt dieses Kapitel sodann mit folgender Bemerkung:
Die Frage, die sich hier stellen sollte, lautet: Wie würde unsere Welt sein, wenn die legislative Gewalt im modernen Staat unbestreitbar und ausschließlich das Recht des Landes bestimmten würde, ein Recht, das – im Bereich der zivilen Bevölkerung – von der Judikative und Exekutive durchgängig respektiert werden würde? Und wie würde, diese echte Trennung vorausgesetzt, unsere Welt sein, wenn dieses Recht zugleich sowohl moralisch als auch maßvoll mystisch wäre? Die westliche Moralphilosophie hat, wie wir gesehen haben, gewisse kritische Denkströmungen entwickelt, aus denen ein Aufruf resultiert, auf das moralische Repertoire des europäischen geistigen Erbes zurückzugreifen, doch dies bleibt ein ziemlich dürftiger Versuch, der nirgendwo auch nur annähernd zu einer aufsteigenden paradigmatischen Kraft geworden ist, und noch viel weniger zu einem Paradigma. Der Staat und sein erfolgreich erzeugtes modernes Subjekt – und auch, wie wir sogleich sehen werden, der Kapitalismus und die Kapitalgesellschaft – haben beständig und zunehmend darauf hingearbeitet, sicherzustellen, dass kein solches Paradigma ins Dasein treten kann, einbegriffen und ganz besonders ein islamisches. Der homo modernus des Staates steht kraft seines Wesens im Gegensatz zum homo moralis unserer Vorstellung. (138; Hervorhebung im Original)
1.8 Belagernde Globalisierung und moralische Ökonomie
1.8 Belagernde Globalisierung und moralische Ökonomie Yusuf KuhnUm das Verhältnis von Globalisierung und islamischer Gouvernanz näher zu bestimmen, beginnt Hallaq mit einer schematischen Beschreibung der wichtigsten Voraussetzungen, die für eine islamische Gouvernanz gegeben sein müssten:
Nehmen wir an, um den Gedankengang einmal durchzuspielen, dass die islamische Gouvernanz vollends errichtet worden ist. Nehmen wir an, dass die Minimalbedingungen für eine derartige Hervorbringung erfüllt worden sind, einschließlich der, aber nicht begrenzt auf die folgenden: (1) die Errichtung einer göttlichen Souveränität, in der Gottes kosmische Moralgesetze als ein System von Moralprinzipien in praktische »rechtliche« Normen übersetzt sind; (2) eine robuste Trennung der Gewalten, wobei die Legislative – die Entdeckerin der besagten praktischen »rechtlichen« Normen – vollkommen unabhängig ist und die Quelle aller Gesetze des Landes wahrhaft repräsentiert; (3) die legislative und die judikative Gewalt sind aus einem moralischen Stoff gewoben, dessen Kette und Schuss ein durchgängiges Amalgam von Tatsache und Wert sowie von Sein und Sollen ist; (4) eine exekutive Gewalt ist weitgehend auf die Umsetzung des legislativen Willens beschränkt, und es ist ihr erlaubt, temporäre und kleine administrative Regelungen zu erlassen, die mit diesem Willen verträglich sind; (5) eine Lage, in der moralisch gegründete praktische »Rechtsnormen« in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden, indem sie die Gemeinschaft qua Gemeinschaft nähren und ihren Interessen als einer moralisch konstituierten Wesenheit dienen (dies beinhaltet eine gesunde Portion von Egalitarismus und eine koranisch gegründete Ordnung der sozialen Gerechtigkeit); (6) Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen werden entworfen und betrieben von einer völlig unabhängigen Zivilgesellschaft, die durch eine Dialektik der Bedingungen 1-5 oben gebildet worden ist; (7) das Bildungssystem, das niedrigere und das höhere, stellt und beantwortet Fragen über den Sinn des guten Lebens und engagiert Natur- und Geisteswissenschaften nur insofern, als das moralisch gute Leben eine Untersuchung erfordert (hier wird die Vernunft nicht instrumentalisiert); (8) der Begriff des Bürgers ist erfolgreich umgebildet in den Begriff der paradigmatisch moralischen Gemeinschaft, in der jedes Mitglied mit anderen Mitgliedern in einer moralischen Beziehung wechselseitiger Bindungen steht (hier ist der schmittianische Begriff des Politischen der Vergessenheit übergeben und zusammen mit ihm das Opfer des Bürgers); und (9) die einzelnen Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft üben die Kunst der Sorge für das Selbst, indem sie sich, vereinigt wie getrennt, als eine Erweiterung eines moralisch erfüllten Universums sehen. (139-140; Hervorhebung im Original)
1.8.1 Eine globalisierte Welt
Wenn man annimmt, dass eine islamische Gouvernanz unter den Bedingungen der bestehenden Weltlage entsteht, muss auch angenommen werden, dass sie in einer Gemeinschaft mit modernen Staaten leben und von diesen als politische Entität anerkannt werden muss. Darüber hinaus wird sie mit dem diese internationale Staatenordnung zunehmend prägenden Phänomen der Globalisierung konfrontiert werden, die nicht nur ökonomische, sondern auch politische und kulturelle Formen der Hegemonie mit sich bringt. Diese Hegemonie macht sich besonders stark bemerkbar durch die damit einhergehende wechselseitige Durchdringung des Lokalen und Globalen, die insbesondere durch die neuen Technologien der Telekommunikation hervorgerufen wird.
Die ökonomische Hegemonie als Teil der Globalisierung ist zweifellos kapitalistischer Natur. Die Globalisierung ist ein Projekt der reichen und mächtigen Staaten und der ihnen zugehörigen riesigen Konzerne in Gestalt von Kapitalgesellschaften. Das politisch-ökonomische Paradigma dieser mächtigen Staaten ist der Liberalismus mit dem Ziel der Schaffung eines von ihnen kontrollierten Weltmarktes unter weitgehend einheitlichen Rechtsnormen. Auch wenn diese Expansion staatliche Grenzen überschreitet, verkörpert und spiegelt sie doch nahezu die Ideologie des liberalen Staates.
Die Globalisierung auf der kulturellen Ebene bringt die schnelle, aggressive und massive Verbreitung von Formen der westlichen Kultur mit sich, die sich überall ausbreiten und alle nicht-westlichen Kulturen und Traditionen zu zerstören drohen. Der Staat büßt zwar sein Monopol auf die Produktion der Kultur ein, indem wesentliche Funktionen von transnationalen Konzernen übernommen werden. Die Formen der Kultur, die dadurch verbreitet werden, ändern sich jedoch im Kern nicht.
Auf der politisch-militärischen Ebene bleibt der Staat ein entscheidender Hebel der Globalisierung. Die westliche Hegemonie basiert auf dem westlichen Staat als einer globalen Form der Staatsmacht.
Herausragend ist freilich der ökonomische Aspekt der Globalisierung. Die Institutionen, Mechanismen und Märkte, auf die sich die westliche Hegemonie stützt, sind großenteils ein Werk des Staates, wobei sich die ideologische Ausrichtung auf materiellen Reichtum, ökonomisches Wachstum und Profit auf Kosten aller anderen Normen und Werte ohnehin mit der herrschenden Logik des modernen Staates deckt.
Eine zentrale Rolle als treibende Kraft der kapitalistischen Globalisierung spielt der transnationale Konzern, der historisch auf die vom Staat geschaffene und regulierte Kapitalgesellschaft als Korporation zurückgeht. Der frühe moderne Staat erkannte zwar die moralische Verwerflichkeit dieser Korporation an und hat sie zeitweilig mit der Begründung verboten, dass sie die persönliche moralische Verantwortlichkeit untergräbt, aber sie schließlich doch sogar mit einer erweiterten juristischen Persönlichkeit erlaubt.
Eine Korporation in diesem Sinne ist eine Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, deren Gesellschafter (Aktionäre, Anteilseigner) mit Einlagen auf das in Anteilen zerlegte Grundkapital beteiligt sind, ohne persönlich für die Verbindlichkeiten der Kapitalgesellschaft zu haften. Eben diese »Unverantwortlichkeit« hatte ursprünglich zu ihrem Verbot durch die britische Regierung geführt, die dadurch eine Auflösung der persönlichen moralischen Verantwortlichkeit befürchtete, die jahrhundertelang die Geschäftswelt geprägt hatte. Über den Charakter dieser Korporation kann jedenfalls kein Zweifel bestehen.
So legt Hallaq dar:
Die Korporation wird durch das Gesetz zu einem einzigen Zweck geschaffen: ihren Reichtum zu mehren und diesen Zweck über alle anderen zu erheben, einschließlich der sozialen Verantwortung, die, wenn sie überhaupt besteht, in den Dienst der Schaffung von noch mehr Profit gestellt wird. (145)
Die korporativ verfassten transnationalen Konzerne sind berüchtigt dafür, im Interesse der Profitmaximierung und Kapitalakkumulation vor dem Einsatz keiner noch so unmenschlichen, ausbeuterischen und naturzerstörenden Praktik bis hin zur massenhaften Vernichtung von Menschenleben zurückzuschrecken, da diese lediglich als Ressourcen und allenfalls externe Kosten verbucht werden.
Die Betrachtung der Globalisierung und der Rolle des Staates zeigt, dass sich weder die Formeigenschaften des Staates grundsätzlich verändert haben, noch die Globalisierung wesentliche neue Eigenschaften eingeführt hat, so dass sich auch durch die Globalisierung keine wesentlichen Veränderungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen für die islamische Gouvernanz ergeben.
Die islamische Gouvernanz muss den Herausforderungen des modernen Staates und der Globalisierung begegnen, wobei allerdings ein Faktor, der im Zusammenhang der Globalisierung besonders hervorgetreten ist, noch in seinem Verhältnis zur islamischen Gouvernanz zu untersuchen bleibt, nämlich der Kapitalismus. Dies ist bisher nicht geschehen, denn Hallaq rechnet den Kapitalismus nicht zu den wesentlichen Eigenschaften des modernen Staates, da er eine bestimmte ökonomische Ausrichtung nicht zum Wesensmerkmal des Staates erklären will, um damit nicht die Möglichkeit der Existenz beispielsweise eines sozialistischen Staates auszuschließen.
1.8.2 Die moralische Ökonomie des Islam
Die islamische Wirtschaftsordnung basiert auf einer Vorstellung der Welt, des Menschen und des politischen Lebens, die von der Scharia geprägt ist. Während die liberale Ökonomie Profitmaximierung und Kapitalakkumulation zum höchsten Zweck erhebt, beruht das islamische Paradigma auf einer moralischen Ökonomie, in der bei aller Vielfalt die Werte und Normen der Scharia unangefochten an erster Stelle stehen.
Zum Verhältnis von Kapitalismus und Scharia führt Hallaq aus:
Der Erfolg kann durch die unbestreitbare Tatsache ermessen werden, dass die islamische materielle Zivilisation und der islamische regionale und internationale Handel zu den kraftvollsten und hervorragendsten in der vormodernen Weltgeschichte gehörten. Diese (möglicherweise untertriebene) Charakterisierung wird nicht nur durch das, was wir über den Islam und seine Wirtschaftsgeschichte wissen, erwiesen, sondern auch durch die Tatsache bestätigt, dass der europäische Kolonialismus im neunzehnten Jahrhundert die muslimischen Gebiete nicht wirklich unter seine Herrschaft bringen konnte, ohne zuerst die ökonomischen Strukturen niederzureißen, und diese Strukturen beruhten in einem erheblichen Maße auf den Regelungen, Gesetzen und Werten der Scharia. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb das kolonialistische Projekt alles daran setzte, die Scharia auszumerzen, da sie ein Hindernis für die politische Expansion und noch viel mehr für die ökonomische Herrschaft Europas war. Diese wahrgenommene und tatsächliche Hinderung fasst alles treffend zusammen, denn sie bestätigt die Inkompatibilität der Scharia als moralischer Ordnung mit den Methoden und Werten des modernen Kapitalismus. (147)
Für das Verständnis der moralischen Ökonomie der Scharia ist eine Betrachtung ihres Begriffs des Eigentums von wesentlicher Bedeutung. Der Schutz und die Förderung von Eigentum und Reichtum ist eine der fünf »universellen Prinzipien« (kulliyyāt), durch welche die Zwecke des moralischen Rechts bestimmt werden und gemäß deren die Rechtsordnung der Scharia und damit die islamische Gesellschaft als Ganzes strukturiert wurden. Die anderen vier Prinzipien sind der Schutz des Lebens (nafs), der Religion (dīn), der Vernunft (ʿaql) und der Gemeinschaft (nasl; wörtlich: Nachkommen). Die einzelnen Rechtsnormen können so verstanden werden, dass sie im Dienst dieser allgemeinen Zwecke und somit zugleich im besten Interesse der Gläubigen stehen.
Die maqāsid asch-scharīʿa genannten Prinzipien gingen in der Rechtstheorie aus einer induktiven Untersuchung der Gesamtheit der Scharia-Normen hervor. Sie erfolgte, als die Scharia ein hohes Maß an Reife erreicht hatte, so dass die Rechtsgelehrten auf das Ganze zurückblicken und die Prinzipien aus der vollen Breite der Rechtskultur gewinnen konnten.
Hallaq erläutert:
[…] die Gesamtwirkung der Scharia – als diskursive, theoretische, institutionelle und praktische Ordnung – wurde auf diese allgemeinen Prinzipien konzentriert, die wiederum, einmal entpackt und bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet, nichts anderes als die Scharia in ihrer vollen Entfaltung hervorbrachten. Unter Rückbezug auf mindestens fünf Jahrhunderte einer fest gegründeten Rechtstradition wurden die allgemeinen Prinzipien induktiv ermittelt und später kontinuierlich ausgearbeitet, da sie zu paradigmatischen Eigenschaften der Scharia als rechtlicher und kultureller Ordnung geworden waren. Es kann in der Tat gesagt werden, dass sie vieles von dem erfassen, was den Islam ausmacht. (148)
Keines der fünf Prinzipien ist freilich selbständig. Alle hängen wechselseitig voneinander ab und bedingen sich gegenseitig. Gleichwohl ragen zwei heraus. Das Prinzip des Schutzes des Lebens ist offensichtlich wesentlich, insofern es die grundlegende Struktur der Sozialordnung liefert, während das Prinzip des Schutzes der Religion dieser Ordnung sowie dem Leben des Einzelnen allererst Sinn und Bedeutung verleiht. In ihrer wechselseitigen Verwobenheit bilden sie den Rahmen, in dem der Begriff des Eigentums erst recht verstanden werden kann.
Zum Begriff des Eigentums stellt Hallaq fest:
So wurde das Prinzip des Eigentums durch eine strukturelle Dialektik der Werte, Praktiken und Institutionen der Scharia abgegrenzt, eingeschränkt, unterstützt und zur Verwirklichung gebracht. Die Prinzipien der Eigentumsrechte sowie des Erwerbs, der Erhaltung und der Verausgabung von Reichtum wurden allesamt zugleich von einer Dialektik aus spirituellen, metaphysischen und weltlichen Überlegungen reguliert. (149)
Die Scharia erlaubt Handel, Geschäfte und den Erwerb von Reichtum, stellt aber zugleich alle Praktiken und Verfahren unter strenge Regeln, die von moralischen Werten erfüllt sind. Dies kommt auch in den ausführlichen Abhandlungen zu wirtschaftlichen Themen in den Rechtswerken zum Ausdruck, in denen sie einen breiten Raum einnehmen. Dazu gehören bis in kleinste Einzelheiten gehende Erörterungen und Regelungen zu einer großen Vielfalt von Themen: Kauf, Verkauf, Vertrag, Handel, Markt, Risiko, Zins und Wucher (ribā), Abgaben (zakāt), milde Gaben (sadaqa), Stiftungen (waqf) usw. All diesen Bestimmungen unterlag unlöslich eine große Vielfalt von moralischen Begriffen wie Vergebung, Großmut, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Vermeidung von Gier und Habsucht, Gerechtigkeit, soziale Verantwortlichkeit usw.
Aller Verdienst, Gewinn und Reichtum entspringt nicht einer wertberaubten rohen und trägen Welt, sondern gehört zu den Gaben und Segnungen, mit denen Gott die Menschen bedacht hat und wofür Ihm wiederum Dankbarkeit gebührt. Und diese Dankbarkeit übersetzt sich zugleich im Bewusstsein, dass Gott allein alles gehört, in soziale Verantwortung, in die Bereitschaft, den Bedürftigen zu geben, denen ein natürliches Recht daran zusteht. Denn zwei Verpflichtungen müssen erfüllt werden: die Rechte Gottes und die Rechte der Menschen, die gleichermaßen Pflichten ihrer Mitmenschen sind.
Weiterhin erläutert Hallaq:
Der Erwerb von Reichtum, der erlaubt ist und sogar gefördert wird, ist daher von höheren moralischen Prinzipien geregelt und diesen unterworfen, wodurch ihm qualitative Beschränkungen auferlegt werden. Diese Prinzipien sind nicht von technischer Art, sondern gehen auf die epistemischen und psychologischen Technologien des moralischen Subjekts zurück. Es ist einfach nicht genug, die Aufnahme von offensichtlich wucherischen und risikobeladenen (gharar) geschäftlichen Unternehmungen zu vermeiden, zwei Säulen, auf denen das moderne islamische Bank- und Finanzwesen zu basieren behauptet, und selbst das auf problematische Weise. Das Betreiben von Geschäften und Profitmachen muss von einer ganzheitlichen Weltsicht getragen werden, einer Sicht, die sich von einer Ordnung von Praktiken und Überzeugungen herleitet, die den gesamten Bereich der Technologien des Selbst konstituieren und widerspiegeln, die das moralische Subjekt bilden und stützen. Diese Technologien sind überhaupt nicht auffindbar in den Ansätzen des modernen islamischen Bank- und Finanzwesens, ein Phänomen, das (wenn man es mit den beschränkten technischen Belangen verbindet, welche diese Ansätze prägen) zu der Schlussfolgerung nötigt, dass sowohl die Theorie wie auch die Praxis des gegenwärtigen islamischen Bank- und Finanzwesens zutiefst mangelhaft ist. Letztlich ist es nur dem Namen nach islamisch, da es fast nichts von dem widerspiegelt, was den Islam als moralische Ordnung ausmacht. (151-152)
1.8.3 Abschließende Bemerkungen über Dilemmata
Wenn man die Existenz einer islamischen Gouvernanz annimmt, muss man zweifellos auch annehmen, dass sie sich den Herausforderungen der globalisierten Welt stellen muss, die sich insbesondere auf drei Ebenen manifestieren: der Militarismus der mächtigen imperialen Staaten, das kulturelle Eindringen von außen und der gewaltige liberal-kapitalistische Weltmarkt. Alle drei Faktoren entspringen nahezu den gleichen Machtzentren und sind stark miteinander verknüpft.
Die bestehenden politisch-militärischen Kräfteverhältnisse befördern unzweifelhaft einen modernen Staat im Sinne von Carl Schmitt, so dass eine islamische Gouvernanz jederzeit in seiner Existenz bedroht sein wird.
Aufgrund der äußeren Einflüsse auf der kulturellen Ebene wird eine islamische Gouvernanz dazu gezwungen sein, die Formen der globalisierten Kultur zu untersuchen und zu bewerten. Sie muss deren Quellen verstehen, die unter anderem in Materialismus, Hedonismus, Narzissmus, Entzauberung, Positivismus und der Trennung von Sein und Sollen, von Moral und Werten einerseits und Tatsachen, Wissenschaft, Recht und Ökonomie andererseits zu finden sind. Die kulturellen Kräfte der westlichen Hegemonie samt ihren alles durchsetzenden Konzerne, insbesondere auf dem Gebiet der Informationstechnologie, stellen eine unleugbare Bedrohung für eine islamische Gouvernanz dar, in der nicht Macht und Profit, sondern die Moral die Kultur bestimmt.
Die ökonomische Herausforderung ist sicher nicht geringer. Wie soll sich eine moralische Ökonomie auf dem von Kapitalakkumulation getriebenen Weltmarkt behaupten? Die Folgen einer kapitalistischen Durchdringung um den Preis der Aufgabe aller maßgeblichen Normen und Werte wären nicht hinnehmbar. Schon die Kapitalgesellschaft mit ihrer zerstörerischen Wirkung auf die persönliche moralische Verantwortung könnte unter den Bedingungen der Scharia nicht geduldet werden. Denn die Scharia wäre ohne die moralische und rechtliche Verantwortung natürlicher Personen einer ihrer wichtigsten Grundlagen beraubt. Eine islamische Gouvernanz mit ihrer Betonung der sozialen Gerechtigkeit ist jedenfalls mit den aller Moral spottenden, einzig auf Profit ausgerichteten Praktiken des modernen Kapitalismus unvereinbar.
1.9 Zentralgebiet des Moralischen
1.9 Zentralgebiet des Moralischen Yusuf KuhnHallaq beginnt das letzte Kapitel mit folgender Feststellung:
Der moderne islamistische Diskurs nimmt an, dass der moderne Staat ein neutrales Werkzeug der Regierung ist, das dazu eingespannt werden kann, bestimmte Funktionen gemäß der Wahl und auf Geheiß ihrer Führer auszuführen. Wenn die Maschinerie der staatlichen Regierung nicht für Unterdrückung verwandt wird, kann sie von den Führern in eine Repräsentation des Volkswillens verwandelt werden, wodurch bestimmt wird, was der Staat werden wird: eine liberale Demokratie, ein sozialistisches Regime oder ein islamischer Staat, der die Werte und Ideale zur Anwendung bringt, die im Koran enthalten sind und die der Prophet einst in seinem »Mini-Staat« von Medina verwirklicht hatte. (155)
Dabei wird allerdings übersehen, dass der moderne Staat keineswegs so neutral ist, wie hier angenommen wird, sondern auf zahlreichen metaphysischen Voraussetzungen beruht, deren Verträglichkeit mit islamischen Normen und Werten, gelinde gesagt, äußerst fraglich ist. Der moderne Staat geht freilich mit einem ganzen Arsenal von metaphysischen Voraussetzungen einher. Seine spezifische Verfasstheit zieht daher Wirkungen nach sich, die sich auf alle Ebenen des Politischen, Sozialen, Ökonomischen, Kulturellen, Epistemischen und Psychologischen erstrecken. Der Staat schafft dadurch besondere Ordnungen des Wissens, die für die Bildung individueller und kollektiver Subjektivität bestimmend sind und damit auch für den Sinn des Lebens seiner Subjekte.
Darin spiegelt sich freilich auch die historische und geographische Herkunft des modernen Staates, der von seinem europäischen Kerngebiet aus in die Kolonien und den Rest der Welt exportiert wurde. Da dort die auch in Europa selbst über einen langen Zeitraum mit äußerster Gewalt erst hergestellten Bedingungen, derer der Staat für sein Funktionieren bedarf, weitgehend fehlen, gebricht es ihm an der Legitimität und der Fähigkeit, Gesellschaften zu beherrschen, welche die vorgängigen Prozesse der meist kriegerischen Homogenisierung und Nationalisierung noch nicht durchlaufen haben. Was dann als »schwacher« Staat erscheint, beweist nur die Fremdheit und Untauglichkeit des modernen Staates.
Natürlich heißt all dies nicht, dass sich der moderne Staat nicht verändert. Aber es zeigt sich, dass er bei aller Wandlung doch wesentliche Strukturen bewahrt, die sich stets als unvereinbar auch nur mit den aller elementarsten Erfordernissen der islamischen Gouvernanz erwiesen haben. Die Globalisierung hat diese Inkompatibilität nur noch verstärkt, die letztlich moralischer Natur ist.
1.9.1 Hauptsächliche Inkompatibilitäten
Hallaq führt nun fünf Inkompatibilitäten von modernem Staat und islamischer Gouvernanz an, die von besonderer Bedeutung sind. Da es sich dabei um eine Zusammenfassung von in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich Dargestelltem handelt, wollen wir uns kurz fassen.
Erstens: Der Staat als anthropozentrische Entität besitzt eine Metaphysik, die als Produkt seines eigenen souveränen Willens die höchste Manifestation des Positivismus ist und als solche seinen Willen zur Macht widerspiegelt. Die islamische Gouvernanz hingegen schließt eine auf Positivismus und Willen zur Macht basierende Metaphysik aus, da für sie der Vorrang des Moralischen nicht nur die Metaphysik, sondern darüber hinaus alle Bereiche bestimmt. Die beiden Metaphysiken sind also unvereinbar.
Zweitens: Die islamische Gouvernanz ist durch die Souveränität Gottes gebunden, da ihre Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit sowie die uneingeschränkte Herrschaft des Rechts darauf beruhen, während die selbstgeschaffene Souveränität des modernen Staates keinerlei äußeren Schranken unterliegt. Daher sind die beiden Begriffe der Souveränität unvereinbar.
Drittens: Da in der islamischen Gouvernanz Gott die höchste Quelle der moralischen Autorität und des Rechts ist, ist zu deren konkreter Umsetzung eine strikte Trennung der Gewalten mit einer uneingeschränkten Herrschaft der »legislativen« Gewalt über die Judikative und Exekutive erforderlich. Im modernen Staat hingegen wird die Herrschaft des Rechts durch die beiden anderen Gewalten zumindest stark beschnitten. Daher sind diese beiden Konzeptionen der Gewaltenteilung weitgehend unvereinbar.
Viertens: Die Weltsicht der islamischen Gouvernanz geht davon aus, dass Welt und Mensch als Geschöpfe Gottes von Wert und Sinn erfüllt sind. Das durch religiös-moralische Praxis gebildete Subjekt unterliegt moralischen Imperativen und lebt in der Verantwortung vor Gott und für die Mitmenschen in der Gemeinschaft. Es ist aufgerufen, Gutes zu tun, und hat schließlich vor Gott als seinem gerechten und allwissenden Schöpfer und Richter Rechenschaft für sein Tun abzulegen. Das Subjekt des modernen Staates hingegen lebt in einer durch die Trennung von Sein und Sollen jeglichen Werts und Sinnes beraubten Welt und wird vom Staat mittels seiner disziplinierenden Technologien des Selbst zum folgsamen und opferbereiten nationalen Bürger abgerichtet, dessen Wert ausschließlich im endlosen Kampf um weltliche Interessen in einer sinnlosen Welt liegt. Das Subjekt des Seins und das Subjekt des Sollens sind grundlegend verschiedene Konzeptionen des Menschen, die in unüberwindlichem Gegensatz zueinander stehen und völlig unvereinbar sind.
Fünftens: Der moderne Staat und das kapitalistische Projekt der Globalisierung agieren in einer materiellen Welt der nackten Tatsachen und schaffen darin folgerichtig einen homo oeconomicus, der ausschließlich vom Streben nach materiellem Profit geleitet ist. Die islamische Gouvernanz bringt hingegen einen homo oeconomicus hervor, der von höheren moralischen Imperativen geleitet ist, der im Angesicht Gottes seiner sozialen Verantwortung verpflichtet ist, der keinen Begriff des beliebig und schrankenlos verfügbaren Eigentums kennt, da letztlich alles Gott gehört, der es ihm nur zur pfleglichen Behandlung anvertraut hat und eben nicht zur Profitmacherei und unendlichen Kapitalakkumulation in universeller Konkurrenz, die nur Feindschaft und keine Liebe kennt. Die Unvereinbarkeit der beiden Konzeptionen ist unübersehbar.
Aus dieser Diagnose ergeben sich vielfältige Schlussfolgerungen, von denen Hallaq einige herausstellt:
Die Gesamtheit dieser inhärenten und grundsätzlichen Gegensätze wirft ein erhebliches Problem auf. Wenn Muslime ihr Leben in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht organisieren wollen, stehen sie vor einer entscheidenden Wahl. Entweder müssen sie sich dem modernen Staat und der Welt, die ihn hervorbrachte, ergeben, oder der moderne Staat und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, muss die Legitimität der islamischen Gouvernanz anerkennen, das heißt die muslimische Konzeption von Politik, Recht und, von größter Bedeutung, Moralität wie auch ihrer untergeordneten politischen und ökonomischen Erfordernisse. Die erste Option erscheint auf den ersten Blick als realistischer, vorausgesetzt, dass sie gegenwärtig weithin von Muslimen und sogar ihren Intellektuellen akzeptiert wird, obgleich meist aufgrund der irrtümlichen Annahme, dass das System des modernen Staates beizeiten in einen islamischen Staat umgewandelt werden könne. Wie ich in den vorausgehenden Kapiteln zu zeigen versucht habe, gebricht es dieser Annahme an einem angemessenen Verständnis des Wesens des modernen Staates, seiner Formeigenschaften und seiner inhärenten moralischen Inkompatibilität mit jeglicher Form der islamischen Gouvernanz. Die zweite Option erscheint allen Anzeichen zufolge als weniger wahrscheinlich, da jede Form der islamischen Gouvernanz innerhalb eines Systems von Staaten wird leben müssen, das selbst unter dem Druck der Imperative einer globalisierten Welt steht. Wenn der moderne Staat, wie uns so viele Analysten sagen, selbst mit dem Druck der Globalisierung kämpfen und sich unter diesem Druck neu anpassen muss, so würde eine islamische Gouvernanz vielfältige und zunehmende Herausforderungen erleiden, die ziemlich wahrscheinlich ihren Niedergang und ebenso wahrscheinlich ihren völligen Zusammenbruch verursachen würden. (161-162)
1.9.2 Ein Ausweg?
Die Untersuchung muss jedoch über diese Realpolitik hinausgehen. Wie der moderne Staat fremd und drückend auf der muslimischen Welt – und einem großen Teil des »Rests« der Welt – lastet, so wirft die Modernität als Ganzes für die gesamte Welt einschließlich der westlichen, die sie ursprünglich hervorgebracht hat, eine Vielzahl von Problemen auf. Sie reichen von spiritueller Leere, Sinnlosigkeit, Nihilismus, Hedonismus und Narzissmus bis zur Zerstörung jeglicher Gemeinschaft, der Familie und der Natur.
Dazu merkt Hallaq an:
Nichts davon kann von dem übergreifenden Projekt des modernen Staates abgetrennt werden. Daher kommt die Infragestellung des modernen Projekts nicht umhin, den Staat in die vorderste Reihe der Kritik zu stellen. Und sie kommt ebenfalls nicht umhin, zugleich die Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Welt in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken, denn […] unsere Einstellung zu und unser Umgang mit dieser natürlichen Welt ist das Maß unseres Daseins, unserer Auffassung dessen, was es für uns heißt, Menschen zu sein. Die Folge dieser Einstellungen ist nicht, wie viele denken, bloß eine Tatsache des Lebens, eine lediglich bedauerliche Begleiterscheinung unserer ansonsten guten Absichten und Errungenschaften des Fortschritts. Sie ist vielmehr das eigentliche Maß des Menschen, da sie die niedrigste Richtgröße bildet, an der unsere moralische Verantwortlichkeit gegenüber allen Dingen in der Welt gemessen und beurteilt werden muss. Sie ist, mit anderen Worten, die zentralste Frage, die das bedrängt, was das Zentralgebiet des Moralischen sein sollte, eine Frage, deren Lösung alle anderen Fragen, Probleme und wiederum deren Lösungen innerhalb der Gesamtheit dessen, was wir die untergeordneten Gebiete genannt haben, vorherbestimmt. (162-163; Hervorhebungen im Original)
Da diese Probleme neben allen praktischen Herausforderungen, die damit einhergehen, letztlich auf eine Entstellung in der moralischen Auffassung der Natur zurückgehen, kann nur eine Berichtigung dieses Moralverständnisses zu echten Lösungen führen. Und das betrifft selbstverständlich nicht nur das islamische Denken, wie Hallaq herausstellt:
Und diese Lösungen haben unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf jegliche Möglichkeit einer islamischen Gouvernanz in der modernen Welt, sondern auch und in erster Linie auf den modernen Staat und die Bedingungen, unter denen er besteht. […] Die grundlegendsten Probleme des modernen Islam sind nicht ausschließlich islamisch, sondern wohnen in der Tat gleichermaßen dem modernen Projekt selbst in Ost und West inne. (163; Hervorhebungen im Original)
Für eine Erörterung dieser Fragen ist es erforderlich, auf die durch die Aufklärung forcierte Trennung von Sein und Sollen zurückzukommen, denn durch sie wurde das in der Moderne vorherrschende Moralverständnis zutiefst geprägt. Bei der Behandlung dieses Themas stützt sich Hallaq neben Charles Taylor und Alasdair MacIntyre auch auf die Kritiken von H. A. Prichard und Charles Larmore.
Von hier ab bis zum Ende des Buches beschränke ich mich auf die Übersetzung, um Hallaqs abschließende Überlegungen in voller Länge sowie möglichst ungefiltert und getreu wiederzugeben. Denn sie entwerfen das Projekt einer Debatte, das wahrlich ernst genommen zu werden verdient.
Zu diesen moralphilosophischen Fragen von grundlegender Bedeutung führt Hallaq also aus:
[…] die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen stand in einer dialektisch kausalen Beziehung mit der Trennung des Wertes von einer natürlichen Welt, die als »nackt« und »träge« betrachtet wurde. Wenn die Materie allen Wertes beraubt wird, hört sie auf, Teil eines anima mundi zu sein, und kann somit als ein Objekt behandelt werden. Sie kann erforscht und dem gesamten Arsenal unserer autonomen rationalen Analyse (und mithin unseren Handlungen) unterworfen werden, ohne dass sie moralische Forderungen gegen uns erheben könnte. Aber diese noch nie dagewesene paradigmatische Unterscheidung brachte eine weitere bedeutsame Konsequenz hervor, nämlich die Isolation der Vernunft von Gründen (the isolation of reason from reasons), wobei die Vernunft ein Instrument des Denkens über die Welt ist und Gründe die substantiellen »Ursachen« repräsentieren, die durch die Vernunft Denken generieren. Während vor der Aufklärung Vernunft und Gründe unterschiedslos zusammenarbeiteten, wurde nach der Aufklärung die Vernunft, im Unterschied zu Gründen, zu einem autonomen Status erhoben und von ihr erwartet, Gründe selbständig zu generieren. Daher das unerschütterliche Beharren der modernen Moralphilosophie darauf, dass die Moralität durch die autonome und selbstgesetzgebende Vernunft gerechtfertigt werden muss – das Rückgrat der kantischen Konzeption, die über das moderne Paradigma der Moral herrscht. Obgleich diese kantische Position wiederholten und vernichtenden Kritiken unterworfen worden ist, hatte sie weiter Bestand und hat nicht aufgehört, Anziehungskraft auszuüben. Der Grund dafür ist die Verschanzung der Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert in allem modernen Denken, wo die Welt gesehen wird »als letztlich nichts mehr als die Materie in Bewegung ... normativ stumm, bar jeglicher Leitung, wie wir uns verhalten sollten.«
Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge 2008, S. 111–112. Die Vernunft hat hier die Gründe auf eine Nichtigkeit reduziert und, wie Spengler sagte, leugnet alle Möglichkeiten außer sich.Siehe Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1983, S. 157.
Wie Prichard
Harold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 21-37. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 49–68. und LarmoreCharles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008; Charles Larmore, The Morals of Modernity. Cambridge, 1996. – und allgemeiner mit ihnen Taylor und MacIntyre,Charles Taylor, Justice After Virtue, in: John Horton / Susan Mendus (Hg.), After MacIntyre: Critical Perspectives on the Work of Alasdair MacIntyre, Cambridge, 1994, S. 16–43. Weite Teile dieses Aufsatzes sind in deutscher Übersetzung von Wolfgang Barus unter anderem Titel und in anderem Zusammenhang erschienen; die Kapitel I, II und III der englischen und der deutschen Version scheinen einander ziemlich genau zu entsprechen: Die Motive einer Verfahrensethik, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main, 1986, S. 101-135. unter anderen – in der Tat vorgebracht haben, ist es unmöglich, unseren Weg zur Moralität mittels autonomer Rationalität zu begründen, die, wie wir gesehen haben,Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 101 ff.; Paul Guyer, Kant on Freedom, Law, and Happiness. Cambridge, 2000; Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge 2008, S. 105. auf dem kantischen Begriff der Freiheit basiert. Prichard hat argumentiert, dass dieser wesenhaft kantische Ansatz »zum Scheitern verurteilt« ist, weil er auf »dem Irrtum« beruht, »zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann.«Harold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 36. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 68. Aber die Anziehungskraft der autonomen Rationalität, die in Freiheit gegründet ist, ist keineswegs zufällig, denn das Wesen dieser Art von Rationalität ist eben gerade der Wille zur Freiheit. Diese Freiheit erweist sich letztlich als nicht bloß unsere persönliche und private Freiheit – die sie natürlich ist -, sondern als die Freiheit des Menschen, über die Natur und allem, was sich in ihr befindet, zu herrschen, einschließlich »jegliches« Menschlichen, das als ein integraler Bestandteil von ihr definiert werden mag (z.B. der »edle Wilde«, jene Wesen, die »in einem Naturzustand« leben). Es ist die Freiheit von den Verpflichtungen eines Lebens unter den moralischen Forderungen dieser Welt als einer kosmischen Werteordnung, die uns als solche ihre eigenen Beschränkungen auferlegt. Die Ethik der Autonomie, die sich aus dieser Freiheit ableitet, ist derart vorherrschend gewesen, dass eine Philosophin so weit gegangen ist, sie zu »der einzigen, die mit der Metaphysik der modernen Welt verträglich ist,«Siehe Christine Korsgaard, Sources of Normativity, Cambridge, 1996, S. 5; und Larmores Kritik: Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 112. zu erklären. Wie Larmore und Prichard jedoch überzeugend aufgezeigt haben, macht diese Konzeption der selbstgesetzgebenden Vernunft »wenig Sinn«, da sie annimmt, dass die Vernunft oder der kantische »vernünftige Wille« ein Akteur und ein proaktiver Gesetzgeber ist, während die Vernunft in Wirklichkeit »nicht ein Akteur ist, sondern vielmehr ein Vermögen, das wir, die wir [die]Einschub in eckigen Klammern von Wael Hallaq eingefügt. Akteure sind, mehr oder weniger gut ausüben.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 109. Dieses Vermögen ist gewissermaßen eine Maschine des vernünftigen Denkens, das über das entscheidet, was wir als Gründe sehen, und das, nach der Durchführung dieser Entscheidung, die Gründe dafür anführt, von etwas überzeugt zu sein oder in einer bestimmten Weise zu handeln. Mit anderen Worten, die Vernunft kann nicht autonom sein, da sie, damit ihr latentes Potential verwirklicht werden kann, aktiviert werden muss, und dies kann nur durch das Antworten auf Gründe geschehen. Folglich erfordert die Vernunft »Empfänglichkeit für Gründe«, und deshalb »kann kein Prinzip als rational gelten, wenn nicht Gründe vorhanden sind, die für seine Annahme sprechen.«Ebenda, S. 109 u. 112.
Wenn es daher solche Dinge wie Gründe für Denken und Handeln geben soll, muss die Vernunft »sie in die Welt von außen einführen, indem sie von ihr selbst entworfene Prinzipien der neutralen Oberfläche der Natur auferlegt,«
Ebenda, S. 112. das heißt anzunehmen, dass die Oberfläche der Natur neutral ist. Genau hier scheint dieser Ansatz eine naturalistische Konzeption der Welt zu verraten. Nachdem Larmore die hobbesianischen und kantianischen Argumente trefflich aufgelöst und die Unterscheidung zwischen Vernunft und Gründen kraftvoll und ebenso trefflich ausgearbeitet hat, konnte er schlussfolgern, dass der einzige Weg, die Autorität der Moralität anzuerkennen, darin besteht, - »von Anfang an« und »ohne jeden Umweg durch mein eigenes Wohl« – den Fokus zu richten auf »den bestimmenden Wert des moralischen Denkens – nämlich die Tatsache, dass das Wohl eines anderen an sich ein Grund für eine Handlung meinerseits ist [...] Unsere moralische Identität besteht nicht darin, unsere eigene Menschlichkeit wertzuschätzen und damit zu bestimmen, dass wir die Menschlichkeit in jedweder Person, in der sie erscheinen mag, wertschätzen sollten. Sie ist ein Grund, unseren Nachbarn in nicht weniger unmittelbarer Weise zu lieben, als wir natürlicherweise gewogen sind, uns um uns selbst zu sorgen. [...] Die [kantianische]Einschub in eckigen Klammern von Hallaq eingefügt. Ethik der Autonomie muss verworfen werden, und an ihre Stelle gehört das, was ich die Autonomie der Moralität genannt habe – womit ich meine, […] dass die Moralität einen autonomen, irreduziblen Wertbereich bildet, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können, sondern den wir einfach anerkennen müssen.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 122; Hervorhebungen im Original.
Welche Eigenschaft der Welt genau den Kontext der Gründe für diese Autonomie bilden mag, ist eine Frage, die Larmore in allgemeinen platonischen Begriffen beantwortet. Gründe »bilden eine intrinsisch normative Ordnung der Wirklichkeit, die nicht auf physikalische oder psychologische Tatsachen reduziert werden kann.«
Ebenda, S. 123-129, insbesondere 129. Doch wohin gehen wir von hier aus, so dass wir Gründen eine spezifisch bestimmte Substanz und eine besondere Bedeutung zuschreiben können? Was in einer mit Werten gesättigten Welt ist es, das uns in konkreten und genauen Begriffen sagt, worin das Wohl eines anderen besteht? Und wie bestimmen wir dieses Wohl in einem spezifischen kulturellen Kontext und zu jedwedem konkreten Zeitpunkt?
Ironischerweise sind solche Fragen und Debatten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, die aus formidabler moderner Wissenschaft und rationalem Denken hervorgehen, ein genauer Widerhall eben der Debatten, die Muslime vor über tausend Jahren führten. Die Fragen und Probleme, denen sie begegneten und die im wesentlichen denen gleichen, die von Kantianern, Neukantianern, Antikantianern und anderen erhoben wurden, waren für mehr als zwei Jahrhunderte geistige Kampfplätze. Von der Mitte des achten Jahrhunderts A.D. bis zum Ende des zehnten und darüber hinaus bildeten sich große rechtlich-intellektuelle Bewegungen heraus, die das gesamte Spektrum der intellektuellen Meinungsvielfalt hinsichtlich der Frage der Moralität, ihrer Autonomie und der Rolle der Vernunft bei der Bestimmung menschlicher Handlungen repräsentierten. Der einzige große Unterschied zwischen den beiden Debatten ist ihr Kontext: während die meisten Denker der Aufklärung – bei all ihrer Verschiedenheit – nur eine entzauberte Welt kannten, bewohnten die vormodernen muslimischen Intellektuellen eine Welt, die mehr oder weniger »verzaubert« war. Diese Intellektuellen, die über mehr als zwei Jahrhunderte ihre geistigen Kräfte miteinander maßen, kamen schließlich zu dem überein, was ich an anderer Stelle die »Große Synthese«
Für eine eingehende Darstellung dieser Synthese siehe Wael Hallaq, The Origins and Evolution of Islamic Law. Cambridge, 2005 (Stellenangaben im Index unter »Great Synthesis«); Wael Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge, 2009, S. 55-60 u. 72. genannt habe, nämlich die Synthese zwischen Vernunft und Gründen.Dies wird auf dem Gebiet der Islamwissenschaft oftmals in die Begriffe eines Konflikts oder Gegensatzes zwischen »Vernunft und Offenbarung« gefasst, eine rudimentäre Konzeption, die dem Aufwerfen harter Fragen zuvorkommt. Wenn Gründe einmal auf »Offenbarung« reduziert sind, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, sie irrationaler Religion zuzuweisen, wodurch der »Wettstreit« zwischen Vernunft und Gründen so gestaltet wird, dass er vom Adel der Vernunft gewonnen werden müsste. Es konnte ebenso wenig eine Leugnung einer Welt, die mit Wert gesättigt ist, geben wie einer Welt, in der das menschliche Vermögen der Vernunft, Gottes eigene Schöpfung, sowohl stets gegenwärtig als auch kraftvoll ist. Und die Scharia, die bestimmende Überzeugung und Praxis der Muslime, war das Ergebnis einer Synthese zwischen den beiden.
Der Islam hat sich in der Tat von Beginn an selbst als al-umma al-wasat, die mittlere Gemeinschaft verstanden, ein Begriff, der seine Berechtigung vom Koran selbst bezieht und später in rechtlichen, theologischen und epistemischen Weisen weiter entwickelt worden ist. Die mittlere Gemeinschaft, wie sie in der Scharia durch das ausgefeilte und komplexe diskursive Feld der usūl al-fiqh (Rechtstheorie) bestimmt wurde, ist eben deshalb als solche betrachtet worden, weil sie eine mittlere Stellung einnahm zwischen den – sozusagen – »muslimischen Kantianern« und den Literalisten, also jenen, welche die menschliche Vernunft auf einen marginalen Status reduzieren wollten.
Siehe dazu Wael Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge, 2009, S. 72-124. Sie wurde deshalb metaphorisch als mittlere Gemeinschaft bekannt, weil diese zwei »extremen« Lager zu Minderheiten herabgesetzt wurden, während die Mehrheit das Mittelfeld belegte, wo die Vernunft die Entdeckerin von Gründen sein muss, wobei letztere ihre moralischen Forderungen erheben und die erstere beschränken.
Aber woraus gehen die Gründe hervor? In den Kapiteln 4
Siehe das Kapitel Das Rechtliche, das Politische und das Moralische, S. 100 ff. und 5Siehe das Kapitel Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst, S. 120 ff. haben wir eine Antwort in einiger Ausführlichkeit dargelegt, indem wir die Quelle der Gründe als »eine kosmische Moralordnung« gekennzeichnet haben.Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 101 ff. Es sind genau die paradigmatischen Attribute dieser Ordnung, an denen es dem Koran gelegen war. Während das Erfüllen von Verträgen, die Verteilung der Erbteile und die Bestrafung des Übeltäters einen – wenn auch winzigen – Teil des koranischen Korpus bildeten, kann jeder einsichtige Leser des Textes nicht die Erkenntnis versagen, dass diese substantiellen »Urteile« beiläufige Nebenprodukte der übergreifenden koranischen Botschaft waren: dass wir Menschen nicht die Erde besitzen; dass es etwas oder jemanden Größeres als uns gibt; dass der Umstand, in Gemeinschaften erschaffen zu sein, damit einhergehend die Verpflichtung unsererseits schafft, gute Werke zu verrichten; dass Humanität und Moralität miteinander einhergehen; dass göttliche Allmacht, wie auch immer ewig und abstrakt, funktional und soziologisch in den Dienst dieser großen moralischen Imperative tritt. Es gibt keinen Sinn für diese Allmacht ohne den moralischen Imperativ, denn die Raison d’être dieser Allmacht hängt an der Forderung nach und dem Beharren auf den moralischen Bereich. Sollte der moralische Bereich eines Tages aus der kosmischen Ordnung verschwinden, dann hätte die Allmacht keinen Grund, weiter zu existieren. Die Welt wurde schon durch diese Allmacht erschaffen, einem Vermögen, das nun zurückgezogen oder beiseite gelegt werden kann, da die Aufgabe erfüllt worden ist. Wenn jedoch die Allmacht weiter besteht, dann kraft ihres Zwillings, der Allgegenwart, wobei letztere die Fortdauer der ersteren als Hüter des moralischen Bereichs gewährleistet.
Der Koran, die Scharia und die Rechtsgelehrten, die sie über Jahrhunderte repräsentiert haben, erkannten allesamt die Permanenz dieses moralischen Bereichs an. Doch alle von ihnen erkannten ebenfalls und mit gleicher Kraft die Tatsache an, dass die partikulären Rechtsnormen, die aus diesem moralischen Bereich abzuleiten sind, situativ sind und dem nie endenden idschtihād unterliegen. Dieser letztere umgreift die Seele und den Körper der Deckungsgleichheit von Vernunft und Gründen, der beständigen Dialektik zwischen ihnen, die dem ewigen moralischen Bereich erlaubt, sich entsprechend Zeit, Bedürfnis und Umstand auf unterschiedliche Weise zu manifestieren. Wenn der Koran in der Sprechweise der Araber offenbart wurde, so geschah dies, wie es wiederholt heißt, in der Absicht, ihnen den moralischen Bereich durch ihre Sprache und Gebräuche verständlich zu machen. Die Scharia folgte dieser Logik höchst getreu, indem sie die vielsagende Maxime – die sie über Jahrhunderte hindurch konsequent und beharrlich praktizierte – annahm, dass »die Scharia für alle Zeiten und Orte gut ist«.
Die rechtlichen Manifestationen dieser Maxime werden detailliert erforscht in: Wael Hallaq, Authority, Continuity, and Change in Islamic Law. Cambridge, 2001. Und dies wurde möglich gemacht durch den Begriff und die Institution des idschtihād, der beständig erneuerten Anstrengung, das moralische Recht vernünftig zu bedenken, bei jeder Gelegenheit und in jedem Augenblick die Dialektik zwischen Vernunft und Gründen zu untersuchen. In dieser Tradition war die Vernunft unweigerlich durch und durch empfänglich für Gründe. (163-167; Hervorhebungen im Original)
1.9.3Handlungsoptionen
Hallaq schließt in diesem letzten Abschnitt, der ungekürzt wiedergegeben sei, mit folgenden Überlegungen zu Handlungsoptionen, die sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Analyse ergeben:
Die moralische Veranlagung der Scharia war, wie wir gesehen haben, ein Stachel in der Seite des Kolonialismus in der muslimischen Welt, ein Stachel, der herausgerissen werden musste. Die Dezimierung der Scharia ist dessen vollendeter Ausdruck: Die Modernität und ihr Staat konnten und können die Scharia in ihren eigenen Begriffen nicht hinnehmen, da diese Begriffe zutiefst moralisch und egalitär sind, wohingegen der Staat und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, die Moral in einen untergeordneten Bereich verbannte. Um eine Minimalformulierung zu wählen: Das Zentralgebiet des Kolonialismus war das Ökonomische und das Politische, nicht das Moralische. Und so blieb das Ökonomische und Politische das Zentralgebiet der Modernität und ihrer fortschreitenden Globalisierung.
Doch trotz der zerstörerischen Wirkungen des Kolonialismus bleibt die historische Scharia, immer kraftvoller, der Ort des Zentralgebiets des Moralischen. Während ihre Institutionen, ihre Hermeneutik und ihr Personal allesamt ohne Hoffnung auf Rückkehr verschwunden sind,
Siehe Wael Hallaq, Can the Shariʿa Be Restored?, in: Yvonne Y. Haddad and Barbara F. Stowasser (Hg.), Islamic Law and the Challenges of Modernity, Walnut Creek, Calif., Altamira Press, 2004, S. 21–53. bestehen ihre moralischen Wirkungen mit unverbrüchlicher Standhaftigkeit fort. Diese Moralordnung, ein Kapital von unermesslichem Wert, kann zumindest zwei Handlungsoptionen stützen, eine interne und eine externe.Es könnte freilich vieles darüber gesagt werden, welche Lösungen für die Herausforderungen und Probleme, die dieses Buch aufwirft, vorgeschlagen werden könnten, aber eine ausführliche Darlegung solcher Lösungen würde es erforderlich machen, ein weiteres und viel längeres Buch zu schreiben.
Erstens: Im Einklang mit dem Zentralgebiet des Moralischen und seinen Imperativen können Muslime nun beginnen – insbesondere im Licht des »Arabischen Frühlings« -, aufkeimende Regierungsformen zu artikulieren und zu konstruieren, die zu gegebener Zeit weiterer und robusterer Entwicklung entlang der gleichen Linien fähig wären. Das würde nonkonformistisches Denken und native Vorstellungskraft erfordern, da die sozialen Einheiten, aus denen sich die größere soziopolitische Ordnung zusammensetzt, in Begriffen von moralischen Gemeinschaften überdacht werden müssen, die, neben anderen Dingen, wiederverzaubert werden müssen. Historische moralische Ressourcen würden eine Blaupause für eine Bestimmung dessen liefern, was es heißt, sich mit den Belangen der Wirtschaft, Bildung, privaten und öffentlichen Sphären und vor allem der Umwelt und der natürlichen Ordnung zu befassen. Sie würden auch ein Konzept der gemeinschaftlichen und individuellen Rechte liefern, das ein klares Verständnis der Unzulänglichkeiten und Stärken des Begriffs der Rechte der liberalen Ordnung erfordern würde. Eine deutliche und verständliche Position zum Begriff der Rechte ist von wesentlicher Bedeutung, wie wir sogleich sehen werden. Aber interne, indigene Überlegungen der Gemeinschaft als dem Zentralgebiet des Moralischen wären die letztliche Basis, auf der eine überzeugende Theorie des Antiuniversalismus errichtet werden könnte, eine Theorie, die sich für die Einzigartigkeit der Weltgesellschaften ausspricht, die aber auch die geistige Lebenskraft und Widerständigkeit aufbringen muss, die erforderlich ist, um ein überzeugendes Gegenmittel gegen das vorherrschende liberale Konzept des Universalismus bereitzustellen. Dieser anfängliche, aber nachhaltige Prozess ist daher dialektisch, indem er sich hin und her bewegt zwischen den konstruktiven Anstrengungen des Aufbaus einer Gemeinschaft und einer diskursiven Verhandlung mit – und über – den modernen Staat und seine liberalen Werte, im Osten wie auch im Westen. Das Beharren auf die zweite Komponente dieser Dialektik ist, wie wir sehen werden, wesentlich für die Standfestigkeit, mit der die erste Komponente – der Daseinsgrund des gesamten Projekts – verfolgt wird. Solch ein sich beständig und langsam entwickelnder Ansatz hat die Aussicht, wenn nicht Gewissheit, auf anfänglichen Erfolg, indem es die Kräfte meidet (wenn nicht ihnen entgeht, dank seiner maßvollen und zurückhaltenden Programmatik), die wir in diesem Buch als antagonistisch und destruktiv gegenüber einer umfassenden islamischen Gouvernanz identifiziert haben.
Zweitens: Während des langen Prozesses der Bildung aufkeimender Institutionen – die eine erneute Darlegung der Scharia-Normen und eine nochmalige begriffliche Fassung der politischen Gemeinschaft verlangen – können und müssen Muslime und ihre intellektuellen und politischen Eliten mit ihren westlichen Gesprächspartnern eine Debatte über die Notwendigkeit der Erhebung des Moralischen zum Zentralgebiet aufnehmen, was wiederum von den Muslimen verlangen würde, ein Vokabular zu entwickeln, das diese Gesprächspartner verstehen können, ein Vokabular, das neben anderen Dingen dem Begriff der Rechte innerhalb des Kontextes der Notwendigkeit Rechnung trägt, Varianten der moralischen Ordnung zu konstruieren, die der jeweiligen Gesellschaft angemessen sind. Hier würden Muslime, die sich in diesem Prozess engagieren, davon überzeugt werden und die größte geistige Energie darauf verwenden, andere – einschließlich muslimischer Liberaler
Obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass ein paradigmatischer Wandel in der westlichen liberalen Ordnung, nahezu automatisch, die muslimische und arabische liberale Bewegung schwächen wird, vielleicht bis hin zum Zusammenbruch, denn der islamische und arabische Liberalismus ist eine Strömung, die an noch tieferen Widersprüchen und Inkohärenz leidet als selbst die euro-amerikanische liberale Ordnung. – davon zu überzeugen, dass der Universalismus und eine universalistische Theorie der Rechte kein anderes Schicksal haben kann als letztliches Scheitern.
Mit anderen Worten, selbst während dieses anfänglichen Prozesses der Bildung von moralisch gegründeten Gemeinschaften gibt es vieles, was Muslime tun können,
Wie beispielsweise im beachtlichen Werk von Taha Abdurrahman schon ersichtlich. um zur Reformierung moderner Moralitäten beizutragen. Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick kühn und weit hergeholt erscheinen, aber er ist es nicht, denn es gibt zumindest eine bedeutende moralische Strömung der westlichen Philosophie und des westlichen politischen Denkens, die eine weitgehende Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen islamischen Streben aufweist, da es geistige Energie zur postmodernen Kritik beisteuert, wie problematisch modern diese Kritik auch bleiben mag. Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten,Siehe die »bemerkenswerte Fußnote«, S. 110. wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.
Die ausschlaggebenden Fragen bleiben daher: Können diese Kräfte auf allen Seiten ihren Ethnozentrismus überwinden und sich zusammenschließen bei der Infragestellung des modernen Projekts und seines Staates? Können die Taylors genug geistigen Mut aufbringen, MacIntyres zu werden? Können sie alle, Westler und Nicht-Westler, den gefährlichen und bösartigen Mythos des Zusammenstoßes der Zivilisationen demontieren? Können sie ihre moralische Kraft und Stärke so steigern, um einen Sieg herbeizuführen, der das Moralische zum Zentralgebiet der Weltkulturen erhebt, ungeachtet ihrer »zivilisatorischen« Varianten? Denn genauso wie es keine islamische Gouvernanz ohne einen solchen Sieg geben kann, wird es von vornherein keinen Sieg geben, ohne dass die Modernität ein moralisches Erwachen erfährt. Das muss erst noch geschehen.
[John Gray schreibt:]
»Die politischen Formen, die in wahrhaft post-aufklärerischen Kulturen entstehen mögen, werden jene sein, die Diversität schützen und ausdrücken – die unterschiedliche Kulturen, von denen einige, aber keineswegs alle oder auch nur die meisten von liberalen Lebensformen, unterschiedlichen Weltanschauungen und Lebensweisen beherrscht sind, befähigen, in Frieden und Harmonie zu koexistieren. Damit dies eine wirkliche historische Möglichkeit wird, müssen gleichwohl gewisse Konzeptionen und Bindungen, die nicht nur für die Aufklärung und somit für die Modernität, sondern auch und noch grundlegender für die zentralen Traditionen der westlichen Zivilisation konstitutiv waren, berichtigt oder aufgegeben werden. Gewisse Konzeptionen nicht nur der Moralität, sondern auch der Wissenschaft, die zentrale Elemente in den Kulturen der Aufklärung sind, müssen fallengelassen werden. Gewisse Auffassungen der Religion, die in westlichen Traditionen lange Bestand haben, nicht als Gefäß einer besonderen Lebensweise, sondern als Träger von Wahrheiten, die universelle Autorität besitzen, müssen verworfen werden. Die grundlegendste westliche Bindung und Verpflichtung, die humanistische Konzeption der Menschheit als eines privilegierten Ortes der Wahrheit, das in der sokratischen Erkundung und in der christlichen Offenbarung Ausdruck findet und das in säkularen und naturalistischen Formen des Aufklärungsprojektes der menschlichen Selbstemanzipation durch das Wachstum des Wissens wieder auftaucht, muss aufgegeben werden […]
Durch die Gewinnung einer neuen Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt, zur Erde und den anderen lebenden Wesen, mit denen wir die Erde teilen, in der die menschliche Subjektivität nicht als das Maß aller Dinge gilt, kann eine Wende in unseren ererbten Traditionen des Denkens erlangt werden, welche die Möglichkeit eröffnet, dass zutiefst unterschiedliche Formen menschlicher Gemeinschaft auf Erden in Frieden zusammenwohnen.«
John Gray, Enlightenment's Wake: Politics and Culture at the Close of the Modern Age, Abingdon, 2007, S. 232 u. 229; Hervorhebungen von Wael Hallaq.
Auf Erden in Frieden Zusammenwohnen ist sicherlich ein hoher Anspruch, vielleicht eine weitere moderne Utopie, aber die Modernität einer restrukturierenden moralischen Kritik zu unterziehen, ist das wesentlichste Erfordernis nicht nur für den Aufstieg der islamischen Gouvernanz, sondern auch für unser materielles und spirituelles Überleben. Islamische Gouvernanz und Muslime haben nicht das Monopol auf Krise. (167-170; Hervorhebungen im Original)
2 Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq
2 Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq Yusuf KuhnVorbemerkung
Dieses Interview mit Wael Hallaq erschien 2014 in der Zeitschrift Jadaliyya
Der folgende Text ist die Übersetzung eines Interviews mit Wael Hallaq
2.1 Wissen als Politik mit anderen Mitteln
2.1 Wissen als Politik mit anderen Mitteln Yusuf Kuhn2.1.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 1 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya
Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte ist Wael Hallaq zu einem der führenden Gelehrten des islamischen Rechts in der westlichen akademischen Welt aufgestiegen. Er hat maßgebliche Beiträge nicht nur zur Erforschung der Theorie und Praxis des islamischen Rechts geliefert, sondern auch zur Entwicklung einer Methodologie, mittels derer islamische Gelehrte befähigt wurden, den Herausforderungen, mit denen die islamische Rechtstradition konfrontiert war, zu begegnen. Hallaq ist daher in einzigartiger Weise positioniert, um umfassendere Fragen hinsichtlich der moralischen und geistigen Grundlagen konkurrierender moderner Projekte zu behandeln. Mit seinem letzten Buch The Impossible State
2.1.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 1
Hasan Azad: Eine der Debatten, die heutzutage grassieren, drehte sich um das Desinteresse, das muslimischen Intellektuellen im Westen zuteil wird. Es lässt sich sagen, dass, mit ziemlich unbedeutenden Ausnahmen, die moderne muslimische Präsenz in – oder der Beitrag zu – der intellektuellen Welt des Westens nahezu null ist. Auf den letzten Seiten deines Buches Impossible State hast du darauf aufmerksam gemacht, dass ein robustes intellektuelles Engagement zwischen muslimischen Denkern und ihren westlichen Pendants wesentlich ist, nicht nur für ein besseres westliches Verstehen des Islam, sondern auch für eine Erweiterung des Bereichs der intellektuellen Möglichkeiten innerhalb des euro-amerikanischen Denkens. Dein Argument verfolgt, glaube ich, das Ziel, den Gedanken zu vermitteln, dass die islamische Weltsicht und das islamische Erbe einen großen Beitrag zur Bereicherung unserer Reflexionen über das Projekt der Moderne zu leisten haben, im Westen nicht weniger als im Osten. Worin besteht dieser Beitrag? Und warum geschieht er nicht? Was sind die Hindernisse, die dem im Wege stehen?
Wael Hallaq: Von den möglichen Beiträgen des Islam zu einer Kritik und Restrukturierung des Projekts der Moderne zu sprechen, ist eine ziemliche große Herausforderung, die erst nach einer Diagnose der gegenwärtigen modernen Verfassung und ihrer Ursachen kommen sollte. Die Hindernisse, die du angesprochen hast, sind zahlreich und vielschichtig, und sie entspringen auf beiden Seiten der Scheidelinie. Wenn es Versagen gibt – und es gibt in der Tat eine Menge -, dann kann es nicht auf einer Seite allein verortet werden. Das erste und offensichtlichste ist natürlich das Hindernis der Sprache, das einzige Mittel, um Gedanken zu kommunizieren. Der Westen – damit meine ich hier Europa, seine Aufklärung, seine spezifisch modernen Institutionen und Kultur sowie die Ausbreitung von alledem hauptsächlich nach Nordamerika – hat es für ausreichend gehalten, seine zwei oder drei großen Sprachen als so universal zu erachten, um sich nicht darum bemühen zu müssen, andere Sprachen gut zu lernen, wenn überhaupt. Sogar der Orientalismus als akademische Disziplin war darin nicht erfolgreich, eine anhaltende Beherrschung islamischer Sprachen
Aber dem Orientalismus ist hier eine weitere Bedeutung zu geben. Das Feld des Orientalismus ist auf vielerlei Weisen von einer äußeren, ungeheuer ausgedehnten Schicht umgeben, nämlich von unzähligen einflussreichen Stimmen, die sich nie darum geschert haben, in irgendeiner Weise die harte geistige und philologische Arbeit über den Islam zu verrichten. Doch sie fühlen sich gleichwohl im vollen Besitz der Berechtigung und selbstsicheren Befähigung, sich über den »Orient« auszulassen, sowohl in den Klassenzimmern der akademischen Welt wie auch als sogenannte »Experten« in den Massenmedien. Dieser »periphere« Orientalismus entgeht meist unseren gebräuchlichen Definitionen dieser Disziplin, auch wenn er den Großteil des verbreiteten und populären westlichen Wissens über den Rest der Welt, insbesondere den Islam, bildet. Dies ist jedenfalls grob angedeutet das sprachliche Hindernis.
Hasan Azad: Würdest du sagen, dass dies ein technisches Hindernis ist, eines der Logistik und der Überwindung von sprachlich-pädagogischen Problemen bei der Übermittlung von Gedanken?
Wael Hallaq: Es kann freilich als ein technisches Problem beginnen, aber in Wirklichkeit ist es viel mehr als das. Den Zugang zu einer anderen Kultur durch die Sprache zu suchen, ist eine Wahl, welche die westlichen Mächte und ihre intellektuellen Eliten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Dienst ihrer kolonialen Vorhaben wirkungsvoll ausgeführt haben. Hier bildete der Zugang zu den islamischen Sprachen keine große Schwierigkeit, noch viel weniger eine technische. Der Kolonialismus erforderte die Erzeugung des klassischen Orientalismus, denn ohne den ersteren wäre der letztere nicht in der Weise und Gestalt entstanden, die er schließlich angenommen hat und in der er sich weiterhin entwickelt. Desgleichen ist das Versagen, den Zugang zu einer Sprache zu finden, im Grunde eine substanzielle Angelegenheit, nicht bloß eine technische im engeren Sinne. Meine Entscheidung beispielsweise, auf Englisch und nicht Indisch oder Chinesisch zu schreiben, - wenn dies überhaupt meine Entscheidung ist – ist eine komplexe substanzielle Angelegenheit, die unmittelbar mit dem Verhältnis zwischen Macht und Wissen, zwischen meinem Hintergrund als einem kolonisierten Subjekt und den Machern dieser kolonialen Geschichte verknüpft ist. Und es gibt nichts Aufschlussreicheres über die substanzielle Komplexität dieser Frage der Sprache als den westlichen Universitätsprofessor, der den »Islam« reproduziert, ohne das Bedürfnis und Erfordernis zu empfinden, »ihn« durch eine eingehende textuelle, soziologische oder – unter anderem – anthropologische Untersuchung dieses Phänomens zu verstehen. Und alle diese akademischen Unterfangen bedürfen, um wirklich engagiert zu sein, einer ordentlichen Beherrschung der einen oder anderen islamischen Sprache, ja sie verlangen sogar, sie zu sprechen und zu leben. Die Wahl dieses Professors, sich um keines dieser Erfordernisse zu scheren – die in nahezu jedem anderen Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt zu werden scheinen -, ist eine Sache, die mit der Konstitution und Struktur der Macht zu tun hat, nicht mit bloßer persönlicher Inkompetenz, eine Sprache zu beherrschen.
Hasan Azad: Was wäre ein anderes zentrales Hindernis?
Wael Hallaq: Ein weiteres sehr wichtiges Hindernis besteht darin, dass, abgesehen von seltenen Ausnahmen, muslimische Denker mit Prämissen beginnen, die sich grundsätzlich von denjenigen unterscheiden, von denen westliche Autoren ausgehen, wie sehr sie auch immer bewusst oder unbewusst westliches Denken und philosophisches Schreiben nachahmen. Sogar die »Utilitaristen« oder »Quasi-Utilitaristen« des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – wie etwa Muhammad Abduh und insbesondere Raschid Rida – dachten in einem Bezugsrahmen, der zwei Dinge zum Ausgangspunkt hatte: (a) einen religiösen Kontext, von dem aus sie sprechen können und der die Grenzen, wenn nicht gar Konturen ihrer Narrative definiert; und (b) einen historischen Kontext oder, genauer gesagt, einen substanziellen Rahmen der Geschichte, der weiterhin eine Quelle der Autorität zur Legitimation von modernen Lebensformen ist. Und wenn ich hier sage »Geschichte« oder »historisch«, meine ich ein ziemlich ausgeprägtes historisches Engagement, das sich auf viele vergangene Jahrhunderte als Quelle von Wissen und Leitung bezieht, indem es danach trachtet, aus dieser Geschichte oder durch sie eine Interpretation wiederzugewinnen, die dem Leben in der modernen Welt entspricht (dies zog freilich beträchtliche Probleme nach sich, auf die ich hoffentlich später eingehen kann). Oder man könnte es auch anders darstellen und sagen, dass wenig auf dem Weg des Engagements mit dem Modernen erreicht werden konnte, ohne diese Geschichte und jene religiösen Texte eine Wirkung auf eine besondere – sehr besondere – Interpretation entfalten zu lassen, nämlich diejenige, die spezifisch modern ist. Und diese zwei miteinander verbundenen Verpflichtungen – die religiöse im besonderen – standen und stehen weiterhin in Konflikt mit einem heiligen Prinzip des modernen westlichen intellektuellen Milieus – und ich gebrauche »heilig« mit Bedacht. Um in diesem intellektuellen Milieu, das heutzutage das unsrige ist, ernst genommen zu werden, kannst du eine traditionelle Metaphysik nicht als grundlegende Prämisse annehmen, wie intellektuell raffiniert sie auch immer sein mag und unangesehen des Ausmaßes, in dem sie liberale Doktrinen und Praktiken aufnimmt (widrigenfalls wirst du dich nur in noch größere Probleme verstricken). Und selbst wenn du all dies versuchst, was manche sicherlich getan haben, wird dein Argument kein Gehör finden, außer es wird mit aller Deutlichkeit den diskursiven Bedingungen eines »säkular-rationalistischen« Narratives unterworfen. Die Verteidiger des Naturrechts im heutigen Westen sind ein ausgezeichnetes Beispiel, aber diese besondere Gruppe ist mit relativ weniger und minder substanziellen Hindernissen konfrontiert als ihre muslimischen Pendants.
Zweitens, der Geschichtsbegriff der Aufklärung – mit dem wir auch heute noch leben – verleugnet, obgleich er selbst noch zutiefst historisch ist, paradoxerweise gewisse Aspekte der Geschichte. Es gibt beispielsweise einen Widerspruch innerhalb der westlichen Theorie des Fortschritts selbst – nämlich eine bestimmte Art der Geschichte in Anspruch zu nehmen, während sie sich selbst zugleich gegen das, was wir heute traditionelle Geschichte nennen – die von der Aufklärung und ihrer Theorie des Fortschritts allererst hervorgebracht wurde -, in Stellung bringt, wenn sie diese nicht sogar unterminiert. Geschichte war also immer eine problematische Angelegenheit in einer Modernität, die auf die paradigmatische Übernahme einer Theorie des Fortschritts dringt. Die muslimische intellektuelle Elite andererseits hat erst in jüngerer Zeit begonnen, sich mit den tieferen Bedeutungen dieser Weltsicht auseinanderzusetzen, was – in der besonderen Weise, in der dies getan wurde – meines Erachtens kein begrüßenswerter Schritt ist. Das Konzept des Fortschritts selbst ist zutiefst problematisch, und muslimische Intellektuelle und Historiker gleichermaßen sind bislang nicht dazu in der Lage gewesen, seine inneren ideologischen Strukturen zu analysieren. Und wir sehen die Auswirkungen dieses Versagens in mindestens einem wichtigen Bereich. Im Laufe der vergangenen zwei oder drei Jahrzehnte ist in der muslimischen Welt ein neuer Trend entstanden, der dazu neigt, die islamische Geschichte als »dunkel und gewalttätig« zu verurteilen, womit das europäische Narrativ der Verurteilung der Gewalttätigkeiten der katholischen Kirche und des monarchischen Absolutismus nahezu detailgetreu reproduziert wird. Der Trend – um sein eigenes intellektuelles Erbe und Geschichte fast völlig unwissend – begann zwar schon früh im zwanzigsten Jahrhundert schwache Zeichen zu zeigen, aber richtig in Schwung kam er erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Wie mit vielen liberalen Werten und Doktrinen, mit denen die Theorie des Fortschritts eine organische Verbindung bildet, dauerte es einige Zeit, sie in das zu internalisieren, was zu einem »nativen Diskurs« geworden ist. Obwohl die geschichtlichen Welten des mannigfaltigen und vielgestaltigen Islams und Europas nicht hätten unterschiedlicher sein können, beginnt die »islamische Geschichte« allmählich wie das europäische dunkle Mittelalter auszusehen. Als Geschichten der Unterdrückung und von politischer und »rechtlicher« Gewalttätigkeit treten sie wenig überraschend als nahezu identisch in Erscheinung. Vielleicht kann ich später etwas erläutern, wie sich dies mit Blick auf das Thema, das uns hier besonders interessiert, auswirkt.
Nichtsdestotrotz bleibt das Beharren auf historischen und religiösen Narrativen, die eine legitimierte und legitimierende Tradition bilden, das grundlegende Merkmal, das weiterhin die westlich-aufgeklärten Denker von ihren muslimischen Pendants trennt und sie in Gegensatz zu ihnen bringt – ganz zu schweigen von den notorischen epistemischen, politischen und ideologischen Schwierigkeiten, die dieses Merkmal hervorgebracht hat. Die ersteren erklären eine – vermeintlich – abstrakte »Vernunft« zum Werkzeug der menschlichen Leitung schlechthin, während die letzteren, selbst die liberalsten unter ihnen, dieses historisch-religiöse Narrativ bei nahezu jeder Gelegenheit in Anspruch nehmen, selbst wenn sie es verurteilen. Man betrachte nur Figuren wie Muhammad Arkoun, M. Abed al-Jabiri, Ali Harb, Hasan Hanafi, Muhammad Shahrur, selbst den Christen George Tarabishi, und zahlreiche andere aus den iranischen, malaysischen und subkontinental indischen Welten (sie und ihresgleichen, die den Großteil der Kategorie bilden, die ich als muslimische Intellektuelle bezeichne). Schlussendlich sind sie nicht dazu in der Lage, ohne den Koran auszukommen, gelinde gesagt. Und das heißt auch, dass diese Autoren niemals Anklang finden können bei einer säkularen, radikal nicht-skripturalistischen Tradition wie derjenigen des Hauptstroms des aufgeklärt-westlichen Denkens.
Hasan Azad: Es scheint mir, nach einigen deiner Vorträge zu urteilen, dass das, was du über die skripturalen Grundlagen gesagt hast, lediglich die Spitze des Eisbergs ist. Könntest du zu diesem Thema etwas mehr ausführen?
Wael Hallaq: Selbstverständlich. Ich sollte auch anmerken, dass die Art des Diskurses, in dem moderne muslimische Denker sich ausgedrückt haben und weiterhin ausdrücken, wahrscheinlich nicht dazu angetan ist, die Aufmerksamkeit – und somit das Engagement – der westlichen akademischen Welt oder auch des westlichen Denkens im Allgemeinen zu erwecken. Lass mich erklären warum. Grob (sehr grob) gesprochen, gibt es zwei Lager oder Strömungen innerhalb des modernen islamischen und islamistischen Denkens (für meine spezifischen Zwecke hier sind »islamisch« und »islamistisch« voneinander nicht sehr unterscheidbar). Das eine ist eine große Mehrheit, die schon allzu lange ein – sowohl intern wie extern – auf verlorenem Posten stehendes Unterfangen verficht, nämlich das Unterfangen der Rationalisierung des Islams (in nahezu allen seiner Aspekte) in Begriffen der liberalen Philosophie und Kategorien des liberalen Denkens. Ein tiefes Verständnis dieses Projekts würde gewichtige Gründe für sein unausweichliches Scheitern aufzeigen, aber dies ist heute nicht mein Thema. Stattdessen möchte ich herausstellen, dass der Liberalismus als ein System des Denkens und der Praxis von den führenden Intellektuellen der muslimischen Welt noch nicht durchdacht und verarbeitet worden ist – abgesehen von bemerkenswerten, aber seltenen Ausnahmen.
Dieses Scheitern des Verstehens ist in Wirklichkeit ein doppeltes: muslimische Intellektuelle müssen erst noch die scharfe – und zuweilen radikale – Kritik des Liberalismus, die sich innerhalb der euro-amerikanischen Tradition selbst entwickelt hat, - ob liberal oder nicht – verstehen und schätzen lernen. (Und hier wie andernorts schließt »euro-amerikanisch« auch Australien neben anderen Orten mit ein, da diese ebenfalls einige wichtige Beiträge in dieser Hinsicht geleistet haben.)
Die andere Strömung oder das andere Lager im modernen islamischen Denken ist stark beschränkt und bildet sich langsam, aber hoffentlich stetig und sicher heraus. Das ist die islamische kritische Schule, an deren Spitze der marokkanische Sprach-, Logik- und Moralphilosoph Taha Abdurrahman steht, der den Denkweisen der Aufklärung nicht verfallen ist. Sein kritisch-konstruktiver Ansatz signalisiert einen vielversprechenden innovativen Anfang, von dem aus ein neuer Pfad des Denkens und der Re-Artikulation seinen Ausgang nehmen kann.
Nun möchte ich folgenden Punkt herausstreichen: keines der beiden Lager kann wahrscheinlich in kürzerer Zeit die Aufmerksamkeit von westlichen Denkern auf sich ziehen, teilweise weil die »muslimischen Liberalen« (die die überwältigende Mehrheit bilden) von ihren westlichen Pendants als zweitklassige, wenn nicht drittklassige Intellektuelle und als eine Art von Nachahmern erachtet werden. In Denken und Praxis dieser muslimischen Liberalen gibt es nichts, was für die heftige Debatte über den Liberalismus von Wert wäre, die im Westen grassiert (wie auch immer problematisch und selbstzentriert sie sein mag). Wenn überhaupt, so stellt ihre kollektive Position im Endeffekt eine Unterstützung von liberalen Ansprüchen und Werten dar, eine Tatsache, die sich unvermeidlich dahingehend auswirkt, erstens diese Ansprüche zu stärken und sie gegenüber Kritik widerstandsfähig zu machen und zweitens liberale Staaten mit der Rechtfertigung zu versehen, sich an islamischen Ländern weiterhin unerbittlich zu vergehen. Darüber hinaus wird das Schicksal dieser Nachahmer unausweichlich der Verachtung gleichen, mit der die vormodernen muslimischen mudschtahidūn
Und das Schicksal des zweiten Lagers wird nicht besser sein, zumindest auf kurze oder vorhersehbare Frist. Ich setze allerdings stark auf die Anziehungskraft dieses Lagers auf lange Frist, weil ich es als einen Ausdruck, neben anderen, eines vielversprechenden Wandels sehe. Mir scheint der Gegensatz zwischen dem allgemeinen Pfad der westlichen Intelligenzija und solchen Ansätzen wie dem von Abdurrahman allzu groß zu sein (auch wenn man im Falle dieses Philosophen eine gewisse Bedeutung darin erkennen muss, dass er zu seinem Denksystem gelangt ist, nachdem er einen Großteil der europäischen Tradition der Philosophie durchdacht und verarbeitet hatte). Selbst wenn also das dominante westliche Denken den Werken des marokkanischen Philosophen und seinesgleichen Beachtung schenken würde oder für sie empfänglich wäre, bin ich nicht sicher, ob es damit etwas anzufangen wüsste. Sprachbarrieren oder nicht, die Herausforderungen, die dieses Lager stellt, sind auf jeden Fall enorm. Vielleicht werden sie auf das Regal der »orientalischen« Kuriositäten verwiesen, wie es mit so vielen islamischen Phänomenen getan wurde. Abdurrahmans tiefe moralische Herausforderung ist für den gegenwärtigen westlichen Mainstream schlicht unverdaulich.
Hasan Azad: Das klingt wie eine Sackgasse. Wie kommen wir da heraus?
Wael Hallaq: Bislang ist es eine Sackgasse gewesen, aber nur in dem Sinne, dass die beiden Lager sich noch nicht begegnet sind. Das Engagement muss erst noch stattfinden, und dann können wir sehen, ob es auf eine echte Sackgasse hinausläuft. Doch bisher findet nicht einmal ein Beginn eines Austausches statt. Ich sehe nicht einen Michael Sandel, einen Alasdair MacIntyre, einen Charles Taylor oder irgend jemanden ihres Kalibers oder mit ähnlichen Positionen in einem Dialog mit, sagen wir, Taha Abdurrahman oder sonst irgend jemandem auf diesem Gebiet. Höchstwahrscheinlich haben diese Philosophen niemals von ihm gehört. Und offen gesagt, habe ich meine Zweifel daran, dass Leute wie Taylor aus ihren unmittelbaren intellektuellen Welten und Interessen heraustreten, um solch ein Unterfangen voranzubringen. Und wenn solch eine Gruppe von Philosophen sich wohl eher nicht in einem Dialog engagieren wird, dann gibt es kaum Hoffnung, dass sich andere anschließen. In meinem Buch The Impossible State
Aber dies ist an sich sicherlich nicht ausreichend. Wie ich zuvor schon sagte, muss es eine qualitativ verschiedene und kritische Denkmasse geben, die genug Gewicht hinter sich herzieht, damit westliche Intellektuelle allererst Gehör schenken. Die Herausforderung ist riesig. Wir Wissenschaftler und Intellektuellen tun alles, was wir können, um das Bild des Wissens als ein erhabenes Streben zu adeln, doch dies ist einer der größten modernen Mythen in unserem Leben. Ich verstehe und akzeptiere die Wahrheitstreue dieses Bildes in einem Kontext, in dem Wissen für moralische Zwecke und Absichten erstrebt worden ist, das heißt im Rahmen einer praktischen Ethik, in einer Weise, wie beispielsweise ghazalische oder aquinische Ethiken in ihrer jeweils eigenen Umgebung aufgebaut und verfasst worden sind. Doch die Transformationen in der modernen Welt und die beispiellose Komplizenschaft zwischen Wissen und Macht (von der sich letztlich herausstellt, dass sie die Macht des schmittschen Politischen ist) machen daraus den Mythos, den ich sehe. Wenn Politik Krieg mit anderen Mitteln ist – und das ist sie zweifellos -, dann ist Wissen – einschließlich der akademischen Wissenschaft – Politik-cum-Krieg mit anderen Mitteln. Die äußere Erscheinung der Form des Wissens als dem Geschäft von schwachhändigen Professoren und bärtigen bejahrten Gelehrten mit eifrigen Studenten, die auf einer »Suche nach Wissen« sind, sollte diese nüchterne Realität niemals maskieren oder verstellen. Dies ist in der Tat eine der größten modernen Täuschungen. Muslimische Intellektuelle und unzählige viele andere müssen die Macht dieser physisch niederschmetternden Metapher erst einmal erfassen und gedanklich verarbeiten.
2.2 Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei
2.2 Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei Yusuf Kuhn2.2.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 2 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya
Dies ist die Fortsetzung des zweiteiligen Interviews mit Wael Hallaq. In diesem zweiten Teil führt Hallaq Erläuterungen über den Konflikt aus, den er in dem Verhältnis zwischen Gelehrten in der muslimischen Welt und der Tradition der westlichen Wissensproduktion erkennt. Er sieht dabei insbesondere eine unkritische Übernahme von westlichen intellektuellen Kategorien und Weisen der Wissensübermittlung entlang dessen, was er als »den Pfad der intellektuellen Sklaverei« bezeichnet. Ein solches Vorgehen hat, Hallaq zufolge, weitreichende Implikationen, von der Konstruktion besonders nachteiliger historischer Narrative – wie etwa das »bayt al-hikma
2.2.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 2
Hasan Azad: Du hast das Unvermögen von Intellektuellen in der muslimischen Welt angesprochen, das sich wandelnde Verhältnis zwischen Wissen und Macht in der Moderne zu erfassen und gedanklich zu verarbeiten. Tragen auch die westlichen Intellektuellen einen Teil der Verantwortung dafür?
Wael Hallaq: Selbstverständlich. Die führenden westlichen Intellektuellen haben bislang wenig getan, wenn überhaupt etwas (auch wenn, wie wir alle wissen, eine Reihe von Gelehrten ihr Teil dazu beigetragen haben, den Islam und seine Traditionen als einen fruchtbaren Ort für intellektuelles Engagement zu präsentieren). Doch für diese führenden Intellektuellen zählt das Nicht-Euro-Amerikanische weiterhin, ganz im Geiste des neunzehnten Jahrhunderts, nicht viel. Für Euro-Amerika (um ganz allgemein und paradigmatisch zu sprechen) dreht sich die Welt wie vordem um Euro-Amerika, während der Rest nicht mehr als ein paar Fußnoten oder Marginalien ist. Es wäre naiv und dumm von uns, zu vergessen, dass in der westlichen liberalen Welt seit dem siebzehnten Jahrhundert nahezu ununterbrochen die selben Denkmuster Bestand haben. Es bleibt eine erstaunliche Tatsache, dass die Europäer und Amerikaner zahllose Aspekte von Freiheit und Befreiung analysiert und ihre Monarchen erbittert bekämpft haben; und, während sie all dies taten, haben sie (und vielleicht der heuchlerische John Locke und die »neo-römischen Juristen« an ihrer Spitze) nicht eine einzige Geste oder Achtung für eben die Menschen übrig gehabt, mit deren Unterdrückung in den Kolonien und zu Hause sie beschäftigt waren. Locke fuhr ungeniert damit fort, sein persönliches Vermögen in das Geschäft des Sklavenhandels zu investieren und leidenschaftlich von Freiheit und Befreiung zu sprechen, gleichzeitig! Und waren nicht viele der amerikanischen Gründer genauso? Keiner der Denker der Aufklärung, von einer oder zwei einsamen Stimmen abgesehen, verstanden die Menschenrechte und politischen Freiheiten in einem Sinne, der sich auch auf die Menschen erstreckte, die sie unterdrückten, als wenn sie überhaupt nicht Menschen wären. Und wir sehen, wie sich diese Muster in dem Augenblick wiederholen, während ich spreche, wie unterschiedlich ihre Form heutzutage auch immer erscheinen mag.
Das ist lediglich der Hintergrund. Ein Ausläufer dieses Hintergrunds ist die erstaunliche Unachtsamkeit – vielleicht Unfähigkeit – seitens der westlichen Intellektuellen, den »Feind im Spiegel« zu sehen, wie Roxanne Euben es so brillant ausgedrückt hat.
Zu diesem Thema gäbe es viel zu sagen. Um es so kurz wie möglich zu halten und paradigmatisch gesprochen: Die westliche intellektuelle Tradition hat sich auf keinerlei ernsthaftes oder halb-ernsthaftes Engagement mit anderen Traditionen – insbesondere der islamischen – eingelassen. Ihre dreihundertjährige Geschichte bestand vielmehr darin, ein solches Engagement abzuweisen und zugleich ein beiläufiges Verdammungsurteil zu erlassen, wann immer ihr eine Begegnung – wie kurz und unbedrohlich auch immer – aufgezwungen wurde. Zu sagen, dass die Reaktion auf den Islam gänzlich irrational ist, ist freilich keine erschöpfende Analyse, aber es ist sicherlich treffend. Dies ist äußerst ironisch angesichts der Tatsache, dass die westliche Kultur sich selbst definiert hat als die Heimstatt der Vernunft und rationalen Untersuchung par excellence!
Hasan Azad: Manche könnten vorbringen, dass der Mangel an Originalität im modernen muslimischen Denken – wie du selbst uns gesagt hast – die Weigerung der westlichen Intellektuellen, sich auf ein Engagement mit der muslimischen Welt einzulassen, rechtfertigten könnte. Was würdest du dazu sagen?
Wael Hallaq: Ich würde die kürzeste Antwort geben. Die »muslimische Welt« ist weitaus größer als ihre modernen muslimischen Intellektuellen. Sie ist viel reicher und erheblich komplexer als der Teil von ihr, den wir »modernen Islam« nennen. Ich würde sagen, dass mein Buch The Impossible State ein heuristisches Beispiel dessen ist, was ich meine.
Hasan Azad: So haben also beide Seiten offenkundig viel zu tun, wenn sie in einen echten Dialog eintreten wollen, aber sind sie beide gleichermaßen verantwortlich?
Wael Hallaq: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Angelegenheit einer quantitativen Analyse oder Messung unterzogen werden kann. Aber ich würde sagen, dass die westliche Seite eine riesige moralische Pflicht zu erfüllen hat, vor der sie sich auf elendige Weise gedrückt hat (und die analytischen Gründe dafür würden viele Seiten füllen). Andererseits hat die muslimische intellektuelle Seite ebenso elendig versagt, ihre eigene Stimme und Identität in der Welt zu finden, und unsere Welt ist heutzutage kleiner als je zuvor. Die heutigen muslimischen Denker (und Nicht-Denker), die die islamische Geschichte und Tradition mit dem Vorwurf des Mangels an Vernunft und rationaler Kreativität einem heftigen Angriff unterziehen, sind sich kaum bewusst, wie viel taqlīdische Mimikry sie sich selbst erlaubt haben. Ich finde es ironisch, dass sie die »mittelalterliche Vernunft« oder vielmehr »deren Mangel« kritisieren sollten, wenn sie selbst nichts besseres zu tun wissen, als, unter unzähligen anderen, Foucault, Derrida oder das, was im Westen zu irgendeinem Zeitpunkt gerade in Mode ist, zu imitieren. Aber das Schlimmste von allem ist, wenn sie den Liberalismus ohne das geringste Anzeichen von kritischem und gründlich prüfendem Denken ihrerseits nachahmen. Sie haben sich (abgesehen von einzelnen Ausnahmen) nicht gefragt, ob das Denksystem, das sie blind nachahmen, kritischer Prüfung standhält. Sie haben nicht gefragt, ob das System, das sie imitieren, auch in andersartigen Umgebungen, insbesondere ihren Umgebungen, funktionieren oder förderlich sein würde. Sie haben harte Fragen über die Folgen und Wirkungen des Systems auf unser Leben im Osten wie im Westen einfach nicht gestellt. Sie haben sich selbst in eben die Position versetzt, in die sie zu Unrecht muslimische Intellektuelle verflossener Jahrhunderte versetzen. Das ist eine extreme Ironie.
Ich kann mit manchen Ironien leben, aber nicht mit allen. Es gibt heutzutage so viele um uns herum, dass man gar keine andere Wahl hat, als die unschädlichsten zu ignorieren. Manche Ironien können allerdings trotzdem gefährlich werden. Die muslimischen Intellektuellen der fernen Vergangenheit konnten Implikationen sehr viel klarer und schärfer sehen als die Vielzahl von Kritikern und Intellektuellen, die heute in der muslimischen Welt schreiben und allerdings auch im Westen. Beispielsweise – und dies birgt tiefgründige Implikationen – waren die islamischen sogenannten »rechtlichen« und intellektuellen Traditionen wiederholt und über viele Jahrhunderte hinweg mit einer der größten und schwierigsten Fragen konfrontiert, mit denen menschliche Gesellschaften über Jahrtausende sich zu befassen hatten, nämlich dem Maß der moralischen Verantwortung, welches das natürliche Individuum tragen kann und sollte. In jedem Fall blieben die muslimischen Rechtsgelehrten und ihre (»nicht-rechtlichen«) Intellektuellen-Kollegen einer Anschauung verpflichtet, die die Ablösung der moralischen Verantwortung vom Individuum verwehrt. Wenn das Individuum der Träger der letztlichen Verantwortung für die Lebensführung ist, so muss er oder sie die Last der Konsequenzen tragen. Die Auflösung dieser Verbindung in der westlichen Welt hat zu sehr ernsten und nun grausamen Konsequenzen geführt: um nur ein Beispiel zu nennen, die multinationale Korporation oder Aktiengesellschaft, die unser Leben beherrscht. Nicht dass das englische Parlament von ehedem die unethischen Praktiken der Gesellschaften mit beschränkter Haftung nicht völlig verstanden hätte, ganz im Gegenteil, sie verstanden sie sehr wohl. Denn kurz nach der Legalisierung dieser Rechtspersönlichkeit zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit revidierten sie in der Tat ihre Gesetzgebung und untersagten sie, wobei ihre Ablehnung mit ihrem unmoralischen oder unsittlichen Charakter und Konsequenzen begründet wurde. Doch dann – und das ist schreiend vielsagend – wurde sie wieder in den Bereich der Legalität zurückgebracht, in London, aber vor allem in Delaware, um am Ende die Welt zu beherrschen und zu verwüsten. Die Scharia-Rechtsgelehrten beharrten immer auf moralische (lies heutzutage: rechtliche) Verantwortlichkeit, obgleich ihre technischen und substanziellen Überlegungen einem Korporations- oder Aktiengesellschaftsrecht mühelos hätten Platz bieten können (das entlang der gedanklichen Linien hätte entwickelt werden können, aus denen beispielsweise das waqf-System
Dieser Weitblick fehlt heute, sowohl im westlichen Rechtsmilieu wie auch in der islamischen intellektuellen Welt. Ich würde sogar nicht zögern, zu sagen, dass die Moderne insgesamt durch ganz besondere Kurzsichtigkeit ausgezeichnet ist. So werden wir vielleicht dem ansonsten gelehrten Ali Harb verzeihen, wenn er Pierre Bourdieu kritisiert, indem er ihm eine »reaktionäre Vision« vorwirft. Harb verpasst nicht nur eine Gelegenheit, zu verstehen, warum Bourdieu bestimmte moderne Praktiken und Institutionen scharf kritisiert, sondern auch, um Bourdieus kritischen Blick durch das zu vertiefen, was ich »die Wissenschaft der Verzweigungen« nennen möchte. Wie Sayyid Qutb etwa sechzig Jahre zuvor will Harb nicht verstehen, dass man den Wert nicht von seiner Quelle trennen kann und dass die Annahme des einen die Annahme des anderen mit sich bringt. Der Wert, so kann gesagt werden, wohnt seiner eigenen Genealogie inne, wenn er sie nicht sogar völlig erfüllt (vorausgesetzt freilich, dass man eine ordentliche genealogische Grabung durchführt).
Beispielsweise die Technologie anzunehmen und zu glorifizieren und zugleich das Wertesystem, das sie produziert, zu verurteilen, ist nichts als krasser Unsinn. Das ist genau, was Qutb getan hat. Und noch problematischer ist, dass darin das Versagen liegt, die fernen und weitreichenden Implikationen solcher Werte zu verstehen, die das Denken von Harb und Autoren wie ihm (zahllose sicherlich) beeinträchtigen – und inkohärent machen. Nirgendwo findet sich ein angemessenes Verständnis der Implikationen der Grundwerte, zu deren Übernahme vom Westen die muslimischen Denker aufrufen. Meines Wissens hat niemand die tiefen Verzweigungen und Auswirkungen des Begriffs der Freiheit (insbesondere in ihrer negativen Form) einer gründlichen Untersuchung und Prüfung unterzogen für (a) die Unmöglichkeit einer nachhaltigen Lebensweise; (b) seine Unentbehrlichkeit für die Entwicklung des unkontrollierbaren und destruktiven Kapitalismus; (c) seine Rolle bei der Desintegration der Gemeinde- und Familienstrukturen; (d) die Schaffung eines dahintreibenden, moralisch verunsicherten Individuums; und vieles mehr. Zugegebenermaßen sind diese Themen gewiss auch nicht im Gesichtsfeld des dominanten westlichen Denkens, das ihnen bestenfalls hie und da eine schlaglichtartige Behandlung gönnt. Aber die muslimischen Intellektuellen müssen dafür gleichermaßen verantwortlich gemacht werden, sich mit diesen Fragen ernsthaft und engagiert auseinanderzusetzen, ja eigentlich sich an die Spitze zu setzen, indem sie ihren westlichen Pendants die strukturellen Wirrungen und zerstörerischen Verzweigungen der zentralen liberalen Begriffe und Praktiken aufzeigen. Dass nichts davon zu sehen ist, ist ein Beleg für intellektuellen Bankrott, ein Bankrott, der in der arabischen und muslimischen Welt bislang nicht wirklich erfasst und bekämpft worden ist und der das westliche Mainstream-Denken weiterhin affiziert. Unhinterfragtes und vorherrschendes liberales Denken und – noch wichtiger – Praxis sind der jahrhundertealte Sklaventreiber gewesen, unter dessen Kommando Scharen von muslimischen Denkern weiterhin marschieren.
Es gibt noch zwei Punkte, die in diesem Kontext hervorgehoben zu werden verdienen. Erstens: Sich dem Studium der Wissenschaft der Verzweigungen zu widmen, hat offenkundig intrinsischen Wert. Und angesichts der brandgefährlichen Krise der modernen Welt ist es – davon bin ich überzeugt – eine moralische Pflicht geworden, die allen Intellektuellen obliegt. Die Wissenschaft der Verzweigungen untersucht, kritisiert und enthüllt die verborgenen Strukturen zwischen den geringsten Phänomenen und dem kosmischen Akt, das, was die Beziehung zwischen einer ephemeren menschlichen Tat und der Konstanz einer kosmologischen Struktur knüpft und einsichtig macht, die niemals unter unsere Kontrolle kommen wird, die sich stets dem entziehen wird, was Scheler den angeborenen Trieb und Drang des Westens (und nunmehr der gesamten Moderne), zu beherrschen und zu kontrollieren, nannte.
Zweitens: Die muslimischen Intellektuellen würden – angesichts der erforderlichen Behauptung ihrer intellektuellen Präsenz und in Folge der Dringlichkeit der ersten Überlegung – weiterhin hinter den Kulissen des Theaters stehen – und warten -, wenn sie fortfahren, die intellektuellen Melodien Euro-Amerikas nachzusingen, und das allzu oft auch noch auf klägliche Weise. Um Aufmerksamkeit zu gewinnen und, noch wichtiger, sich selbst und hoffentlich andere in eine verheißungsvollere intellektuelle Zukunft zu geleiten, müssen sie die Erfordernisse der ersten Überlegung mit einem massiven intellektuellen Angriff verbinden, der die tiefsten Grundlagen der Aufklärung auslotet und erkundet, wie diese Grundlagen zu der kritischen – wenn nicht massiv zerstörerischen – Fragilität des modernen Lebens geführt haben. Wirklich erstaunlich bei alldem ist, dass, von seltenen Ausnahmen abgesehen (hier wieder Taha Abdurrahman), der heuristische Wert der muslimischen Tradition fast völlig außer Acht gelassen wird. Der taqlīd [Befolgung, Nachahmung] der muslimischen Modernen hat nahezu grenzenlos neue Bedeutungen angenommen.
Hasan Azad: Und wie steht es mit den westlichen Intellektuellen?
Wael Hallaq: Na ja, ich denke nicht, dass sie auch nur annähernd genug getan haben. Als Teilnehmer in einer kolonisierenden Tradition und Erben der Kolonisatoren tragen sie eine ethische Verantwortung für die Rehabilitation der Kolonien, die sie zerstört haben. Die moralische Bürde muss erst noch erkannt werden, aber dieses Versagen der Erkenntnis wird die Bürde auch nicht um ein winziges Bruchteil verringern. Als eine epistemische Kollektivität und als ein integraler Bestandteil des Wissen-Macht-Systems, das so weite Teile der Welt zerstört hat, müssen sie solch eine ethische Last tragen. Sie tragen die spezifische moralische Verantwortung, sorgsam zuzuhören und sich behutsam und bedacht zu engagieren. Ein bisschen Demut kann schon viel bewirken, vorausgesetzt, dass sie keine Mühe scheuen. Vielleicht erwarte ich zu viel.
Hasan Azad: Ich bin sicher, dass viele dieser Intellektuellen ihre Unschuld an jeglichem kolonialen Projekt beteuern würden und dir sagen werden, dass sie kritisch zu den Praktiken ihrer Regierung stehen usw. Sie werden dir sagen, dass sie mit den Unterdrückten und Schwachen, Muslimen oder nicht, mitfühlen.
Wael Hallaq: Das ist wahr, aber kann wohl kaum mein Argument beeinträchtigen. Das Thema ist komplex, und ich möchte auf einen längeren Text verweisen, den ich als Antwort auf meine Kritiker geschrieben habe, genau zu diesem Punkt. Er ist 2011 in Islamic Law and Society veröffentlicht worden.
Hasan Azad: Welche Art von Beschränkungen hat das moderne, westliche Denken dem islamischen Denken auferlegt?
Wael Hallaq: Auf dem Gebiet des Denkens und der rationalen Untersuchung werden Ideen nur insofern wirklich restriktiv, als wir ihnen konzeptuell erlauben, als solche zu existieren. Das Abwerfen der eisernen Fesseln deines Herren ist ein äußerlicher Akt und für den machtvollen Herren erkennbar, der seine verheerenden Waffen gegen dich richten mag. Aber das gilt nicht für geistige Aktivitäten. Sie sind verborgen. Man kann physisch in Knechtschaft sein, aber geistig frei. Das heißt, frei zu denken und die Welt zu verstehen, wie er oder sie möchte. Die kurze Antwort auf deine Frage ist also, dass die intellektuelle Herrschaft des Westens über den Rest keinerlei Rechtfertigung hat. Ich verstehe die Schwierigkeiten, sich von den physischen Zwängen einer massiven Kolonialmacht freizumachen (zum Beispiel die USA in Afghanistan oder Israel in Gaza). Aber ich kann die geistige und intellektuelle Sklaverei nicht verstehen. Wie hart auch immer die Euro-Amerikaner daran gearbeitet haben und weiterhin arbeiten, das Denken und den Geist von Muslimen, Afrikanern und anderen zu versklaven, so haben diese doch keinerlei Entschuldigung. Wie ich schon sagte, abgesehen von seltenen und weniger bedeutenden Stimmen haben die muslimischen Autoren bislang den Pfad der intellektuellen Sklaverei gewählt. Lasst uns eine der ältesten Diskussionen in der Welt in Erinnerung rufen: Ein Sklave ist derjenige, der von dem Willen eines anderen abhängig ist. Wenn jemanden gelehrt wird, die Einzelheiten, die Aktionen, die Strukturen und Paradigmen der Lehren und des Verhaltens des Herren zu wollen, dann ist man ein Sklave. Und ich habe keine Belege dafür, dass die Gesamtverfassung der muslimischen intellektuellen Welt gezeigt hätte, dass die Dinge anders liegen.
Hasan Azad: Was gibst du denen zur Antwort, die das Beispiel des abbasidischen Kalifen al-Maʾmūn und seines bayt al-hikma [Haus der Weisheit], seiner Rolle bei der Übersetzung alter griechischer Texte, deren Inkorporation in einen Großteil der islamischen Philosophie, Metaphysik usw. anführen – als ein Beispiel dafür, wie muslimische Denker von fremden Wissensquellen Gebrauch machen als Mittel zur Bereicherung ihres eigenen Denkens in der Vergangenheit, womit das Argument vorgebracht wird, dass muslimische Denker das Gleiche tun sollten mit Blick auf modernes, westliches Denken und Philosophie?
Wael Hallaq: Das ist eine wichtige Frage, die mir öfter gestellt wird. Zunächst möchte ich sagen, dass das Narrativ des bayt al-hikma im Diskurs des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts im wesentlichen ein orientalistisches ist, ein zentraler Topos, der endlos und auf verschiedene Weisen wiederholt worden ist. Ich stelle nicht die tatsächliche Geschichtlichkeit des »Ereignisses« oder des bayt al-hikma genannten Phänomens in Frage, sondern spreche vielmehr davon, wie es in eine neue Interpretation der Geschichte und somit in eine besondere Identität eingepasst wurde. Dieses Narrativ hat viel mehr Parallelen, die allesamt auf das Gleiche hinauslaufen – nämlich ein Narrativ der »kulturellen Anleihe« zu konstruieren, das eine unabhängige und nicht-koloniale Identität zum Verschwinden bringt. Beispielsweise hat Joseph Schacht das gleiche Narrativ auf dem Gebiet des Rechts vorgeführt. Er hat das Argument vorgebracht, dass das »islamische Recht« eine Anleihe aus dem römischen, byzantinischen und jüdischen Recht war, die in ihrer Summe als ein westliches Produkt (was ohnehin eine Fiktion ist) betrachtet werden. Mit anderen Worten, der Islam wird durch die Zuschreibung konstruiert, seine Rechtskultur (welche ihrerseits, in seinen Worten, »Herzstück und Wesen«
Aber das ist nicht alles. Es ist unbestreitbar, dass die Muslime – seit spätestens dem achten Jahrhundert – ein starkes Interesse an anderen hatten, seien es Inder, Iraner oder Griechen. Sie übersetzten in der Tat ihre Werke und integrierten in ihren »intellektuellen Boden« vieles von dem, was sie als nützlich erachteten. Die Assimilation war so raffiniert, dass es nahezu unmöglich ist, die Komponenten dessen, was beispielsweise griechisch ist, von den islamischen zu trennen. Aber ich kann nicht genug betonen, dass diese Assimilation auf der Grundlage und im Rahmen des nativen epistemischen Systems vorgenommen wurde. Was aufgenommen und verarbeitet werden konnte, wurde inkorporiert, aber vieles war dafür nicht geeignet und wurde daher verworfen. Die hazmischen, ghazalischen und taymiyyischen Projekte, unter zahllosen anderen, sind schlagkräftige Zeugnisse. Dies entspricht auch meiner dreißigjährigen Erfahrung mit einem Zweig des Rechtswissens namens usūl al-fiqh neben anderen. Diese außerordentlich komplexe Rechtswissenschaft ist durchdrungen und erfüllt von intellektuellen Einflüssen, deren Herkunft vielfältig ist. Sie ist jedoch eine einzigartige Wissenschaft in der Welt und gleicht nichts, was von anderen Kulturen oder intellektuellen Formationen bekannt ist. Sie zog sicherlich Nutzen aus verschiedenen Disziplinen, aber ich denke nicht, dass auch nur ein seriöser Gelehrter behaupten würde, dass sie nicht eine besondere islamische Identität besitzt, indem sie den unabhängig erdachten Bedürfnissen des islamischen fiqh und Rechts in ihrer eigenen Umgebung dient.
Damit möchte ich sagen, dass die muslimischen Intellektuellen, insofern sie den taqlīd [Befolgung, Nachahmung] von Euro-Amerika und seiner Aufklärung meiden müssen, auch ihre eigenen Traditionen mit ihren großen Sub-Traditionen sorgfältig erkunden müssen, wie sie auch andere Kulturen betrachten und untersuchen sollten, insbesondere die Asiens (buddhistische, hinduistische etc.). Denn in der Tat spricht vieles dafür, dass Süd- und Ostasien mehr zu bieten haben als Euro-Amerika. bayt al-hikma [Haus der Weisheit] muss die Welt in ihrer Gänze sein, eine Welt, die in unserem Geist und kritischen Denken beginnt. Und ihr Ende kann nicht und sollte nicht vorhergesagt werden. Doch wenn sie sich auf all dies einlassen, müssen sie mit aller Entschiedenheit ihre höchste kritische Energie aufwenden, wobei der Schlüssel ihr eigenes, unabhängiges Denken ist.
ZWEITER TEIL - UNMÖGLICHE MORALPHILOSOPHIE?
ZWEITER TEIL - UNMÖGLICHE MORALPHILOSOPHIE? Yusuf Kuhn3 Moderne Moralphilosophie: Ausweg oder Irrweg?
3 Moderne Moralphilosophie: Ausweg oder Irrweg? Yusuf Kuhn
Auf der Suche nach einem Ausweg aus der moralischen Misere begibt Hallaq sich auf den Weg einer moralphilosophischen Grundlagendiskussion.
Die grundlegendsten Probleme des modernen Islam sind nicht ausschließlich islamisch, sondern wohnen in der Tat gleichermaßen dem modernen Projekt selbst in Ost und West inne.
Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 163; Hervorhebungen im Original.
Hallaq stellt in seiner Krisendiagnose insbesondere zwei Probleme heraus, die als Grundbausteine der modernen Moralphilosophie eng miteinander verbunden sind: einerseits die Trennung von Sein und Sollen sowie andererseits das Projekt einer rationalen Begründung der Moral. Bei der Erörterung dieser Fragen stützt Hallaq sich vor allem auf die Untersuchungen von vier herausragenden Vertretern der modernen Moralphilosophie, die mehr oder weniger grundsätzliche Kritiken am modernen Moralverständnis entwickelt haben, namentlich Harold A. Prichard, Charles Larmore, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre. Wir wollen in den verbleibenden Kapiteln Hallaq auf diesem Weg zunächst folgen sowie seine Ausführungen in einigen Aspekten vertiefen und erweitern.
3.1 Trennung von Sein und Sollen
3.1 Trennung von Sein und Sollen Yusuf KuhnHallaqs Darlegung
Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 2000, S. 15.
Der Wille zur Macht über die menschliche wie außermenschliche Natur gründet auf der Trennung von Sein und Sollen. Hallaq verweist daher zurück auf den Abschnitt mit dem Titel Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, in dem diese Frage bereits behandelt wurde.
Die Spaltung von Sein und Sollen erweist sich als Ergebnis besonderer geschichtlicher Umstände, einer bestimmten philosophischen Entwicklung, die Begriffen wie Wille, Freiheit, Würde und Vernunft eine neue Bedeutung verliehen hat. Wie viele andere Elemente der Modernität wurde diese Entwicklung jedoch mit dem Siegel der Zeitlosigkeit versehen und zur universalen Wahrheit verklärt, deren Imperativen jegliches Denken sich zu fügen habe, wenn es nicht dem Urteil der Irrationalität verfallen wollte.
Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 104.
3.2 Theologische Ursprünge der modernen Moral
3.2 Theologische Ursprünge der modernen Moral Yusuf KuhnHallaq bezieht sich dabei auf einen Text von Charles Taylor, aus dem er einen kleinen Ausschnitt zitiert, dessen lehrreicher Kontext hier zur Vertiefung etwas ausführlicher zitiert sei:
Das gewandelte Verständnis der eigentlichen Natur des moralischen Diskurses und des moralischen Denkens - wie z. B. das Prinzip, daß kein »Sollen« aus einem »Sein« abgeleitet werden darf - verdankt sich substantiellen Veränderungen in der Auffassung des Moralischen. Die neue metaethische Perspektive mag in der Tat von neuen wissenschaftlichen Theorien in ihrer Entwicklung unterstützt worden sein, aber ebenso offenkundig ist auch die Art und Weise des Einflusses in umgekehrter Richtung. Es kann als gesichertes Wissen betrachtet werden, daß ein wichtiges Motiv für die bereitwillige Annahme des Mechanismus im 17. Jahrhundert theologischer Natur war. Eine bedeutende Tradition des Denkens der christlichen Welt, die Gottes Souveränität betonte und zu Argwohn gegenüber griechischen Vorstellungen einer festgefügten kosmologischen Ordnung neigte, nahm nur allzu bereitwillig den Mechanismus des 17. Jahrhunderts auf, um gegen die übermäßigen, als neu-heidnisch angesehenen Exzesse des Animismus der Hochrenaissance vorgehen zu können - das sehen wir etwa bei Bruno. Vergleichbar war Mersennes Motivation, der eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des neuen wissenschaftlichen Weltbildes spielte.
Zu dieser Zeit war der wechselseitige Einfluß von Wissenschaft und Moral erheblich ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte unserer Zivilisation. Es ist jedoch unzutreffend, einen einseitigen Begründungszusammenhang anzunehmen und Veränderungen der moralischen Auffassung lediglich als Folge von wissenschaftlichen Entdeckungen zu betrachten.
Hinter der Tatsache/Wert-Dichotomie, wie man sie etwa bei Hume feststellen kann und die ein vorherrschendes Thema unserer Zeit wird, steht ein neuartiges Verständnis und eine neue Bewertung von Freiheit und Würde.
Hallaq zitiert nur diesen Satz. Ich möchte dies kurz skizzieren.
MacIntyre
Charles Taylor bezieht sich hier auf: Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007 (Erste Auflage 1981); deutsche Übersetzung von Wolfgang Rhiel: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995 (Erste Auflage 1987). Siehe dazu auch das Kapitel Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition, S. 273 ff. verweist auf die theologischen Ursprünge der Tatsache/Wert-Dichotomie. Diese müssen meiner Meinung nach als Element des christlichen Denkens, wie ich es bereits erwähnt habe, interpretiert werden. Die Synthese des christlichen mit dem griechischen Denken war in Wirklichkeit immer unbefriedigend. Für eine Reihe von christlichen Theologen war die Idee eines festgefügten und wohlgeordneten Kosmos, dessen Rechtfertigungsprinzip in ihm selbst enthalten ist, inkompatibel mit der Souveränität Gottes. Man denke zum Beispiel an die Auflehnung des Nominalismus gegen den Thomismus. Die Streitfrage betraf die Beziehung von Vernunft und Wille bei Gott. Ist Gott durch seine eigene Schöpfung gezwungen, ein Gutes zu wollen, das so beschaffen ist, als sei es in ihr bereits enthalten? Ockham und andere vertreten eine mehr voluntaristische Sicht der göttlichen Macht, denn jede geringere Annahme wäre geeignet, Gott herabzusetzen. Die Reformatoren nahmen in diesem Sinne theologisch Partei, auch wenn sie sich nicht immer die gleichen Formulierungen zu eigen machten. In der christlichen Welt setzt sich dann der Kampf Thomas versus Ockham in immer neuen Spielarten fort, in Form der Auseinandersetzung zwischen Jesuiten und Jansenisten bis in unsere Tage.
Die Kompatibilität des mechanistischen Weltbildes mit der Ockhamschen Position ist nun leicht ersichtlich, denn hier handelt es sich tatsächlich um eine völlig neutrale Sicht der kosmologischen Ordnung, die nur darauf wartet, ihre Zweckbestimmung durch göttlichen Befehl verliehen zu bekommen. Die Tatsache/Wert-Spaltung ist ursprünglich eine theologische These und Gott ist zuerst ihr alleiniger Nutznießer. Gerade auf dieser Entwicklungsstufe ist die religiöse Motivation dieser Anschauung evident, sie dient der Verteidigung der göttlichen Wahlfreiheit.
Diese Konzeption von Freiheit wird im Laufe der Zeit zunehmend auf den Menschen übertragen. Die uns vorgegebenen Zwecke sind nun nicht mehr durch die Natur der kosmologischen Ordnung, in die wir eingebunden sind, verbürgt, sondern eher durch die Natur unserer Verstandeskräfte. Diese verlangen, daß wir die Welt qua Objektivierung kontrollieren und sie den Anforderungen einer instrumentellen Vernunft unterwerfen. Die Instrumentalisierung der uns umgebenden Welt erfolgt gemäß in uns selbst gegebener Zwecke. Die Zwecke des Lebens sind Selbsterhaltung und das, was man später das Streben nach Glück nannte; beide sind als solche durch die Natur vorgegeben. Die Würde dieses Bestrebens besteht darin, daß es sich nicht in einer blinden, zügellosen oder undisziplinierten Art und Weise vollzieht, sondern unter der Kontrolle einer vorausblickenden, kalkulierenden Vernunft.
Die Folgen sind nur allzu gut bekannt: Vernunft wird nicht mehr substantiell definiert, etwa im Bezugsrahmen einer kosmologischen Ordnung, sondern formal; das Denken soll sich an Verfahren orientieren, speziell solchen, die eine Übereinstimmung von Mitteln und Zwecken einschließen. Die Vormachtstellung der Vernunft wird daher neu interpretiert und bezieht sich nun nicht mehr auf eine Lebensführung gemäß der Vorstellung einer festgefügten Ordnung, sondern vielmehr auf die Kontrolle der Bedürfnisse durch die Imperative der instrumentellen Vernunft. Freiheit besteht folglich in der Lösung von jeglichen äußeren Mächten und in der ausschließlichen Anwendung von Verfahren der subjektiven Vernunft. Der Begriff der menschlichen Würde unterliegt ebenfalls einem Bedeutungswandel; es besteht keine Verpflichtung auf eine kosmologische Ordnung mehr, sondern es ist der Status des Subjekts als souveränes Vernunftwesen, der zu rationaler Kontrolle verpflichtet. Dies ist nicht einer Ordnung der Dinge geschuldet, sondern der eigenen Würde.
[...]
Wir haben bis jetzt gesehen, daß die moderne metaethische Dichotomie von Tatsache und Wert nicht als zeitlose Wahrheit betrachtet werden kann, wie z. B. die Entdeckung des Gravitationsgesetzes oder der Blutzirkulation. Sie macht lediglich im Rahmen einer bestimmten ethischen Auffassung einen Sinn. Für einen Aristoteliker ist die strikte Trennung von faktischen und evaluativen Fragen jedoch sinnlos. Befürworter der Trennung werden an dieser Stelle sicher entgegnen, daß dies gerade Aristoteles’ Fehleinschätzung zeige und daß seine Theorie durch den wissenschaftlichen Fortschritt widerlegt sei. Meine bisherige Argumentation war jedoch gerade darauf abgestellt, von dieser Betrachtungsweise Abstand zu nehmen. Der wissenschaftliche Fortschritt hat die aristotelische Physik und Biologie widerlegt, aber er schließt eine Betrachtung des Moralischen in teleologischen Begriffen oder ähnliche Konzeptionen keineswegs aus. Die (natur-)wissenschaftliche Neuorientierung reicht als Begründung für den Perspektivenwechsel in der Ethik nicht aus. Die Aufspaltung muß eher als Bestandteil des neuen Verständnisses von Freiheit und moralischem Handeln betrachtet werden. Das autonome Subjekt und die neutrale Welt der Natur, die darauf wartet, ihre Gesetze vorgeschrieben zu bekommen, entsprechen einander. Das Subjekt muß, wenn es seine Möglichkeiten als freier Urheber von Würde und rationaler Beherrschung realisieren will, dieses Merkmal der Neutralität der Welt begreifen. Aber damit ließen wir uns von den Befürwortern der Tatsache/Wert-Dichotomie gewaltig hinters Licht führen. Was als kontextunabhängige metaethische Konstruktion angenommen wird - nämlich die Regeln des Argumentierens für alle möglichen moralischen Standpunkte festzulegen -, entpuppt sich lediglich als bevorzugte Interpretation einer Idealvorstellung unter anderen. Argumentationsstrukturen dieser Art sind hinlänglich bekannt. Sie bestehen darin, die scheinbar unabhängige Gültigkeit bestimmter metaethischer Annahmen zu entlarven, was in Wirklichkeit die Regeln des Diskurses im Interesse einer einzigen Position festlegt, indem sie konkurrierende Ansätze für inkohärent erklären.
Man kann jedoch noch einen Schritt weitergehen und - mit allen Mitteln einer Phänomenologie des Moralischen - nachweisen, daß die hier kritisierte metaethische Position nicht nur voreingenommen, sondern auch falsch ist.
Charles Taylor, Die Motive einer Verfahrensethik, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main, 1986, S. 101-135, hier S. 104-109.
Dies soll vorerst zur tieferen Einstimmung in das Thema der Spaltung von Sein und Sollen genügen. Es wird ohnehin im weiteren Verlauf auf die darin angesprochenen Fragen näher einzugehen sein. Nun wollen wir uns der neben der Trennung von Werten und Tatsachen von Hallaq eingangs angeführten Problematik zuwenden, nämlich der Frage der Moralbegründung.
4 Moralphilosophie – ein Irrtum?
4 Moralphilosophie – ein Irrtum? Yusuf Kuhn
Hallaq bezieht sich bei seinen Überlegungen zu den Grundlagen der Moral vor allem auf vier Autoren, zu denen neben Charles Larmore, Alasdair MacIntyre und Charles Taylor auch H. A. Prichard gehört, deren Auffassungen wir nun näher betrachten wollen. Der Anfang sei mit Prichard gemacht, der von Hallaq zwar von den genannten Autoren vergleichsweise weniger in Anspruch genommen wird, dessen einflussreicher Aufsatz
Wie Prichard und Larmore – und allgemeiner mit ihnen Taylor und MacIntyre, unter anderen – in der Tat vorgebracht haben, ist es unmöglich, unseren Weg zur Moralität mittels autonomer Rationalität zu begründen, die, wie wir gesehen haben, auf dem kantischen Begriff der Freiheit basiert. Prichard hat argumentiert, dass dieser wesenhaft kantische Ansatz »zum Scheitern verurteilt« ist, weil er auf »dem Irrtum« beruht, »zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann.«
Siehe S. 161; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 164.
Die Stelle, die Hallaq hier auszugsweise zitiert, findet sich gegen Ende des Aufsatzes von Prichard, der darin das Ergebnis seiner Untersuchung zusammenfasst. Sie lautet in vollem Wortlaut:
Wenn, wie es fast überall der Fall ist, unter »Moralphilosophie« jenes Wissen zu verstehen ist, das dieses Verlangen erfüllen würde, dann gibt es kein solches Wissen, und alle Versuche, es zu erlangen, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie auf einem Irrtum beruhen, nämlich dem Irrtum zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann. (Prichard, S. 68)
Schon der Versuch einer Begründung der Moralphilosophie im Sinne der Erkenntnis eines bestimmten Wissens ist demzufolge zum Scheitern verurteilt, weil ein solches Wissen sich nicht durch einen mittelbaren Beweis erlangen lässt, sondern lediglich durch einen Akt der unmittelbaren Einsicht. Wir wollen nun näher zusehen, wie Prichard eigentlich zu diesem Ergebnis gelangt. Welche Voraussetzungen macht er? Was versteht er unter »Moralphilosophie«? Von welchem Verlangen und Wissen ist hier die Rede?
Prichard beginnt seine Überlegungen, indem er einen Umstand konstatiert, der vielen, die sich ernsthaft um Rat und Aufschluss fragend an die Moralphilosophie gewandt haben, bekannt sein dürfte:
Es kommt wahrscheinlich für die meisten, die sich mit Moralphilosophie beschäftigen, eine Zeit, wo sie ein unbestimmtes Gefühl der Unzufriedenheit mit dem gesamten Gegenstande verspüren. Und dieses Gefühl der Unzufriedenheit nimmt gewöhnlich eher zu als ab. Dies liegt nicht so sehr daran, daß die Positionen oder gar die Argumente einzelner Denker nicht überzeugend scheinen - obwohl dies sicher stimmt - sondern vielmehr daran, daß das Ziel der ganzen Sache zunehmend unklar wird. »Was«, so wird gefragt, »lernen wir denn wirklich durch die Moralphilosophie?« (Prichard, S. 49)
Nicht nur ist die Geschichte der Moralphilosophie von zahllosen Versuchen, bestimmte Positionen zu begründen, die sich früher oder später allesamt als haltlos erwiesen haben, gekennzeichnet, sondern das damit verfolgte Ziel selbst verliert zunehmend an Klarheit. Prichard gelangt daher zu der Vermutung, dass die Moralphilosophie lediglich eine Scheinfrage zu beantworten versucht und daher auf einem Irrtum beruht. Worin besteht diese Scheinfrage? Und welche Aufgabe ergibt sich für die Moralphilosophie daraus?
4.1 Aufgabe der Moralphilosophie
4.1 Aufgabe der Moralphilosophie Yusuf KuhnPrichard malt nun ein Szenario, in dem vorausgesetzt wird, dass es moralische Normen und Pflichten gibt, die allerdings in Zweifel gezogen werden, da sie in Konflikt zu Interessen stehen können. Daraus ergibt sich sodann die Frage nach dem Grund, warum man überhaupt diesen Normen und Pflichten nachkommen sollte. Prichard beschreibt das daraus hervorgehende Verlangen, dem die Moralphilosophie entspringt, folgendermaßen:
Jedem, der, präpariert durch seine Erziehung, schließlich und endlich die Last der vielfachen Verpflichtungen des Lebens spürt, wird es irgendwann einmal lästig, ihnen nachzukommen, und er erkennt, daß es auf Kosten von Interessen geht. Wenn ihn so etwas beschäftigt, so wird er sich zwangsläufig die Frage stellen: »Gibt es wirklich einen Grund, warum ich so handeln soll, wie ich nach meiner bisherigen Überzeugung handeln sollte? Kann es nicht sein, daß ich die ganze Zeit über mit dieser meiner Überzeugung einer Täuschung erlegen bin? Könnte ich nicht mit gutem Recht einfach darauf schauen, daß es mir gut geht?« (Prichard, S. 49-50)
Lohnt es sich denn überhaupt, moralisch oder gerecht zu sein, oder ist man damit nicht stets der Dumme, der das Nachsehen gegenüber den Unmoralischen und Ungerechten hat? So fragte schon Glaukon in Platons Politeia zu Beginn des zweiten Buches:
O Sokrates, willst du nur scheinen uns überzeugt zu haben oder uns wirklich überzeugen, daß es auf alle Weise besser ist, gerecht zu sein als ungerecht?
Platon, Politeia, 357b, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.
Prichard greift diese Frage auf, indem er fortfährt:
Doch da er wie Glaucon das Gefühl hat, daß er irgendwie schließlich doch in dieser Weise handeln sollte, verlangt er einen Beweis dafür, daß dieses Gefühl richtig ist. M. a. W., er fragt, »Warum soll ich diese Dinge tun?« und seine und unsere Moralphilosophie ist ein Versuch, darauf eine Antwort zu geben, d. h. durch einen Reflexionsprozeß einen Beweis für die Wahrheit dessen zu liefern, was er und wir vor jeder Reflexion unmittelbar oder ohne Beweis geglaubt haben. (Prichard, S. 50)
Das ist also die geistige Situation, aus der sich das Verlangen nach Moralphilosophie ergibt, wodurch wiederum deren Aufgabe bestimmt wird, nämlich nach der Erschütterung vermeintlicher moralischer Gewissheiten durch einen Prozess der Reflexion oder Begründung einen Beweis dafür zu liefern, dass man auch angesichts möglicherweise entgegenstehender Interessen oder Neigungen moralisch handeln sollte.
An einer anderen Stelle wird noch deutlicher gesagt, worin die Aufgabe der Moralphilosophie besteht:
[…] nämlich uns davon zu überzeugen, daß wir das, was wir unserer bisherigen unreflektierten Überzeugung nach tun sollten, tatsächlich tun sollten, bzw. uns andernfalls zu sagen, was denn die anderen Dinge sind - falls es solche gibt -, die wir wirklich tun sollten, und uns zu beweisen, daß er recht hat. (Prichard, S. 64)
Daran schließt Prichard seine Hauptthese an, derzufolge
[…] dieses Verlangen nicht erfüllt werden kann, und zwar deshalb nicht, weil es illegitim ist. (Prichard, S. 65)
Und wenn dem so sein sollte, wäre freilich nicht nur der Sinn der Moralphilosophie, sondern gar deren Existenz höchst fragwürdig geworden, was Prichard mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt:
Somit drängt sich die Frage auf: »Gibt es überhaupt so etwas wie Moralphilosophie, und wenn ja, in welchem Sinne?« (Prichard, S. 65)
4.2 Falsches Verständnis der Moral
4.2 Falsches Verständnis der Moral Yusuf KuhnWir wollen nun versuchen, Prichards Argumentation in ihrem Kern und in aller Kürze zu skizzieren. Für seine These, dass das aus der Frage, warum etwas, das wir für eine Pflicht halten, tatsächlich unsere Pflicht ist, entspringende Verlangen nach Beweisen oder Gründen auf einem völlig falschen Verständnis der Moral basiert, bringt Prichard im wesentlichen zwei Arten von Argumenten vor.
Die Ansicht, dass etwas eine Pflicht ist, wird erstens in der Moralphilosophie einerseits damit begründet, dass es den Neigungen und Interessen entspricht oder zum Glück führt. Doch dies läuft darauf hinaus, dass die in Frage stehende Pflicht gar nicht als Pflicht im eigentlichen Sinne betrachtet wird. Denn wenn sie aus Neigung oder Interesse verrichtet wird, wird sie eben nicht als eine Pflicht getan. Andererseits kann als Begründung angeführt werden, dass die Verrichtung einer Handlung ein Gut oder etwas Gutes hervorbringt. Doch dagegen lässt sich erwidern, dass aus dem Umstand, dass etwas gut ist, keineswegs folgt, dass es eine Pflicht ist, es herbeizuführen. Diese Argumente Prichards scheinen von einer begrenzten Auswahl von möglichen Arten der Begründung auszugehen, ohne die sie ihre Stichhaltigkeit einbüßen würden.
Die zweite Art von Argument besteht vor allem in einer Berufung auf das, was uns schon bewusst sein müsste. Denn die Wahrnehmung einer Pflicht soll unmittelbar und unreflektiert erfolgen, ohne dass dafür Gründe erforderlich sind. Und nur im Sinne eines solchen Intuitionismus gibt es nach Prichard Moralphilosophie, die dadurch auf eine Wiederholung des ohnehin vorhandenen moralischen Wissens zusammenschrumpft. Von verschiedenen Kritikern des Intuitionismus wird zudem der Einwand vorgebracht, dass es Prichard und manchen anderen Vertretern des Intuitionismus, an jeglichem historischem Sinn mangelt, da sie dazu tendieren, Platon, Kant und sich selbst als Teilnehmer an einer einzigen moralphilosophischen Debatte mit einem einzigen Thema sowie mit einem beständigen und unwandelbaren Vokabular zu behandeln.
Die Aufgabe der Moralphilosophie kann diesem intuitionistischen Ansatz zufolge jedenfalls nicht darin bestehen, spezifische Inhalte der Moral zu begründen. Und an der Aufgabe, den Pflichtcharakter vorgegebener Inhalte gegen aufkommende Zweifel zu rechtfertigen, kann sie nur scheitern.
In der Argumentation, die Prichard zu diesem Schluss führen, lassen sich nach Kurt Bayertz
Das einzige Mittel, diesen Zweifel zu beseitigen, liegt darin, daß wir uns in eine Situation begeben, die diese Verpflichtung nach sich zieht, oder - falls unsere Phantasie stark genug ist - uns vorstellen, wir wären in dieser Situation, und dann die moralischen Fähigkeiten unseres Denkens das ihre tun lassen. Oder, um der Sache eine allgemeine Form zu verleihen: Wenn wir tatsächlich daran zweifeln, ob es wirklich eine Verpflichtung gibt, A in einer Situation B herbeizuführen, dann liegt das Mittel, diesen Zweifel zu beseitigen, nicht in irgendeinem generellen Denkprozeß, sondern in der unmittelbaren Konfrontation mit einem speziellen Beispiel für die Situation B und der darauffolgenden direkten Erkenntnis der Verpflichtung, in dieser Situation A herbeizuführen. (Prichard, S. 68)
4.3 Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum!
4.3 Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum! Yusuf KuhnDer Moralphilosophie kommt dabei keine Rolle zu. Sie kann die ihr zugeschriebene Aufgabe nicht erfüllen. Die provokative Titelfrage des Aufsatzes ist also ganz klar zu beantworten: Die Moralphilosophie beruht auf einem Irrtum!
Die Argumente von Prichard mögen nicht immer überzeugend sein und die von ihm vorgeschlagene Lösung, der intuitionistische Ansatz, mag sogar unplausibel erscheinen, aber dieser Aufsatz ist gewiss bezeichnend und aufschlussreich für die geistige Situation, in der sich die moderne Moralphilosophie befindet. Und er hat seine Wirkung getan, indem er neben der klassischen Frage nach der Begründung von Inhalten der Moral eine andere Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat, die sich unter den Bedingungen einer modernen Moral besonders stark aufdrängt: Warum überhaupt moralisch sein?
Bayertz schreibt dazu, indem er diese Frage abgekürzt als W-Frage bezeichnet:
Prichards Überlegungen sind eindrucksvoll und haben maßgeblich dazu beigetragen, die W-Frage zu einem Schlüsselthema der nachfolgenden Moralphilosophie werden zu lassen.
Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Kap. 6.
Die Unmöglichkeit, im Rahmen der modernen Moralphilosophie eine Antwort auf die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« zu finden, führten Prichard und andere Intuitionisten in einen »intuitionistischen Antirationalismus«, den Bayertz folgendermaßen charakterisiert:
Sein situationsbezogener Intuitionismus läuft auf eine Eliminierung jeglichen moralischen oder ethischen Denkens hinaus; und nicht zufällig lesen sich einige seiner Formulierungen so, als hätten wir es bei dem Gefühl der Verpflichtung mit einer Art von bedingtem Reflex zu tun: wie der Pawlowsche Hund Speichel absondert, sobald das Glockenzeichen ertönt, so wird im moralisch erzogenen Menschen ein Gefühl der Verpflichtung ausgelöst, sobald er in die entsprechende Situation versetzt wird.
Ebenda.
Zudem legt Bayertz dar, dass sich dieser Antirationalismus in ein Dilemma verstrickt: Wenn die Erziehung die Grundlage der Moral ist, lässt sich in Bezug auf sie die Frage stellen, ob vernünftiges Denken in ihr zum Tragen kommt. Wenn nicht, wird Moral zur bloßen Abrichtung; wenn doch, könnte der Moralphilosophie trotz allem eine sinnvolle Aufgabe zufallen. Bayertz führt dazu aus:
Prichard manövriert sich mit seinem intuitionistischen Antirationalismus in ein Dilemma. Entweder spielen in der moralischen Erziehung rational nachvollziehbare Gründe und Argumente keine Rolle. Dann handelt es sich bei dieser Erziehung um eine bloße Abrichtung, und alle diejenigen behalten Recht, die (wie Nietzsche oder Freud) die Moral auf das Produkt einer Art von Dressur reduzieren. Einen echten Grund, moralisch zu sein, gibt es dann nicht; vielmehr tut man gut daran, sich solchen repressiven Vorschriften zu entziehen. Oder Gründe und Argumente spielen in ihr eine Rolle. Dann müssen sie auch explizit gemacht und philosophisch analysiert werden können.
Ebenda; Hervorhebungen im Original.
4.4 Warum überhaupt moralisch sein?
4.4 Warum überhaupt moralisch sein? Yusuf KuhnBayertz selbst ist freilich davon überzeugt, dass die Aufgabe der Moralphilosophie nicht auf die von Prichard vorgegebene beschränkt werden muss, und schickt sich daher an, eine alternative Aufgabenbestimmung zu entwickeln. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Frage, die den Titel seines Buches ziert: Warum überhaupt moralisch sein? Lässt sich diese Frage, die sich allererst unter den Bedingungen der modernen Moral mit voller Wucht stellt, unter diesen Bedingungen überhaupt beantworten? Oder ist sie nicht vielmehr lediglich ein Ausdruck der tiefen moralischen Krise, in die das Projekt der Aufklärung, die Moral auf die bloße Vernunft zu gründen, unvermeidlich mündet?
Hier ist nicht der Ort, um dieser Frage tiefer auf den Grund zu gehen. Wir wollen aber einen kurzen Blick auf die Ergebnisse werfen, zu denen Kurt Bayertz durch seinen Versuch, auf die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« eine Antwort zu finden, geführt wurde. Und er meint in der Tat, eine Antwort, auf deren genauen Inhalt an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, gefunden zu haben, allerdings um den Preis, Aufgaben, Ziele und Selbstverständnis der Moralphilosophie weit unter die Ansprüche herunterzuschrauben, die ursprünglich mit dem aufklärerischen Begründungsprojekt verbunden gewesen sind. Bayertz schreibt im für die zweite Auflage des Buches neu geschriebenen Nachwort, in dem er aus der entsprechenden zeitlichen Distanz rückblickend einige Schlussfolgerungen aus seiner Untersuchung zieht:
Unabhängig von ihrer Richtigkeit hat die moralpessimistische Modernitätsdiagnose das ethische Denken in seiner Aufgabenstellung und seinen Theorieidealen nachhaltig geprägt. Der Ethik wurde nun die Aufgabe zugeschrieben, in einer Art rationaler creatio ex nihilo der Moral jene sichere Basis zurückzugeben, die ihr im Zuge der Moderne abhanden gekommen sein sollten (sic!); und die argumentative Auseinandersetzung mit dem Amoralisten fungierte als eine Nagelprobe auf das Gelingen dieses Projekts. In den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches dürfte deutlich geworden sein, daß dieses Projekt nicht den erwarteten Erfolg haben konnte, ohne daß wir deshalb gezwungen wären, an der Rationalität der Moral zu zweifeln. – Ziehen wir daraus den Schluß, daß es um die Moral heute nicht besser, aber auch nicht schlechter bestellt ist als zu anderen Zeiten, so können wir das Postulat einer voraussetzungslosen Rechtfertigung der Moral ‹von außen› fallen lassen und das ethische Denken stattdessen als die Reflexion einer existierenden Praxis des moralischen Handelns, Urteilens und Argumentierens auffassen.
Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München, 2014, Nachwort; Hervorhebungen im Original.
Der grundsätzliche Begründungsanspruch für die Moral wird somit völlig aufgegeben, und zwar hinsichtlich sowohl des Inhalts als auch der Motivation. Die Moralphilosophie setzt die Moral in Theorie und Praxis vielmehr voraus und beschränkt sich auf deren Reflexion, die bestenfalls eine gewisse Rationalität der Moral plausibel machen kann. Bayertz schließt seine Betrachtungen daher mit folgenden Überlegungen:
Die bestmögliche Antwort ist eben eine, die nicht von einem äußeren Standpunkt, sondern vom Boden der Moral aus gegeben wird. Ist sie deshalb zirkulär, wie im Anschluß an Prichard (§ 16) gemutmaßt werden könnte? Setzen wir mit ihr voraus, was zu beweisen wäre? – Die Antwort lautet ‹nein›! Was vorausgesetzt wird, ist nicht ‹die Moral›, sondern die Bereitschaft, moralische Überlegungen und Argumente ernst zu nehmen. Wenn wir nun den Amoralisten beiseite lassen, der ja so definiert ist, daß er diese Bereitschaft nicht besitzt, so stellt das Schadensprinzip eine wichtige handlungsrelevante Information über die Funktion der Moral im potentiell konfliktträchtigen Zusammenleben von Menschen zur Verfügung. Es ordnet die Institution der Moral, ihre konkreten Normen und die auf ihrer Basis gefällten Urteile in einen größeren Zusammenhang ein und macht sie damit besser verständlich. Wer begriffen hat, worum es bei der Moral geht, hat auch einen guten Grund, moralisch zu sein.
Ebenda; Hervorhebungen im Original.
Wenn der Boden der Moral immer schon vorgegeben sein muss, drängt sich die Frage auf, wie groß der Unterschied zum »intuitionistischen Antirationalismus« eines Prichard noch sein kann. Beide scheinen sich jedenfalls darin einig zu sein, dass der Moralphilosophie keine andere Wahl bleibt, als die jeweils bestehende Moral zum Ausgangspunkt zu nehmen, also in ihrem Fall die moderne Moral, ohne diese begründen oder auch grundsätzlich in Frage stellen zu können. Wenn die moderne Moral selbst nun ein wesentlicher Faktor für die Krise der Moral sein sollte, dürften die Aussichten, auf diesem Weg einen Ausweg ausfindig machen zu können, eher trüb sein.
Es sei daran erinnert, was im Abschnitt über Die moralischen Technologien des Selbst bereits zur Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« gesagt wurde, denn es mag nunmehr in neuem Licht erscheinen:
Diese Geringschätzung des Moralischen [in der orientalistischen Konzeption des »islamischen Rechts«] passt zu einer Kultur, in deren Moralphilosophie eine Frage zentrale Bedeutung gewinnen konnte, die in der islamischen Tradition niemals gestellt wurde, nämlich: »Warum überhaupt moralisch sein?« Diese Frage kann nur einem Denken entspringen, in dem die Moral als gesonderter Bereich und nicht als selbstverständlich gilt. Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Dilemma der Modernität. Die Frage ist schlechterdings modern und hätte sich wohl in keiner vormodernen Kultur gestellt.
Dieser Unterschätzung der »moralischen« Kraft, die in der islamischen Tradition als wesentlicher und integraler Bestandteil des »Rechts« gilt, liegt eine ideologisch bedingte Geringschätzung der Religion, zumindest der islamischen, zugrunde. Die Abscheu gegen die Religion als moralischer Kraft macht blind gegen die Einsicht in die Rolle, welche die Moral tatsächlich auf dem Gebiet des Rechts und umgekehrt spielt. Im Rahmen der modernen moralfeindlichen Denkweise mussten daher andere Erklärungen gesucht und die Geschichtsschreibung entsprechend angepasst werden.
Hallaq richtet dagegen seine Aufmerksamkeit gerade auf die Verwobenheit von Moral und Recht in der islamischen Kultur. So stellt sich nicht die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?«, deren Antwort für muslimische Rechtsgelehrte allzu offensichtlich war, um eine entsprechende Stellung wie in der modernen Moralphilosophie einnehmen zu können, sondern vielmehr die Frage: Wie wird das moralische Subjekt gebildet?
Siehe den Abschnitt Die moralischen Technologien des Selbst, S. 131 ff.
5 Moral, Vernunft und Gründe
5 Moral, Vernunft und Gründe Yusuf Kuhn
Bei seiner Kritik der modernen Moralphilosophie stützt Hallaq sich auch auf Überlegungen von Charles Larmore, den er, im Unterschied zu Taylor und MacIntyre, als liberal bezeichnet.
Charles Larmore war Student an der Harvard University, als John Rawls’ großes Werk über die Gerechtigkeit erschien, und er ist bis heute vielen Aspekten dieses Ansatzes treu geblieben und hat ihn vielschichtig weiterentwickelt. Mehr als das, er gilt derzeit neben Rawls als einer der wichtigsten Proponenten des politischen Liberalismus.
Charles Larmore, Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt, 2012, S. 9.
5.1 Autonomie der Ethik
5.1 Autonomie der Ethik Yusuf KuhnHallaqs Interesse an Larmore liegt nun darin begründet, dass letzterer gleichwohl eine erstaunlich tiefgreifende Kritik an Grundgedanken der modernen Moralphilosophie, insbesondere in ihrer an Kant angelehnten Gestalt, geübt hat. Mit Prichard verbindet ihn dabei die These, dass der Versuch einer Begründung der Moral aus bloßer Vernunft nicht gelingen kann. Die Vernunft, wenn sie denn moralisch wirksam werden können soll, bedarf gewissermaßen der Unterstützung von außen, aus einem Bereich, der zudem über eine gewisse Selbständigkeit verfügt. Was bei Prichard moralische Intuitionen sind, wird bei Larmore daher zu moralischen Gründen. Larmore selbst beschreibt sein Verhältnis zu Prichard so:
[…] er (Prichard) war davon überzeugt, wie ich auch, dass moralische Gründe sui generis sind, ein irreduzibler Wertbereich, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können (into which we cannot reason ourselves from the outside), sondern den wir nur anerkennen können.
Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 113.
Während Prichard der Vernunft lediglich eine sehr begrenzte Rolle zuweist, entwickelt Larmore eine wesentlich anspruchsvollere Konzeption der Vernunft, die letzterer in ihrem komplexen Wechselspiel mit dem unabhängigen Bereich des Moralischen größeres Gewicht verleiht. Bei allen Unterschieden lassen beide Konzeptionen sich als moralischen Realismus bezeichnen. Die objektiven Gründe, auf welche die Vernunft angewiesen ist, wurzeln nach Larmore in einer »normativen Ordnung von Gründen, von deren Autorität wir nicht die Urheber sind«
Die Konzeption der Vernunft als selbstgesetzgebend ist im Grunde genommen inkohärent, und jeder Versuch, sie als Grundlage für die Rechtfertigung der Autorität der Moralität einzusetzen, endet darin, sowohl ihre eigenen Prinzipien zu verletzen als auch ein schiefes Bild der Moralität selbst hervorzubringen. Die Ethik der Autonomie muss verworfen werden, und an ihre Stelle gehört, was ich Autonomie der Moralität genannt habe – womit ich, offensichtlich genug, meine, nicht dass die Moralität selbstgesetzgebend ist (das wäre unsinnig), sondern dass die Moralität einen autonomen, irreduziblen Wertbereich bildet, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können (into which we cannot reason ourselves from the without), sondern den wir einfach anerkennen müssen.
Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 122.
Die Vernunft verliert damit ihren Status autonomer Spontaneität und wird zu einem heteronomen und rezeptiven Vermögen, das für Gründe empfänglich ist, die ihr von außen vorgegeben werden. Mit dieser Konzeption wendet sich Larmore gegen die vorherrschende Strömung in der modernen Moralphilosophie, die sich in der Nachfolge Kants bis heute, wie etwa auch in der Diskursethik, in einer Verbindung von Naturalismus und Vernunftautonomie den zahllosen Versuchen einer Neuauflage verschrieben haben, die noch auf jedes Scheitern dieses Ansatzes gefolgt sind.
5.2 Ethik der Autonomie und Metaphysik der modernen Welt
5.2 Ethik der Autonomie und Metaphysik der modernen Welt Yusuf KuhnDiese Versuche haben sich gegen alle Kritik, der sie spätestens seit Hegel oftmals mit vernichtender Wucht unterzogen wurden, und gegen die Erfahrung des fortwährenden Misslingens als resistent erwiesen. Welches Projekt einer Wiederbelebung der kantischen Moralphilosophie in mehr oder weniger neuem Gewand würde denn heute für sich in Anspruch nehmen wollen, erfolgreich gewesen zu sein? Ganz zu schweigen davon, welches Projekt einer solchen Moralbegründung denn wohl, dem universalen Anspruch einer rationalen Rechtfertigung entsprechend, eine auch nur annähernd angemessen breite oder wenigstens über den üblichen kleinen Kreis eifriger Spezialisten in der scientific community hinausreichende Anerkennung gefunden hat?!
Warum büßt diese moralphilosophische Position trotz des wiederholten und fortgesetzten Scheiterns ihres Projektes einer Moralbegründung nicht ihre Anziehungskraft ein? Dafür gibt es sicherlich viele Gründe, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie mit dem modernen Paradigma der Moral unlöslich verwachsen ist, von dem alle modernen, nicht nur westlichen Gesellschaften in ihren Tiefenschichten geprägt sind. Ohne Rückgriff darauf würden gewiss kaum lösbare Legitimationsprobleme den Zusammenhalt dieser Gesellschaften erschüttern.
Zu den tieferen Gründen für diese Attraktivität gehört sicherlich auch, dass diese Konzeption unter den Bedingungen der Moderne alternativlos erscheinen mag. Denn durch die Trennung von Sein und Sollen liegt die Annahme nahe, dass die autonome Vernunft als einzige Quelle des Moralischen übrigbleibt. Woher sollten für diejenigen, die den Preis des Abgleitens in die völlige Sinnlosigkeit nicht zu bezahlen bereit sind, Normen und Werte in einer wertfreien, entzauberten Welt auch sonst kommen? Dieses Motiv wird in geradezu mustergültiger Weise von der kantianischen Moralphilosophin Christine Korsgaard in ihrer Untersuchung der Quellen der Normativität ausgesprochen:
Wenn das Wirkliche und das Gute nicht länger eins sind, muss Wert seinen Weg in die Welt auf irgendeine Weise finden. Form muss der Welt der Materie auferlegt werden. Dies ist die Arbeit von Kunst, von Pflicht, und es bringt uns zu Kant zurück. Denn es war Kant, der die Revolution vollendete, als er sagte, dass Vernunft – die Form ist – nicht in der Welt ist, sondern etwas ist, das wir ihr auferlegen. Die Ethik der Autonomie ist die einzige, die mit der Metaphysik der modernen Welt vereinbar ist, und die Ethik der Autonomie ist eine Ethik der Pflicht.
Christine Korsgaard, Sources of Normativity, Cambridge, 1996, S. 5.
Dankenswerterweise ist hier ganz freimütig die Rede von Metaphysik, was sonst nur allzu gerne etwa hinter dem Schleier angeblicher blanker wissenschaftlicher Rationalität verborgen wird. Und zu dieser »Metaphysik der modernen Welt« gehört, dass alles Werthafte, Moralische, Gute, ja alle Gründe nicht Teil der Welt sein können, aus der Wirklichkeit ausgeschlossen werden. Die Welt wird mithin zum rein passiven Material, dem die Vernunft allererst eine Form aufprägen muss. Diese Welt der stummen und toten Materie ist die Welt des Naturalismus, der, die Autonomie der Vernunft in kantischer Manier zur Seite gestellt wird – in Wahrheit über einen unüberwindbaren Abgrund hinweg. Es lohnt sich, Larmores Kommentar zu diesem Bekenntnis von Korsgaard ausführlich zu zitieren und zu bedenken:
Autonomie und Naturalismus hängen also eng zusammen. »Die Ethik der Autonomie«, versichert Christine Korsgaard, »ist die einzige, die mit der Metaphysik der modernen Welt vereinbar ist«.
Siehe das eben angeführte Zitat von Korsgaard. Diese Aussage ist ein perfekter Ausdruck der Überzeugung, dass es keine Alternative zum kantischen Begriff der selbstgesetzgebenden Vernunft gibt. Sie vergegenwärtigt uns aber auch, dass der Naturalismus in der Tat eine Metaphysik ist und nicht ein Theorem der modernen Naturwissenschaften selbst. Die Inkohärenz des Autonomiebegriffs könnte uns also den Mut geben, die Herrschaft dieses Weltbildes infrage zu stellen und eine andere Metaphysik zu entwickeln, die der wahren Natur der Vernunft besser entspräche. Es lohnt sich nicht, wie manche es heute tun, das Problem mit der Beteuerung zurückzuweisen, es komme heute darauf an, »nachmetaphysisch« zu denken. Nachmetaphysisches Denken gibt es nicht und kann es nicht geben. Jeder hat seine Metaphysik, seine Auffassung von der Welt im Ganzen und von dem Platz des Menschen darin, wie vage, kontradiktorisch, oder uneingestanden sie auch immer sein mag. Vielmehr kommt es darauf an, Metaphysik verantwortlich zu betreiben, ganz besonders dann, wenn man sich mit solchen Grundfragen wie der nach der Natur der Vernunft befasst. (Larmore, 39-40)Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Charles Larmore, Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt, 2012.
5.3 Platonismus von Gründen
5.3 Platonismus von Gründen Yusuf KuhnWas versteht Larmore nun unter einer verantwortlich betriebenen Metaphysik? Durch die Trennung von Sein und Sollen und die damit einhergehende Entleerung der Welt von allem Werthaften wurde die Welt zur stummen Materie in Bewegung herabgesetzt. Das naturalistische Weltbild, welches das moderne Denken zutiefst geprägt hat, gesteht daher nur dem Existenz zu, was Gegenstand der modernen Naturwissenschaften werden kann. In einer solchen Ontologie gibt es freilich keinen Platz für Gründe, die einen wesentlich normativen Charakter haben. Soweit in dieser Welt überhaupt Normatives zur Geltung kommt, muss es der neutralen Materie von der Vernunft von außen auferlegt werden. Da nun Gründe mit den einzig gemäß der naturalistischen Weltauffassung zugelassenen physischen und psychischen Entitäten nicht zur Deckung zu bringen sind, muss die Ontologie um eine weitere Art von Entitäten erweitert werden, nämlich Gründe, die eine normative Ordnung der objektiven Wirklichkeit bilden. Larmore drückt dies so aus:
Gründe sind also weder mit physischen noch mit psychischen Phänomenen gleichzusetzen. Wenn wir bereit sind zu akzeptieren, dass die Ausübung der Vernunft darin besteht, sich nach Gründen zu richten, müssen wir folglich die Metaphysik des Naturalismus aufgeben. Wir müssen eine andere Metaphysik entwickeln, nach der Gründe in all ihrer irreduziblen Normativität zur Struktur der Wirklichkeit oder der Welt selbst gehören […]. (Larmore, 45)
Das ist die Wiederverzauberung der Welt, mit der Larmore die im Sinne von Max Weber »entzauberte Welt« um eine Dimension bereichert, die der vormodernen Welt allemal eignete, in der die Vernunft noch nicht von ihren übersubjektiven Gründen heillos geschieden war. Und Larmore schreckt selbst davor nicht zurück, diese »andere Metaphysik« als Platonismus zu bezeichnen, auch wenn er darauf achtet, neben den Gemeinsamkeiten gewisse Unterschiede zum klassischen Platonismus deutlich zu machen. So führt er dazu aus:
Meines Erachtens lässt sich eine solche Position ziemlich treffend als eine Art von »Platonismus« beschreiben. Denn Gründe ähneln darin Platons Ideen, dass sie eine dritte, wesentlich normative Dimension der Welt konstituieren, die sich von der Natur ebenso wie vom Geist unterscheidet. In anderen Hinsichten passt der Vergleich allerdings nicht, da Gründe im Gegensatz zu den platonischen Ideen weder Paradigmen noch Universalien sind. Aber das Schlagwort »Platonismus« hat sich im philosophischen Lexikon für alle derartigen Lehren eingebürgert, die eine reichere Ontologie als eine, die allein aus physischen und psychischen Entitäten besteht, für nötig erachten. Ich werde mich diesem Sprachgebrauch anschließen und dementsprechend von einem »Platonismus von Gründen« sprechen. (Larmore, 45)
Mit Platonismus ist also vor allem die Bereicherung der naturalistischen Ontologie mit der Dimension der Gründe gemeint. Damit haben wir einen Einblick in das gewonnen, was Larmore als verantwortliche Metaphysik bezeichnet. Wie gelangt er aber zur Wiederherstellung dieser moralischen Kosmologie? Welchen Gedankengang schreitet er dafür ab? Es ist vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Hauptsträngen der modernen Moralphilosophie, die einerseits auf Hobbes und andererseits auf Kant zurückgehen.
Während er in seinem Buch The Autonomy of Morality »die zwei Hauptstrategien – die eine inspiriert von Hobbes, die andere von Kant -, die moderne Philosophen eingenommen haben, um Moralität eine außermoralische Begründung zu geben«,
5.4 Vernunft als Vermögen der Prinzipien: Kant
5.4 Vernunft als Vermögen der Prinzipien: Kant Yusuf KuhnDie kantische Ethik der Autonomie ist zweifellos das vorherrschende Paradigma in jeder modernen Moralphilosophie, die Moralität auf Vernunft zu gründen versucht. Diese Ethik der Autonomie leitet sich aus dem kantischen Begriff der Freiheit ab, der unlöslich mit der Idee der autonomen und selbstgesetzgebenden Vernunft verbunden ist.
Es sei noch einmal die Stelle in Erinnerung gerufen, in der Hallaq auf diesen Zusammenhang hinweist:
Aber die Anziehungskraft der autonomen Rationalität, die in Freiheit gegründet ist, ist keineswegs zufällig, denn das Wesen dieser Art von Rationalität ist eben gerade der Wille zur Freiheit. Diese Freiheit erweist sich letztlich als nicht bloß unsere persönliche und private Freiheit – die sie natürlich ist -, sondern als die Freiheit des Menschen, über die Natur und allem, was sich in ihr befindet, zu herrschen, einschließlich »jegliches« Menschlichen, das als ein integraler Bestandteil von ihr definiert werden mag (z.B. der »edle Wilde«, jene Wesen, die »in einem Naturzustand« leben). Es ist die Freiheit von den Verpflichtungen eines Lebens unter den moralischen Forderungen dieser Welt als einer kosmischen Werteordnung, die uns als solche ihre eigenen Beschränkungen auferlegt.
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 162; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 164; Hervorhebungen im Original.
Daraus erschließt sich schon mit aller Deutlichkeit, welche Bedeutung die Widerlegung der kantischen Moralk0nzeption für Larmores Vorhaben hat, die Moralphilosophie auf eine objektive Werteordnung zu stützen. Er will deshalb zeigen,dass der kantische Begriff der autonomen Vernunft nicht haltbar ist, da die Vernunft selbst auf etwas außerhalb ihrer angewiesen ist, das sie nicht selbst erzeugen und daher nur anerkennen kann. Und er wirft daher die große Frage nach dem »Wesen der Vernunft« auf: »Was ist diese Vernunft«? (Larmore, 17)
Den Ausgangspunkt für diese kritische Betrachtung bilden zwei Definitionen, die Kant zur Bestimmung der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat. Die erste lautet: »das Vermögen der Prinzipien«.
mit der Angabe von Prinzipien [...] begnügen, die unser Denken und Handeln leiten sollen. Ein vernünftiges Wesen soll jemand sein, der sich in seinem Umgang mit der Welt von den richtigen Prinzipien leiten lässt. (Larmore, 17)
Daraus ergebe sich sodann die Unterscheidung zwischen den Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft. Als Beispiele für Prinzipien der theoretischen Vernunft nennt er das Prinzip des Empirismus und das Prinzip des zureichenden Grundes; für Prinzipien der praktischen Vernunft wiederum das Prinzip der instrumentellen Vernunft und das Prinzip der Universalisierung. Daran schließt er sodann die Bemerkung an:
An einer Stelle in der Kritik der reinen Vernunft scheint sich Immanuel Kant einer solchen Auffassung der Vernunft anzuschließen. Die Vernunft, schreibt er da, ist »das Vermögen der Prinzipien«. (Larmore, 18)
Auch wenn Larmore hier das vorsichtige »scheint« benutzt, setzt seine Kritik genau an dieser Auffassung an, ohne näher zu erörtern, ob Kant sie tatsächlich vertritt. Er fragt nicht danach, was Kant unter Prinzipien versteht, sondern scheint ihm vielmehr dieses von ihm selbst eingeführte Verständnis umstandslos zuzuschreiben. Denn sogleich stellt er fest:
[…] die Auffassung, die Vernunft sei das Vermögen, sich nach Prinzipien zu richten, ist unzureichend, und zwar in mehreren Hinsichten. (Larmore, 18)
Die erste dieser Hinsichten ergibt sich daraus, dass Prinzipien sich mit Bezug auf den Bereich bestimmen, in dem sie gelten sollen, was sich schon aus der Unterschiedlichkeit der Prinzipien für den theoretischen und den praktischen Bereich erkennen lässt. Die Vernunft kann nicht als die bloße Disposition, sich nach Prinzipien zu richten, verstanden werden, da sie vorgängig erfassen muss, welche Prinzipien für den jeweiligen Bereich geeignet sind. Larmore folgert:
Und daraus folgt, dass die Vernunft selber das tiefer liegende Vermögen sein muss, einzusehen, welche Prinzipien sich für welche Bereiche eignen. (Larmore, 18)
Aber nicht nur die Eignung vorgegebener Prinzipien steht in Frage, sondern die Prinzipien selbst. Es ist ja keineswegs ausgemacht, welche Prinzipien – theoretische, praktische oder welche auch immer – überhaupt die richtigen sind. Daraus ergibt sich für Larmore »ein zweites Bedenken gegenüber Kants Definition«:
[…] in der realen Welt wird darum gestritten, an welchen Prinzipien wir unser Denken und Handeln orientieren sollten. (Larmore, 19)
Dass die Frage, welche Prinzipien die richtigen sind, sich keineswegs einmütiger Antworten erfreut, sondern in der Tat Gegenstand andauernder Kontroversen ist, belegt und veranschaulicht Larmore durch eine Reihe berühmter Beispiele von Debatten um die einleitend genannten Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft. Das ist zweifellos richtig.
Und wenn die Gültigkeit der Prinzipien umstritten ist, - so folgert Larmore – kann die Vernunft nicht lediglich in einem »Vermögen der Prinzipien« bestehen, die doch allererst zu prüfen und gegebenenfalls anzuerkennen sind. Die Vernunft muss mehr sein als eine Reihe von Prinzipien, da zu ihrer Aufgabe die vorgängige Prüfung der Gültigkeit der Prinzipien gehört. Larmore stellt daher fest:
Sie muss etwas Tieferliegendes [...] sein [...]. (Larmore, 21)
Larmore bestimmt nun das Wesen der Vernunft unter Berücksichtigung der Konsequenzen, die sich aus den beiden Einwänden gegen Kants Definition ergeben:
Tiefer als die Fähigkeit, sich nach Prinzipien zu richten, liegt also das Vermögen, die Gültigkeit von Prinzipien sowie ihre Angemessenheit in bestimmten Situationen zu beurteilen, das selbst zum Wesen der Vernunft gehört. (Larmore, 21)
Und er stellt, diesen Abschnitt abschließend, fest:
Um das Wesen der Vernunft adäquater zu erfassen, müssen wir einen neuen Anlauf nehmen und diesmal auf einer abstrakteren Ebene als der von Prinzipien und Kritik ansetzen, ohne aber zu vergessen, was durch die Unzulänglichkeiten der hier vorgestellten Ansätze bereits sichtbar geworden ist – dass die Vernunft ein normatives Vermögen ist, das es uns ermöglicht, zu beurteilen. Ihr fällt es zu, uns zu zeigen, wie wir, sei es durch Prinzipien, sei es kritisch oder affirmativ, denken und handeln sollten. (Larmore, 22; Hervorhebungen im Original)
Bevor wir nun den angekündigten neuen Anlauf in den Blick nehmen, wollen wir die Frage aufwerfen, inwiefern dieser Gedankengang überzeugend erscheint. Dabei ist es wichtig, eine klare Unterscheidung zu treffen, die Larmore selbst eher verwischen zu wollen scheint, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Verständnis von Prinzipien, das Larmore einführt, und Kants Begriff des Prinzips. Das oben schon angemerkte »scheint« in der Zuschreibung »einer solchen Auffassung der Vernunft« zu Kant sollte sehr viel ernster genommen werden. Denn in der Tat ist Kants eigene Auffassung eine ganz andere. Und zwar eine so andere, dass sich zwar mit gutem Grund sagen lässt, dass die vorgebrachte Kritik durchaus überzeugend ist, wenn sie auf das von Larmore eingeführte Verständnis von Prinzipien bezogen wird, aber keinesfalls in bezug auf Kant selbst.
Es ist hier nicht der Ort, um in eine auch nur ansatzweise hinreichende Kant-Interpretation einzutreten. Larmore selbst will sich
[…] nicht auf die Komplikationen in Kants eigener Argumentation einlassen. Die Kant-Auslegung ist ein unendliches Geschäft – einmal drin, kommt man nicht mehr heraus –, und es ist leicht, das Wesentliche dann wegen der Einzelheiten aus den Augen zu verlieren. (Larmore, 24-25)
Die Warnung ist sicherlich berechtigt, aber ganz kann darauf auch nicht verzichtet werden, wenn schon von »Kants Definition« (Larmore, 19) der Vernunft gehandelt wird. Ich will versuchen, wenigstens knapp anzudeuten, warum Larmores Kritik an Kants Begriff der Vernunft als Vermögen der Prinzipien vorbeizielt.
Von Anfang an fällt auf, dass Larmore sich gar nicht darum bemüht, Kants eigenes Verständnis überhaupt ins Spiel zu bringen. Dafür wäre schon aufschlussreich gewesen, den ganzen Satz zu zitieren, in dem sich die von Larmore aufgegriffene Bestimmung findet. Denn Kant trifft hier eine Unterscheidung von grundsätzlicher Bedeutung, die von Larmore schlichtweg unbeachtet bleibt. Kant stellt dort nämlich fest:
Wir erkläreten, im erstern Teile unserer tranzendentalen Logik, den Verstand durch das Vermögen der Regeln; hier unterscheiden wir die Vernunft von demselben dadurch, daß wir sie das Vermögen der Prinzipien nennen wollen.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 299/B 356, S. 312 (Hervorhebungen im Original).
Diese so grundlegende Unterscheidung zwischen dem Verstand als Vermögen der Regeln und der Vernunft als Vermögen der Prinzipien wird von Larmore überhaupt nicht aufgegriffen. Das Wort Verstand kommt in der gesamten Vorlesung, die unter dem Titel Vernunft steht, nicht einmal vor. Da stellt sich unweigerlich der Verdacht ein, dass all die Prinzipien, die von Larmore angeführt werden, womöglich als Regeln in den Bereich des Verstandes fallen könnten, so dass die gesamte Kritik den kantischen Vernunftbegriff gar nicht treffen würde. Wenn wir in der Kritik der reinen Vernunft auch nur einen weiteren Satz lesen, der auf die obige Stelle unmittelbar folgt, stoßen wir auf eine Warnung vor der Verwechslung zweier Bedeutungen des Ausdrucks Prinzip. Denn Kant gibt hier zu bedenken:
Der Ausdruck eines Prinzips ist zweideutig, und bedeutet gemeiniglich nur ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprunge nach kein Principium ist. Ein jeder allgemeiner Satz, er mag auch sogar aus Erfahrung (durch Induktion) hergenommen sein, kann zum Obersatz in einem Vernunftschlusse dienen; er ist darum aber nicht selbst ein Principium.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 300/B 356, S. 312 (Hervorhebung im Original).
Larmore wiederum verwendet Prinzip eben in diesem eher umgangssprachlichen Sinne für »ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprunge nach kein Principium ist«, also kein Prinzip im Sinne der Bestimmung der Vernunft als Vermögen der Prinzipien. Das wird noch deutlicher, wenn wir eine weitere Erläuterung Kants hinzuziehen, die kurz darauf folgt und zwischen den Leistungen des Verstandes und dem Vermögen der Vernunft noch klarer unterscheidet:
Betrachten wir aber diese Grundsätze des reinen Verstandes an sich selbst ihrem Ursprunge nach, so sind sie nichts weniger als Erkenntnisse aus Begriffen. Denn sie würden auch nicht einmal a priori möglich sein, wenn wir nicht die reine Anschauung (in der Mathematik), oder Bedingungen einer möglichen Erfahrung überhaupt herbei zögen. Daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, kann gar nicht aus dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen werden; vielmehr zeigt der Grundsatz, wie man allererst von dem, was geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff bekommen könne.
Synthetische Erkenntnisse aus Begriffen kann der Verstand also gar nicht verschaffen, und diese sind es eigentlich, welche ich schlechthin Prinzipien nenne: indessen, daß alle allgemeine Sätze überhaupt komparative Prinzipien heißen können.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 301/B 358, S. 313.
Es stellt sich hiermit die Frage, ob die von Larmore genannten Prinzipien nicht lediglich »komparative Prinzipien« sind. Larmore hätte zumindest auf diese Frage eingehen und zeigen müssen, dass das, was er unter Prinzipien versteht, für den kantischen Begriff der Vernunft überhaupt von Relevanz ist. So hängt seine Kritik an Kant in der Luft. Larmore scheint davon auszugehen, dass sich die Prinzipien, wie er sie versteht, direkt auf ihre Gegenstände und damit auf Erfahrung beziehen. Das ist bei Kant keineswegs der Fall. Denn die Prinzipien der Vernunft gehen zunächst auf den Verstand mit dessen Regeln – und nicht auf einen anderen Gegenstand -, um diesem Einheit unter Prinzipien zu verleihen. Kant schließt daher den Abschnitt Von der Vernunft überhaupt mit folgender Feststellung:
Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 303/B 359, S. 314.
Wenn die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien ist, hat der Ausdruck Prinzip hier in der Tat eine sehr eigentümliche Bedeutung, die sich letztlich nur erfassen lässt, wenn der Begriff der Vernunft im Lichte der kantischen Konzeption der Transzendentalphilosophie, die darin zum Ausdruck kommt, verstanden wird. In Anbetracht dieser wenigen Zitate und ohne weiter in die Kant-Auslegung einzudringen, drängt sich gleichwohl eher der Eindruck auf, dass sich Larmore nicht einmal im Ansatz um ein solches Verständnis bemüht. Dann kann diese Kritik Kants Vernunftbegriff und seine Philosophie überhaupt nur verfehlen.
Wie steht es nun mit der zweiten Definition Kants für die Vernunft, die Larmore in Aussicht gestellt hat? Sie lautet: »das Vermögen zu schließen«.
In diese Richtung geht eine andere Definition, mit der Kant, jetzt unter Berufung auf »die Logiker«, die Vernunft bestimmt, nämlich als »das Vermögen zu schließen«. (Larmore, 22)
Denn es ist diese Stelle, an der Kant in der Tat »von den Logikern« spricht und auf die übrigens im nachfolgenden Absatz die Definition der Vernunft als Vermögen der Prinzipien folgt. Beide Definitionen hängen also sehr eng miteinander zusammen. Kant erklärt ihr Verhältnis, indem er zwei Weisen des Gebrauchs der Vernunft unterscheidet, nämlich einen »bloß formalen, d.i. logischen Gebrauch« von einem »realen«:
Es gibt von ihr, wie von dem Verstande, einen bloß formalen, d.i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, aber auch einen realen, da sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder von den Sinnen, noch vom Verstande entlehnt.
Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355/A 299, S. 312.
Der formale Gebrauch wird sodann als »Vermögen mittelbar zu schließen«
Da nun hier eine Einteilung der Vernunft in ein logisches und transzendentales Vermögen vorkommt, so muß ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden, welcher beide Begriffe unter sich befaßt, [...]
Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355-356/A 299, S. 312.
Unmittelbar darauf folgt die Bestimmung der Vernunft als Vermögen der Prinzipien, die offenkundig dem bloß logischen Vermögen übergeordnet ist, das Kant kurz darauf konsequenterweise bezeichnet als »ein bloß subalternes Vermögen, gegebenen Erkenntnissen eine gewisse Form zu geben, welche logisch heißt«.
Ohne große Kant-Auslegung, durch die bloß erläuternde Aneinanderreihung einiger Zitate sind wir durch das sich daraus ergebende grobe Bild von Kants Konzeption darauf vorbereitet, einen Vergleich mit Larmores Darstellung anzustrengen. Larmore setzt mit einer Erläuterung zu Kants Definition ein:
Durch den Gebrauch unserer Vernunft sind wir befähigt, von etwas auf etwas anderes zu schließen, Schlussfolgerungen aus Prämissen zu ziehen. Gerade auf diese Weise sind wir ja imstande zu beurteilen, wie wir denken oder handeln sollten. Aber auch diese Definition, obwohl sie einen Fortschritt gegenüber der ersten darstellt, ist unvollständig. (Larmore, 22)
Zunächst fällt auf, dass Larmore schlicht alle begrifflichen Bestimmungen, Unterscheidungen und Einteilungen Kants keiner Beachtung würdigt. Nach Kant selbst stellt die zweite Definition keinen Fortschritt in der Bestimmung des Wesens der Vernunft dar, sondern steht, wie wir gesehen haben, im Gegenteil für »ein bloß subalternes Vermögen«. Das Verhältnis der beiden Vermögen zueinander und die Rolle, die ihnen in Kants Konzeption der Vernunft jeweils zukommt, scheinen für Larmore bedeutungslos zu sein. Jedenfalls geht er mit keinem Wort darauf ein. Wie soll seine Kritik unter diesen Bedingungen überhaupt sinnvoll auf Kants Auffassung bezogen werden?
Wir wollen nun sehen, wie Larmore erklärt, dass diese Definition, wie er sagt, »unvollständig« ist. Er schreibt dazu:
Denn ein vernünftiger Mensch zieht natürlich nicht beliebige Schlüsse aus gegebenen Prämissen, sondern nur diejenigen, die sich aus ihnen korrekterweise folgern lassen. Das heißt aber, dass die Vernunft ein Vermögen sein muss, durch das wir einsehen können, was wirklich aus dem Gegebenen folgt. Die Tätigkeit des Schließens enthält also ein rezeptives Moment, indem sie auf das reagiert, was den Schluss gültig macht. Und das führt zur Frage: Worin besteht die Gültigkeit eines Schlusses? (Larmore, 22-23)
Larmore scheint also die Definition für unvollständig zu halten, da ihr das Element der Gültigkeit fehlt, weil durch das formale Schließen allein noch nicht ausgemacht ist, »was wirklich aus dem Gegebenen folgt«. Und mit »wirklich« wiederum scheint er tatsächlich nicht lediglich eine Betonung zu meinen, sondern die Übereinstimmung der Konklusion des Schlusses mit der Wirklichkeit, also mit einem Gegenstand. Daher ergibt sich natürlich, dass die Vernunft dafür irgendwie empfänglich sein muss, indem sie darauf »reagiert«. Und dieses Etwas nennt er »die Gültigkeit«.
Dass er damit nicht die formale Gültigkeit des Schließens meint, wird sich sogleich noch deutlicher zeigen. Aber schon jetzt lässt sich festhalten: Wenn Larmore nicht einen ganz anderen Begriff des Schließens als Kant ansetzt, wird er kaum vermeiden können, die Gültigkeit des Schließens und die Schlussregeln, nach denen dies erfolgt und beurteilt wird, als evident vorauszusetzen. Denn wie sollten sie begründet werden, ohne sie schon selbst in Anspruch zu nehmen?
Wenn wir diese Ausführungen im Lichte der Zitate betrachten, die wir der Kritik der reinen Vernunft entnommen haben, und einen auch nur oberflächlichen Vergleich anstellen, springt der Unterschied geradezu ins Auge. Während Kant es darum zu tun war, die Vernunft in ihrem logischen Gebrauch als rein formales Vermögen unter Fernhaltung jeglichen Inhalts zu bestimmen, unterschiebt Larmore ihr sogleich einen Gegenstand, ohne auch nur den Versuch zu machen, dies in ein Verhältnis zu Kants Begriff der Vernunft zu setzen. Dass Kant hier nicht immanent kritisiert, sondern ihm vielmehr eine andere Auffassung abstrakt und unvermittelt entgegengesetzt wird, verrät sich auch an der Feststellung, die Larmore darauf folgen lässt:
Bei Aristoteles finden wir eine allgemeine psychologische These, die uns hier und in dieser ganzen Problematik als Leitsatz dienen sollte. Jedes geistige Vermögen (δύναμις), bemerkt er, bestimmt sich durch die Tätigkeit (ἐνέργεια), die als seine charakteristische Ausübung gilt, und diese Tätigkeit selbst wiederum durch die Art von Gegenständen (ἀντικείμενα), auf die sie sich richtet. (Larmore, 23)
Larmore verweist dabei auf: Aristoteles, Über die Seele. De Anima, hg. von Horst Seidl, Hamburg 1995, II.4.
Die Anleihe bei Aristoteles, die das Verhältnis von Denken und Gegenstand im Gegensatz zu Kant geradezu auf den Kopf stellt – oder vielleicht besser gesagt: vom Kopf auf die Füße stellt -, zeigt, wie sehr die Kritik von außen kommt. Der darin vorgebrachte »Leitsatz« ist dem kantischen Denken nicht nur fremd, sondern schlichtweg entgegengesetzt. Larmore glaubt nun, auf dieser Grundlage folgern zu können, dass sich aus der Unvollständigkeit der Definition Kants und der rezeptiven Angewiesenheit der Vernunft auf etwas, das ihr von außen zukommt, unabweisbar folgende Frage ergibt:
Was ist also in diesem Sinne der spezifische Gegenstand der Vernunft als Vermögen des Schließens? (Larmore, 23)
Larmore scheut in der Tat nicht zurück, den Begriff des Gegenstands ganz ausdrücklich auf die Vernunft als logisches Vermögen des Schließens zu beziehen. Diese Frage hält er also für unvermeidlich und verweist, bevor er im nächsten Abschnitt selbst eine Antwort darauf gibt, zunächst auf zwei Weisen, ihr aus dem Weg zu gehen. Die erste Weise besteht darin, auf die formale Gültigkeit von Schlüssen im Sinne der Wahrheitsbewahrung zu verweisen. Das könnte eine vermeintlich leichte Antwort sein, aber Larmore sagt in seiner Entgegnung ausdrücklich, dass es ihm gar nicht um die bloß formale Gültigkeit geht, sondern vielmehr um eine besondere Art von Schlüssen, denn es
[…] beziehen sich manche Schlüsse, und um diese geht es mir jetzt, auf das, was wir denken oder tun sollten – nicht auf alles, was logisch aus gegebenen Prämissen folgt –, und sind daher an unseren jeweiligen Standpunkt gebunden. (Larmore, 23)
Damit hat er sich nun allerdings so weit von dem, was Kant als Vernunft als logischem Vermögen beschreibt, entfernt, dass dies wahrlich nicht mehr als Einwand gegen die kantische Konzeption betrachtet werden kann. Denn somit ist völlig klar, dass es um einen spezifischen Inhalt geht und nicht um die rein logische Gültigkeit.
Die zweite Weise, der vermeintlich unabweisbaren Frage nach dem Gegenstand der Vernunft aus dem Weg zu gehen, sieht Larmore in Kants Auffassung von der Autonomie der Vernunft, derzufolge sich die Vernunft, die theoretische wie die praktische, ihre eigenen Gesetze gibt und auch über deren Autorität als Urheber verfügt. Ist die Vernunft im Sinne dieser Selbstgesetzgebung autonom, stellt sich in der Tat die Frage nach dem die Gültigkeit von Schlüssen verbürgenden Gegenstand nicht. Doch Larmore hält dem abermals seinen von Aristoteles inspirierten Leitsatz entgegen und folgert:
Denn wenn es etwas gibt, das die Ausübung der Vernunft erfassen muss, um die Gültigkeit von Schlüssen anerkennen zu können, dann muss der Gegenstand dieses Erfassens etwas sein, das der Vernunft ihr – lässt sich das Wort vermeiden? – »heteronomes« Gesetz gibt. (Larmore, 24)
Noch immer ist kein überzeugendes Argument erkennbar, das sich aus einer wirklich an Kants Philosophie ansetzenden Kritik ergeben würde. Die These, dass die Vernunft in Wirklichkeit heteronom ist, steht freilich in schroffem Gegensatz zu Kants Auffassung, aber sie ist nicht aus einer immanenten Kritik entwickelt, sondern, nicht anders, als wir beim ersten Einwand bereits feststellen mussten, entgegen dem Anschein einer Argumentation ihr abstrakt und unvermittelt von außen entgegengesetzt.
Für den nächsten Abschnitt stellt Larmore allerdings einen weiteren Einwand in Aussicht, der seine Ansicht begründen soll, dass »Kants Begriff der Autonomie in sich widersprüchlich ist.« (Larmore, 24) Und dies ist schließlich sein »Haupteinwand« (Larmore, 27), wie er seine Argumentation einleitend feststellt.
5.5 Selbstgesetzgebung der Vernunft?
5.5 Selbstgesetzgebung der Vernunft? Yusuf KuhnZuvor bringt Larmore noch eine Bemerkung vor, die zeigen soll, dass »die Rede von einer Selbstgesetzgebung der Vernunft bei näherem Hinsehen wenig sinnvoll erscheint.« (Larmore, 26) Er erläutert:
Ich möchte zunächst anmerken, dass eine derartige Personifizierung der Vernunft, als ob es bei ihr um einen Handelnden ginge, eher verwirrend ist, selbst wenn sie wiederholt bei Kant – ich erinnere nur an den bereits zitierten Satz aus der zweiten Vorrede, nach dem »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« – und auch bei vielen seiner Anhänger auftaucht. (Larmore, 26-27)
Verwirrend für wen und warum? Das wird nicht gesagt. Die Anspielung auf den Satz aus der zweiten Vorrede zeigt schon mit aller Deutlichkeit, um welch zentralen Gehalt von Kants Philosophie es hierbei geht. Wäre es da nicht angebracht, danach zu fragen, wie aus solchen Aussagen in deren Kontext Sinn zu machen ist?
Ohne wiederum näher in die Kant-Auslegung einzusteigen, dürfte sich der Gedanke aufdrängen, dass Kant eben nicht nur von empirischen Menschen spricht. Sein Denken lässt sich gar nicht verstehen, geschweige denn kritisieren, wenn so wesentliche Unterscheidungen wie etwa diejenigen zwischen empirischem und transzendentalem Bewusstsein und Subjekt einfach ausgeblendet werden. Menschen gehören nach Kant beiden Welten an, der empirischen und der transzendentalen. Als Sinnenwesen sind sie Teil der Welt der Erfahrung, als vernünftige Wesen Teil der intelligiblen Welt. Man mag diesen Dualismus beklagen oder ablehnen, aber schlicht ignorieren lässt er sich nicht, wenn überhaupt von Kants Philosophie die Rede sein soll. Dass Larmore dennoch eben dies tut, verraten seine beiden folgenden Aussagen:
Die Vernunft ist kein Agens, sondern ein Vermögen, das wir, die wir allein Handelnde sind, mehr oder weniger gut ausüben. Wenn Selbstgesetzgebung wirklich existiert, muss sie eine Tätigkeit sein, die wir selber ausführen, soweit wir unsere Vernunft gebrauchen. (Larmore, 27)
Zunächst ist festzuhalten, dass Kant selbst ja Vernunft als Vermögen bezeichnet. Aber entscheidend ist hier, wer »wir« sein soll. Larmore spricht fortwährend von »wir« in diesem Sinne, ohne je zu sagen, wen oder was er damit meint. Es sei zu seinen Gunsten angenommen, dass er »uns Menschen« meint. Im Gegensatz zu Kant schickt er sich nicht an, näher zu bestimmen, was »Menschen« sind, sondern setzt mit größter Selbstverständlichkeit voraus, dass »wir« darum wissen. Indem er also mit diesem »wir« so etwas wie die empirischen Menschen in Anschlag bringt, unterläuft er schlicht Kants Transzendentalphilosophie, ohne sich überhaupt mit ihr auseinanderzusetzen.
Nun zum »Haupteinwand«, der »den Kern dieser Auffassung selbst« betrifft, nämlich von der Selbstgesetzgebung der Vernunft, deren Widersprüchlichkeit Larmore aufzeigen will:
Die Vorstellung, dass die Autorität von Prinzipien unser eigenes Werk sei, auch wenn dem hinzugefügt wird, dass wir dieselben nicht willkürlich, sondern durch die Ausübung unserer Vernunft erzeugen sollen, ist widersprüchlich. (Larmore, 27)
Schon in der Formulierung der These sehen wir das oben erwähnte »wir« am Werk, das unreflektiert eingesetzt und damit Kant selbst zugeschrieben wird: »unser eigenes Werk«, »durch die Ausübung unserer Vernunft«. Aber hat Kant diese These je vertreten? Dass die Autorität von Prinzipien, die Selbstgesetzgebung und die Autonomie der Vernunft auf »uns« zurückgeht? Das wäre zu zeigen. Larmore tut es nicht. Und es erscheint indes eher unwahrscheinlich, wenn unter diesem »wir« Menschen als empirische Wesen verstanden werden sollen. Denn am Werk ist hier nach Kant doch vielmehr das transzendentale Subjekt, also der Mensch als vernünftiges Wesen, das der intelligiblen Welt angehört.
Dieses »wir« lässt Larmore nun auch in der Formulierung des entscheidenden Arguments eine maßgebliche Rolle spielen:
Sofern es überhaupt einen Sinn haben kann zu sagen, dass wir uns selbst ein Prinzip auferlegen, das sonst für uns nicht verbindlich wäre, findet eine solche Selbstgesetzgebung nur unter der Bedingung statt, dass wir Gründe einsehen, das Prinzip anzunehmen. Diese Gründe müssen dann selber eine Autorität besitzen, die sich nicht durch die vermeintliche Autonomie der Vernunft erklären lässt. (Larmore, 27; Hervorhebungen im Original)
5.6 Autonomie bedarf der Heteronomie
5.6 Autonomie bedarf der Heteronomie Yusuf KuhnWorin soll, von allen fragwürdigen Einzelheiten abgesehen, die Widersprüchlichkeit bestehen? Die Vernunft kann sich nur dann selbst Gesetze geben, wenn sie eine Autorität in Anspruch nimmt, die ihr nicht selbst entspringt, die sie nicht selbst setzt, sondern ihr von außen zukommt. Ganz kurz gefasst: Die Autonomie bedarf der Heteronomie. Und damit ist der Gedanke der Autonomie der Vernunft als widersprüchlich erwiesen und somit haltlos.
Das Argument mag durchaus schlüssig sein, auch wenn es wohl einiger Klärungen bedürfte. Es wird dabei allerdings eine Reihe von Voraussetzungen gemacht, die sich mit Kants Denken kaum zur Deckung bringen lassen und von denen einige bereits aufgewiesen wurden. Von zentraler Bedeutung ist hier zudem, dass eine Weise der Begründung vorausgesetzt wird, die keinesfalls die von Kant sein kann. Denn Kant bewegt sich bei seinem Verständnis und seiner Begründung der Autonomie der Vernunft auf der transzendentalen Ebene, die ganz andere Formen der Begründung in Anspruch nimmt, nämlich die transzendentale Argumentation. Um es kurz zu machen und nicht allzu tief in die Kant-Auslegung einzudringen: Larmore ignoriert auch hier wieder grundsätzliche Voraussetzungen für jedes Verständnis von Kants Philosophie. Und seine Kritik muss auch hier folglich wieder Kants Konzeption der Vernunft verfehlen.
Dass Larmore in der Tat keine besseren Argumente vorzubringen hat, zeigt sich auch an der zweiten Stelle, an der er auf die Widersprüchlichkeit der kantischen Konzeption zu sprechen kommt und die der Vollständigkeit halber ebenfalls zitiert sei:
Zunächst gilt es, die Natur der Vernunft zu verdeutlichen. Die vorhergehenden Argumente haben in dieser Hinsicht schon viel geleistet. Sie haben gezeigt, dass die Vernunft ihrem Wesen nach nicht selbstgesetzgebend sein kann, da sie auf Gründe angewiesen ist, die ihr das Gesetz ihres Operierens vorschreiben. Nach Kant »muss sie [die Vernunft] sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen«. Wir sehen jetzt ein, wie falsch dieser Satz ist. Müsste sich die Vernunft wirklich unter diesem Aspekt ansehen, dann nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs. Denn wenn es tatsächlich vorkommt, dass die Vernunft sich selbst Prinzipien gibt – man denke noch einmal an die Regeln, die die zulässigen Grenzen für experimentelle Fehler oder die Häufigkeit von Wahlen bestimmen –, muss sie Gründe dafür anerkennen, von deren Gültigkeit sie keinesfalls die Urheberin sein kann. (Larmore, 31)
Das Kant-Zitat findet sich in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Kants Werke, Band 4, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1969, S. 448.
Wir können uns hier die nähere Interpretation ersparen, da es auch so offensichtlich sein dürfte, dass keine besseren Argumente vorgebracht werden, die insbesondere tatsächlich Kants Auffassung treffen würden. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Larmore an einer Stelle auf einen Aufsatz verweist, in dem er eine tiefere Auseinandersetzung mit »Kants eigener Argumentation« in Aussicht stellt. Zunächst stellt er in bezug auf Kants Auffassung von der Autonomie der Vernunft fest:
Um ihre Widersprüche sowie Beweggründe zu erläutern, werde ich mich hier nicht auf die Komplikationen in Kants eigener Argumentation einlassen. (Larmore, 24)
Um sodann allerdings in der zugehörigen Fußnote auf besagten Aufsatz zu verweisen, in der angegeben wird:
Siehe aber meinen Aufsatz, »Was Autonomie sein und nicht sein kann«, in Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Stuttgart (im Erscheinen). (Larmore, 24, Fußnote 8)
Ein Blick in diesen Aufsatz ergibt, dass Larmore sich darin zwar in der Tat mehr Raum für die Erläuterung der Beweggründe gegönnt hat, aber hinsichtlich der Begründung der Widersprüchlichkeit nichts zu finden ist, was über das bereits Gesagte hinausginge. Aufschlussreich ist darin gleichwohl, sein mehrfach vorgebrachtes Bekenntnis zu Kants vorkritischer Phase, die er seiner kritischen Philosophie allemal vorziehen würde. So ruft er beispielsweise zu Kants moralphilosophischen Vorlesungen der 1770er Jahre, also der vorkritischen Phase, aus:
Schade, dass er (Kant) bei dieser Auffassung nicht stehenblieb.
Charles Larmore, Was Autonomie sein und nicht sein kann, in: Gunnar Hindrichs und Axel Honneth (Hg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt am Main, 2013, S. 279-300, hier S. 282.
Und an anderer Stelle beschreibt Larmore seine Vorliebe noch etwas näher:
Es ist vielmehr so, dass die »kritische Philosophie«, die in der Grundlegung zum Ausdruck kommt, den Begriffsrahmen der früheren Ethik-Vorlesungen hinter sich gelassen hat. Dem Verstand wird nicht einmal mehr die Fähigkeit zugeschrieben, die Verbindlichkeit moralischer Regeln zu erfassen, da ihre Verbindlichkeit, wie die Verbindlichkeit und sogar auch die Gültigkeit aller Prinzipien unseres Denkens und Handelns, nicht mehr stricto sensu als ein Gegenstand der Erkenntnis, sondern als ein Produkt der selbstgesetzgebenden Vernunft angesehen wird. So lautet natürlich Kants Autonomielehre. Alles in allem, mit den erwähnten Vorbehalten, ziehe ich, wenn ich mich freimütig äußern darf, den Standpunkt der Ethik-Vorlesungen vor.
Charles Larmore, Was Autonomie sein und nicht sein kann, in: Gunnar Hindrichs und Axel Honneth (Hg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt am Main, 2013, S. 279-300, hier S. 283.
Für diesen Freimut sind wir Larmore dankbar. Vielleicht trägt dieses offene Bekenntnis zu einem besseren Verständnis seiner Haltung gegenüber Kants »kritischer Philosophie«, nämlich dessen Transzendentalphilosophie, bei, die er doch eher mit Nichtachtung oder Missachtung straft, als sie einer echten Kritik zu würdigen.
5.7 Gründe als Gegenstand der Vernunft
5.7 Gründe als Gegenstand der Vernunft Yusuf KuhnLarmore kommt sodann im Anschluss an den »Haupteinwand« zu folgendem Schluss:
Ihre (der Gründe) Gültigkeit kann nur anerkannt werden, und damit wird übrigens sichtbar, was im Allgemeinen der spezifische Gegenstand ist, den die Vernunft zu erfassen hat. Die Vernunft ist ein Vermögen, dessen Ausübung darin besteht, sich nach Gründen zu richten. (Larmore, 27; Hervorhebungen im Original)
Der gesuchte Gegenstand der Vernunft sind nach Larmore somit Gründe. Die letztlich heteronome Vernunft muss also die schon bestehende Autorität dieser Gründe anerkennen und erhält damit ihr Gesetz von außen. Larmore fasst das Ergebnis seiner Überlegungen folgendermaßen zusammen:
Mit der vorhergehenden Kritik an Kant haben wir also eine Antwort auf unsere Frage und eine, so scheint es zumindest, adäquate, dem aristotelischen Grundsatz entsprechende Definition erhalten. Die Vernunft ist das Vermögen, dessen Ausübung darin besteht zu schließen (wie Kant selbst sagt) oder, besser, zu urteilen, und dessen spezifischer Gegenstand, auf den diese Tätigkeit gerichtet ist (und über den Kant nichts zu sagen hat), Gründe sind. Auf englisch klingt es schöner und vielleicht auch einleuchtender: reason is the faculty of reasoning, which consists in responding to reasons. Auf deutsch ließe sich etwas weniger elegant sagen, »die Vernunft ist das Vermögen des Schließens, welches darin besteht, sich nach Gründen zu richten«. (Larmore, 34; Hervorhebungen im Original)
In diesen Zeilen finden wir die wesentlichen Elemente von Larmores Überlegungen vereint: die Kritik an Kant, die Hinwendung zu Aristoteles und die sich daraus ergebende Definition der Vernunft als Vermögen, das sich heteronom nach Gründen als seinem Gegenstand richtet. Mit der Abkehr von Kants transzendentaler Subjektphilosophie und der Rückwendung zur »vorkritischen« klassischen Ontologie erbt diese Position allerdings nicht nur die Vorzüge letzterer, sondern auch deren Nachteile und Schwierigkeiten, zu deren Behebung Kant mit seiner kritischen Philosophie gerade angetreten war. Larmore gesteht daher selbst auch ein:
Zugleich ist jedoch klar, dass die von mir vorgeschlagene Analyse noch weit davon entfernt ist, in allen Hinsichten hinreichend ausgearbeitet zu sein. (Larmore, 34)
Denn seine Position provoziert geradezu eine Flut von Fragen, wie sie gemeinhin mit jeglicher Gestalt der klassischen Ontologie in Verbindung gebracht werden. Darauf weist auch Rainer Forst in seinem Vorwort hin, indem er einige Beispiele für zu erwartende Fragen anführt:
Viele Fragen werden gestellt werden – über den Zusammenhang von Gründen und Vernunftprinzipien, über die Rezeptivität der entthronten Vernunft, die historische Wandelbarkeit der normativen Ordnung der Gründe, die Existenzform der Gründe, [...] um nur einige Punkte zu nennen. (Larmore, 12)
Auch Hallaq beschließt übrigens seine Erörterung von Larmores Auffassung mit einer Reihe von entsprechenden Fragen, woran erinnert sei:
Welche Eigenschaft der Welt genau den Kontext der Gründe für diese Autonomie bilden mag, ist eine Frage, die Larmore in allgemeinen platonischen Begriffen beantwortet. [...] Doch wohin gehen wir von hier aus, so dass wir Gründen eine spezifisch bestimmte Substanz und eine besondere Bedeutung zuschreiben können? Was in einer mit Werten gesättigten Welt ist es, das uns in konkreten und genauen Begriffen sagt, worin das Wohl eines anderen besteht? Und wie bestimmen wir dieses Wohl in einem spezifischen kulturellen Kontext und zu jedwedem konkreten Zeitpunkt?
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 164; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 165.
5.8 Zwischen Subjektphilosophie und Ontologie
5.8 Zwischen Subjektphilosophie und Ontologie Yusuf KuhnHallaq geht offenkundig davon aus, dass Larmore diese Fragen nicht beantwortet und vielleicht darüber hinaus auch nicht beantworten kann. Und in der Tat hat Larmore keine oder zumindest keine überzeugenden Antworten darauf. Das ist auch nicht allzu überraschend, da er sich in einer Sackgasse verirrt, die das europäische Denken seit Jahrhunderten gefangenhält, indem es fortwährend zwischen den vermeintlich einzigen Alternativen der modernen Subjektphilosophie und der klassischen Ontologie hin und her schwankt.
Wird die Auswahl auf falsche Alternativen begrenzt, ist es freilich nicht verwunderlich, dass die Probleme sich in der einen oder anderen Gestalt endlos wiederholen. Und in ganz entscheidender Weise vertieft wird diese Misere zudem dadurch – wie sich auch beispielhaft an Larmores Überlegungen gezeigt hat -, dass die eigentlichen Grundlagen der alternativen Positionen nicht einmal in den Blick genommen werden. Könnte es nicht sein, dass die aporetische Situation sich daraus ergibt, dass die Grundlagen der beiden Positionen gar nicht so verschieden, geschweige denn gegensätzlich, sind, sondern vielmehr in ihrem Kern übereinstimmen, der zudem die wahre Ursache der Misere ist? Diese Frage wird zumeist nicht einmal gestellt und jedenfalls in ihrer Bedeutung und Tragweite völlig verkannt. Es wird jedenfalls auf sie zurückzukommen sein.
Unter diesen Bedingungen ist es schon ein großer Schritt, zu dem wir hoffentlich durch diese kritischen Analysen einen kleinen Beitrag geleistet haben, diese ausweglose Lage etwas auszuleuchten und damit zumindest die Voraussetzungen und Konturen eines möglichen Auswegs aufscheinen zu lassen.
Zugleich gilt es festzuhalten, dass viele von Larmores Positionen und Argumenten gleichwohl triftig und berechtigt sind, obschon die Weise der Kritik oftmals nicht tief genug ansetzt. Dies trifft ganz besonders auf seine Kritik an Kants Denken zu, obwohl ihre Intention und ihre Stoßrichtung durchaus zu begrüßen sind.
So macht Larmore gegen Ende der Vorlesung beispielsweise auf zwei Voraussetzungen der modernen Philosophie aufmerksam, von der diese sich hat irreführen lassen. Zunächst bringt er seine Sorge zum Ausdruck, aufgrund seiner scharfen Kritik an Hume und Kant einerseits und seiner Berufung auf Platon und Aristoteles andererseits, den Eindruck erweckt zu haben, ein antimoderner Denker zu sein und die Rückkehr zur Antike zu predigen, was er als Selbstbeschreibung ablehnt. Damit will er wohl zeigen, dass er nichtsdestotrotz ein moderner Denker ist, der sich allerdings die Kritik an der Moderne nicht versagt. Und zu dieser Kritik gehören nun insbesondere die zwei bereits angesprochenen Auffassungen, zu denen er folgende Erläuterungen vorbringt:
Ich glaube dennoch, dass sich die moderne Philosophie von zwei Voraussetzungen hat irreführen lassen, die verhindert haben, die Natur der Vernunft richtig zu begreifen. Die erste ist die unkritische und oft stillschweigende Zustimmung zum naturalistischen Weltbild. Hinter dieser Voraussetzung, und deren Macht teilweise erklärend, steht eine zweite, die von dem massiven Einfluss des Christentums herrührt. Es handelt sich um die Annahme, dass normative Unterscheidungen nicht für sich selber existieren können, sondern von jemandem instituiert sein müssen – wenn nicht von Gott, dann von der menschlichen Vernunft. Als im 17. Jahrhundert Gott anfing, aus der Natur und in zunehmendem Maße auch aus dem gesellschaftlichen Leben zu verschwinden, kam der Gedanke auf, dass wir selbst die Urheber aller Autorität sein müssen. [...] Und sie mündet in die weitverbreitete, bereits von Pascal geäußerte Meinung, dass die Welt, wenn sie im Sinne einer Abwesenheit Gottes »entzaubert« ist, auch normativ stumm, eben ein »silence éternel« sein müsse. Daher rührt die Überzeugung, dass unter diesen Umständen, die eben die Wahrheit der conditio humana ausmachen sollen, der Mensch sich nur auf sich selbst zu verlassen und, ob individuell oder kollektiv, alle normativen Unterscheidungen zwischen berechtigt und unberechtigt, gut und böse, selbst einzuführen habe. Der Begriff von Autonomie ist in großem Ausmaß ein Gott-Surrogat. (Larmore, 52)
Dieser Kritik am modernen Naturalismus und Rationalismus ist gewiss weitgehend zuzustimmen, wobei insbesondere der zweite Aspekt, der von Larmore nur angedeutet wird, eine viel eingehendere Betrachtung verdienen würde. Welche Rolle spielen im modernen Denken die Begriffe von Gott, Vernunft, Autonomie und Freiheit? Was bedeutet es wirklich, wenn die Vernunft an die Stelle Gottes gerückt wird? Um welchen Gott, um welche Vernunft handelt es sich dabei? Diesen Fragen und Kritiklinien wird weiter nachzugehen sein, um das moderne Denken samt seiner Misere besser begreifen zu lernen.
Abschließend wollen wir einige Bemerkungen von Hallaq im Anschluss an seine Betrachtung von Larmores Auffassung in Erinnerung rufen, da sie im Lichte des nunmehr Gesagten betrachtet hoffentlich eine schärfere Kontur bekommen und in ihrer Brisanz noch deutlicher hervortreten mögen:
Ironischerweise sind solche Fragen und Debatten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, die aus formidabler moderner Wissenschaft und rationalem Denken hervorgehen, ein genauer Widerhall eben der Debatten, die Muslime vor über tausend Jahren führten. Die Fragen und Probleme, denen sie begegneten und die im wesentlichen denen gleichen, die von Kantianern, Neukantianern, Antikantianern und anderen erhoben wurden, waren für mehr als zwei Jahrhunderte geistige Kampfplätze. Von der Mitte des achten Jahrhunderts A.D. bis zum Ende des zehnten und darüber hinaus bildeten sich große rechtlich-intellektuelle Bewegungen heraus, die das gesamte Spektrum der intellektuellen Meinungsvielfalt hinsichtlich der Frage der Moralität, ihrer Autonomie und der Rolle der Vernunft bei der Bestimmung menschlicher Handlungen repräsentierten. Der einzige große Unterschied zwischen den beiden Debatten ist ihr Kontext: während die meisten Denker der Aufklärung – bei all ihrer Verschiedenheit – nur eine entzauberte Welt kannten, bewohnten die vormodernen muslimischen Intellektuellen eine Welt, die mehr oder weniger »verzaubert« war. Diese Intellektuellen, die über mehr als zwei Jahrhunderte ihre geistigen Kräfte miteinander maßen, kamen schließlich zu dem überein, was ich an anderer Stelle die »Große Synthese« genannt habe, nämlich die Synthese zwischen Vernunft und Gründen. Es konnte ebenso wenig eine Leugnung einer Welt, die mit Wert gesättigt ist, geben wie einer Welt, in der das menschliche Vermögen der Vernunft, Gottes eigene Schöpfung, sowohl stets gegenwärtig als auch kraftvoll ist. Und die Scharia, die bestimmende Überzeugung und Praxis der Muslime, war das Ergebnis einer Synthese zwischen den beiden.
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 165 f.; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 165-166.
Bevor wir aber auf der Suche nach einem gangbaren Ausweg diesen Spuren folgen und sie einer kritischen Überprüfung unterziehen können, müssen wir, um uns gegen die Versuchungen verlockender, aber unzulänglicher Abkürzungen möglichst zu wappnen, die Tiefe der Misere der modernen Moralphilosophie noch gründlicher ausloten. Hierzu wollen wir im nächsten Schritt Alasdair MacIntyre zum Lotsen nehmen.
6 Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition
6 Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition Yusuf Kuhn
Kaum ein anderer hat die Krise der modernen Moral so gründlich ausgelotet wie Alasdair MacIntyre. In seinem 1981 erschienen Buch After Virtue: A Study in Moral Theory
Ein zentraler Teil meiner These war, daß die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und daß die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist. Falls der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts ist, das der Metaphysik der Moderne ziemlich fremd ist, und falls ihr teleologischer Charakter in ähnlicher Weise der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen ist, die in der modernen Welt ebensowenig zu Hause ist, sollten wir damit rechnen, daß die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig faßbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzugänglicher werden.
Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 151.
Mit dieser Diagnose geht einher die Einsicht in die Notwendigkeit der Entwicklung eines Standpunktes, von dem aus diese Analyse überhaupt vollzogen werden kann und der wiederum eng verknüpft ist mit dem Versuch, auf die Frage nach einem Ausweg aus der Misere eine Antwort zu finden. MacIntyre schreibt:
Meine eigene Schlußfolgerung ist absolut klar. Auf der einen Seite fehlt uns trotz der Bemühungen von drei Jahrhunderten Moralphilosophie und einem Jahrhundert Soziologie noch immer jede einheitliche, rational vertretbare Darlegung eines liberalen, individualistischen Standpunktes; und andererseits kann die aristotelische Tradition auf eine Weise neu formuliert werden, die die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Haltungen und Verpflichtungen wiederherstellt.
Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 345.
6.1 MacIntyre: Ein marxistisch-aristotelischer Thomist?
6.1 MacIntyre: Ein marxistisch-aristotelischer Thomist? Yusuf KuhnMacIntyre verortet seinen Standpunkt mithin in der Tradition der aristotelischen Ethik. Er entzieht sich allerdings einer einfachen Kategorisierung. Denn der Denkweg, der ihn zu Aristoteles führt, nimmt seinen Ausgang bei Marx und führt ihn in späteren Werken weiter zu Thomas von Aquin, ohne die verbindenden Brücken abzubrechen. Dabei treibt ihn die Suche nach Lösungen für die Probleme, die sich im Rahmen des jeweiligen Ansatzes nicht lösen lassen, über diesen hinaus, indem zugleich eine gewisse Kontinuität gewahrt wird.
Im Postskript zur zweiten Auflage beschreibt er After Virtue trefflich als »work still in progress«.
Ließe MacIntyre sich daher als marxistisch-aristotelischer Thomist beschreiben? Wohl kaum, denn auch dies wäre immer noch viel zu schematisch, um seinem lebendigen, kritischen und stets suchenden Denken gerecht zu werden. Christopher Stephen Lutz skizziert in der Einleitung zu seiner Untersuchung zum Begriff der Tradition in der Ethik von MacIntyre den Denkweg, der ihn zu After Virtue führt, und verweist sodann auf mancherlei vergebliche Versuche, ihn in Schablonen einzufangen, die gleichwohl vielsagend sind:
Alasdair MacIntyre brachte die ersten zwei Jahrzehnte seiner Laufbahn mit dem Versuch zu, auf diese Krise in der gegenwärtigen Moralphilosophie von innerhalb des Standpunktes der modernen und postmodernen Moralphilosophie eine Antwort zu finden. Seine Enttäuschung mit dieser Aufgabe führte ihn dazu, einen anderen Ansatz zu versuchen, aus dem die Diagnose des Problems hervorging, das dieses Buch erkundet. MacIntyres Darlegung der Rolle von Tradition in der Ethik zeugt von den Stärken und Unzulänglichkeiten der modernen, postmodernen und klassischen philosophischen Ansätze mit der Autorität von jemandem, der alle drei studiert und allen dreien anzuhängen versucht hat. MacIntyre ist vorgestellt worden als ein marxistischer und liberaler protestantischer Religionsphilosoph, als ein atheistischer Hume-Gelehrter und Ethikhistoriker, als ein unzufriedener Aristoteliker und als ein katholischer Thomist.
Christopher Stephen Lutz, Tradition in the Ethics of Alasdair Macintyre: Relativism, Thomism, and Philosophy, Oxford, 2004, S. 2.
MacIntyres Suche nach Lösungen für Probleme, die sich aus seiner Befassung mit der Krise der modernen Moralphilosophie und des Marxismus, dessen Verfall die Frage nach den Grundlagen für die moralische Ablehnung des Stalinismus aufwarf, ergibt, bringt ihn schließlich zu der Einsicht, dass ein äußerer Standpunkt erforderlich ist, um diese Krise verstehen und Abhilfe in den Blick nehmen zu können. So schreibt er im Prolog zur dritten Ausgabe von After Virtue mit dem Titel After Virtue after a Quarter of a Century (After Virtue nach einem Vierteljahrhundert) im Jahr 2007:
[…] es ist nur möglich, die dominante moralische Kultur der fortgeschrittenen Modernität von einem Standpunkt außerhalb dieser Kultur aus angemessen zu verstehen.
Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007, S. ix.
Hallaq greift die Grundgedanken und die Konzeption von MacIntyre auf, indem er sie in seinem Sinne weiterentwickelt und modifiziert. Kein anderer Denker dürfte in seiner Auseinandersetzung mit der modernen Moralphilosophie in Impossible State auch nur annähernd einen ähnlichen Stellenwert einnehmen. Daher rechtfertigt sich eine ausführliche und gründliche Befassung mit MacIntyres Denken. Sie ist für ein besseres Verständnis von Hallaqs Denken in Impossible State unerlässlich, da dessen Grundstruktur auf diese Weise in besonders deutlichen Konturen hervortritt. Als erste Annäherung ließe sich, freilich grob vereinfachend, sagen, dass Hallaq die Kritik der modernen Moralphilosophie samt der Einsicht in die Notwendigkeit eines äußeren Standpunktes von MacIntyre übernimmt, wobei dieser Standpunkt nicht in der aristotelisch-christlichen, sondern in der aristotelisch-islamischen Tradition verortet wird. An die Stelle von Thomas rückt al-Ghazālī mit seiner islamischen Tugendethik. Diese Charakterisierung ist zwar – es sei erneut betont – grob vereinfachend und in gewissem Maße verzerrend, aber vielleicht als erster Anhaltspunkt gleichwohl erhellend, obschon sich die Analogien auch anders darstellen ließen, wie sich alsbald zeigen wird. Die Übereinstimmungen und Parallelen gehen freilich noch weit darüber hinaus.
6.2 Moralische Ressourcen
6.2 Moralische Ressourcen Yusuf KuhnBevor wir sogleich näher auf MacIntyres Denken eingehen, mag es förderlich sein, in Erinnerung zu rufen, wie Hallaq an einigen Stellen ausdrücklich darauf Bezug nimmt. Dazu haben wir etwa im Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen bereits folgendes festgestellt:
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin […] Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
Siehe den Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen, S. 51 f.
Und in einem weiteren Abschnitt verweist Hallaq nicht nur auf Übereinstimmungen, sondern auch auf einen wesentlichen Unterschied, was wir folgendermaßen erläutert haben:
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Siehe den Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen, S. 53 f.
Im Abschnitt Paradigma und islamische Gouvernanz wird wiederum auf eine wichtige strukturelle Analogie hingewiesen:
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre.
Siehe den Abschnitt Paradigma und islamische Gouvernanz, S. 57.
Schließlich sei noch eine letzte Stelle, diesmal in Hallaqs eigenen Worten, zur Erinnerung gebracht, die auf besonders eindringliche Weise nicht nur die enge Verwandtschaft der beiden Projekte aufzeigt, sondern darüber hinaus deutlich macht, dass sie aufeinander bezogen und angewiesen sind:
Mit anderen Worten, selbst während dieses anfänglichen Prozesses der Bildung von moralisch gegründeten Gemeinschaften gibt es vieles, was Muslime tun können,
Hallaq verweist an dieser Stelle in einer Fußnote als Beispiel auf das Werk von Taha Abdurrahman. um zur Reformierung moderner Moralitäten beizutragen. Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick kühn und weit hergeholt erscheinen, aber er ist es nicht, denn es gibt zumindest eine bedeutende moralische Strömung der westlichen Philosophie und des westlichen politischen Denkens, die eine weitgehende Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen islamischen Streben aufweist, da es geistige Energie zur postmodernen Kritik beisteuert, wie problematisch modern diese Kritik auch bleiben mag. Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten, wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.
Die ausschlaggebenden Fragen bleiben daher: Können diese Kräfte auf allen Seiten ihren Ethnozentrismus überwinden und sich zusammenschließen bei der Infragestellung des modernen Projekts und seines Staates? Können die Taylors genug geistigen Mut aufbringen, MacIntyres zu werden? Können sie alle, Westler und Nicht-Westler, den gefährlichen und bösartigen Mythos des Zusammenstoßes der Zivilisationen demontieren? Können sie ihre moralische Kraft und Stärke so steigern, um einen Sieg herbeizuführen, der das Moralische zum Zentralgebiet der Weltkulturen erhebt, ungeachtet ihrer »zivilisatorischen« Varianten? Denn genauso wie es keine islamische Gouvernanz ohne einen solchen Sieg geben kann, wird es von vornherein keinen Sieg geben, ohne dass die Modernität ein moralisches Erwachen erfährt. Das muss erst noch geschehen.
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 172 f.; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 169-170.
6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie
6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie Yusuf KuhnEs handelt sich also um ein Projekt, das gar nicht anders als gemeinsam verwirklicht werden kann. Und MacIntyre kommt dabei gewiss eine gewichtige Rolle zu. Das ist der Grund, warum eine eingehende Auseinandersetzung mit seinem Denken geboten ist, zu der hier ein weiterer und vertiefender Schritt beigetragen werden soll. Unser Interesse richtet sich dabei zunächst vorwiegend auf die negative Seite von MacIntyres Kritik der modernen Moralphilosophie, also die Aufweisung ihrer Misere und Ausweglosigkeit, während ihre positive Seite, die Suche nach Ausweg und Alternative, erst in einem späteren Schritt die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfahren kann. Beide Seiten hängen ohnehin eng miteinander zusammen, wie wir ja bereits gesehen haben, da sich die Misere der modernen Moralphilosophie gar nicht verstehen lässt, ohne einen Standpunkt zu beziehen, der die Einsicht in diese Misere allererst ermöglicht und zugleich schon einen Bezug zur positiven Seite in sich birgt. Dies ist freilich vor allem eine Sache der Gewichtung. Und uns geht es zunächst darum, die Voraussetzungen für jede weitere Suche zu klären, die sich aus der Beantwortung folgender Frage ergeben: Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Denn genau die einer Bejahung dieser Frage entsprechenden Thesen vertritt MacIntyre in After Virtue und seinen späteren Werken.
Zu den wichtigsten Werken neben After Virtue, in denen MacIntyre diese Thesen entwickelt und weiter ausgeführt hat, gehören vor allem Whose Justice? Which Rationality?
Wir wollen uns zunächst ausführlich mit After Virtue befassen, um sodann auf die anderen Werke in einem Ausblick einzugehen, in denen das work in progress fortgeführt wird. Bei aller Kritik, sich daraus ergebenden Modifikationen und Weiterentwicklungen hat MacIntyre indes nie einen guten Grund erkennen können, seine Hauptthesen grundsätzlich in Frage zu stellen oder aufzugeben. So schreibt er zu Beginn des 2007 verfassten Prologs zur dritten Auflage von After Virtue:
Wenn es gute Gründe gibt, die zentralen Thesen von After Virtue zu verwerfen, so sollte ich mittlerweile sicherlich erfahren haben, welche es sind. Eine kritische und konstruktive Diskussion in vielerlei Sprachen – nicht nur Englisch, Dänisch, Polnisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Türkisch, sondern auch Chinesisch und Japanisch – und von vielerlei Standpunkten hat mich befähigt, die Untersuchungen, die ich in After Virtue (1981) begonnen und in Whose Justice? Which Rationality? (1988), Three Rival Versions of Moral Enquiry (1990) und Dependent Rational Animals (1999) fortgeführt habe, zu überdenken und zu erweitern, aber ich habe bis jetzt keinen Grund gefunden, die wesentlichen Argumente und Behauptungen von After Virtue aufzugeben - »Unbelehrbarer Starrsinn!«, werden manche sagen -, obgleich ich eine Menge gelernt und meine Thesen und Argumente entsprechend ergänzt und überarbeitet habe.
Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007, S. ix.
Gedankengang und Thesen von After Virtue sind nicht immer leicht zu erfassen. Es handelt sich um ein voraussetzungsreiches und komplexes Werk, das sich der üblichen akademischen Eingrenzung auf ein Fachgebiet verwehrt und sich aus verschiedenen Gestalten des Wissens wie Philosophie, Geschichte, Wissenschaft, Literatur usw. speist. Dass es gleichwohl seit seinem Erscheinen eine so große Leserschaft gefunden hat, könnte freilich gerade daran liegen. Vielleicht teilen viele die Beschreibung, die Charles Taylor in seiner Rezension von After Virtue gegeben hat:
Dies ist ein äußerst seltenes Werk – ein Buch über Moralphilosophie, das tatsächlich aufregend zu lesen ist. Die These ist verblüffend und sehr anspruchsvoll.
Charles Taylor, Aristotle Or Nietzsche, in: Partisan Review 51, Nr. 2 (1984): 301-306, hier S. 301.
6.3.1 Hauptthesen von After Virtue
6.3.1 Hauptthesen von After Virtue Yusuf KuhnWorin bestehen die Hauptthesen von After Virtue? Einen ersten Überblick können wir uns dankenswerterweise durch einen kleinen Text von MacIntyre selbst verschaffen, der die Behauptungen diese Werks in sieben knappen Thesen zusammenfasst: The Claims of After Virtue (Die Behauptungen von After Virtue).
Einleitend stellt MacIntyre fest, dass After Virtue aus einem langwährenden Nachdenken über die Unzulänglichkeiten früherer Werke hervorgegangen ist, wobei ihn zwei Fragen besonders beschäftigt haben. Die eine betrifft die Weise, in der die Geschichte der philosophischen Ethik mit Blick auf ihren sozialen Kontext geschrieben werden sollte.
6.3.1.1 Sieben zentrale Thesen
In After Virtue werden sieben zentrale Thesen aufgestellt, die, um einen ersten Eindruck und Überblick zu ermöglichen, zunächst in sehr gedrängter Form in enger Anlehnung an The Claims of After Virtue vorgestellt werden sollen. Anschließend erfolgt eine, für ein rechtes Verständnis zweifellos unerlässliche, ausführlichere Darstellung und Erläuterung der Thesen und des Gedankengangs von After Virtue im umfassenden Kontext des Buches.
Also zunächst die sieben zentralen Thesen als Vorausblick in geraffter Form:
(1) Durch eine historische Entwicklung von katastrophalen Ausmaßen wird in der modernen Gesellschaft und Kultur die Moral ihrer rationalen Grundlagen beraubt, so dass es zu Meinungsverschiedenheiten über zentrale moralische Fragen kommt, die unlösbar sind, da die jeweiligen Antworten auf inkommensurablen Argumentationsweisen basieren. Moralische Urteile werden durch ihre Ablösung von den theoretischen und sozialen Kontexten, in denen sie ursprünglich entwickelt und rational gerechtfertigt wurden, zum bloßen Ausdruck von subjektiven Haltungen und Gefühlen. Von manchen Moralphilosophen wird dieser Gebrauch des moralischen Diskurses fälschlich zu einer Theorie der Moral verallgemeinert und als Emotivismus bezeichnet – ein Ausdruck, den MacIntyre seinerseits lediglich zur Beschreibung der spezifisch modernen moralischen Verfassung aufgreift.
(2) Eine wesentliche Ursache für die katastrophale Entwicklung ist das Scheitern des Projektes der Aufklärung, die vermeintlich diskreditierte traditionelle Moralität durch eine säkulare Moralität zu ersetzen, die von jeder vernünftigen Person anerkannt zu werden verdiente. Von den verschiedenen Versuchen einer solchen rationalen Begründung vor allem in kantianischer oder utilitaristischer Gestalt blieben, durch deren Misslingen bedingt, sich gegenseitig widersprechende moralische Positionen übrig, die gleichwohl eine rationale Rechtfertigung für sich in Anspruch nahmen und die Ansprüche ihrer jeweiligen Rivalen bestritten. Da die Vernunft sich offenkundig als unfähig erwies, diese Debatten zu schlichten, erstarkten antirationale Positionen wie der Emotivismus.
(3) Zudem kamen dadurch in der weiteren Kultur moralische Begriffe in Umlauf, die, ihrer vormaligen rationalen Begründung beraubt, nur noch den Anschein mit sich führen, auf einer vernünftigen Grundlage zu beruhen, und daher in den Dienst von allerlei Interessen gestellt werden können, die allerdings verschleiert werden. Zu diesen Begriffen, die somit zu nützlichen Fiktionen verkommen, gehören so zentrale Konzepte wie das der Menschenrechte und der Nützlichkeit oder Wohlfahrt. In einer solchen moralischen Kultur werden die Beziehungen zwischen den Menschen zu rein manipulativen, die überdies durch die modernen Apparate der Bürokratie und des Managements unter der legitimatorischen moralischen Fiktion der Effektivität verwaltet werden.
(4) Wie kein zweiter hat Nietzsche diesen Verfall der Moral zu einem Maskenspiel im Dienste von Interessen und Machtbestrebungen erkannt. Dabei hat er indes das Verständnis dieser spezifischen historischen Entwicklung zu einer universellen Genealogie der Moral verallgemeinert. Es gab jedoch einen spezifischen Irrtum, der dem Scheitern des Projekts der Aufklärung zugrunde liegt, den Nietzsche nicht erkannte, nämlich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik. So sieht MacIntyre die gegenwärtige Moralphilosophie mit zwingender Konsequenz vor die Alternative gestellt: Nietzsche oder Aristoteles?
(5) Im zweiten Teil von After Virtue wird auf der Grundlage einer Darstellung der Geschichte verschiedener Konzeptionen der Tugenden vom archaischen Griechenland bis ins europäische Mittelalter der Versuch unternommen, einen Begriff der Tugenden zu entfalten, der in drei Schritten erfolgt. Tugenden sind erstens alle diejenigen Qualitäten, ohne die Menschen die Güter, die Praktiken (practices) intern sind, nicht erreichen können; Tugenden sind zweitens die Qualitäten, die erforderlich sind, um die Güter zu erlangen, die dem Leben eines Menschen seinen telos (Sinn, Zweck) verleihen, was wiederum nicht möglich ist, ohne dass diesem Leben eine gewisse einheitliche narrative Struktur zukommt; und Tugenden sind drittens die Qualitäten, die erforderlich sind, um soziale Traditionen in guter Verfassung aufrechtzuerhalten und zu bewahren.
(6) Die Verwerfung und Aufgabe der aristotelischen und christlichen Tradition der Tugenden im Spätmittelalter bereitete dem Projekt der Aufklärung den Weg. Dadurch konnte sich durch die Wiederbelebung ursprünglich stoischer Begriffe der Tugend, nun im Singular, ein Tugendbegriff durchsetzen, der insbesondere in seiner kantischen Gestalt soziales Leben und philosophische Theorie durchdringend beeinflussen konnte. Nunmehr ist die Zeit nach der Tugend (after virtue) angebrochen, in der in der allgemeinen moralischen Kultur weder Tugenden noch Tugend von zentraler Bedeutung und unlösbare Debatten vorherrschend sind.
(7) Die siebte These sei abschließend in MacIntyres eigenen Worten wiedergegeben:
Ich argumentiere an verschiedenen Stellen im Buch, dass, obgleich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik unter den historischen Umständen, die in und nach dem Spätmittelalter hervorgerufen wurden, verständlich ist, sie niemals als berechtigt aufgewiesen werden konnte. Und ich ziehe den Schluss, dass der moralische Aristotelismus, wenn er recht verstanden wird, von der Art von Kritik, die Nietzsche mit Erfolg gegen Kant wie auch die Utilitaristen gerichtet hat, nicht untergraben werden kann. Ich ziehe daher den Schluss, dass Aristoteles gegen Nietzsche bestätigt ist, und überdies, dass nur eine Geschichte der ethischen Theorie und Praxis, die von einem aristotelischen und nicht von einem nietzscheanischen Standpunkt aus geschrieben ist, uns befähigt, die Natur der moralischen Verfassung der Modernität zu verstehen.
Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, hier S. 6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 72.
6.3.2 Gedankenexperiment und Katastrophe der Moral
6.3.2 Gedankenexperiment und Katastrophe der Moral Yusuf KuhnMacIntyre beginnt die negative Seite seiner Kritik und damit den ersten Teil von After Virtue, der die Kapitel 1-9 umfasst, mit einer Geschichte und einer Hypothese unter dem Titel Ein beunruhigendes Gedankenexperiment, mit dem das erste Kapitel überschrieben ist. Die Geschichte malt in einem »beunruhigenden Gedankenexperiment« eine imaginäre Welt aus, in der die Naturwissenschaften »das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe« (13)
Im Anschluss an diese Geschichte legt MacIntyre nun seine Hypothese dar:
Die Hypothese, die ich aufstellen möchte, lautet, daß in der Welt, in der wir heute leben, die Sprache der Moral ebenso verwahrlost ist wie die Sprache der Naturwissenschaft in dieser imaginären Welt. Wenn das zutrifft, besitzen wir heute nur noch Bruchstücke eines Begriffsschemas, Teile ohne Bezug zu jenem Kontext, der ihnen ihre Bedeutung verliehen hat. Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiterhin viele ihrer Schlüsselbegriffe. Aber wir haben zu einem großen Teil, wenn nicht sogar völlig, unser Verständnis, theoretisch wie praktisch, oder unsere Moral verloren. (15)
Diese Hypothese wird freilich auf starke Widerstände stoßen, da die moralische Sprache weiterhin verwendet wird und eben dies ein wichtiger Bestandteil des Bildes ist, das sich die Mitglieder dieser Kultur von sich selbst machen. Zudem ist die Katastrophe als solche unter diesen Bedingungen kaum mehr zu erkennen. Dafür wäre eine grundsätzliche Änderung der Sichtweise erforderlich, die indes nur sehr schwer zu erreichen ist, zumal die akademische Philosophie und Geschichtsschreibung dabei nicht weiterhelfen.
Doch das Verstehen der Geschichte könnte, wie im Bild von der imaginären Welt, einen Ausweg bieten, eine Geschichte des Niedergangs von der Blüte über die Katastrophe bis zum unzulänglichen Versuch einer Wiederherstellung. Das kann indes eine wertfreie Schilderung von Ereignissen nicht leisten. Eine Geschichtsschreibung, die dies leisten können soll, muss vielmehr auf Wertmaßstäben basieren, die über Scheitern oder Gelingen, verwahrlosten oder wohlgeordneten Zustand allererst zu urteilen erlauben. MacIntyre bezeichnet eine solche Herangehensweise als »philosophische Geschichte« (15-16) und begibt sich in deren Rahmen auf die Suche nach Belegen für die Hypothese über den Zustand der modernen Moral.
Obschon MacIntyre Pessimismus und Verzweiflung nicht das Wort reden will, gibt er sich keinen Illusionen hin, da es »in einem so verhängnisvollen Zustand […] keine großen Mittel mehr dagegen gibt« (18) – aber doch wohl das Mittel der Analyse in der Art einer philosophischen Geschichte, die an der moralischen Sprache ansetzen kann, die weiterhin in Verwendung ist.
So schließt MacIntyre das erste Kapitel mit folgendem Ausblick:
Ich kann selbstverständlich nicht abstreiten, und meine These beinhaltet das ja auch, daß die Sprache und das Erscheinungsbild der Moral weiterhin existieren, auch wenn der Grundgehalt der Moral in erheblichem Umfang aufgebrochen und teilweise zerstört worden ist. Deshalb bildet es keinen Widerspruch, wenn ich kurz die gegenwärtigen moralischen Verhaltensweisen und Argumente ansprechen werde. Ich erweise der Gegenwart lediglich die Reverenz, ihr eigenes Vokabular zu benutzen, wenn ich über sie spreche. (18)
6.3.3 Moralischer Widerstreit und Emotivismus
6.3.3 Moralischer Widerstreit und Emotivismus Yusuf KuhnDamit leitet MacIntyre zu Kapitel 2 über, das den Titel trägt: Das Wesen moralischer Meinungsunterschiede heute und die Thesen des Emotivismus (19). Als eine Folge der Verwahrlosung und Inkohärenz der modernen Moral dienen moralische Äußerungen oftmals vor allem dem Ausdruck von Meinungsverschiedenheiten, die in Debatten münden, die sich als endlos und ausweglos erweisen. In der modernen Kultur scheint es keine Mittel zu geben, um auf vernünftige Weise zu einer Einigung zwischen den widerstreitenden moralischen Positionen zu kommen.
MacIntyre führt typische Beispiele für solche Debatten an, in denen die Parteien Argumente für ihre jeweiligen Standpunkte anführen, ohne dass es je zu einer Übereinstimmung kommt: zum Beispiel über die Berechtigung und Gerechtigkeit von Kriegen, über die moralische Legitimität und die Legalität der Abtreibung, über die staatliche oder private Organisation von Gesundheitsversorgung und Bildung.
Diese Debatten zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die ihnen gemeinsam sind:
(1) Inkommensurabilität: Die jeweiligen Argumente sind zwar in sich schlüssig, beruhen aber auf so radikal verschiedenen Prämissen, dass ihre Differenzen nicht durch rationale Argumente aufgelöst werden können. Zudem ergibt sich aus der Unmöglichkeit, andere mit Gründen von der eigenen Position zu überzeugen, leicht der beunruhigende Verdacht der Unbegründetheit der eigenen Position und damit das Gefühl mangelnder Rationalität und Willkür. Aus beiden Aspekten erklärt sich der oftmals zu beobachtende Umstand, dass bei moralischen Streitgesprächen scharfe Töne angeschlagen werden.
(2) Objektivität: Alle Parteien dieser Debatten stützen sich auf vermeintlich rationale und unpersönliche Argumente, welche die Existenz objektiver Normen unabhängig von Vorlieben und Einstellungen voraussetzen. Dies scheint im Gegensatz zu Willkür und Subjektivität im Dienste von Interessen ein Streben nach Rationalität zum Ausdruck zu bringen.
(3) Kontextlosigkeit: Die verwendeten Begriffe, mit oftmals völlig unterschiedlichen historischen Ursprüngen, werden von ihren praktischen und theoretischen Kontexten abgelöst, denen sie ihre ursprüngliche Bedeutung und Rechtfertigung verdanken. In vielen Fällen haben so zentrale moralische Ausdrücke wie Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Pflicht in den vergangenen Jahrhunderten eine starke Veränderung ihrer Bedeutung durchlaufen. Dies gerät nur allzu oft aus dem Blick.
Wenn diese Eigenschaften Symptome einer moralischen Unordnung sind, sollte es möglich sein, eine Geschichte des moralischen Diskurses zu schreiben, die solche Bedeutungsänderungen zu verstehen und zu zeigen erlaubt, dass ein moralisches Argument zu einem früheren Zeitpunkt von anderer Art war, also nicht zugleich und auf inkonsistente Weise als Ergebnis rationaler Überlegung und als bloß expressive Äußerung betrachtet werden kann. Ein großes Hindernis ist dabei die unhistorische Behandlung der Moralphilosophie als eine einzige Debatte mit einem gleichbleibenden Gegenstand unter Missachtung des kulturellen und sozialen Kontextes, im Gegensatz zu dem, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich ein vielgestaltiger, voranschreitender und allerlei Wandlungen durchlaufender Diskurs, an dem Philosophen in verschiedenen historischen Kontexten und Traditionen teilnehmen.
Aus den drei gemeinsamen Eigenschaften ergeben sich Fragen über die Verwendung der moralischen Sprache. Da sich aus der Erfahrung der Inkommensurabilität der Verdacht einstellt, dass die vermeintliche Wahrheit der jeweiligen Position lediglich relativ zu den verschiedenen Perspektiven ist und die vermeintlich objektiven Normen sich als subjektiv erweisen, drängt sich der Eindruck auf, dass die jeweiligen rationalen Argumente letztlich nichts anderes als willkürliche Konstrukte sind, die nur dazu dienen, bereits getroffenen irrationalen Entscheidungen den Anschein von Rationalität zu verleihen, und zwar im Dienste vorgegebener Interessen. MacIntyre bezeichnet diesen pragmatischen Gebrauch der moralischen Sprache als emotivistisch.
Damit bezieht er sich auf die Theorie des Emotivismus, die allerdings auch einen scharfen Einwand gegen seine These und insbesondere seinen Versuch, eine philosophische Geschichte des Verfalls des moralischen Diskurses zu schreiben, beinhaltet. Denn dass moralische Debatten rational ausweglos und endlos sind, ist dem Emotivismus zufolge keine historisch entstandene und kontingente Eigenschaft der modernen Kultur, sondern vielmehr auf das Wesen moralischer Fragen selbst zurückzuführen, da diese an sich gänzlich außerhalb der Sphäre der Rationalität angesiedelt sind. Dieser Auffassung zufolge ist also nicht nur die moderne, sondern jede moralische und darüber hinaus jede wertende Argumentation notwendigerweise rational unlösbar. MacIntyre erläutert:
Der Emotivismus lehrt, daß alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind, soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind. […] moralische Urteile sind als Ausdruck von Haltungen oder Gefühlen weder richtig noch falsch; und Übereinstimmung bei moralischen Urteilen läßt sich durch keine rationale Methode erreichen, da es keine gibt. Wenn überhaupt, kann Übereinstimmung nur dadurch erreicht werden, daß ein bestimmter nichtrationaler Einfluß auf die Empfindungen oder Haltungen derjenigen ausgeübt wird, deren Urteil abweicht. Wir gebrauchen moralische Urteile nicht nur, um unsere eigenen Gefühle und Haltungen auszudrücken, sondern auch, um solche Wirkungen auch bei anderen hervorzubringen. (26-27)
Der Emotivismus ist eine Theorie über die Bedeutung von Sätzen, in denen wertende, insbesondere moralische Urteile gefällt werden. Sie wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem von C. L. Stevenson und anderen Schülern von G. E. Moore entwickelt. Dieser Theorie zufolge bedeutet beispielsweise der Satz »Dies ist gut« in etwa »Ich stimme dem zu; mach es ebenso«. Somit dient das wertende oder moralische Urteil sowohl dem Ausdruck der Haltung des Sprechers, als auch der Beeinflussung des Verhaltens des Hörers.
MacIntyre legt allerdings dar, dass der Emotivismus als Theorie der Bedeutung wertender Sätze aus verschiedenen Gründen scheitert. Doch diese falsche Theorie der Bedeutung lässt sich gleichwohl als Theorie des Gebrauchs unter spezifischen Bedingungen auslegen:
Der Emotivismus hat den Anspruch, wie wir gesehen haben, eine Theorie der Bedeutung von Sätzen zu sein. Aber der Ausdruck von Gefühlen oder Haltungen ist bezeichnenderweise keine Funktion der Bedeutung von Sätzen, sondern von deren Gebrauch bei bestimmten Gelegenheiten. (28)
Moralische Sätze werden in der Tat oftmals gebraucht, um willkürliche Entscheidungen und subjektive Präferenzen zum Ausdruck zu bringen sowie um andere in ihrem Sinne zu manipulieren. MacIntyre vertritt die Auffassung, dass dies eine treffliche Beschreibung des Gebrauchs der moralischen Sprache in der gegenwärtigen Kultur ist, die in diesem Sinne zutiefst emotivistisch ist. Er begibt sich sodann ziemlich eingehend auf die Spuren der Geschichte des Emotivismus, der als eigenständige Theorie der Bedeutung in einem bestimmten Kontext in Cambridge entstanden ist, aber auch in anderen historischen Epochen zu finden ist und als Antwort auf das Scheitern der Suche nach einer rationalen Begründung für vermeintlich objektive und unpersönliche moralische Ansprüche entsteht. MacIntyre stellt dazu fest:
So verstanden erweist sich der Emotivismus eher als eine zwingende Theorie des Gebrauchs denn als eine falsche Theorie der Bedeutung, gebunden an ein bestimmtes Stadium der moralischen Entwicklung oder des moralischen Niedergangs, ein Stadium, in das unsere eigene Kultur zu Beginn des jetzigen [zwanzigsten] Jahrhunderts getreten ist. (34)
Zudem impliziert der Emotivismus die Behauptung, dass alle historischen Versuche, eine solche rationale Rechtfertigung zu liefern, gescheitert sind. Die Unterscheidung zwischen Theorie der Bedeutung und Theorie des Gebrauchs ermöglicht es indes, die Tatsache des emotivistischen Missbrauchs der moralischen Sprache anzuerkennen und zugleich zurückzuweisen, wobei freilich die Begründung und Bestätigung wertender Urteile in der emotivistischen Kultur den Zugang zu Kriterien erfordert, die nicht willkürlich sind, sondern sich vernünftig begründen lassen.
Wenn der Emotivismus zutrifft, dann ist die moralische Sprache höchst irreführend. Denn einer Aussage wie »Das ist schlecht!« haftet doch ein anderer Anspruch auf Geltung an als der Aussage »Ich stimme dem nicht zu; mach es ebenso!«, da erstere gleichwohl von einem wie auch immer ausgedünnten Bezug auf eine objektive und unpersönliche Norm zehrt. Dieser Bezug würde erst dann völlig verlorengehen, wenn der Emotivismus gemeinhin für wahr gehalten würde. Daraus ergäben sich freilich sehr weitreichende Konsequenzen, die MacIntyre folgendermaßen andeutet:
Das heißt, wenn und insoweit der Emotivismus recht hat, dann ist die moralische Sprache in höchstem Maße irreführend und dann müßte auch der Gebrauch der traditionellen und ererbten moralischen Sprache eigentlich aufgegeben werden. Diesen Schluß zog keiner der Emotivisten; und es ist auch klar, daß sie, wie Stevenson, versäumten, ihn zu ziehen, weil sie ihre eigene Theorie fälschlicherweise als Theorie der Bedeutung auslegten. (36)
Emotivismus und Täuschung sind nicht voneinander zu trennen, zumindest solange die überkommene moralische Sprache weiter verwendet wird. Dies ist von entscheidender Bedeutung für MacIntyres in Auseinandersetzung mit dem Emotivismus entwickelte These, wie er deutlich herausstellt:
Denn eine Möglichkeit, meinen Streitpunkt, daß die Moral nicht mehr das ist, was sie einmal war, zu fassen, besteht darin zu erklären, daß die Menschen heute in erheblichem Umfang so denken, sprechen und handeln, als wäre der Emotivismus wahr, gleichgültig was ihr erklärter theoretischer Standpunkt ist. Der Emotivismus ist in unsere Kultur eingegliedert worden. (39)
Damit ist indes auch gesagt, dass die Moral zum großen Teil verschwunden ist, was einen Rückschritt und schweren kulturellen Verlust darstellt. Aus dieser Entwicklung leitet MacIntyre zwei Aufgaben ab. Die erste besteht darin, die verlorene Moral näher zu bestimmen und ihre Ansprüche auf objektive und vernünftige Geltung zu prüfen. Die zweite Aufgabe beschreibt er, das dritte Kapitel abschließend, folgendermaßen:
Die zweite Aufgabe besteht darin, meine Behauptung über den besonderen Charakter der Neuzeit zu beweisen. Denn ich habe erklärt, daß wir in einer besonders emotivistischen Kultur leben, und wenn dem so ist, müßten wir eigentlich entdecken, daß sehr viele unserer Begriffe und Verhaltensweisen - und nicht nur unsere expliziten moralischen Debatten und Urteile - die Wahrheit des Emotivismus voraussetzen, wenn nicht auf der Ebene selbstbewußten Theoretisierens, dann doch wenigstens im täglichen Leben. Aber ist dem so? (40)
6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit
6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit Yusuf KuhnDieser Frage wendet sich MacIntyre im folgenden Kapitel 3 zu, das den Titel trägt: Emotivismus: Sozialer Inhalt und sozialer Kontext. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass jede Moralphilosophie, auch der Emotivismus, eine Soziologie voraussetzt. Mit dem Begriff der Soziologie wird hier die Weise bezeichnet, in der die Moralphilosophie ihre mögliche Umsetzung in die gesellschaftliche Wirklichkeit sowie insbesondere den Begriff des Handelns und des Handelnden versteht. MacIntyre erläutert dies folgendermaßen:
Denn jede Moralphilosophie liefert explizit oder implizit zumindest teilweise eine Begriffsanalyse der Beziehungen zwischen einem Handelnden und seinen Beweggründen, Motiven, Absichten und Handlungen, und indem sie das tut, setzt sie generell voraus, daß diese Begriffe in die wirkliche soziale Welt eingefügt sind oder zumindest sein können. (41)
Der Emotivismus, im Lichte seines sozialen Gehalts betrachtet, reduziert den Handelnden auf ein losgelöstes und entleertes Selbst mit einem »gewissen abstrakten und geisterhaften Charakter« (53), das aller Kriterien zur Beurteilung seiner somit völlig willkürlichen Entscheidungen beraubt ist, und führt zur Auflösung »jeder echten Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen« (41). Die gesellschaftlichen Anderen sind stets Mittel, niemals Zweck. Der Gesprächspartner wird nicht als vernünftiges Wesen erachtet, das mit Gründen zu überzeugen ist, sondern als Objekt, das mittels manipulativer Beeinflussung zu überreden ist. Denn die Unterscheidung zwischen vernünftiger Überzeugung und bloßer Überredung verliert jeglichen Halt und wird trügerisch, wenn eine wertende Äußerung keinen anderen Sinn hat, als einerseits die eigenen Gefühle und Haltungen zum Ausdruck zu bringen und andererseits auf Veränderungen der Gefühle und Haltungen anderer hinzuwirken. Der moralische Diskurs stellt dann nichts anderes dar als den »Versuch eines Willens, die Haltungen, Gefühle, Vorlieben und Entscheidungen eines anderen mit den eigenen in Einklang zu bringen.« (42) Auf Maßstäbe normativer Vernunft und objektive Kriterien kann man sich nicht berufen, wenn es diese schlicht nicht gibt. Die unausweichliche Folge des Emotivismus ist daher die Selbstzerstörung von Moral und Ethik.
Das ist die allgemeine Antwort auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft, durch die emotivistische Brille betrachtet, darstellen würde. Unterschiede ergeben sich sodann durch bestimmte soziale Kontexte. Dabei sind für MacIntyre soziale Rollen von besonderer Bedeutung, die eine Kultur mit moralischen Vorstellungen versorgen und die er als Charaktere bezeichnet. Die Charaktere in einer emotivistischen Kultur teilen die Aufhebung der Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen sowie die Unterscheidung zwischen rationalem und nicht-rationalem Diskurs und verkörpern diese Vorstellungen in verschiedenerlei sozialen Kontexten.
6.3.4.1Ästhet, Manager und Therapeut
Die drei wichtigsten sozialen Charaktere der emotivistischen Kultur sind laut MacIntyre der reiche Ästhet, der Manager und der Therapeut, die ausführlich beschrieben werden. Da es für sie keinen rationalen Diskurs über moralische Fragen geben kann, Konflikte zwischen Werten sich also nie durch vernünftige Argumentation lösen lassen, begeben sie sich freilich nie in ernsthafte moralische Debatten mit anderen. Für sie zählt einzig die willkürliche Entscheidung, die durch moralische Kriterien nicht in Frage gestellt werden kann und schlicht durchgesetzt werden muss. Der einzige Maßstab ist der Erfolg bei ihren Bemühungen, andere zu Handlungen und Haltungen zu veranlassen, die den von ihnen vorgegebenen Plänen und Zwecken entsprechen. Der moralische Instrumentalismus mit seinen rein manipulativen Bestrebungen triumphiert, indem er kein anderes Kriterium als die effektive Wirksamkeit erlaubt.
Der Ästhet bedient sich der anderen in ruhelosem Streben nach Lustgewinn zu seinem eigenen Vergnügen. Der Manager bewegt sich in bürokratischen Komplexen in Form sowohl privater Gesellschaften als auch staatlicher Behörden und verfolgt die Realisierung vorgegebener Zwecke mit knappen Mitteln im Rahmen bürokratischer Rationalität; Effektivität ist sein Zauberwort. Der Therapeut vertritt die instrumentelle Vernunft im Bereich des persönlichen Lebens, indem er im Rahmen vorgegebener Ziele Techniken zur »wirksamen Umwandlung neurotischer Symptome in gelenkte Energie, fehlangepaßter Individuen in richtig angepaßte« (50) an menschlichen Objekten zur manipulativen Anwendung bringt; psychologische Effektivität ist sein Leitstern.
MacIntyre führt dazu aus:
Weder der Manager noch der Therapeut beteiligen sich in ihrer Rolle als Manager beziehungsweise Therapeut an der moralischen Debatte. Sie werden von sich selbst und von denen, die sie praktisch mit den gleichen Augen sehen, als unanfechtbare Figuren betrachtet, die sich angeblich auf die Bereiche beschränken, in denen rationale Übereinstimmung möglich ist - das sind, selbstverständlich aus ihrer Sicht, der Bereich der Tatsachen, der Bereich der Mittel und der Bereich der meßbaren Wirksamkeit. (50)
6.3.4.2Das moderne Selbst
Das moderne Selbst geht allerdings nicht in den sozialen Rollen auf, sondern zeichnet sich vielmehr durch die Fähigkeit aus, diese und jede andere Rolle und Haltung nach Belieben einnehmen zu können. Denn es verfügt letztlich über keine Kriterien für seine Urteile, so dass ihm alles zur willkürlichen Entscheidung wird. MacIntyre bemerkt dazu:
Das spezifisch moderne Selbst
Eigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wird »The specifically modern self [...]« (After Virtue, S. 31) hier statt dessen übersetzt mit: »Das im eigentlichen modernen Selbst (sic!) [...]«. , das Selbst, das ich emotivistisch genannt habe, kennt keine Grenzen für das, worüber es urteilen könnte, denn derartige Grenzen könnten sich nur aus rationalen Berwertungskriterien (sic!)Richtig wäre freilich: »Bewertungskriterien«. herleiten, und dem emotivistischen Selbst fehlen, wie wir gesehen haben, alle derartigen Kriterien. Alles kann von jedem Standpunkt aus, den das Selbst eingenommen hat, kritisiert werden, auch die Wahl des Standpunktes, den das Selbst einnimmt. (51)
Dieses entleerte, jeglichen Inhalts und aller Identität beraubte Selbst der emotivistischen Kultur haben allerdings einige moderne Philosophen – analytische wie existentialistische - »als das Wesen moralischen Handelns betrachtet.« (51) Dieses Selbst ist aus allen sozialen Bezügen herausgelöst und dazu verdammt, seine Urteile ohne jeglichen Anhaltspunkt »von einem rein universellen und abstrakten Standpunkt aus zu fällen« (52). Hier wird der Gegensatz zwischen dem moralischen Handeln, das keinerlei rationalen Kriterien unterliegt, und dem instrumentellen Handeln der Manager und Therapeuten, das an rationalen Kriterien der Effizienz gemessen wird, offenkundig.
MacIntyre beschreibt diesen Gegensatz pointiert:
Im Reich der Tatsachen gibt es Verfahren, Meinungsunterschiede zu beseitigen; im Reich der Ethik wird die Unüberwindbarkeit von Meinungsunterschieden durch den Titel »Pluralismus« geadelt. Dieses [...] Selbst, das keinen notwendigen sozialen Inhalt und keine notwendige soziale Identität hat, kann jede Rolle annehmen oder jeden Standpunkt beziehen, weil es für sich genommen nichts ist. (52)
Da das emotivistische Selbst keine letzten Kriterien hat, kann es auch keine rationale Geschichte für Entwicklung und Wandel seiner Auffassungen von moralischer Verpflichtung haben. Innere Konflikte müssen ihm als völlig willkürliche Entgegensetzungen konkurrierender Positionen erscheinen. Das Selbst verliert damit jede Kontinuität und Identität, die ihm allererst erlauben würden, sein Leben als sinnvolles Ganzes zu erfassen.
In vormodernen Gesellschaften war die persönliche Identität auch durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Rollen bestimmt. Und das Leben wurde als Einheit betrachtet, das im Tod als telos (Ziel) des Lebens Abschluss und Erfüllung finden kann. Die Auflösung dieser Vorstellungen führt zur Herausbildung des modernen Individuums, wobei dieser Prozess nicht als Verlust empfunden wird, sondern als Befreiung von sozialen Zwängen einerseits und vom Aberglauben der Teleologie andererseits. Doch die für das emotivistische Selbst gewonnene Autonomie als Individuum ist erkauft um den Preis des Verlusts von Identität und Sinn des Lebens.
MacIntyre beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen:
[…] das eigentlich moderne Selbst, das emotivistische Selbst, [verlor] mit der Souveränität in seinem eigenen Reich seine traditionellen Grenzen [...], die durch die soziale Identität und die Sichtweise des einem bestimmten Ziel zugeordneten menschlichen Lebens gezogen worden waren. (55)
Diesem grenzenlosen emotivistischen Selbst stehen die sozialen Charaktere gegenüber, die in enge Strukturen instrumenteller Rationalität fest eingebunden sind. Diesem Gegensatz entspricht die Zweiteilung der Gesellschaft in den Bereich des Organisatorischen, in dem zwar die Mittel innerhalb, aber die Ziele außerhalb der Reichweite vernünftigen Denkens liegen, und den Bereich des Persönlichen, in dem Urteile und Erwägungen über Ziele und Werte zwar von größter Bedeutung sind, aber Probleme und Konflikte sich jeglicher rationalen Lösung entziehen.
Diese Zweiteilung prägt die modernen Gesellschaften, die gleichwohl beides in einem ständigen Wechselspiel miteinander verbinden. Denn es wäre falsch, sich durch die politischen Debatten auf der Oberfläche täuschen zu lassen, wie MacIntyre darlegt:
Solche Debatten werden oft im Sinne eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Individualismus und Kollektivismus geführt, die beide in einer Vielzahl doktrinärer Formen auftreten. Auf der einen Seite erscheinen die selbsternannten Vorkämpfer der individuellen Freiheit, auf der anderen die selbsternannten Vorkämpfer der Planung und Regulierung der Güter, die durch bürokratische Organisation verfügbar sind. Aber tatsächlich entscheidend ist das, worin sich die miteinander streitenden Parteien einig sind, daß uns nämlich nur zwei alternative Formen sozialen Lebens zur Verfügung stehen: eine, in der die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen souverän sind, und eine, in der die Bürokratie so souverän ist, daß sie die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen einschränken kann. […] So ist die Gesellschaft, in der wir leben, eine Gesellschaft, in der Bürokratie und Individualismus sowohl Partner als auch Gegner sind. Und im kulturellen Klima dieses bürokratischen Individualismus ist das emotivistische Selbst ganz selbstverständlich zu Hause. (55-56)
So ist die moderne Gesellschaft eine Ansammlung von losgelösten Individuen, die ohne Regeln für ihr individuelles Verhalten zugleich in bürokratische Apparate eingespannt sind, welche die Regellosigkeit der Eigeninteressen in das harte Gehäuse einer rationalen Verwaltung zwängen. Die Suche nach einem Ausgleich dieser Gegensätze kann sich aufgrund der beiderseitigen Irrationalität der Zwecke nicht auf einer vernünftigen Grundlage vollziehen.
Jenseits der Optionen für individuelle Autonomie und bürokratische Kontrolle gibt es keine Alternative. Die willkürlichen Zwecke der Individuen und der Apparate stehen sich rational unvermittelt und unvermittelbar gegenüber, so dass Debatten und Konflikte zwangsläufig ohne vernünftige Lösung bleiben und zu Fragen der Macht degenerieren müssen.
6.3.5 Das Projekt der Aufklärung zur rationalen Rechtfertigung der Moral
6.3.5 Das Projekt der Aufklärung zur rationalen Rechtfertigung der Moral Yusuf KuhnIm daran anschließenden vierten Kapitel mit dem Titel Die Kultur unserer Vorgänger und das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral vertritt MacIntyre die Auffassung, dass die Entwicklungen der Sozialgeschichte, die zur geschilderten Wandlung der Moral und zur Herausbildung des emotivistischen Selbst geführt haben, vor allem Episoden der Geschichte der Philosophie sind. Nur durch diese Geschichte lässt sich der gegenwärtige Zustand des alltäglichen moralischen Diskurses verstehen. Denn die entscheidenden Veränderungen vollzogen sich in einer Zeit, da die Philosophie noch maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft ausübte, im Gegensatz zur Gegenwart, da der Philosophie allenfalls ein akademisches Schattendasein neben den aus ihr hervorgegangenen und nun dominanten Wissenschaften zugestanden wird.
MacIntyre erkennt in dem Niedergang derjenigen Kultur, in der die Philosophie noch eine zentrale Rolle spielte, eine wesentliche Ursache für die modernen Verwerfungen, wenn er schreibt:
Ich werde weiterhin argumentieren, daß das Scheitern jener Kultur, ihre praktischen und gleichzeitig philosophischen Probleme zu lösen, einer und vielleicht der entscheidende Umstand war, der die Form unserer philosophischen wie auch praktischen sozialen Probleme bestimmt. (58)
Er verfolgt die Spuren dieser Entwicklung bis auf die Aufklärung zurück. Denn die Kultur des Emotivismus folgte auf das Scheitern des Aufklärungsprojekts der rationalen Rechtfertigung der Moral. Bei allen Unterschieden, welche die daraus hervorgegangenen Vorhaben zur Umsetzung dieses Projektes auszeichnen, teilen sie doch einen erstaunlich großen Kern von Annahmen und Überzeugungen.
Dass die Moralbegründung auf der Vernunft basieren sollte, heißt für alle diese Vorhaben, dass überkommene Theologie und Teleologie daraus zu verbannen sind. Der radikale Bruch in dieser Hinsicht ging allerdings einher mit einer überraschenden Kontinuität in der Frage des Inhalts und der Art der moralischen Normen, die als vorgegebener Bestand weitgehend aus der christlichen Tradition übernommen werden.
Und sie stimmen auch darin überein, wie eine vernünftige Begründung der Moral formal zu gestalten sei. Aus einigen Prämissen über die Eigenschaften der Natur des Menschen sollten moralische Regeln begründet und abgeleitet werden, indem diejenigen Regeln ausgezeichnet werden, die ein Wesen mit einer solchen Natur für sich wählen und einhalten müsste.
Die Kultur der Aufklärung brachte mit der Verwerfung jeglicher Verankerung der Moral in göttlichen Geboten und einem bestimmen Sinn (telos) des menschlichen Lebens eine Moralphilosophie hervor, die Moralität von allen anderen Bereichen, mit denen sie bislang verknüpft war, abspaltete. Dadurch entsteht allererst der Bereich des Moralischen als unabhängige Sphäre, die für die moderne Moral so charakteristisch ist, wie MacIntyre anschaulich beschreibt:
Wir sind so daran gewöhnt, Urteile, Argumente und Taten in moralischen Kategorien zu klassifizieren, daß wir ganz vergessen, wie relativ neu diese Vorstellung in der Kultur der Aufklärung war. (59)
Das moderne Wort moralisch kommt überhaupt erst ab dem siebzehnten Jahrhundert allmählich in Gebrauch. Weder im Altgriechischen noch im Lateinischen gibt es bezeichnenderweise eine passende Entsprechung. MacIntyre verortet den Ursprung dieses Ausdrucks in der Epoche »etwa zwischen 1630 und 1850« (60), in der das Wort Moral zur Bezeichnung eines besonderen Bereichs wurde, indem das Moralische immer strikter vom Religiösen, Rechtlichen und Ästhetischen getrennt wurde.
Im gleichen Zuge stieg das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral zu einem zentralen Anliegen der modernen Kultur auf. Diese durch die Aufklärung geprägte Kultur war der Vorläufer, auf den der Emotivismus eine Reaktion darstellt. MacIntyre hebt hervor:
Es ist eine der grundlegenden Thesen dieses Buches, daß das Scheitern dieses Projekts den historischen Hintergrund lieferte, vor dem die mißliche Lage unserer eigenen Kultur verständlich werden kann. (61)
MacIntyre beleuchtet nun diesen historischen Hintergrund, indem er die Geschichte des Aufklärungsprojektes ausführlich und im Rückgang, ausgehend vom modernen Standpunkt in seiner voll entwickelten Form schildert. Die Stationen des Weges, den er dabei abschreitet, sind vor allem Kierkegaards Enten-Eller (Entweder-Oder), Kants moralphilosophische Werke, Diderots Le Neveu de Rameau (Rameaus Neffe) und Humes Treatise of Human Nature (Traktat über die menschliche Natur).
Den Ausgangspunkt bildet die moderne Auffassung des moralischen Diskurses als einer endlosen und unlösbaren Debatte zwischen inkommensurablen Prämissen, wobei die moralische Verpflichtung als das Ergebnis einer Entscheidung für eine beliebige Position ohne rationale Kriterien erscheint. Von hier aus vollzieht MacIntyre den ersten Schritt zurück in der philosophischen Geschichte:
Dieses Element der Willkür in unserer moralischen Kultur wurde als philosophische Entdeckung – ja als Entdeckung beunruhigender, sogar schockierender Art – vorgetragen, lange bevor es zu einem Allgemeinplatz im alltäglichen Diskurs wurde. Diese Entdeckung wurde sogar zuerst mit genau der Absicht, die Teilnehmer des alltäglichen moralischen Diskurses zu schockieren, in einem Buch vorgelegt, das Ergebnis und zugleich Nachruf auf den systematischen Versuch der Aufklärung war, eine rationale Rechtfertigung der Moral zu finden. (61)
Dieses Buch ist Kierkegaards Entweder-Oder, das schon im Titel offensichtlich vor eine radikale Wahl stellt, und zwar zur Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Lebensweisen, von denen der moralisch Handelnde sich für eine entscheiden muss: entweder die ethische Lebensweise oder die ästhetische Lebensweise. Und die Entscheidung ist insofern zutiefst grundsätzlich, da gar nicht zwischen Gut und Böse zu wählen ist, sondern vielmehr, ob überhaupt in Begriffen von Gut und Böse gewählt werden soll. Es steht also der moralische Standpunkt selbst in Frage.
Da es sich dabei um die Wahl zwischen Grundprinzipien handelt, für die keine weiteren Gründe angeführt werden können, ohne schon eine der beiden Positionen implizit vorauszusetzen, muss die Entscheidung grundlos bleiben. Steht jemand vor der Wahl zwischen ihnen, ohne schon eine von beiden eingenommen zu haben, kann ihm kein Grund genannt werden, warum er die eine der anderen vorziehen sollte. Es ist eine radikale, grundlose und letzte Wahl.
Zu den Konsequenzen dieser Vorstellung merkt MacIntyre folgendes an:
Dieser Gedanke zerstört die gesamte Tradition einer rationalen moralischen Kultur — falls er nicht selbst rational abgewehrt werden kann. (64; Hervorhebung im Original)
Kursivierung nicht in der deutschen Ausgabe, wohl aber im englischen Original, siehe After Virtue, S. 41.
MacIntyre weist sodann auf die tiefe innere Inkonsistenz zwischen dem Begriff der radikalen Wahl und dem Begriff des Ethischen hin. Denn der Bereich des Ethischen beruht auf der Vorstellung, dass mit den moralischen Geboten eine gewisse Autorität einhergeht, die ihnen den verpflichtenden Charakter verleiht. Und die Autorität eines Prinzips leitet sich gewöhnlich von den Gründen her, die für seine Wahl sprechen. Nun gibt es aber für ein Prinzip, das einer willkürlichen Entscheidung entspringt, keine Gründe, also auch keine Autorität. Wer einem solchen Prinzip folgt, handelt völlig willkürlich und könnte ebenso gut jederzeit und nach Belieben wählen, das Prinzip aufzugeben. Das Prinzip selbst gehört daher wohl eher in den ästhetischen Bereich.
Damit ist der Widerspruch in Kierkegaards Lehre aufgezeigt. Und »falls das Ethische irgendeine Grundlage hat« (65), kann sie jedenfalls nicht durch den Begriff der radikalen Wahl geliefert werden. Damit scheitert Kierkegaards Versuch einer Grundlegung der Moral.
Bei aller Beliebigkeit der vermeintlichen Grundlage ist allerdings bemerkenswert, dass für Kierkegaard der Inhalt des Ethischen, den er bezeichnenderweise der überkommenen christlichen Moral entnimmt, völlig konservativ und traditionell ist. MacIntyre stellt dazu folgendes fest:
[...] Kierkegaard verbindet den Gedanken der absoluten Wahl mit einer nicht in Frage gestellten Konzeption des Ethischen. [...] Das zu erkennen heißt erkennen, daß Kierkegaard ein neues praktisches und philosophisches Fundament für eine ältere, ererbte Lebensanschauung liefert. Vielleicht ist es diese Kombination aus Neuem und Traditionen, die die Inkohärenz im Kern der Kierkegaardschen Position erklärt. Es ist, wie ich darlegen werde, sicher gerade diese zutiefst inkohärente Kombination aus Neuem und Ererbtem, die das logische Ergebnis des Projekts der Aufklärung ist, eine rationale Grundlage und Rechtfertigung der Moral zu liefern. (65-66)
Für Kierkegaards Konzeption der radikalen Wahl zwischen ethischer und ästhetischer Lebensweise bildet Kants Moralphilosophie mit ihrer radikalen Unterscheidung zwischen Pflicht und Neigung die »philosophische Kulisse« (66). Kierkegaards Begriff der Wahl als Grundlage des Ethischen kann als Reaktion auf das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen, verstanden werden.
MacIntyre verweist darauf, dass Kant den Gehalt der Moral ebenfalls als gegeben betrachtet und ganz konservativ aus dem Erbe der christlichen Moral übernimmt, und beschreibt Kants Konzeption der Moralphilosophie äußerst prägnant in folgenden knappen Sätzen:
Im Mittelpunkt der Moralphilosophie Kants stehen zwei trügerisch einfache Thesen: wenn die Gesetze der Moral rational sind, müssen sie für alle rationalen Wesen gleich sein, genauso wie es die Gesetze der Arithmetik sind; und wenn die Gesetze der Moral für alle rationalen Wesen bindend sind, dann ist die mögliche Fähigkeit dieser Menschen, sie auszuführen, unwesentlich - wesentlich ist ihr Wille, sie auszuführen. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ist daher nur ein Projekt zur Entwicklung eines rationalen Tests, der die Maximen, die den Willen als wahrhaften Ausdruck des Sittengesetzes binden, von den Maximen unterscheidet, die dem Sittengesetz nicht auf diese Weise entsprechen. (66; Hervorhebung im Original)
Das Moralgesetz als vernünftiges gilt für alle vernünftigen Wesen, also nicht nur für die Menschen, sondern über die Menschen als bedingt vernünftige Wesen hinaus insbesondere für alle wahrhaft vernünftigen Wesen, welche die intelligible Welt bevölkern. Und es kommt gar nicht darauf an, ob Menschen das Moralgesetz in ihrem Handeln umsetzen können, sondern vielmehr einzig darauf, ob der Wille von Menschen als vernünftigen Wesen durch das Moralgesetz bestimmt wird oder werden kann.
MacIntyre geht jedoch auf die dieser kantischen Konzeption ganz unverhohlen zugrunde liegenden metaphysischen Annahmen, wie beispielsweise die Spaltung in die empirische Sinnenwelt (mundus sensibilis), der die wirklichen Menschen angehören, und die nicht-empirische Geisterwelt (mundus intelligibilis), in der vernünftige Wesen nach moralischen Gesetzen Umgang pflegen, fast gar nicht ein, ohne die sich indes diese Konzeption kaum verstehen lässt, sondern geht direkt über auf die Funktion des kategorischen Imperativs als Test der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen, die so auf ihre Übereinstimmung mit dem Sittengesetz hin geprüft werden sollen.
Da Kant die Moralphilosophie auf die Vernunft gründet, die kein ihr äußerliches Kriterium duldet und daher alles der Erfahrung Entstammende von sich fernhält, müssen das Streben nach Glück und göttliche Gebote streng von der Moralität geschieden werden, so dass die Regeln der Moral ohne Bezug auf einen Zweck oder äußeren Inhalt, also rein formal nach dem Prinzip der Universalisierbarkeit bestimmt werden müssen.
MacIntyre erläutert:
Es gehört zum Wesen der Vernunft, daß sie Grundsätze darlegt, die umfassend, kategorisch und in sich schlüssig sind. Eine rationale Moral wird daher Grundsätze aufstellen, die sich alle Menschen zu eigen machen können und sollten, ungeachtet der Umstände und Bedingungen, und die konsequent von jedem vernünftig Handelnden bei jeder Gelegenheit befolgt werden könnten. Die Prüfung einer aufgestellten Maxime ist also leicht zu formulieren: können wir wirklich wollen - oder können wir das nicht, daß immer alle danach handeln? (68; Hervorhebung im Original)
Kant lehnt mithin die zwei wichtigsten Arten der Grundlegung in der traditionellen Moralphilosophie ab. Die Ableitung eines Gebotes aus einem vorgegebenen Zweck einerseits, wie etwa dem Glück, kann nur zu einem bedingten Gebot führen, das lediglich hypothetische Geltung besitzen und damit nicht dem Anspruch der Vernunft auf unbedingte, kategorische Gültigkeit genügen kann. Und auch göttliche Gebote andererseits können dieser Anforderung nicht genügen, da nach Kant die Pflicht zu ihrer Befolgung von der weiteren Bedingung abhängig ist, dass immer zu tun geboten ist, was Gott befiehlt. Um die Frage nach dieser Bedingung zu beantworten, bedürfte es allerdings eines von Gottes Geboten unabhängigen moralischen Kriteriums zur Beurteilung der göttlichen Gebote, was freilich letztere überflüssig machen würde. Der Bereich des Moralischen muss demzufolge strengstens sowohl vom Bereich des Strebens nach Glück als auch vom Bereich der göttlichen Gebote geschieden werden.
MacIntyres Kritik richtet sich nun vor allem auf die Eignung dieses Tests zur Entscheidung über die Moralität von Maximen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser Test als Auswahlkriterium nicht geeignet ist, da ihn auch der Moral offenkundig widersprechende Maximen überstehen.
So stellt MacIntyre folgendes fest:
Aber nicht nur, daß Kants eigene Argumente grobe Fehler enthalten, es ist auch ganz einfach zu erkennen, daß viele unmoralische und triviale, nicht moralische Maximen durch Kants Prüfung ebenso überzeugend und manchmal noch überzeugender unterstützt werden als die moralischen Maximen, die Kant unterstützen will. »Halte dein ganzes Leben alle Versprechen, bis auf eines«, »Verfolge alle, die falsche religiöse Überzeugungen haben« und »Iß im März am Montag immer Muscheln« bestehen die Prüfung Kants, denn sie alle können folgerichtig verallgemeinert werden. (69)
MacIntyre zeigt sodann auf, dass der kategorische Imperativ auch in einer anderen Formulierung keine Lösung des Problems darstellt, wie solche trivialen Maximen ausgeschlossen werden können:
Kant glaubte das, weil er meinte, daß seine Formulierung des kategorischen Imperativs im Sinne der Verallgemeinerbarkeit einer ganz anderen Formulierung entspreche: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«
Das Kant-Zitat findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Siehe Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Band VII, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1982, S. 61. (69)
MacIntyre sieht darin einen moralischen Gehalt, der in der Forderung besteht, den anderen nicht zum bloßen Werkzeug des eigenen Willens zu degradieren, sondern in ihm seine Vernunft zu achten, nämlich mit ihm in eine rationale Beziehung durch den Austausch von Gründen zu treten. In dieser Absage an manipulative Beeinflussung zugunsten vernünftiger Überzeugung kommt der Gegensatz von Kants Moralphilosophie zum Emotivismus sehr deutlich zum Ausdruck. MacIntyre erkennt dies an, bringt aber sogleich folgenden Einwand vor:
Aber Kant nennt uns keinen guten Grund, diese Position einzunehmen. Ich kann mich ohne jede Inkonsistenz darüber hinwegsetzen: »Jeder außer mir soll als Mittel betrachtet werden« mag unmoralisch sein, aber es ist nicht inkonsistent, und es ist nicht einmal inkonsistent, eine Welt aus Egoisten zu wollen, die alle nach dieser Maxime leben. (70)
Und Kant kann letztlich keinen Grund nennen, da er sich durch die radikale Trennung der Moralität von einer praktischen Vernunft, die sich auf Zwecke wie das Streben nach Glück oder auf göttliche Gebote beziehen könnte, jeglicher Möglichkeit beraubt hat, einen Grund anzubieten, der tatsächlich zum entsprechenden Handeln motivieren könnte. Damit ist gewiss längst nicht alles zu Kants Moralphilosophie gesagt, die eine weit ausführlichere und gründlichere Behandlung verdienen würde, für die hier allerdings nicht der Ort ist.
MacIntyre konstatiert jedenfalls hiermit das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen. Und wie Kierkegaards Begründung des Ethischen durch die radikale Wahl als ein Ersatz für Kants Vernunftbegriff verstanden werden kann, so Kants Berufung auf die Vernunft als Reaktion auf Diderots und Humes Versuch, die Moral auf Wunsch und Leidenschaft zu gründen, und dessen Scheitern.
Der Aufklärer Diderot verteidigt ebenfalls die konservativen Sittengesetze und vertritt die Ansicht, dass diese, wenn alle mit aufgeklärtem Blick ihre Wünsche auf lange Frist verfolgen, »im großen ganzen die Gesetze sind, die durch die Berufung auf ihre Grundlagen Wunsch und Leidenschaft gerechtfertigt werden.« (71) Doch welche Wünsche können als legitime Richtlinien für das Handeln anerkannt werden und welche nicht? Darauf kann es im Rahmen dieser Konzeption keine Antwort geben, denn die Wünsche sind dafür viel zu mannigfaltig und heterogen und Regelungen für die Ordnung der Wünsche können nicht selbst wieder von Wünschen abgeleitet werden. Daher scheitert auch Diderots Versuch.
Hume wiederum hat mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da er in der Vernunft nur eine Sklavin der Leidenschaften sieht, können es nur letztere sein, die zum Handeln bewegen. Und er versteht moralische Urteile als Ausdruck von Leidenschaften und Gefühlen, wobei er gleichwohl erkennt, dass moralische Urteile sich auf allgemeine Gesetze berufen. Diesen Zwiespalt versucht er aufzuheben und die Regeln der Moral dadurch zu rechtfertigen, dass er ihre Nützlichkeit zum Erreichen der von den Leidenschaften aufgegebenen Ziele aufzeigt.
MacIntyre macht indes darauf aufmerksam, dass Hume bei seinem Versuch einer Begründung auf versteckte normative Kriterien zurückgreift, indem er aus der Vielfalt möglicher Leidenschaften diejenigen eines normalen oder vernünftigen Menschen herausgreift und damit lediglich die von ihm bevorzugten Normen hineinprojiziert.
Zudem weist MacIntyre auf eine weitere Schwierigkeit hin. Hume stellt fest, dass moralische Regeln nur im Dienste des langfristigen Interesses befolgt werden sollten, und wirft dann die Frage auf, warum es nicht gerechtfertigt sein sollte, »sie zu brechen, wann immer sie uns nicht nützten und der Bruch keine weiteren nachteiligen Folgen hätte.« (73) Durch diesen Mangel einer Begründung, die sich ausschließlich auf Interessen und Nützlichkeit stützt, sieht er sich schließlich genötigt, sich auf eine angeborene Triebfeder zur Uneigennützigkeit zu beziehen.
MacIntyre hält indes dagegen:
Es ist klar, daß Humes Berufung auf die Sympathie ein Einfall ist, der die Kluft überbrücken soll zwischen den Gründen, die ein bedingungsloses Festhalten an allgemeinen und uneingeschränkten Gesetzen unterstützen könnten, und den Gründen zum Handeln oder Urteilen, die sich aus unseren individuellen, schwankenden, umstandsbedingten Wünschen, Empfindungen und Interessen herleiten. Adam Smith sollte sich später auf die Sympathie für genau den gleichen Zweck berufen. Aber die Kluft ist selbstverständlich logisch nicht zu überbrücken, und »Sympathie«, wie Hume und Smith sie verwendet haben, ist die Bezeichnung einer philosophischen Fiktion. (73)
Hume geht bei seiner Argumentation von der Annahme aus, dass die Moral entweder der Vernunft oder den Leidenschaften entspringen muss. Und da er meint, gezeigt zu haben, dass es die Vernunft nicht sein kann, bleibt nur der Schluss auf die Leidenschaften. MacIntyre macht auf die folgenreiche Bedeutung solcher »negativer Argumente« (73) aufmerksam, deren Wirkung sich bei Kant und Kierkegaard nicht weniger deutlich zeigt, und stellt das Kapitel beschließend fest:
So wie Hume die Moral auf die Leidenschaften zu gründen sucht, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Vernunft zu gründen, so gründet Kant sie auf die Vernunft, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Leidenschaften zu gründen, und Kierkegaard gründet sie auf die kriterienlose, absolute Wahl aufgrund dessen, was er für das zwingende Wesen der Überlegungen hält, die sowohl die Vernunft wie die Leidenschaften ausschließen.
So beruhte die Bestätigung der jeweiligen Position in wesentlichen Teilen auf dem Scheitern der beiden anderen, und die wirksame Kritik jeder Position durch die anderen erwies sich unter dem Strich als Scheitern aller. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral war eindeutig gescheitert; und seitdem fehlte der Moral der uns vorausgegangenen Kultur - und anschließend auch unserer eigenen - jede öffentliche, gemeinsame logische Grundlage oder Rechtfertigung. (73-74)
Da Theologie und Teleologie im aufgeklärten Denken ausgedient hatten, war diese Aufgabe der modernen Moralphilosophie zugefallen. Doch die Philosophie konnte ihr nicht gerecht werden. Ihr Scheitern trug wesentlich mit dazu bei, dass die Philosophie ihre zentrale Stellung verlor und marginalisiert wurde. Dieses Scheitern ergab sich aus den historischen Voraussetzungen mit zwingender Konsequenz.
6.3.6 Gründe für das Scheitern des Projekts der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral
6.3.6 Gründe für das Scheitern des Projekts der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral Yusuf KuhnMacIntyre wendet sich daher im folgenden Kapitel mit dem Titel Warum das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral scheitern mußte ebendieser Frage zu. Seine Antwort besagt im wesentlichen, dass dieses Projekt wegen des Ausschlusses des teleologischen Denkens scheitern musste, da die sich daraus ergebende Konzeption der Moralität von unaufhebbaren inneren Widersprüchen zerrissen wird.
Die Vertreter der verschiedenen Vorhaben zur Realisierung dieses Projekts dürfen dabei »nicht als Teilnehmer an einer zeitlosen Moraldebatte«, sondern vielmehr vor »ihrem ganz speziellen, gemeinsamen historischen Hintergrund« (75) verstanden werden. Sie stimmen hinsichtlich Inhalt, Art der Begründung und Problemlage überein. Der Inhalt der Moral wird aus der Tradition der christlichen Moral weitgehend übernommen. Die Begründung soll sich auf Eigenschaften der menschlichen Natur beziehen. Und die Problemlage ergibt sich aus dem Anknüpfen an die überkommene Konzeption der Moral unter geschichtlich veränderten Bedingungen.
MacIntyre erläutert:
So haben all diese Autoren teil an dem Vorhaben, gültige Argumente aufzustellen, die von Prämissen über die menschliche Natur ausgehend, wie sie ihrem Verständnis nach ist, bis hin zu Schlußfolgerungen über die Autorität moralischer Vorschriften und Gebote führen. Ich möchte behaupten, daß jedes Vorhaben dieser Art scheitern mußte, weil ein unaufhebbarer Widerspruch bestand zwischen der ihnen gemeinsamen Konzeption moralischer Vorschriften und Gebote einerseits und der andererseits - trotz größerer Widersprüche - ihnen gemeinsamen Konzeption der menschlichen Natur. (76)
Die historischen Vorläufer dieser Konzeptionen waren in ihrer Grundstruktur vor allem geprägt durch die aristotelische Ethik, in der Moral und menschliches Handeln teleologisch begriffen werden. Moralität und deren Regeln werden als die Suche nach den besten Mitteln im Streben nach einem telos (Ziel) des menschlichen Lebens verstanden. Eine Handlung oder ein Wunsch kann in der aristotelischen und auch in der thomistischen Ethik danach beurteilt werden, ob er dem Streben nach dem Guten dient oder nicht.
Das telos wiederum ergibt sich im Rahmen einer solchen Ethik aus dem Begriff, dem Wesen des Menschen selbst, der aus seinem unvollkommenen Naturzustand zur vollen Entfaltung seines in ihm angelegten Wesens strebt, wobei die Ethik ihm den Weg der praktischen Umsetzung weist.
MacIntyre beschreibt dies folgendermaßen:
Innerhalb dieses teleologischen
Eigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wurde teleological fälschlich mit theologischen übertragen. Systems besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen dem Menschen wie er ist und dem Menschen wie er sein könnte, wenn er sein eigentliches Wesen erkennen würde. Die Ethik ist die Lehre, die den Menschen fähig machen soll zu verstehen, wie er den Übergang vom ersten in den zweiten Zustand bewerkstelligt. Deshalb setzt die Ethik in dieser Sichtweise die Berücksichtigung von Potentialität und Handeln voraus, die Berücksichtigung des Wesens des Menschen als rationalem Tier, und vor allem die Berücksichtigung des menschlichen Telos. (77; Hervorhebungen im Original)
Die Tugenden und die sich daraus ergebenden Normen dienen als Leitschnur für das Handeln, das von der Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen zu dessen Verwirklichung führen soll. Dies lehrt die Vernunft. Diese Konzeption basiert auf drei elementaren Konzepten: dem unvollkommenen Naturzustand des Menschen, dem vollkommenen Wesen des Menschen als telos und der Ethik als vernunftgeleitetem Übergang durch moralische Praxis zur Verwirklichung des menschlichen Wesens.
Durch die Verbindung dieser teleologischen Grundstruktur mit theistischen Vorstellungen, beispielsweise in ihrer christlichen Gestalt bei Thomas von Aquin, in ihrer jüdischen bei Mūsā ibn Maymūn (Maimonides) und in ihrer islamischen bei Ibn Ruschd, erfolgt zwar eine Erweiterung, aber keine grundsätzliche Veränderung. Zwar werden etwa Gebote nunmehr nicht nur teleologisch verstanden, sondern auch als von Gott gegebene Gesetze, aber die dreigliedrige teleologische Struktur bleibt erhalten und ist weiterhin von größter Bedeutung.
Es ist allerdings anzumerken, dass es freilich nur bei solchen theistischen Konzeptionen keine grundsätzlichen Veränderungen gibt, in denen die entscheidenden aristotelischen Grundbegriffe mehr oder weniger unverändert beibehalten werden. MacIntyre erläutert die aus der Verbindung von Teleologie und Theismus hervorgegangene Moral folgendermaßen:
Die moralische Äußerung hat demnach in der Zeit, in der die theistische Version der klassischen Moral vorherrscht, zwei Seiten und Ziele und enthält eine doppelte Norm. Jemandem zu sagen, was er tun sollte, bedeutet ihm zu ein und derselben Zeit zu sagen, welche Handlungsweise unter den gegebenen Umständen eigentlich zum wahren Ziel des Menschen führt, und zu sagen, was das Gesetz vorschreibt, das von Gott gegeben ist und der Vernunft einsichtig ist. Moralische Sätze werden in diesem Rahmen gebraucht, um Behauptungen aufzustellen, die richtig oder falsch sind. Die meisten mittelalterlichen Verfechter dieses Systems glaubten selbstverständlich, daß es sowohl Teil der göttlichen Offenbarung als auch eine Entdeckung der Vernunft und damit rational vertretbar sei. (78)
Dieser Zusammenhang wird jedoch in der Folge durch den Protestantismus zerstört, der die Vernunft aufgrund des Sündenfalls als unfähig erachtet, Einsicht in das wahre Ziel des Menschen zu erlangen. Die Vernunft verliert auch ihre Fähigkeit, die Leidenschaften beherrschen zu können, und wird mithin zu deren Spielball.
Zwar mag es noch göttliche Gebote geben, aber den Weg zum Ziel kann die ethische Praxis nicht mehr ebnen, sondern ausschließlich die göttliche Gnade. Neben den Protestanten Luther, Calvin und Hume kommt dabei dem jansenistischen Katholiken Pascal eine wichtige Rolle zu, die MacIntyre so beschreibt:
Denn Pascal erkennt, daß der protestantisch-jansenistische Vernunftbegriff in wesentlicher Hinsicht mit dem Vernunftbegriff übereinstimmt, dem die fortschrittlichsten Philosophien und Wissenschaften des 17. Jahrhunderts folgen. Vernunft umfaßt weder das innere Wesen noch den Übergang von Potentialität zum Handeln; diese Begriffe gehören zum verachteten Begriffssystem der Scholastik. (78-79)
Die Vernunft wird daraufhin auf berechnendes Denken und instrumentelle Rationalität im Dienste von Leidenschaften und Interessen zurechtgestutzt. Über Ziele und Zwecke hat und vermag sie nichts mehr zu sagen. Durch die dadurch bedingte Auslöschung des telos des Menschen wird ein wesentliches Element aus der dreigliedrigen Moralkonzeption herausgebrochen, die somit nur noch aus zwei Elementen besteht, deren Verhältnis zueinander dadurch überdies äußerst problematisch wird. Der Inhalt der Moral und die menschliche Natur stehen einander nun unvermittelt gegenüber. Da die ethischen Gebote doch der Vervollkommnung der menschlichen Natur dienen sollten, können sie nicht aus Eigenschaften dieser Natur in ihrer unvollkommenen Gestalt abgeleitet werden, die nach dem Verlust des telos einzig übriggeblieben ist.
MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:
Die Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts befaßten sich deshalb mit einem zwangsläufig erfolglosen Vorhaben; denn sie versuchten, eine rationale Basis für ihre moralischen Überzeugungen in einem besonderen Verständnis der menschlichen Natur zu finden, während sie auf der einen Seite einen Bestand an moralischen Gesetzen übernahmen und auf der anderen einen Begriff der menschlichen Natur, die ausdrücklich so gestaltet waren, daß sie einander widersprachen. Dieser Widerspruch wurde durch ihre revidierten Überzeugungen über die menschliche Natur nicht ausgeräumt. Sie übernahmen unzusammenhängende Bruchstücke eines einst zusammenhängenden Denk- und Handlungssystems, und da sie ihre besondere historische und kulturelle Situation nicht erkannten, konnten sie die Unmöglichkeit und Wirklichkeitsferne ihrer selbstgewählten Aufgabe nicht erkennen. (80)
In der aristotelischen Tradition strebt der unvollkommene Mensch durch ethische Entfaltung nach der Verwirklichung seines wahren Wesens, während in der modernen Moral der unvollkommene Mensch einfach den Regeln der Moral zu folgen hat, ohne dass noch ein Bezug zu einem übergeordneten Zweck zu erkennen wäre. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht also darin, bei aller Zweckfreiheit für diese Regeln eine rationale Grundlage zu finden. Daraus ergab sich eine eigentümliche Doppelbewegung, die trotz aller immer wieder unternommenen Versuche, die Moral auf die menschliche Natur zu gründen, sich »immer uneingeschränkter der Behauptung [näherte], daß kein schlüssiges Argument von ausschließlich faktischen Voraussetzungen zu einem moralischen oder wertenden Schluß führen kann – ein Prinzip, dessen Annahme ein Epitaph für ihr gesamtes Vorhaben bedeutet.« (81)
Die aufgeklärten Vertreter des Projekts der rationalen Rechtfertigung der Moral zeigten also zugleich, das heißt im Zuge des stets erneuerten Versuchs seiner Durchführung, immer deutlicher eben seine Undurchführbarkeit auf. So kommt es, dass sich in Diderots Rameaus Neffe »eine schärfere und einsichtigere Kritik des gesamten Vorhabens der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts als in jeder externen Kritik der Aufklärung« (81) findet. Kant wiederum kam in der Kritik der praktischen Vernunft zu der Einsicht, dass »das gesamte Vorhaben der Moral ohne teleologischen Rahmen unverständlich wird« (81). Und Hume brachte noch als Zweifel zum Ausdruck, was später zum sogenannten Humeschen Gesetz erhoben wurde, nämlich dass aus einem nicht-normativen »ist«-Satz nicht logisch auf einen normativen »soll«-Satz geschlossen werden kann.
MacIntyre bestreitet indes die Gültigkeit dieses »Gesetzes«, das den Übergang von »ist« zu »soll« verbietet, indem er Gegenbeispiele anführt wie etwa Aussagen mit Begriffen wie Kapitän, Uhr und Bauer. Denn aus solchen faktischen Aussagen können gelegentlich normative Schlussfolgerungen folgen. Es handelt sich dabei um funktionale Begriffe, die »im Hinblick auf den Zweck oder die Funktion, die eine Uhr oder ein Bauer nach unserer Erwartung normalerweise erfüllt« (83-84), definiert werden. Daraus ergibt sich, dass beispielsweise der Begriff einer Uhr nicht unabhängig vom Begriff einer guten Uhr definiert werden kann. Funktionale Begriffe können daher die Kluft von Sein und Sollen überbrücken.
Wenn dies für funktionale Begriffe gilt, so legt sich die Vermutung nahe, dass die Anwendung des Humeschen Gesetzes auf alle Begründungen auf dem Gebiet der Moral auf der Annahme beruht, dass moralische Begründungen keine funktionalen Begriffe enthalten. Und das steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Verwerfung des teleologischen Denkens und des damit einhergehenden Bedeutungswandels vieler Begriffe.
In der aristotelischen Tradition kommt allerdings vielen, insbesondere für den Bereich des Moralischen relevanten Begriffen funktionaler Gehalt zu. Ganz besonders deutlich wird dies etwa für den Begriff des Menschen. Denn dem Menschen wird eine wesenhafte Natur und ein wesenhafter Zweck oder Funktion zugeschrieben. Daraus ergibt sich, dass Mensch begrifflich für guter Mensch steht wie Uhr für gute Uhr. MacIntyre führt dies auf das gesellschaftliche Leben zurück, dessen Wurzeln noch viel weiter als Aristoteles zurückreichen und das im Denken der klassischen Tradition zum Ausdruck kommt, und erläutert dies folgendermaßen:
Denn nach dieser Tradition bedeutet ein Mensch zu sein, eine Vielzahl Rollen einzunehmen, die alle ihr Ziel und ihren Zweck haben: Familienmitglied, Bürger, Soldat, Philosoph, Diener Gottes. Nur wenn man sich den Menschen als Individuum vor und getrennt von allen Rollen denkt, hört der Begriff »Mensch« auf, ein funktionaler Begriff zu sein. (85)
Die Verarmung des Gehalts moralischer Begriffe und Begründungen wird in der modernen Philosophie in Gestalt des Humeschen Gesetzes zur zeitlosen Wahrheit verklärt, was doch nur Mangel an historischem Bewusstsein verrät. Denn ihre Verkündigung war ein einschneidendes historisches Geschehen, da sich darin sowohl der Bruch mit der aristotelischen Tradition wie auch das unausweichliche Scheitern des Projektes einer Begründung der Moral im Rahmen der überkommenen, aber bereits inkohärenten und fragmentarischen Tradition bekundet.
Darüber hinaus kommt es auch zu einer Änderung des Sinns von moralischen Urteilen. In der aristotelischen Tradition ist der Gebrauch von gut meist mit der Vorstellung von einem Zweck oder einer Funktion verbunden, dem etwas dient. Und dazu gehören auch Menschen und Handlungen, wie MacIntyre darlegt:
Eine bestimmte Handlung gerecht oder richtig zu nennen bedeutet zu sagen, daß ein guter Mensch in einer derartigen Situation so handeln würde; daher ist auch diese Art von Aussage faktisch. Innerhalb dieser Tradition können moralische und wertende Aussagen in genau derselben Art und Weise richtig oder falsch genannt werden […] Aber sobald die Vorstellung wesentlicher menschlicher Ziele und Funktionen aus der Ethik verschwindet, leuchtet es nicht mehr ein, moralische Urteile wie faktische Aussagen zu behandeln. (86)
Werden zudem moralische Urteile, wie es in der Aufklärung geschieht, nicht mehr als Teil der göttlichen Offenbarung betrachtet, so werden sie immer mehr auf den Status von bloßen Imperativen reduziert und des Bereiches von Wahrheit und Falschheit verwiesen. Dass bis heute gleichwohl moralische Urteile gewohnheitsmäßig als wahr oder falsch bezeichnet werden, ist nur als Überbleibsel der klassischen Tradition zu erklären. Die Frage, warum ein bestimmtes Urteil wahr oder falsch ist, bleibt unter diesen Bedingungen indes ohne klare Antwort.
MacIntyre erläutert:
Daß dies so sein muß, ist vollkommen einsichtig, falls die historische Hypothese richtig ist, die ich skizziert habe: daß moralische Urteile sprachliche Überreste der praktischen Anwendung des klassischen Theismus sind, die den durch diese praktische Anwendung gebildeten Kontext verloren haben. (86)
Im Rahmen der Praktiken des Theismus waren die moralischen Urteile zugleich auf einen Zweck bezogen wie auch Ausdruck eines Gesetzes, also nach der kantischen Einteilung zugleich hypothetisch und kategorisch. Moralische Urteile können so beispielsweise die Übereinstimmung einerseits mit dem Sinn oder telos des menschlichen Lebens wie auch andererseits mit dem von Gott gegebenen Gesetz artikulieren. Wird ihnen jedoch beides genommen, was sind sie dann?
MacIntyre gibt folgende Antwort:
Moralische Urteile verlieren dann ihren eindeutigen Status, und die Sätze, die sie ausdrücken, verlieren parallel dazu ihre unumstrittene Bedeutung. Solche Sätze stehen dann als Ausdrucksformen einem emotivistischen Selbst zur Verfügung, das seinen sprachlichen und praktischen Standpunkt in der Welt verloren hat, da ihm die Anleitung durch den Kontext fehlt, in welchem sie ursprünglich zu Hause waren. (87)
Diese Entwicklung war nicht nur von theoretischer, sondern von eminent gesellschaftlicher Bedeutung. Denn sie war die Erfindung des modernen Selbst, des modernen Begriffs des Individuums. Der Verlust der traditionellen Strukturen und Inhalte wurde von den Vertretern der Aufklärung einseitig als Befreiung des Selbst erachtet, die dies zur Erlangung seiner Autonomie befähigt. Doch die Erfindung der Autonomie und des modernen Individuums führten zur Entstehung der emotivistischen Kultur.
6.3.7 Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung
6.3.7 Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung Yusuf KuhnDen Prozess, der zur Entstehung der emotivistischen Kultur führt, beschreibt MacIntyre im nächsten Kapitel, in dem einige Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung näher beleuchtet werden. Die Probleme, mit denen die moderne Moralphilosophie zu kämpfen hat, gehen aus der Weise hervor, in der dieses Projekt fehlgeschlagen ist.
Einerseits verfügt das moderne Selbst über moralische Autonomie. Andererseits haben die Regeln der Moral sowohl ihren teleologischen Charakter als auch ihren kategorischen Charakter als Ausdruck eines göttlichen Gesetzes eingebüßt. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht mithin darin, den moralischen Normen einen neuen Status zu verleihen, indem sie entweder mit einer neuen Teleologie oder mit einer neuen Art von Gebotensein versehen werden, so dass sie nicht als bloße Instrumente von individuellem Wunsch und Wille erscheinen. Da diese Aufgabe aufgrund der inneren Widersprüche, die eine Versöhnung von moralischer Autonomie mit Teleologie oder kategorischen Geboten vereiteln, nicht gelingen kann, steht jede moderne Moralphilosophie unvermeidlich in Gefahr, als Werkzeug im Dienste von Interesse und Macht entlarvt zu werden.
6.3.7.1 Utilitarismus und kantische Pflichtethik
Die zwei Hauptströmungen der modernen Moralphilosophie, Utilitarismus und kantische Pflichtethik, gehen als Lösungsversuche aus dieser Problemstellung hervor. Während der Utilitarismus mit seiner Berufung auf den Nutzen versucht eine neue Teleologie zu entwickeln, strebt der Kantianismus nach einem neuen kategorischen Status durch die Begründung in der Vernunft.
Am Anfang des Utilitarismus steht Jeremy Bentham, der einen Ansatz für die Lösung der moralphilosophischen Probleme in der Annahme erkannt zu haben meint, dass die einzigen Motive für menschliches Handeln im Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerzen liegen. Der neue telos wird im Zweck des Lebens als Maximierung von Lust und Minimierung von Schmerzen gefunden. Lust und Schmerz gelten dabei als quantifizierbare Empfindungen. Von dieser psychologischen Annahme geht Bentham sodann zum moralischen Kriterium über, demzufolge immer die Handlung gewählt werden sollte, »die als Ergebnis der größtmöglichen Zahl von Menschen das größtmögliche Glück bringt - das heißt, die größtmögliche Menge an Lust bei gleichzeitig kleinstmöglicher Menge an Schmerzen.« (90)
Die utilitaristischen Nachfolger von Bentham wiederum, insbesondere John Stuart Mill, erkannten in dieser einfachen Bestimmung der Lust eine Hauptursache für die Schwierigkeiten des Utilitarismus. Mill versuchte daher einen Unterschied zwischen »höherer« und »niedriger« Lust einzuführen. Aber worauf sollte diese Unterscheidung ihrerseits basieren? Welche Lust, welches Glück sollte wirklich leitend sein?
Auf diese Fragen kann jedoch der Utilitarismus, wenn er sich auf den Grundbegriff der Lust stützen will, keine befriedigende Antwort geben. Denn die Vorstellung von Lust oder Glück ist eben keine einheitliche, sondern viel zu unterschiedlich und vielgestaltig. Sie kann weder an quantitativen noch an qualitativen Maßstäben gemessen werden. Da sie kein Kriterium für grundlegende Entscheidungen liefern kann, erweist sie sich als untauglich für die Zwecke des Utilitarismus. MacIntyre kommt daher zu dem Schluss:
[…] der Gedanke des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl [ist] ein Gedanke ohne jeden klaren Inhalt [...]. Er ist tatsächlich ein Pseudokonzept, das für eine Vielzahl ideologischer Verwendungen genutzt werden kann, aber mehr auch nicht. Wenn wir daher im täglichen Leben auf seine Verwendung stoßen, ist es stets notwendig zu fragen, welches eigentliche Vorhaben oder Ziel durch seine Verwendung verschleiert wird. (92)
In der Folge führte die utilitaristische Selbstkritik, die immer weiter vorangetrieben wurde, schließlich bei Sidgwick zu der Einsicht, dass die Psychologie keine Grundlage für eine Teleologie, die utilitaristische Regeln abzuleiten erlaubt, abgeben kann. Sidgwick zog daher daraus den Schluss, dass moralische Auffassungen keine Einheit bilden, sondern unaufhebbar heterogen sind und dass sich für sie keine weiteren Gründe anführen lassen. Er bezeichnet moralische Auffassungen daher als Intuitionen. MacIntyre merkt dazu an:
Sidgwicks Enttäuschung über das Ergebnis seiner Untersuchung kommt in seiner Bemerkung zum Ausdruck, daß er, wo er nach dem Kosmos gesucht, tatsächlich nur Chaos gefunden habe. (93)
Im direkten Anschluss daran ebnete sodann Moore in den Principia Ethica über den Intuitionismus hinaus dem Emotivismus den Weg, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass für ihn das, was Sidgwick als Scheitern erachtet, »eine aufklärerische und befreiende Entdeckung« (93) ist. Und dieser Schritt wurde nicht nur als Befreiung von Sidgwick und dem ganzen übrigen Utilitarismus, sondern weit darüber hinaus vom Christentum und allerlei anderen verstaubten Traditionen gefeiert. Zugleich wurde freilich allen Ansprüchen auf Objektivität in der Moral die Grundlage entzogen und damit dem Emotivismus der Boden bereitet.
Auf den Utilitarismus folgte also der Intuitionismus, und auf diesen wiederum der Emotivismus, der sich indes in der analytischen Moralphilosophie nie ganz durchsetzen konnte, »hauptsächlich weil es offenkundig ist, daß moralisches Folgern stattfindet, daß moralische Schlußfolgerungen oft schlüssig aus einer Reihe von Prämissen abgeleitet werden können« (94). Und so ergab es sich, dass der zweite Hauptstrang der modernen Moralphilosophie wieder aufgegriffen wurde, nämlich das Projekt Kants, die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln in der Vernunft zu gründen.
MacIntyre beschreibt dieses Projekt der Vernunftbegründung der Moral nunmehr folgendermaßen:
Diese analytischen Philosophen griffen den Plan Kants wieder auf, darzulegen, daß die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln genau jene Autorität und Objektivität sind, die zur Ausübung der Vernunft gehören. Ihr Hauptanliegen war und ist also nachzuweisen, daß jeder vernünftig Handelnde durch seine Vernunft den Regeln der Moral logisch verpflichtet ist. (94)
Es gibt zweifellos viele Versuche, dieses Projekt zu realisieren. Sie sind jedoch miteinander unvereinbar. Und ihre jeweiligen Kritiken an den anderen Versuchen fallen regelmäßig vernichtend aus. Von Erfolg kann daher nicht die Rede sein. Und die Projekte, wenn sie denn nicht aufgegeben werden, verbleiben bestenfalls im Status eben eines Projekts, das im akademischen Betrieb endlos fortgeführt werden kann, ohne, nicht zuletzt aufgrund der unaufhörlichen wechselseitigen Kritik, je zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden zu können.
MacIntyre geht sodann der Frage nach, warum dieses Vorhaben scheitert, und wählt als Anschauungsmaterial den Versuch von Alan Gewirth in dessen Buch Reason and Morality aus.
»Da der Handelnde Freiheit und Wohlbefinden, die Gattungsmerkmale seines erfolgreichen Handelns, als notwendige Güter betrachtet, muß er logischerweise auch der Meinung sein, daß er ein Recht auf diese Gattungsmerkmale hat, und er erhebt implizit einen entsprechenden Rechtsanspruch«
Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago, 1978, S. 63. . (91)
Gewirth nimmt also an, dass es bestimmte Voraussetzungen für rationales Handeln gibt, die der Handelnde als notwendige Güter betrachtet, auf die er daher einen Rechtsanspruch erhebt. MacIntyres Kritik richtet sich vor allem auf die Einführung des Rechtsbegriffs, die nicht ohne Begründung erfolgen darf, und zwar insbesondere deshalb, weil der Begriff des Rechts selbst notwendige Bedingungen wie das Bestehen bestimmter sozialer Institutionen oder Gewohnheiten voraussetzt.
MacIntyre gelangt daher zu folgendem Ergebnis:
So hat Gewirth in seine Beweisführung unzulässigerweise einen Begriff eingeschmuggelt, der in keiner Weise zu den Grundeigenschaften eines rational Handelnden gehört, was aber der Fall sein muß, wenn die Beweisführung mit Erfolg abgeschlossen werden soll. (96)
Diese Kritik mag auf Gewirths Versuch zutreffen, aber sie ist gewiss nicht ausreichend, um die Frage zu beantworten, warum die Vorhaben zur Realisierung des kantischen Projektes scheitern mussten. Dafür wäre eine viel gründlichere Untersuchung von Kants Moralphilosophie selbst sowie den daran anknüpfenden Versuchen der Begründung der Moral auf die Vernunft, wie es beispielsweise in der Diskursethik als einem herausragenden Projekt dieser Art angestrebt wird, erforderlich.
Es mag hier aufschlussreich sein, einen kurzen Blick auf die Überlegungen von Ernst Tugendhat zu werfen, der in seinem eigenen Versuch einer Moralbegründung zwar an Kant anknüpft, aber eine »absolute Vernunftbegründung« als aussichtslos ablehnt und lediglich einen »Plausibilitätsanspruch« erhebt. Tugendhat macht in seinen Vorlesungen über Ethik im Hinblick auf die Vernunftbegründung der Moral im allgemeinen und Gewirths Ansatz im besonderen folgende erhellende Bemerkung als Schlussfolgerung aus seinen Überlegungen in den vorausgegangenen Vorlesungen:
Ich habe in der 2. Vorlesung die Auffassung vertreten, daß moralische Regeln sich nicht als Vernunftregeln verstehen lassen, und in der 4. und 5. Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß moralische Regeln sich nicht in einem absoluten Sinn begründen lassen und insbesondere nicht im Rekurs auf einen angeblichen absoluten Vernunftbegriff. In der vorigen Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß, so wertvoll die Idee des kategorischen Imperativs ist, Kants Versuch, ihn als Vernunftprinzip zu verstehen und ihm eine absolute Vernunftbegründung zu geben, als gescheitert angesehen werden muß. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, obwohl auf Grund meiner vorgängigen grundsätzlichen Bedenken unwahrscheinlich, daß sich die moralischen Regeln auf andere Weise als bei Kant als auf Vernunft begründet erweisen ließen.
Es gibt in der Gegenwart einige solcher Versuche. Einer ist der von A. Gewirth, der jedoch auf einem besonders leicht durchschaubaren Trugschluß aufgebaut ist und auf den sich angelsächsische Autoren, die den Vernunftansatz diskreditieren wollen, besonders gerne beziehen. Der interessanteste zeitgenössische Versuch einer absoluten Vernunftbegründung der Moral, der auch die größte Popularität gewonnen hat, ist jedoch der diskursethische. […] Die Diskursethik, besonders in der Form, die sie durch Apel und Habermas gewonnen hat, wird inzwischen überall auf der Welt diskutiert und verdient schon deswegen eine Erörterung.
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main, 1995, S. 161.
So treffend diese Bemerkung sein mag, so wenig kann hier der Ort dafür sein, diesen Andeutungen näher nachzugehen. Festzuhalten bleibt gleichwohl, dass alle Versuche einer Vernunftbegründung der Moral bislang zumindest in dem Sinne faktisch gescheitert sind, dass sie sich alle gegenseitig bekämpfen und keine Anhänger über den engsten Kreis ihrer jeweiligen Verfechter hinaus gefunden haben. Und dies gilt übrigens gleichermaßen für die Diskursethik in ihren verschiedenen Versionen. Diese Vorhaben sind und bleiben allesamt im besten Fall eben Projekte, ohne bereits berechtigten Anspruch auf eine erfolgreiche Durchführung erheben zu können. Dieser Zustand, der aus dem Scheitern nicht nur der kantischen, sondern auch der utilitaristischen Versuche resultiert, wird indes meist nicht eingestanden, woraus sich weitreichende Konsequenzen für die moderne Kultur ergeben.
MacIntyre beschreibt dieses Phänomen nachdrücklich:
Dennoch sprechen und schreiben fast alle, Philosophen wie Nichtphilosophen, weiterhin so, als hätte eines dieser Vorhaben Erfolg gehabt. Und daraus leitet sich eines der Merkmale des gegenwärtigen moralischen Diskurses ab, auf das ich zu Beginn hingewiesen habe, nämlich die Kluft zwischen der Bedeutung moralischer Ausdrücke und der Art ihres Gebrauchs. Denn die Bedeutung ist und bleibt so, wie sie verbürgt worden wäre, wenn wenigstens eines dieser philosophischen Vorhaben Erfolg gehabt hätte; aber der Gebrauch, der emotivistische Gebrauch, ist genau so wie er zu erwarten wäre, wenn diese philosophischen Vorhaben ausnahmslos gescheitert wären. (97)
Die gegenwärtige moralische Erfahrung hat daher einen paradoxen Charakter. Der moralisch Handelnde gilt einerseits als autonom und andererseits wird er in ästhetische oder bürokratische Praktiken im Rahmen manipulativer Sozialbeziehungen verstrickt. Der Handelnde versucht seine Autonomie zu wahren und sich Manipulationen zu entziehen, verfügt jedoch, wenn er andere von seinen Auffassungen und Präferenzen überzeugen will, mangels objektiver und rationaler Bezugspunkte über keine anderen als manipulative Mittel. Diese Unstimmigkeit zwischen moralischer Autonomie und systemischer Manipulation geht aus dem inkohärenten Begriffsschema hervor, das der modernen Moralphilosophie zugrunde liegt.
6.3.7.2 Rechte, Protest und Entlarvung
Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass in der modernen Moraldebatte drei Begriffe eine Schlüsselstellung einnehmen: Rechte, Protest und Entlarvung. Mit Rechten meint MacIntyre hier »nicht jene Rechte, die bestimmten Klassen von Menschen durch das positive Recht oder die Gewohnheit verliehen werden«, sondern »vielmehr jene Rechte, die als zum Menschen an sich gehörend gelten und die angeführt werden als ein Grund für die Meinung, daß man sich nicht in das Leben eines Menschen und sein Streben nach Freiheit und Glück einmischen sollte.« (97) Damit gemeint sind also die sogenannten Natur- und Menschenrechten, die weitgehend negativ bestimmt wurden, also als Rechte, in die nicht eingegriffen werden sollte. Heute ist zumeist von Menschenrechten die Rede, die allen Menschen gleichermaßen eignen und »eine Grundlage für eine Vielzahl individueller moralischer Haltungen« (98) bieten.
MacIntyre bestreitet indes die Existenz solcher Rechte mit folgendem Argument:
[…] alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, daß es solche Rechte gibt, sind gescheitert. (98; Hervorhebung im Original)
Die Verfechter der Naturrechte im 18. Jahrhundert betrachteten diese als selbstevidente Wahrheiten, manche Moralphilosophen im 20. Jahrhundert als Intuitionen. Da diese »Gründe« kaum mehr zu überzeugen vermögen, ist man gemeinhin dazu übergegangen, wie etwa in der UN-Menschenrechtserklärung von 1949, »keine guten Gründe mehr geltend« (99; Hervorhebung im Original) zu machen, also schlichtweg auf Begründung zu verzichten. MacIntyre erklärt derartige Rechte aufgrund ihrer Grundlosigkeit zu »Fiktionen – wie die Nützlichkeit -« (99), da der Begriff des Rechts, wie auch der Begriff der Nützlichkeit, lediglich vorgibt, einen eindeutigen Inhalt und objektive Kriterien zu liefern, ohne dies jedoch wirklich zu leisten. Schon daraus erwächst eine Kluft zwischen ihrer angeblichen Bedeutung und ihrem tatsächlichen Gebrauch.
Die aus dieser Paradoxie erwachsende politische Kultur des bürokratischen Individualismus ist daher von endlosen Debatten über unvereinbare Standpunkte gekennzeichnet, die aus dem Gegensatz zwischen »einem Individualismus, der seine Ansprüche auf Rechte gründet, und Formen bürokratischer Organisation, die ihre Ansprüche auf die Nützlichkeit gründen« (100), hervorgehen. Die moralische Sprache kann aufgrund der Unvereinbarkeit der jeweiligen Ansprüche in der modernen politischen Auseinandersetzung bestenfalls einen Anschein von Rationalität erwecken, der die Willkürlichkeit von Willen und Macht, die in ihrer angeblichen Lösung in Wirklichkeit zum Ausdruck kommt, lediglich verdeckt.
So wird »Protest zu einem besonderen moralischen Merkmal der modernen Zeit« und »Empörung eine überwiegend moderne Empfindung« (100; Hervorhebungen im Original). Der Protest ist vor allem ein »negatives Phänomen, das bezeichnenderweise als Reaktion auf den vermeintlichen Eingriff in die Rechte von jemandem im Namen der Nützlichkeit für jemand anderen auftritt.« (100; Hervorhebungen im Original)
MacIntyre führt dazu aus:
Zu der auf die eigenen Rechte pochenden Heftigkeit des Protests kommt es, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit nie eine Beweisführung gewinnen können; die empörte Selbstgerechtigkeit des Protests entsteht, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit ebenso nie eine Beweisführung verlieren können. (100; Hervorhebung im Original)
Die Unvereinbarkeit führt dazu, dass der Protest, da er »rational nichts bewirken« (100; Hervorhebung im Original) kann, sich nur als Werkzeug manipulativer Bestrebungen hinter der Maske der Moral zur Geltung bringen kann. Aus dieser Verquickung als Grundelement der modernen Kultur erklärt sich wiederum die zentrale Stellung der Entlarvung, die die uneingestandenen Motive des willkürlichen Willens und Wunsches hinter den moralischen Masken des manipulativen Umgangs enthüllt.
6.3.7.3 Expertentum der Manager und Bürokraten
Die drei Charaktere der emotivistischen Kultur, denen es an jeglicher rationalen und objektiven Grundlage für ihre moralischen Ansprüche gebricht, gebrauchen daher die Sprache der Moral dazu, um andere dahingehend zu manipulieren, sich ihren eigenen Auffassungen und Präferenzen anzuschließen. Sie handeln mit moralischen Fiktionen, nehmen sie in Kauf und können gar nicht anders.
Dies gilt gleichermaßen für den Ästheten, den Therapeuten und den Manager, die alle mehr oder weniger für Fiktionen anfällig sind. Der Manager unterscheidet sich allerdings in einer entscheidenden Hinsicht, denn zur Definition seiner Rolle gehört geradezu eine bestimmte Fiktion, wie MacIntyre erläutert:
Denn neben Recht und Nützlichkeit haben wir als eine der wichtigsten moralischen Fiktionen der Zeit die besondere Fiktion des Managers zu setzen, die in dem Anspruch zum Ausdruck kommt, systematische Effektivität bei der Überwachung bestimmter Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu besitzen. (104)
Es mag überraschend sein, Effektivität als moralischen Begriff zu verstehen. Aber gegen seine vermeintliche Wertneutralität spricht, dass er gar nicht von Formen des sozialen Lebens zu trennen ist, in denen
das Finden von Mitteln im wesentlichen aus der Manipulation menschlicher Wesen in vorgegebene Verhaltensmuster besteht; und durch die Berufung auf die eigene Effektivität beansprucht der Manager in dieser Hinsicht Autorität in der manipulativen Methode. (104)
Der Begriff der Effektivität dient zweifellos der Aufrechterhaltung der Autorität und Macht der Manager. Aber verfügen sie tatsächlich über die dafür nötigen Fertigkeiten und Kenntnisse? Ist Effektivität lediglich eine moralische Fiktion im Dienst einer Verschleierung sozialer Kontrolle? Könnte es sein, dass die Anwendung des Begriffs der Effektivität unerfüllbare Ansprüche auf Wissen voraussetzt? Gilt auch für Effektivität die emotivistische Analyse mit ihrer charakteristischen Unterscheidung von Bedeutung und Gebrauch?
MacIntyre bezeichnet die vermeintliche Eigenschaft der Effektivität als Expertentum, womit er keineswegs das Vorhandensein wirklicher Experten auf vielen Gebieten bestreiten will, und bemerkt dazu:
Ich stelle lediglich das Expertentum der Manager und Bürokraten in Frage. Und ich gelange letztlich zu dem Schluß, daß sich dieses Expertentum in der Tat als eine weitere moralische Fiktion erweist, weil die Art von Wissen, auf das es sich stützen müßte, nicht existiert. Aber wie würde es aussehen, wenn soziale Kontrolle tatsächlich eine Maskerade wäre? Betrachten wir die folgende Möglichkeit: Wir werden nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht unterdrückt […] die Schalthebel der Macht - eine Schlüsselmetapher für das Expertentum der Manager - erzielen Wirkungen, die ohne System und oft rein zufällig mit den Ergebnissen zusammenhängen, mit denen sich die Leute an diesen Schalthebeln brüsten. Wäre all das der Fall, wäre es natürlich sozial und politisch wichtig, diese Tatsache zu verschleiern, und die Anwendung des Begriffs der Effektivität des Managers, wie ihn die Manager und diejenigen, die über das Management schreiben, anwenden, wäre ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Verschleierung. (106)
Der Anspruch des Managers auf Effektivität muss also einer Überprüfung unterzogen werden. Sollte sich herausstellen, dass er jeglicher rationalen Grundlage entbehrt, wäre er als eine weitere moralische Fiktion enttarnt – »und vielleicht die kulturell mächtigste von allen« –, nämlich die »Hauptfigur des modernen sozialen Dramas« (107), der bürokratische Manager.
Um nun die Ansprüche des Managers, der sich auf moralische Neutralität und wissenschaftliche Objektivität beruft, einer Überprüfung zu unterziehen, müssen insbesondere zwei Fragen geklärt werden: Gibt es wirklich einen Bereich moralisch neutraler Fakten, in dem der Manager Experte sein soll? Und verfügt er tatsächlich über das nötige Wissen, über die gesetzesgleichen Verallgemeinerungen, mit denen sich die spezifischen Erklärungen und Voraussagen treffen lassen, die für die Gestaltung, Manipulation und Kontrolle der sozialen Umwelt erforderlich sind? Mit diesen beiden Fragen befassen sich nacheinander die nächsten zwei Kapitel.
6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt
6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt Yusuf KuhnIm nächsten Schritt untersucht MacIntyre daher den Begriff der Tatsache, dessen Entstehung eng mit dem Erscheinen nicht nur des Experten, sondern auch des autonomen moralischen Subjekts verknüpft ist. Das folgende Kapitel trägt demgemäß den Titel »Tatsache«, Erklärung und Expertentum.
Die Vorstellung von nackten Tatsachen, die sich einer vorurteilslosen Beobachtung oder Beschreibung darbieten, ist gewiss hartnäckig und langlebig, wird aber in den Reihen der Wissenschaftsphilosophen schon seit geraumer Zeit fast einmütig als Irrtum anerkannt. Es gibt keine theoriefreie Beobachtung. Und Tatsachen gehen der Theorie nicht einfach voraus, sondern setzen allerlei Grundannahmen theoretischer Natur voraus, wie MacIntyre in Anspielung auf Kants berühmte Aussage über das Verhältnis von Anschauung und Begriff in der Kritik der reinen Vernunft
Was ein Beobachter wahrzunehmen glaubt, ist gekennzeichnet und muß gekennzeichnet werden durch theoriebeladene Begriffe. Wahrnehmende ohne Begriffe sind, wie Kant sinngemäß sagte, blind. (111)
Folglich gibt es keine neutrale und unpersönliche Berufung auf objektive Fakten, auf die der Manager seinen Anspruch auf Effektivität stützen könnte. Jedes Expertentum, das sich auf Wissen und Erkenntnis von Fakten beruft, kann in diesem Sinne nie wirklich objektiv und neutral sein, da in seine Vorannahmen immer schon parteiliche Wertungen und Entscheidungen einfließen.
Im aristotelischen Denken wird menschliches Handeln immer im Lichte von »Zweckursachen« betrachtet. Für die Erklärung und das Verständnis menschlichen Handelns kann dabei auf solche Begriffe wie Überzeugung, Absicht, Grund und Zweck nicht verzichtet werden. Ebendieser Verzicht wird jedoch in den modernen Wissenschaften mit dem Ideal der rein mechanischen Erklärung auch in Bezug auf des menschliche Handeln versucht. In der mechanistischen Wissenschaft des menschlichen »Verhaltens« werden alle Bezüge auf Absichten und Zwecke eliminiert und das reiche Arsenal aristotelischer Ursachen auf eine einzige zulässige Art reduziert, nämlich die mechanische Wirkursache. Eine derart zurechtgestutzte Humanwissenschaft bedarf nun, wie alle anderen Naturwissenschaften des gleichen Schlages, allgemeiner Gesetze, um daraus Erklärungen und Voraussagen über menschliches Verhalten ableiten zu können.
MacIntyre erläutert:
Die Erklärung des Handelns wird immer häufiger als Aufgabe betrachtet, die physiologischen und physischen Mechanismen offenzulegen, die dem Handeln zugrunde liegen; und als Kant erkennt, daß eine tiefe Unvereinbarkeit besteht zwischen der Darstellung des Handelns, das die handlungsleitende Rolle des moralischen Imperativs anerkennt, und jeder derartigen mechanischen Erklärungsform, wird er zu dem Schluß gezwungen, daß Handlungen, die dem moralischen Imperativ folgen und ihn verkörpern, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unerklärbar und unverständlich sein müssen. Nach Kant wird die Frage der Beziehung zwischen Vorstellungen wie Absicht, Zweck, Grund des Handelns u.ä. einerseits und Begriffen, die die Vorstellung einer mechanischen Erklärung spezifizieren, andererseits Bestandteil des ständigen Repertoires der Philosophie. (115)
Aus diesem Gegensatz entwickelt sich die Aufteilung in verschiedene Bereiche des modernen Wissens, wie beispielsweise im Fächerkanon der Universität die Sonderstellung der Ethik und Moralphilosophie gegenüber den Human- und Sozialwissenschaften.
Das Paradigma für eine solche Wissenschaft des Menschen liefert die newtonsche Physik mit ihren vermeintlich universal gültigen Gesetzen für die ganze Natur. Das Projekt der Entwicklung einer mechanistischen Wissenschaft des menschlichen Verhaltens strebt somit nach der Entdeckung entsprechender Gesetze, nach »Unveränderlichkeiten, die durch gesetzesgleiche Verallgemeinerungen spezifiziert werden« (115).
Dieses Projekt einer Wissenschaft von der Gesellschaft nach dem Modell der newtonschen Physik ist freilich nie über den Status eines Projektes hinausgekommen, ohne auch nur ansatzweise einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Es hat sich, ganz im Gegenteil, vielmehr als haltloser Traum erwiesen. Der Traum ist deshalb gleichwohl keinesfalls ausgeträumt. Dass das Projekt nicht verwirklicht worden ist, hält viele Sozialwissenschaftler keineswegs davon ab, so zu tun, als sei ebendiese Verwirklichung geschehen.
Handelt es sich bei der von ihnen behaupteten Anwendung der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten indes wirklich um die Anwendung einer echten Technologie oder vielmehr um die theatralische Nachahmung einer solchen Technologie?
MacIntyre bemerkt dazu:
Die Antwort hängt davon ab, ob wir glauben, daß das mechanistische Programm in den Sozialwissenschaften tatsächlich vollständig verwirklicht wurde oder nicht. Und im 18. Jahrhundert blieb zumindest die Vorstellung einer mechanistischen Wissenschaft vom Menschen Programm und Prophezeiung. Aber Prophezeiungen werden auf diesem Gebiet unter Umständen nicht real verwirklicht, sondern in einer sozialen Ausführung umgesetzt, die sich als Verwirklichung ausgibt. (118)
Der Aufstieg des bürokratischen Managers, sowohl im staatlichen als auch im privatwirtschaftlichen Bereich, beruht auf zwei Säulen: der Behauptung von Objektivität und Wertneutralität einer Welt der Tatsachen – eine Vorstellung, die sich bereits als unhaltbar erwiesen hat – einerseits und dem Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt andererseits.
6.3.9 Soziale Physik
6.3.9 Soziale Physik Yusuf KuhnDer Frage, ob der Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt wirklich gerechtfertigt und eingelöst werden kann, geht MacIntyre im nächsten Kapitel mit dem Titel Das Wesen von Verallgemeinerungen in der Sozialwissenschaft und ihre mangelnde Fähigkeit zu Voraussagen nach, denn, so MacIntyre:
Was das Expertentum der Manager als Bestätigung braucht, ist eine begründete Konzeption von Sozialwissenschaft als Lieferant gesetzesgleicher Verallgemeinerungen mit ausgeprägter Fähigkeit zu Voraussagen. (123)
Von den Sozialwissenschaften lässt sich allerdings sicherlich behaupten, dass sie solcherlei Gesetze nicht entdeckt haben. Daraus folgt, dass die Sozialwissenschaften als Wissenschaften in diesem Sinne keineswegs bereits gerechtfertigt sind. Und dies gilt freilich auch für das Expertentum des Managers, der seine Autorität den Sozialwissenschaften entleiht.
Um dieses Problem näher zu untersuchen, beschreitet MacIntyre nun einen langen Gedankengang, dessen Nachvollzug wir hier entbehren können, da er für die moralphilosophischen Grundfragen, die uns hier vor allem interessieren, nicht von zentraler Bedeutung ist. Die Überlegungen zur Voraussagbarkeit und Unvoraussagbarkeit im menschlichen Handeln führen zur Einsicht in die systematische Unvoraussagbarkeit des sozialen Lebens. Das dafür erforderliche Wissen von kausalen Regelmäßigkeiten ist nicht zu erlangen. Denn der Bereich des Voraussagbaren im gesellschaftlichen Leben ist so stark beschränkt, dass dies nichts Entscheidendes gegen die alles durchdringende »Unvoraussagbarkeit im menschlichen Leben« (142) vermag.
Wenn weder die Ansprüche der Sozialwissenschaften durch die Angabe von gesetzesgleichen Verallgemeinerungen noch die die des bürokratischen Managers, der seine Autorität auf das Wissen und die Anwendung derselben gründet, bestätigt werden können, erweist sich der Begriff der Effektivität des Managers als »eine weitere zeitgenössische moralische Fiktion und vielleicht die wichtigste von allen.« (147) Der Vorherrschaft des Manipulativen in der emotivistischen Kultur steht also keineswegs ein großer Erfolg in der Manipulation gegenüber. Der Begriff der sozialen Kontrolle durch Experten, die mit den dafür erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgestattet sind, erweist sich als Maskerade.
MacIntyre führt dazu abschließend aus:
Der Glaube an das Expertentum des Managers ist also von meinem Standpunkt aus tatsächlich dem sehr ähnlich, was Carnap und Ayer für den Glauben an Gott hielten. Er ist eine weitere Illusion, und eine besonders moderne dazu, die Illusion einer Macht, die nicht wir selbst sind, und die den Anspruch erhebt, Gerechtigkeit zu bewirken. Der Manager als Charakter ist daher anders, als er auf den ersten Blick zu sein scheint: Die soziale Welt des alltäglichen, nüchternen, praktischen, pragmatischen, humorlosen Realismus, der die Umwelt der Manager darstellt, ist eine Welt, die um ihrer stützenden
Besser wäre wohl »andauernden« oder »dauerhaften« für »sustained« im englischen Original (After Virtue, S. 107). Existenz willen vom systematischen Fortbestehen von Mißverständnissen und vom Glauben an Fiktionen abhängt. Der Warenfetischismus ist ergänzt worden durch einen anderen, ebenso bedeutenden Fetischismus, den der bürokratischen Fähigkeiten. Denn aus meinem gesamten Argument folgt, daß der Bereich des Expertentums des Managers ein Bereich ist, in dem angeblich objektiv begründete Ansprüche in Wirklichkeit Ausdruck von willkürlichem, aber verborgenem Willen und von Präferenzen sind. […] Die Prophezeiungen des 18. Jahrhunderts haben bewirkt, daß nicht wissenschaftlich gelenkte soziale Kontrolle entstand, sondern eine geschickte dramatische Nachahmung einer solchen Kontrolle. Es ist der theatralische Erfolg, der in unserer Zivilisation Macht und Autorität verschafft. Der effektivste Bürokrat ist der beste Schauspieler. (147-148)
Das Ergebnis der negativen Seite der Kritik MacIntyres kulminiert somit in der Erkenntnis, dass die moderne Moral »in beunruhigendem Ausmaß als Theater der Illusionen entlarvt« (107) wird. Die Einsicht, dass der moralische Diskurs zu einer Maske für Wille und Macht geworden ist, hat aufgrund des sukzessiven Scheiterns aller Versuche, der Moral eine objektive Grundlage zu verleihen, und dem daraus resultierenden Aufstieg subjektivistischer Theorien wie dem Emotivismus immer stärkere Verbreitung gefunden.
Die Normen der moralischen Tradition haben zwar ihre einstmalige objektive Geltung und Autorität, die sie aus dem teleologischen Bezug auf das Gute sowie aus ihrer Abkunft aus göttlichen Geboten bezogen, eingebüßt, werden aber im modernen anti-teleologischen und säkularisierten Kontext weiter benutzt, als verfügten sie weiterhin über objektive Autorität. Dieser Gebrauch erfolgt in mehr oder weniger bewusst manipulativer Weise, um anderen den eigenen Willen im Dienste bestimmter Interessen aufzuzwingen.
MacIntyre stellt dazu pointiert fest:
Wenn die moralische Äußerung im Dienste eines willkürlichen Willens genutzt wird, ist das der willkürliche Wille von irgendjemandem; und die Frage, wessen Wille es ist, ist offensichtlich von moralischer wie politischer Bedeutung. Doch diese Frage zu beantworten, ist hier nicht meine Aufgabe. Um meine gegenwärtige Aufgabe zu erfüllen, muß ich lediglich zeigen, wie die Moral einer bestimmten Art von Gebrauch zugänglich geworden ist und daß sie so gebraucht wird. (150-151; Hervorhebung im Original)
Und eben dies hat MacIntyre in der Tat gezeigt. Die emotivistische Kultur ist eine Kultur der Manipulation, in der die Sprache der Moral weithin zu einem Werkzeug im manipulativen Maskenspiel von Willen und Interessen herabgesunken ist. Das hat wohl niemand früher und deutlicher erkannt als Nietzsche. Und diese Einsicht erhebt Nietzsches Moralphilosophie in den Rang »einer der zwei echten theoretischen Alternativen [...], die sich jedem anbieten, der den moralischen Zustand unserer Kultur zu analysieren versucht« (151).
6.3.10 Nietzsche oder Aristoteles?
6.3.10 Nietzsche oder Aristoteles? Yusuf KuhnDie genannten zwei Alternativen sieht MacIntyre einerseits im rationalen Objektivismus der klassischen Tradition, die auf Aristoteles zurückgeht, und andererseits im irrationalen Subjektivismus des Willens zur Macht, in dem Nietzsche die wahre Grundlage der entlarvten Moral erkennt. Das zentrale neunte Kapitel, in dem MacIntyres negative Kritik den Zenit erreicht, trägt daher die Frage nach der Alternative im Titel: Nietzsche oder Aristoteles?
Es mag erhellend sein, die eingangs bereits angeführte Formulierung von MacIntyres These im Lichte des bislang Dargestellten nochmals zu bedenken:
Ein zentraler Teil meiner These war, daß die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und daß die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist. Falls der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts ist, das der Metaphysik der Moderne ziemlich fremd ist, und falls ihr teleologischer Charakter in ähnlicher Weise der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen ist, die in der modernen Welt ebensowenig zu Hause ist, sollten wir damit rechnen, daß die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig faßbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzugänglicher werden. (151)
6.3.10.1 Anthropologischer Blick
Um dieser These weiter nachzuspüren und den Blick zu schärfen, nimmt MacIntyre die Sichtweise des Anthropologen zu Hilfe, die befähigt, Kulturen von außen zu beobachten sowie Überreste und Unverständliches zu identifizieren, die von innen nicht erfasst werden können. Dies führt ihn zum Vergleich der modernen Moral mit den Taburegeln auf Inseln im Pazifik, denen Kapitän Cook auf seiner dritten Reise (1776–79) begegnete.
Das polynesische Wort tabu bezeichnete eine Reihe von Verboten und Regeln, die ursprünglich im Kontext von Hintergrundüberzeugungen verstanden wurden, die ihrerseits jedoch nicht nur aufgegeben, sondern vergessen worden sind. Durch den Verlust ihres ursprünglichen Kontextes erscheinen die Taburegeln als willkürliche Verbote, für die keine Gründe mehr angegeben werden können. Das Wort tabu wird damit zunehmend unverständlich. Dafür spricht jedenfalls auch die Tatsache, dass die Abschaffung dieser Tabus durch König Kamehameha II. im Jahr 1819 ohne soziale Folgen blieb.
MacIntyre schildert, das gleichnishafte Geschehen verallgemeinernd, die Folgen:
In einer solchen Situation fehlt den Regeln der Status, der ihre Autorität sichern kann, und wenn sie nicht schnell einen neuen Status erhalten, werden ihre Auslegung und ihre Rechtfertigung fraglich. Wenn die Mittel einer Kultur nicht ausreichen, die Aufgabe einer Neuauslegung zu lösen, wird die Aufgabe der Rechtfertigung unlösbar. (153)
Daran hätten auch imaginäre analytische Philosophen auf Pazifikinseln nichts ändern können. Denn sie wären bei der Analyse der Bedeutung des Wortes tabu aufgrund des Verlustes des sinnstiftenden Kontextes zu keinen anderen Ergebnissen gekommen als ihre modernen Gegenstücke bei der Analyse der moralischen Ausdrücke der modernen Sprache.
MacIntyre benennt den Grund dafür:
Die Sinnlosigkeit dieser imaginären Debatte ergibt sich aus der gemeinsamen Voraussetzung der streitenden Parteien, nämlich daß das Regelwerk, dessen Status und Rechtfertigung sie untersuchen, einen adäquat abgegrenzten Forschungsgegenstand und das Material für ein autonomes Forschungsgebiet liefert. Wir erkennen von unserem Standpunkt in der wirklichen Welt aus, daß dies nicht der Fall ist, daß das Wesen der Taburegeln ausschließlich als Überrest eines früheren, weiterentwickelten kulturellen Hintergrundes zu verstehen ist. (153)
Die Taburegeln wie auch die Regeln der modernen Moral müssen ohne Bezug auf ihre Geschichte unverständlich bleiben. Die analytischen Moralphilosophen haben dies nicht verstanden, im Gegensatz zu Nietzsche.
Und daher wirft MacIntyre die Frage auf:
Und warum sollten wir uns Nietzsche nicht als den Kamehameha II. der europäischen Tradition vorstellen? Denn es war Nietzsches historische Leistung, besser als jeder andere Philosoph - ganz bestimmt besser als seine Ebenbilder im angelsächsischen Emotivismus und Existentialismus des europäischen Festlands - nicht nur zu verstehen, daß die angebliche Berufung auf Objektivität in Wirklichkeit Ausdruck des subjektiven Willens war, sondern auch das Wesen der Probleme zu verstehen, die daraus für die Moralphilosophie entstanden. (154)
6.3.10.2 Nietzsches Entlarvung der Moral
Nietzsche schießt dabei freilich über das Ziel hinaus, indem er seine Analyse der modernen Moral auf Moral überhaupt ausdehnt. Denn er meint, nicht nur die moderne, sondern jede Moral schlechthin als bloße Maske des Willens zur Macht entlarven zu können. Auf dieser Grundlage stellt sich Nietzsche indes wie kein zweiter dem Problem, das sich aus der Zerstörung der Moral für die Moralphilosophie ergibt, nämlich dem Problem der radikalen Schöpfung einer neuen Moral.
MacIntyre beschreibt Nietzsches Kritik prägnant:
Der grundlegende Aufbau seines Arguments ist folgender: wenn die Moral nur aus Äußerungen des Willens besteht, dann kann meine Moral nur das sein, was mein Wille schafft. Es kann keinen Platz für Fiktionen wie Naturrechte, Nützlichkeit oder das größte Glück für die größte Zahl geben. Ich selbst muß jetzt die »Schöpfung neuer eigener Gütertafeln« vornehmen. (155)
MacIntyre bezieht sich dabei auf einen Aphorismus aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, in dem zunächst die Versuche einer Gründung der Moral auf das Gewissen und auf den kategorischen Imperativ, die Universalisierbarkeit im Stile Kants höhnisch widerlegt werden. Aber nicht nur das Projekt einer rationalen Rechtfertigung der Moral, sondern auch der Glaube, die moderne Moral und ihre Sprache seien in guter Verfassung und tragfähig, erntet mit dem Verweis auf die Entstehung moralischer Urteile aus Eigensinn und Selbstsucht nichts als Spott und Hohn. Über diese radikale Ablehnung einer entlarvten Moral der Vergangenheit kommt Nietzsche sodann zu seinem eigenen Projekt der Neuschöpfung einer überlegenen und ehrlichen Moral, die ihre eigene Herkunft aus dem Willen zur Macht nicht vor sich selbst verbergen muss.
Nietzsche schreibt in Die fröhliche Wissenschaft im Aphorismus Nr. 335:
Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: — über den »moralischen Werth unserer Handlungen« aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, — den Vielen also, den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!
Friedrich Nietzsche, Morgenröte - Idyllen aus Messina - Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3, München, 1999, S. 563; Hervorhebungen im Original. MacIntyre zitiert nur den letzten Satz dieser Stelle.
Nietzsche radikalisiert die Vorstellung des autonomen moralischen Subjekts, dessen vernünftige Gestalt er als Täuschung, als Fiktion enthüllt, indem er an die Stelle der Vernunft den Willen zur Selbstermächtigung setzt. Aus diesem heroischen Willensakt geht das wahrhaft autonome Subjekt hervor, das, indem es sich selbst schafft, sich ein neues moralisches Gesetz geben muss.
MacIntyre merkt zu dieser Konzeption einer radikal neuen Moralphilosophie an:
Die Schwierigkeit ist dann, wie auf völlig ursprüngliche Weise eine neue Gütertafel und ein Gesetz geschaffen, erfunden werden soll, eine Schwierigkeit, die sich für jeden einzelnen erhebt. Dieses Problem wäre der Kern einer Moralphilosophie Nietzsches. Denn Nietzsches Größe liegt in seiner rückhaltlos ernsten Beschäftigung mit dem Problem, nicht in seinen leichtfertigen Lösungen, eine Größe, die ihn zu dem Moralphilosophen machen würde, wenn es sich erweist, daß die einzigen Alternativen zu Nietzsches Moralphilosophie die von den Philosophen der Aufklärung und ihren Nachfolgern formulierten sind. (155; Hervorhebungen im Original)
MacIntyre sieht zudem einen weiteren Grund für Nietzsches Größe darin, dass das weberianische Denken, das in der Kultur des bürokratischen Individualismus vorherrschend ist, ebenfalls die zentrale These Nietzsches voraussetzt. Auch daher verdient Nietzsche die Bezeichnung als »der Moralphilosoph der Gegenwart« (155; Hervorhebung im Original).
MacIntyre führt dazu aus:
Nietzsches prophetischer Irrationalismus - Irrationalismus, weil Nietzsches Probleme ungelöst bleiben und seine Lösungen sich der Vernunft widersetzen - bleibt daher den weberianischen, managerhaften Formen unserer Kultur immanent. Wann immer diejenigen, die in die bürokratische Kultur der Zeit verstrickt sind, den Versuch unternehmen, sich gedanklich einen Weg zu den moralischen Fundamenten dessen zu bahnen, was sie sind und was sie tun, werden sie unterdrückte Prämissen Nietzsches entdecken. Und folglich kann man mit gutem Gewissen voraussagen, daß im anscheinend davon völlig unterschiedlichen Kontext der bürokratisch gemanagten modernen Gesellschaften periodisch soziale Bewegungen wiederkehren werden, die gerade von jenem prophetischen Irrationalismus durchdrungen sind, dessen Stammvater das Denken Nietzsches ist. Gerade weil und insofern als der zeitgenössische Marxismus tatsächlich in seinem Wesen weberianisch ist, können wir mit prophetischem Irrationalismus der Linken wie der Rechten rechnen. (155-156)
6.3.10.3 War es richtig, Aristoteles zu verwerfen?
Nietzsches zentrale These erstreckt sich freilich nicht nur auf die moderne Moral, sondern auf jegliche Moral, die schlechthin als Maske des Willens zur Macht entlarvt wird. Dies gilt somit auch für die aristotelische Ethik. Gibt es eine Moralphilosophie, die Nietzsches Kritik widersteht, so ist seine These widerlegt. Und unter der Voraussetzung, dass es keine weitere Alternative gibt, gilt auch die Umkehrung. So kann MacIntyre feststellen:
Aber es ist natürlich nicht [nur]
In der deutschen Ausgabe fehlt »nur«, das hier in eckigen Klammern eingefügt ist. Durch diese Auslassung wird allerdings der Sinn ins Gegenteil verkehrt. Im englischen Original lautet der Satz: »Yet it is not of course just that Nietzsche's moral philosophy is false if Aristode's is true and vice versa.« (After Virtue, S. 117) so, daß Nietzsches Moralphilosophie falsch ist, wenn die von Aristoteles richtig ist und umgekehrt. (159)
Denn die Beziehung der beiden Moralphilosophien beschränkt sich nicht nur auf diesen Gegensatz, sondern »in einem viel stärkeren Sinn«
Da die aristotelische Ethik schon aus dem Weg geräumt war, konnte diese Kritik einen Erfolg gegen die gesamte frühere Ethik verbuchen. Doch war dies lediglich ein Scheinerfolg? Denn obgleich die Kritik an der modernen Moralbegründung berechtigt sein mag, so bleibt doch die Frage, ob auch alle früheren Formen und insbesondere die aristotelische Ethik wirklich widerlegt oder bloß verworfen wurden.
MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:
Ob die Position Nietzsches zu verteidigen ist, führt also letzten Endes zu der Antwort auf die Frage: war es überhaupt richtig, Aristoteles zu verwerfen? Denn wenn die Position von Aristoteles in der Ethik und der Politik - oder etwas sehr Ähnliches - aufrechterhalten werden könnte, wäre das gesamte Unternehmen Nietzsches sinnlos. Das liegt daran, daß die Stärke der Position Nietzsches von der Richtigkeit einer einzigen zentralen These abhängt: daß alle rationalen Rechtfertigungen der Ethik offenkundig scheitern, und daß deshalb der Glaube an die Dogmen der Ethik als ein Komplex von Rationalisierungen erklärt werden muß, welche die im Grunde nicht-rationalen Phänomene des Willens verbergen. Meine eigene Beweisführung zwingt mich, mit Nietzsche darin übereinzustimmen, daß es den Philosophen der Aufklärung nie gelang, Gründe zu liefern, seine zentrale These anzuzweifeln; seine Epigramme sind noch vernichtender als seine ausführlich vorgetragenen Gedanken. Aber falls mein früheres Argument richtig ist, war dieses Scheitern selbst nichts anderes als eine historische Folge der Zurückweisung der aristotelischen Tradition. Und so wird es tatsächlich zur Schlüsselfrage, ob die Ethik des Aristoteles oder etwas ihr sehr Ähnliches überhaupt verteidigt werden kann. (159-160)
MacIntyre schickt sich daher an, ebendiese Frage nach der Möglichkeit der Verteidigung der aristotelischen Tradition der Moralphilosophie zu beantworten. Er geht dabei davon aus, dass die aristotelische Ethik »philosophisch die stärkste prämoderne Form moralischen Denkens« (160; Hervorhebung im Original) repräsentiert.
Der Aristotelismus hat sich schließlich wie keine andere Lehre in vielen sehr unterschiedlichen Kontexten wie dem griechischen, islamischen, jüdischen und christlichen behauptet und bewährt.
Die Verbindung von philosophischer und historischer Argumentation zeigt damit, daß man entweder den Bestrebungen und dem Zusammenbruch der verschiedenen Versionen des Vorhabens der Aufklärung folgen, bis nur noch Diagnose und Problematik Nietzsches übrigbleiben, oder die Meinung vertreten muß, daß das Aufklärungsvorhaben nicht nur in die Irre ging, sondern überhaupt nicht hätte in Angriff genommen werden sollen. Eine dritte Alternative gibt es nicht, und vor allem jene Denker im Mittelpunkt des gegenwärtigen, konventionellen Lehrplans der Moralphilosophie bieten keine Alternative, Hume, Kant und Mill. (160-161; Hervorhebungen im Original)
Aber, so lässt sich fragen, gibt es wirklich keine dritte Alternative? Ist diese Beschränkung nicht vielmehr einer Verengung des philosophischen wie historischen Blicks MacIntyres geschuldet? MacIntyre selbst wird später zu einer anderen Alternative gelangen, indem er die thomistische Moralphilosophie, die ihrerseits auf dem Aristotelismus aufbaut, als Ausweg vorschlägt. Darin spiegelt sich bereits eine deutliche Erweiterung des Horizonts, obgleich der Thomismus als Verbindung aus Aristotelismus und Christentum als Teil der klassischen Tradition verstanden werden kann.
Jedenfalls bietet MacIntyre hier kein Argument für die Beschränkung auf diese zwei Alternativen. Warum sollte es keine weitere Alternative neben Nietzsche und Aristoteles geben? Im europäischen Denken selbst, das MacIntyre hier freilich einzig in den Blick zu nehmen vermag, oder auch im außereuropäischen Denken? Könnte es keine konfuzianische, buddhistische oder islamische Alternative geben? Gar eine, in deren Licht der vermeintlich alternativlose Gegensatz von Nietzsche und Aristoteles sich ganz anders darstellt und womöglich sogar überwunden werden kann? MacIntyre hat hier zu diesen Fragen nichts zu sagen. Sie müssen also vorerst offen bleiben und verdienen späterhin allerdings eine gründliche Untersuchung.
6.4 Tugenden und das gute Leben
6.4 Tugenden und das gute Leben Yusuf KuhnMit MacIntyres Wahl der aristotelischen Tradition geht freilich eine Reihe von Grundentscheidungen einher. Es ist daher nur konsequent, wenn MacIntyre mit der klassischen Frage nach dem guten Leben einsetzt, die er folgendermaßen einführt:
Was für ein Mensch soll ich werden? Das ist insofern eine unvermeidliche Frage, als eine Antwort darauf tatsächlich in jedem Menschenleben gegeben wird. (161; Hervorhebung im Original)
In der modernen Moral steht hingegen eine andere Frage im Zentrum, nämlich die Frage, welche Regeln und warum sie befolgt werden sollen. Durch die Verdrängung der Zecke werden Regeln zum wichtigsten Begriff der Moral. Für den modernen Liberalismus gilt bezeichnenderweise die Frage nach Sinn und Zweck des menschlichen Lebens, nach dem guten Leben als rational unentscheidbar und unlösbar. Sie wird daher der subjektiven Wahl und Willkür anheimgestellt. Wenn Tugend und Charakter somit ihren Bezug zum guten Leben verlieren, kommt ihnen keine weitere Funktion mehr zu, als zum Befolgen der richtigen Regeln anzuhalten. In der modernen Moral kommt den Tugenden daher eine von Regeln und Prinzipien lediglich abgeleitete Rolle zu.
Dieses Verhältnis möchte MacIntyre im Geiste der aristotelischen Tradition umkehren. Nicht die Regeln, sondern die Tugenden sollen an erster Stelle stehen, um die Funktionen und die Autorität der Regeln allererst darauf zu begründen. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Rechtfertigung des Tugendbegriffs nicht nur durch den Rückgang auf Aristoteles selbst, sondern auf seine gesamte Geschichte. MacIntyre macht sich mithin daran, »eine kurze Geschichte der Vorstellungen der Tugenden zu schreiben« (162). Das ist die positive oder konstruktive Seite von MacIntyres Moralkritik, der die zweite Hälfte von After Virtue gewidmet ist.
Die Wiederherstellung des aristotelischen Verständnisses des menschlichen Handelns und der Tugenden bringt die Wiedereinführung der Teleologie in die Ethik mit sich. Als zentrale Herausforderung erweist sich daher die Entwicklung einer moralischen Teleologie, die sich nicht länger einfach auf die metaphysischen Voraussetzungen des aristotelischen Denkens stützen kann, sondern an lebendige Erfahrungen anknüpfen muss, um den Problemen des gegenwärtigen Denkens gewachsen sein zu können. Ganz ohne metaphysische Annahmen wird dabei indes die Suche nach dem guten Leben, ja nach dem Guten überhaupt nicht auskommen können. Es ist hier nicht der Ort, um MacIntyre eingehend auf diesem Weg zu folgen. Daher soll es hier genügen, die kurze Zusammenfassung, die MacIntyre selbst von der zweiten Hälfte von After Virtue in Gestalt der fünften These in The Claims of After Virtue
Kapitel 10 bis 14 von After Virtue liefern eine interpretative Geschichte der sich wandelnden Konzeptionen der Tugenden von der archaischen griechischen Gesellschaft, wie sie in den homerischen Dichtungen dargestellt wird, bis ins europäische Mittelalter. Die Geschichte ist dazu bestimmt, sowohl eine Herausforderung für Nietzsches genealogische Betrachtungsweise zu bieten wie auch das Material zur Identifizierung eines Kernkonzeptes der Tugenden, eine Identifikation, die eine Herangehensweise in Begriffen von drei unterschiedenen Stadien in der Ausarbeitung einer angemessenen Konzeption der Tugenden erfordert. Die Tugenden gehören zuerst zu all jenen Qualitäten, ohne die menschliche Wesen die Güter, die Praktiken inhärent sind, nicht erreichen können. Mit einer »Praktik« meine ich »jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind, mit dem Ergebnis, daß menschliche Kräfte zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen der involvierten Ziele und Güter systematisch erweitert werden.« (251-252) Solche Arten von Tätigkeiten wie Ackerbau und Fischen, das Betreiben von Wissenschaften und Künsten sowie das Spielen von Spielen wie Fußball und Schach sind Praktiken. Politik, wie Aristoteles sie verstanden hat und wie sie manchmal im institutionellen Leben in den antiken und mittelalterlichen Welten verkörpert war, war eine Praktik. Moderne Politik ist es nicht.
Diese Charakterisierung der Tugenden in Begriffen von Praktiken ist notwendig, aber nicht hinreichend für eine adäquate Spezifikation. Tugenden müssen auch als Qualitäten verstanden werden, die zur Erlangung der Güter erfordert sind, die menschliche Leben mit ihrem telos versorgen. Und ich argumentiere, dass die einigende Form eines individuellen menschlichen Lebens, ohne die solche Leben kein telos haben könnten, sich davon ableitet, dass es eine gewisse Art von narrativer Struktur besitzt. Individuelle menschliche Leben sind allerdings nur fähig, die Strukturen zu haben, die sie haben, weil sie in soziale Traditionen eingebettet sind. Und das dritte Stadium bei der Spezifizierung der Natur der Tugenden ist dasjenige, das erklärt, weshalb sie auch als Qualitäten verstanden werden müssen, die erfordert sind, um die andauernden sozialen Traditionen in guter Ordnung zu bewahren.
Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, S. 5-6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 71-72.
Die in diesen wenigen Sätzen angedeutete These ist so voraussetzungsreich, komplex und inhaltsschwer, dass sie sich einer kurzen Zusammenfassung kaum erschließt. Es seien gleichwohl einige erläuternde Bemerkungen in aller Kürze angefügt.
MacIntyre zeichnet ein Bild der für moralisches Denken und Handeln notwendigen Voraussetzungen. Eine Tugend im Sinne der aristotelischen Tradition ist zugleich ein Mittel für ein gutes Leben wie auch ein Bestandteil eines guten Lebens. Das Verhältnis von Tugenden und menschlichem Leben wird mit dem Begriff der Praktik verdeutlicht, einer »kooperativen menschlichen Tätigkeit«, die interne Güter birgt. Ein internes Gut kann durch die Beschreibung der Praktik bestimmt werden. Wer die Praktik ausführt, macht sich mit dem internen Gut vertraut und vermag es immer deutlicher zu erkennen. Freilich können damit auch externe Güter, wie in vielen Fällen beispielsweise Macht und Reichtum, verfolgt werden. Externe Güter können auch unabhängig von einer bestimmten Praxis bestehen und erstrebt werden, im Gegensatz zu internen Gütern, die immer mit einer bestimmten Praktik verbunden sind.
Tugenden können nun dadurch bestimmt werden, dass sie Eigenschaften und Befähigungen darstellen, mit denen die internen Güter einer bestimmten Praktik erlangt werden können. Zur Erlangung von Tüchtigkeit in einer Praktik, die zugleich zu deren Aufrechterhaltung beiträgt, ist indes mehr als nur individuelle, sondern auch soziale Vortrefflichkeit erfordert, die sich in Tugenden im Umgang miteinander wie Ehrlichkeit, Gemeinsinn und Gerechtigkeit manifestiert.
Auf Praktiken bezogene Tugenden können freilich in moralischer Hinsicht neutral oder unerheblich sein. Um sie auf ihre moralische Bedeutsamkeit hin zu untersuchen, bezieht MacIntyre sie auf einen zentralen Begriff der aristotelischen Ethik: das gute Leben. Darin findet das menschliche Leben seine Einheit, so dass nicht nur von Gütern im Plural die Rede sein kann, sondern von dem guten Leben als übergeordnetem Gut. Um so verstanden werden zu können, muss das menschliche Leben über eine Einheit wie eine Erzählung verfügen, verstehbar sein und im Lichte von Verantwortlichkeit betrachtet werden können.
Damit menschliches Handeln aus der Innensicht des Handelnden wie auch aus der Außenperspektive verstehbar ist, muss es im Kontext einer Erzählung verstanden werden. Diese narrative Einheit kann indes dem Leben nicht lediglich nachträglich verliehen werden, sondern muss dieses selbst tragen, also erstrebt und gelebt werden.
So sagt MacIntyre:
Die Einheit eines menschlichen Lebens ist die Einheit einer narrativen Suche. (292)
Die Suche nach dem Sinn des Lebens verlangt mithin, sich zwischen verschiedenen Praktiken auf der Suche nach einem verständlichen und stimmigen Ganzen zu entscheiden. Dieses Streben kann sich freilich nicht darauf beschränken, die gesellschaftlich und historisch vorgegebenen Praktiken samt der darin enthaltenen Tugenden zu übernehmen, sondern muss sich vielmehr nach einer Vorstellung des guten Lebens als Ganzem richten.
MacIntyre legt dar:
Die Tugenden müssen daher als die Dispositionen verstanden werden, die nicht nur die Praxis aufrechterhalten und uns befähigen, die der Praxis inhärenten Güter zu erlangen, sondern die uns auch bei der relevanten Art von Suche nach dem Gut unterstützen, indem sie uns in die Lage versetzen, die Leiden, Gefahren, Versuchungen und Ablenkungen zu überwinden, denen wir begegnen, und die uns mit wachsender Selbsterkenntnis und wachsendem Wissen über das Gute ausstatten. (293)
Diese Vorstellung von Tugenden macht zudem nur Sinn in einem bestimmten Kontext, der gleichermaßen soziale wie gedankliche Voraussetzungen erfüllt. Tugenden bedürfen bestimmter Ideen wie auch Praktiken. Sie sind untrennbar miteinander verwoben. Güter und Tugenden sind auf einen Kontext von sozial etablierten Praktiken und Handlungsweisen angewiesen. Geht der soziale Kontext verloren, drohen auch die damit verwobenen Praktiken samt der in sie eingebetteten Güter und Tugenden ihren Sinn zu verlieren.
Offensichtlich wären zur Erläuterung und Ausarbeitung dieses Ansatzes einer Tugendethik umfangreiche Darlegungen erforderlich. MacIntyre hat, zum Teil auf Kritik reagierend, über die Jahre hinweg bis heute diesen Ansatz stetig weiterentwickelt. Es ist hier indes nicht der Ort, um darauf näher einzugehen. Daher muss dieser äußerst kurze Einblick genügen, der doch zumindest eine kleine Idee dieses groß angelegten Vorhabens zu vermitteln vermag, das gleichwohl eine ausführliche Auseinandersetzung verdient, die einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muss.
6.5 Nietzsches großer Mensch ganz klein
6.5 Nietzsches großer Mensch ganz klein Yusuf KuhnMacIntyre kommt nach der Darstellung einiger Elemente seiner Tugendethik im letzten Kapitel von After Virtue mit dem Titel Nach der Tugend: Nietzsche oder Aristoteles, Trotzki und der heilige Benedikt wieder auf die zentrale Alternative zurück und stellt ihr zugleich eine neue Verbindung entgegen, die einen Ausweg aus der moralischen Misere aufscheinen lässt.
Durch die Abkehr von der aristotelischen Tradition und das Scheitern aller modernen Versuche einer rationalen Rechtfertigung der Moral hat die moralische Sprache ihren sinnstiftenden Kontext verloren, so dass sie in inkohärente Bruchstücke zersplittert ist: Nach der Tugend!
Keiner hat dies deutlicher erkannt und eindringlicher dargelegt als Nietzsche, der nicht nur die Zeit nach der Tugend, sondern nach der Moral überhaupt ausruft und den Sprung in den prophetischen Irrationalismus des Willens zur Macht als ehrliche Konsequenz aus der Entlarvung jeglicher Moral als verschleierten Willen zur Macht preist.
MacIntyre bemerkt:
Folglich besaß Nietzsches negatives Vorhaben, die Strukturen der ererbten moralischen Überzeugung und Beweisführung dem Erdboden gleichzumachen, ob wir uns nun auf die alltägliche moralische Überzeugung und Beweisführung beziehen oder statt dessen die Konstruktionen der Moralphilosophen betrachten, trotz seiner Ausweglosigkeit und Grandiosität eine gewisse Plausibilität - selbstverständlich nur, wenn sich die ursprüngliche Ablehnung der moralischen Tradition, in deren Mittelpunkt die aristotelische Lehre über die Tugenden steht, nicht als Mißverständnis und Irrtum erwies. Wenn diese Tradition nicht rational verteidigt werden könnte, bekäme Nietzsches Haltung eine furchtbare Plausibilität. (341)
Umgekehrt heißt das: Wenn eine moralische Tradition auf vernünftige Weise gerechtfertigt und bestätigt werden kann, wäre Nietzsches zentrale These von der Entlarvung aller Moral zurückgewiesen. Für MacIntyre gibt es in After Virtue freilich nur eine Alternative zu den gescheiterten modernen Versuchen einer Moralbegründung, nämlich die aristotelische Tradition. Daher beschränkt sich für ihn die entscheidende Alternative auf Aristoteles und Nietzsche. Dass dem nicht so sein muss, haben wir bereits angemerkt. Daran sei erinnert, ohne es hier weiter zum Thema zu machen. Es wird alsbald darauf zurückzukommen sein.
Für MacIntyre geht es in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche jedenfalls darum, die aristotelische Tradition als rational gerechtfertigt zu erweisen. Und er meint, genau dies in seiner Darlegung der Tugendethik, insbesondere in den Kapiteln 14 und 15 von After Virtue, geleistet zu haben. Gelingt dies tatsächlich, so ist Nietzsche gescheitert.
Aber MacIntyre geht noch einen Schritt weiter, indem er zunächst feststellt, dass Nietzsches Kritik der modernen Ethik, in der Regeln im Mittelpunkt stehen, sich nicht notwendig auf die aristotelische Tradition, in der wiederum Tugenden von zentraler Bedeutung sind, erstreckt, um dann zu fortzufahren:
Es ist eines meiner wichtigsten Argumente, daß die nietzscheanische Polemik gegen diese Tradition völlig erfolglos ist.
Eigene Übersetzung; die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch hier wieder ungenau, denn sie lautet: »[…] daß die Polemik Nietzsches gegen diese Tradition wirkungslos ist.« (160) Im englischen Original heißt es hingegen: »It is one of my most important contentions that against that tradition the Nietzschean polemic is completely unsuccessful.« (After Virtue, S. 257) [...] Nietzsche hat Erfolg, wenn all diejenigen, die er als Gegner annimmt, scheitern. Andere haben vielleicht Erfolg aufgrund der rationalen Kraft ihrer positiven Argumente; aber falls Nietzsche gewinnt, gewinnt er durch einen Mangel.
Er gewinnt nicht. (342-343)
Nietzsche gewinnt nicht, nicht nur, weil es eine rationale Rechtfertigung einer Tradition gibt, sondern zudem, weil diese rationale Rechtfertigung »so nicht widerlegt werden kann« (343; Hervorhebung von mir). Warum? Kurz gesagt: Weil Nietzsches Moralphilosophie auf dem Begriff des Übermenschen basiert, der sich als moralische Fiktion erweist; denn der Übermensch ist verurteilt zu dem »moralischen Solipsismus, der Größe im Sinne Nietzsches ausmacht« (344) und aus dem, allemal im Lichte von MacIntyres Entwurf einer Tugendethik, sich keine Moral herausspinnen lässt. Der Übermensch, der eines sozialen Kontextes aus Beziehungen und Praktiken ermangelt, kann in der sozialen Welt kein objektives Gut ausfindig machen, »sondern nur in der Welt in ihm selbst, die sein neues Gesetz und seine neue Aufstellung der Tugenden diktiert.« (343)
MacIntyre stützt sich dabei auf eine Passage aus Nietzsches Nachlass, die in Der Wille zur Macht veröffentlicht wurde. Nietzsche beschreibt darin den Übermenschen, den großen Menschen, der in seiner Einsamkeit und Unmitteilbarkeit keine Beziehungen eingehen kann, die auf objektiven, geteilten Tugenden, Gütern oder Regeln gründen. Er ist seine eigene und einzige Autorität und Gesetz. Seine auf dieser absoluten Autorität gründenden Beziehungen zu anderen können nur nur manipulativ sein.
MacIntyre zitiert diese Passage aus Nietzsches Nachlass mit einigen Auslassungen, wie folgt:
Ein großer Mensch, - ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat - was ist das? [...] Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt. [...] er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmitteilbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Band 3, München, 1954, S. 845-846.; Hervorhebungen im Original.
Doch im Lichte von MacIntyres Darstellung der Tugenden schrumpft der große Mensch auf einen winzig kleinen, ausdehnungslosen Punkt, der aus seiner Einsamkeit und Selbstversunkenheit nicht heraustreten, nicht führen und schon gar nicht sein Gesetz diktieren kann, dessen Autorität er einzig auf Güter gründen könnte, die er aufgrund seines Mangels an Gemeinschaftlichkeit nicht einmal zu entdecken vermag.
MacIntyre führt dazu aus:
Denn wenn die Vorstellung eines Gutes durch Begriffe wie Praxis, narrative Einheit eines menschlichen Lebens und moralische Tradition erläutert werden muß, dann können Güter, und damit die einzige Begründung für die Autorität von Gesetzen und Tugenden, nur dadurch entdeckt werden, daß jene Beziehungen eingegangen werden, die Gemeinschaften konstituieren, deren zentrale Bindung in einem allgemein geteilten Verständnis von Gütern liegt. Sich von gemeinsamen Tätigkeiten auszuschließen, in denen anfänglich folgsam wie ein Lehrling gelernt werden muß, sich von den Gemeinschaften zu isolieren, die ihr Ziel und ihren Zweck in solchen Tätigkeiten finden, bedeutet den Ausschluß jeder Möglichkeit, ein Gut außerhalb seiner selbst zu finden. Es bedeutet eine Verurteilung zu jenem moralischen Solipsismus, der Größe im Sinne Nietzsches ausmacht. Wir müssen daher nicht nur folgern, daß Nietzsche die Argumentation eines Mangels der aristotelischen Tradition nicht gewinnt, sondern auch, und vielleicht noch wichtiger, daß wir aus der Sicht dieser Tradition die Fehler im Kern der Position Nietzsches am besten erkennen können. (343-344)
Aber Nietzsche ist darüber hinaus ehrlich genug, gar nicht mehr den Anspruch der Begründung einer Moral im herkömmlichen Sinne zu erheben: »Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet«!
MacIntyre bemerkt dazu:
Und Nietzsche war der einzige bedeutende Philosoph, der vor dieser Schlußfolgerung nicht zurückgeschreckt war. (344)
Diese bestechende Ehrlichkeit macht einen großen Teil der Anziehungskraft Nietzsches aus.
Doch mit dieser vermeintlichen Befreiung aus den Irrtümern und Pseudobegriffen der modernen Moral geht die Verstrickung in andere Irrtümer einher. Die Vorstellung des großen Menschen, des Übermenschen erweist sich selbst als Pseudobegriff, wenngleich nicht immer als bloße Fiktion. Denn sie zielt zwar auf die Überwindung des modernen Individualismus, drängt aber zugleich auf dessen radikalste theoretische wie praktische Realisierung. Der ausdehnungslose Punkt verschlingt in einer gewaltigen Explosion alles in sein solipsistisches Nichts.
MacIntyre stellt fest:
Die Vorstellung Nietzsches vom »großen Menschen« ist ebenfalls ein Pseudobegriff, wenn auch vielleicht nicht immer - unglücklicherweise - das, was ich früher eine Fiktion genannt habe. Sie stellt den letzten Versuch des Individualismus dar, den eigenen Konsequenzen zu entfliehen. Und die Haltung Nietzsches erweist sich nicht als Flucht vor oder als Alternative zum Begriffssystem der liberalen, individualistischen Moderne, sondern eher als weiteres repräsentatives Moment in ihrer inneren Entfaltung. Und wir können deshalb damit rechnen, daß liberale, individualistische Gesellschaften von Zeit zu Zeit »große Menschen« hervorbringen. Leider! (344)
6.6 Liberaler Individualismus oder aristotelische Tradition
6.6 Liberaler Individualismus oder aristotelische Tradition Yusuf KuhnNietzsche ist zwar der schärfste Gegenspieler der aristotelischen Tradition. Und er hielt sich selbst zugleich auch für den erbittertsten Kritiker der moralischen Kultur der Moderne. Doch Nietzsches Position erweist sich als lediglich eine Spielart des modernen Individualismus, die sich allerdings durch ihre vor nichts zurückschreckende Konsequenz und Ehrlichkeit auszeichnet.
So nimmt die grundsätzliche Alternative »Nietzsche oder Aristoteles« eine andere Gestalt an, wie MacIntyre bemerkt:
Es ist daher letztlich so, daß der entscheidende moralische Gegensatz zwischen dem liberalen Individualismus in der einen oder anderen Version und der aristotelischen Tradition in der einen oder anderen Version besteht. (345)
Die Differenzen zwischen diesen beiden Sichtweisen reichen über Ethik und Politik hinaus und betreffen ganz grundsätzlich das Verständnis des menschlichen Handelns selbst. Das Projekt der Wiederherstellung der Ethik im Geiste der klassischen Tradition, das gleichwohl den Irrungen der aristotelischen Metaphysik zu entgehen versucht, indem es sich auf den Begriff des menschlichen Handelns stützt, berührt alle Aspekte des menschlichen Lebens, die Gesellschaft wie deren Verständnis in den Sozialwissenschaften. Es zielt darauf ab, »die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Haltungen und Verpflichtungen« (345) wiederherzustellen. Demgegenüber lässt sich auf der Seite des liberalen Individualismus unverändert das Fehlen einer kohärenten und rational gerechtfertigten Konzeption konstatieren.
6.6.1 Drei Einwände
6.6.1 Drei Einwände Yusuf KuhnMacIntyre zieht abschließend drei Einwände in Betracht, die gegen diese Schlussfolgerung erhoben werden könnten. Der erste Einwand könnte von Vertretern des liberalen Individualismus vorgebracht werden und bezieht sich auf den Begriff der Rationalität. Denn wie lassen sich grundsätzliche Fragen in der Philosophie klären, wo Argumente doch selten die Form von Beweisen haben?
MacIntyre vertritt dazu folgende Auffassung:
Wir können die Wahrheit oft in Bereichen begründen, wo keine Beweise verfügbar sind. Aber wenn eine Frage gelöst werden konnte, dann häufig deshalb, weil die streitenden Parteien - oder jemand aus ihren Reihen - aus der Kontroverse zurückgetreten sind und systematisch gefragt haben, welches die geeigneten rationalen Methoden sind, speziell diese Art von Kontroverse beizulegen. Ich bin der Meinung, daß wieder einmal die Zeit gekommen ist, wo es dringend erforderlich ist, diese Aufgabe in der Moralphilosophie durchzuführen; aber ich gebe nicht vor, dies im vorliegenden Buch unternommen zu haben. Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus. (346; Hervorhebungen im Original)
Dieser Aufgabe einer Darstellung der Rationalität, die von größter Bedeutung für die Wiederherstellung der Ethik ist, wird MacIntyre sich in einem späteren Buch zuwenden, das eine originelle Konzeption der Rationalität entwickelt und im Titel die Fragen aufwirft: Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?
Der zweite Einwand könnte von traditionellen Aristotelikern und Thomisten erhoben werden, die MacIntyres Interpretation der klassischen Tradition aus der Perspektive unterschiedlicher Interpretationen ebendieser Tradition kritisieren. MacIntyre betrachtet diese Kritik als Bestandteil einer Debatte innerhalb der von ihm selbst vertretenen Tradition, wobei er davon ausgeht, dass die Tradition dadurch nicht gefährdet, sondern gestärkt wird. Denn sein Begriff einer moralischen Tradition ist keineswegs statisch, sondern offen für dynamische Entwicklungen, da »eine Tradition durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben« (346-347) wird. Auch dieser Aufgabe wird MacIntyre sich in späteren Werken und insbesondere in dem eben genannten Buch Whose Justice? Which Rationality? zuwenden.
Der dritte Einwand könnte von Marxisten erhoben werden, die die Alternative zum liberalen Individualismus nicht in der aristotelischen Tradition, sondern in der einen oder anderen Version des Marxismus sehen. Doch der Marxismus hat erstens seinen Anspruch auf einen moralischen Standpunkt durch seine eigene moralische Geschichte untergraben, da er stets in Varianten des Kantianismus oder Utilitarismus zurückgefallen ist. Und das ist nur eine Folge des von Anfang an im Kern des marxistischen Denkens selbst mehr oder weniger verborgenen radikalen Individualismus. Denn der Marxismus basiert nicht anders als die bürgerliche Ökonomie auf dem Konzept des modernen Individuums.
Die Marxisten erweisen sich zweitens auf ihrem Weg zur Macht meist als Weberianer, die ihre Autorität jenseits der Moral auf bürokratische Effektivität stützen. Daher ist für MacIntyre der Marxismus als politische und moralische Tradition erschöpft, obgleich er »noch immer eine der reichsten Quellen für Ideen über die moderne Gesellschaft ist« (349). Das zeigt, dass es sich hier nicht um eine billige Kritik von einem liberalen oder konservativen Standpunkt aus handelt, sondern vielmehr um eine interne Kritik eines Denkers, der sich selbst der marxistischen Tradition verbunden fühlt.
6.6.2 Wiederbelebung des moralischen Lebens
6.6.2 Wiederbelebung des moralischen Lebens Yusuf KuhnDa MacIntyres Argument zufolge, weit über den Marxismus hinaus, jede moralische und politische Tradition in der modernen Kultur erschöpft ist, stellt sich die Frage, ob es unter diesen Bedingungen überhaupt eine sinnvolle Form von Politik geben kann und ob daraus nicht wiederum ein tiefer Pessimismus im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung zwingend folgt.
MacIntyre gibt zur Antwort: »Nicht im mindesten.« (349) Denn er verwirft zwar die im engeren Sinne politische Reform als Weg zur Wiederherstellung der moralischen Kultur, schlägt aber als Ausweg die Bildung von lokalen Gemeinschaften vor, in denen im Streben nach geteilten Gütern durch Praktiken das moralische Leben wiederbelebt und bewahrt werden kann. Die menschlichen Beziehungen in solchen Gemeinschaften können einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung und Verfeinerung der Tugenden leisten.
MacIntyre beschließt After Virtue in diesem Geiste mit folgenden Sätzen:
Es ist immer gefährlich, zu enge Parallelen zwischen einer historischen Periode und einer anderen zu ziehen; und zu den irreführendsten dieser Parallelen gehören jene, die zwischen unserer eigenen Zeit in Europa und Nordamerika und der Epoche vom Niedergang des Römischen Reichs bis ins frühe Mittelalter gezogen worden sind. Dennoch gibt es gewisse Parallelen. Es stellte einen entscheidenden Wendepunkt in der älteren Geschichte dar, als Männer und Frauen mit guten Absichten Abstand davon nahmen, das Römische Imperium zu stützen und aufhörten, den Fortbestand der Zivilisation und der moralischen Gemeinschaft mit dem Fortbestand dieses Imperiums gleichzusetzen. Statt dessen machten sie sich daran, oft ohne genau zu erkennen, was sie taten, neue Formen von Gemeinschaft aufzubauen, in denen das moralische Leben aufrechterhalten werden konnte, so daß Moral und Zivilisation die heraufziehende Zeit der Barbarei und Finsternis überleben konnten. Wenn meine Darstellung unserer moralischen Lage richtig ist, sollten wir ebenfalls zu dem Schluß kommen, daß auch wir nun seit einiger Zeit ebenfalls diesen Wendepunkt erreicht haben. Was in diesem Stadium zählt, ist die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können, das bereits über uns gekommen ist. Und da die Tradition der Tugenden die Schrecken der letzten Finsternis überstanden hat, sind wir nicht ganz ohne Grund zur Hoffnung. Diesmal warten die Barbaren allerdings nicht jenseits der Grenzen; sie beherrschen uns schon seit einer ganzen Weile. Und gerade das mangelnde Bewußtsein dessen macht einen Teil unserer mißlichen Lage aus. Wir warten nicht auf einen Godot, sondern auf einen anderen, zweifelsohne völlig anderen heiligen Benedikt. (349-350)
Christopher Stephen Lutz erläutert in seinem Kommentar zu After Virtue den Verweis auf einen »anderen heiligen Benedikt« treffend:
Nach einem neuen Sankt Benedikt Ausschau zu halten, heißt, nach einem Architekten für dieses neue Modell des gesellschaftlichen Lebens zu suchen, das Gemeinschaften, die die Tradition der Tugenden verkörpern, befähigen wird, inmitten einer sozialen und politischen Kultur, die diese Tradition verwirft, zu gedeihen.
Christopher Stephen Lutz, Reading Alasdair MacIntyre’s After Virtue, London, 2012, S. 140.
Dieser äußerst verdichtete und metaphorisch aufgeladene Beschluss von After Virtue ist darüber hinaus eher dazu angetan, allerlei Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben. Da MacIntyre es bei diesen kryptischen Andeutungen bewenden lässt, ohne zu deren weiterer Aufhellung beizutragen, muss jeder Versuch einer näheren Deutung hoch spekulativ bleiben. Davon sei daher hier abgesehen. MacIntyres Worte müssen daher für sich selbst sprechen.
6.7 Kritiken und Einsichten im Rückblick
6.7 Kritiken und Einsichten im Rückblick Yusuf KuhnIn der zweiten Auflage von After Virtue, die 1984, also drei Jahre nach der ersten Auflage, erschienen ist, hat MacIntyre ein Postskript angefügt. Darin geht er auf verschiedene Kritiken ein, die in den zahlreichen Rezensionen und Artikeln, die zwischenzeitlich erschienen waren, vorgebracht worden sind. Manche Kritiken erfordern »eine Reihe langfristiger Projekte« (351), die MacIntyre in späteren Werken in Angriff nehmen sollte.
Im Postskript wählt er eine kleine Zahl von Kritiken, für die er »eine adäquatere Neuformulierung von Positionen« (352) als dringlich und hilfreich erachtet, zur Behandlung aus und unterteilt sie in drei Kategorien: 1. Die Beziehung der Philosophie zur Geschichte; 2. Die Tugenden und die Frage des Relativismus; 3. Die Beziehung der Moralphilosophie zur Theologie. Der erste und der dritte Punkt sind für den Schwerpunkt unseres Interesses, nämlich die negative Seite von MacIntyres Kritik an der Moralphilosophie von großer Bedeutung. Der zweite Punkt hingegen betrifft vor allem seine Darstellung der Tugenden, die wir hintangestellt haben, und kann daher relativ knapp gehalten werden.
6.7.1 Philosophie und Geschichte
6.7.1 Philosophie und Geschichte Yusuf KuhnZum ersten Punkt, nämlich Die Beziehung der Philosophie zur Geschichte, wird der Einwand des analytischen Philosophen William K. Frankena angeführt, dass MacIntyre nicht zwischen Geschichte und Philosophie unterscheidet und eine philosophische Behauptung mit einer historischen Untersuchung begründen zu können vermeint.
MacIntyre stellt in seiner Erwiderung eben den Sinn dieser Unterscheidung in Frage. Philosophisches Denken vollzieht sich in der Geschichte, in der Zeit und ließe sich nur dann von der geschichtlichen Zeit trennen, wenn es zeitlose Wahrheiten zu entdecken gäbe. Während Frankena Philosophie eben als Suche nach solchen Wahrheiten begreift, sieht MacIntyre Philosophie als historische Tradition, die ins gesellschaftliche Leben eingebettet ist und nach der besten, aber stets fehlbaren Annäherung an die Wahrheit sucht. Für Frankena können daher philosophische Behauptungen nur durch Argumente der analytischen Philosophie und nicht durch eine Art von Geschichtsschreibung begründet werden.
MacIntyre hält dem entgegen:
Gegen diese Ansicht muß ich anführen, daß Argumente der Art, wie sie von der analytischen Philosophie bevorzugt werden, zwar eine unentbehrliche Kraft besitzen, daß aber solche Argumente nur im Kontext einer bestimmten Form von historischer Untersuchung den Typ von Behauptung über Wahrheit und Rationalität stützen können, den zu rechtfertigen Philosophen bezeichnenderweise anstreben. (353)
Dies gilt allemal für die Gegenstände der Moralphilosophie, die nur »in ihrer Verkörperung im historischen Leben bestimmter sozialer Gruppen« und im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis »in ihrer Verkörperung im historischen Leben bestimmter sozialer Gruppen« (353) zu finden sind. Eine von jeglichem gesellschaftlichen Kontext isolierte Moral an sich findet sich hingegen nirgendwo.
Kant meinte freilich, mittels seiner Transzendentalphilosophie eine solche Moral an sich in der Natur der Vernunft entdeckt zu haben, die daher nicht nur für menschliche, sondern für alle vernünftigen Wesen gültig ist. Doch Kants vermeintliche universelle Prinzipien der Vernunft und Moral erwiesen sich – wie bei allen anderen Versuchen dieser Art bis hin zur analytischen Moralphilosophie – als lediglich spezifische Prinzipien einer besonderen historischen Konfiguration menschlichen Handelns.
MacIntyre zieht hier eine Parallele zwischen Kants Moralphilosophie in der Kritik der praktischen Vernunft und seiner Naturphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft, die auf die Grundlegung der newtonschen Physik ausgerichtet war, die jedoch durch den Siegeszug der Relativitätstheorie vom Thron der Universalität gestoßen und auf einen marginalen Platz verwiesen wurde.
Dazu stellt MacIntyre fest:
Ebenso erwies sich das, was Kant für die Prinzipien und Voraussetzungen von Naturwissenschaft an sich hielt, schließlich als Prinzipien und Voraussetzungen, die spezifisch für die Physik Newtons waren; und was Kant für die Prinzipien und Voraussetzungen der Moral an sich hielt, erwies sich als Prinzipien und Voraussetzungen einer ganz speziellen Moral, einer verweltlichten Version des Protestantismus, die dem modernen liberalen Individualismus zu einem seiner Grundgesetze verhalf. Damit stürzte der Anspruch auf Allgemeingültigkeit in sich zusammen. (354)
Darüber hinaus hat gerade die Entwicklung der analytischen Philosophie dem transzendentalen Projekt und allen damit verwandten Gestalten wie dem logischen Empirismus den Boden entzogen, indem so zentrale Begriffe wie etwa der Begriff der Notwendigkeit und des Apriori einer vernichtenden Kritik unterzogen wurden. Der Fortschritt der analytischen Philosophie selbst führte zur Erkenntnis, dass es außerhalb rein formaler Untersuchungen »keine Gründe für den Glauben an allgemeingültige, notwendige Prinzipien gibt« (354; Hervorhebung im Original). Die analytische Philosophie kann daher bestenfalls den Status einer Disziplin beanspruchen, »deren Zuständigkeit auf die Untersuchung von Schlußfolgerungen begrenzt worden ist.« (354) Da sie lediglich formale Eigenschaften von Theorien zu beurteilen, aber keinen inhaltlichen Standpunkt zu begründen vermag, verkommt eine so verstandene Philosophie zu einer Sache der bloßen Meinung. Die formale Beurteilung kann durch den Ausschluss besonders inkohärenter und inkonsistenter Positionen nur negative Ergebnisse bringen.
MacIntyre führt aus:
Aber sie kann niemals die rationale Annehmbarkeit einer bestimmten Position in Fällen begründen, in denen jede der alternativen, rivalisierenden Positionen, die verfügbar sind, über ausreichende Reichweite und ausreichenden Geltungsbereich verfügt, und die Anhänger jeder einzelnen bereit sind, den Preis zu zahlen, der zur Absicherung von Kohärenz und Konsistenz nötig ist. (355)
Analytische Philosophen, die weiterhin Begriffe und Argumente in Isolation von den sozialen Kontexten der menschlichen Tätigkeit betrachten, laufen Gefahr, die Fehler und Irrtümer von ihren kantianischen Vorgängern zu übernehmen. Denn die Frage, ob eine Position gerechtfertigt ist, lässt sich nur mit Blick darauf beantworten, wie diese Position im Wettstreit mit rivalisierenden Positionen abgeschnitten hat. Die Geschichte der Naturwissenschaft liefert dafür hervorragendes Anschauungsmaterial.
MacIntyre illustriert dies folgendermaßen:
Die Newtonsche Physik war deshalb ihren galileischen und aristotelischen Vorgängern und ihren kartesianischen Konkurrenten rational überlegen, weil sie deren Grenzen überschreiten konnte, indem sie Probleme in Bereichen löste, in denen diese Vorgänger und Konkurrenten aufgrund ihrer eigenen Maßstäbe für wissenschaftlichen Fortschritt keinen Fortschritt machen konnten. So können wir gar nicht beschreiben, worin die rationale Überlegenheit der Newtonschen Physik bestand, es sei denn historisch im Sinne ihrer Beziehung zu den Vorgängern und Konkurrenten, die sie herausforderte und ersetzte. (356)
Ohne die Bezugnahme auf den historischen Kontext kann die Frage der rationalen Überlegenheit einer Position über ihre Rivalen nicht entschieden werden. Dadurch erscheinen die Positionen vielmehr als inkommensurabel, was zu unlösbaren Problemen führt. Und wie die Philosophie der Naturwissenschaft von der Geschichte der Naturwissenschaft abhängt, so auch die Moralphilosophie von der Geschichte der Moral. Die Moralphilosophie selbst ist stets Ausdruck einer bestimmten sozialen und kulturellen Praxis. Und die Moral schließt immer, mehr oder weniger ausdrücklich und bewusst, eine philosophische Positionierung ein.
MacIntyre bemerkt daher:
Moralphilosophien sind vor allem anderen explizite Artikulationen der Ansprüche spezieller moralischer Ansichten auf rationale Treue. Und deshalb sind die Geschichte der Moral und die Geschichte der Moralphilosophie eine einzige Geschichte. (357)
Wie kann dann aber die rationale Überlegenheit einer Theorie gegenüber anderen begründet werden? Bedarf es dafür nicht neutraler Maßstäbe, die allen rivalisierenden Theorien extern sind? MacIntyre bezieht sich wieder auf das Beispiel der Geschichte der Naturwissenschaft. Wie in dieser gibt es auch in der Moralphilosophie keine allgemeinen zeitlosen Maßstäbe. Die rationale Überlegenheit einer Moral und einer Moralphilosophie als Ausdruck der Ansprüche einer bestimmten Moral erweist sich vielmehr daran, dass sie die Probleme und Beschränkungen eines Rivalen, die nach dessen eigenen Maßstäben als solche gelten, zu erkennen, zu erklären und zu überschreiten vermag.
Dagegen könnte der Einwand erhoben werden, dass die Maßstäbe zur Beurteilung der rationalen Überlegenheit einer Theorie gegenüber einer anderen selbst einer rationalen Rechtfertigung bedürfen, die von einer Geschichte nicht geliefert werden können, die allererst auf der Grundlage dieser Maßstäbe geschrieben werden kann. Dieser Vorstellung liegt jedoch die Idee einer perfekten Theorie zugrunde, der alle vernünftigen Wesen zustimmen müssten. Wie im Falle der wissenschaftlichen Theorie kann es auch in der Moralphilosophie, da die Überlegenheit immer im jeweiligen historischen Kontext ermittelt werden muss, nur um die Suche nach der besten Theorie, die es in der Geschichte bisher gegeben hat, gehen.
Das Schreiben dieser Art von philosophischer Geschichte kann daher nie zur Vollendung gebracht werden und ist allemal fehlbar, da stets eine neue Herausforderung für die bestehende Theorie aufkommen kann, die diese schließlich ablöst.
MacIntyre legt deshalb dar:
Diese Art des Historismus enthält also, anders als bei Hegel, eine Form von Fallibilismus; es ist eine Art des Historismus, die alle Ansprüche auf absolute Erkenntnis ausschließt. Wenn dennoch ein bestimmtes Moralsystem erfolgreich die Beschränkungen seiner Vorgänger überschritten und dabei die bis dahin besten Mittel geliefert hat, die es gibt, um diese Vorgänger zu verstehen, und dann mehreren Herausforderungen durch eine Reihe rivalisierender Standpunkte gegenübergestanden hat, in jedem Fall aber in der Lage war, sich auf die Art zu verändern, die nötig ist, um die Stärken jener Standpunkte aufzunehmen und gleichzeitig ihre Schwächen und Beschränkungen zu vermeiden, und die bis dahin beste Erklärung jener Schwächen und Beschränkungen geliefert hat, dann haben wir den bestmöglichen Grund, darauf zu vertrauen, daß auch zukünftigen Herausforderungen erfolgreich begegnet wird und daß die Prinzipien, die den Kern eines Moralsystems definieren, dauerhafte Prinzipien sind. Und genau das ist die Leistung, die ich dem fundamentalen Moralsystem von Aristoteles im vorliegenden Buch zuschreibe. (359; Hervorhebungen im Original)
Die konkrete Anwendung dieser Art von philosophischer Geschichtsschreibung auf die Darstellung der Geschichte der Moralphilosophie in After Virtue fasst MacIntyre im Rückblick nun folgendermaßen zusammen:
[…] ich habe nicht nur von dem von mir so genannten Projekt der Aufklärung behauptet, daß es an seinen eigenen Maßstäben gescheitert ist, weil es seinen Protagonisten nie gelungen war, eine einheitlich zu rechtfertigende Reihe von Moralprinzipien zu spezifizieren, denen zuzustimmen sich kein vollkommen rational Handelnder entziehen konnte, oder von Nietzsches Moralphilosophie, daß auch sie an ihren eigenen Maßstäben scheiterte; ich habe vielmehr auch behauptet, daß die Gründe zum Verständnis dieses Scheiterns nur aus den Quellen geliefert werden konnten, die eine aristotelische Darstellung der Tugenden bot, die sich auf genau die Art, die ich beschrieben habe, in ihren spezifischen historischen Gegenüberstellungen als die bisher beste Theorie herausstellt. Aber man beachte, daß ich in diesem Buch nicht erklärt habe, ich hätte diesen Anspruch bisher gerechtfertigt,
Eigene Übersetzung; die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch hier wieder ungenau, denn sie lautet: »[…] ich hätte diesen Anspruch bis jetzt aufrechterhalten, [...]« (360) Im englischen Original heißt es hingegen: »But note that I did not assert in After Virtue that I had as yet sustained that claim, nor do I claim that now.« (After Virtue, S. 271) noch behaupte ich das jetzt. (360)
MacIntyre geht anschließend kurz auf den Einwand ein, er habe Hume und Kant nicht angemessen, sondern selektiv und verkürzt dargestellt. Er zeigt Verständnis für diese Kritik und erkennt die Aufgabe an, die Moralphilosophien Humes und Kants insbesondere in ihrem Verhältnis zur aristotelischen Tradition genauer darstellen zu müssen. Denn sonst »ist die zentrale Behauptung dieses Buches nicht in der Art und Weise begründet, wie es die historistische Erkenntnistheorie erfordert, die von der argumentativen Erzählung dieses Buches vorausgesetzt wird.« (360)
Abschließend entgegnet MacIntyre auf den Einwand, dass seine Art von Sozialgeschichte der Geschichte der Philosophie einen viel zu großen kausalen Einfluss einräume, dass »theoretische und philosophische Vorhaben, ihre Erfolge und Mißerfolge in der Geschichte weit einflußreicher [sind], als akademische Historiker im allgemeinen annahmen.« (361) Und er fügt hinzu, dass »die Erzählungen der akademischen Sozialgeschichte meistens in einer Weise geschrieben [sind], die gerade die Art logischer Unterscheidungen zwischen Fragen nach Tatsachen und Fragen nach Werten voraussetzt, die zu leugnen mich die Darstellung der Erzählung im vorliegenden Buch zwingt.« (361)
Direkt im Anschluss daran macht MacIntyre folgende aufschlussreiche Bemerkung:
Und die philosophische Geschichte, die die zentrale Erzählung dieses Buches selbst ausmacht, ist vom Standpunkt der Schlußfolgerung aus geschrieben, zu der sie selbst kommt und die sie aufrechterhält [besser: rechtfertigen, erweisen] oder vielmehr aufrechterhalten [besser: rechtfertigen, erweisen] würde, wenn ihre Erzählung so erweitert wäre, wie ich sie in der Fortsetzung dieses Buches zu erweitern hoffe. Damit ist die Erzählung dieses Buches nicht durch Zufall oder Nachlässigkeit eine parteiische Erzählung mit der ihr eigenen bewußten Einseitigkeit. (361)
6.7.2 Tugenden und Relativismus
6.7.2 Tugenden und Relativismus Yusuf KuhnIm zweiten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Tugenden und die Frage des Relativismus setzt MacIntyre sich mit dem Einwand auseinander, dass seine Konzeption der Tugenden einen Relativismus impliziert, wobei er zugesteht, dass seine Darstellung Anlass zu Missverständnissen geben konnte. Irrig wäre insbesondere die Annahme, dass es ausreicht, aus einer Praktik Tugenden abzuleiten, also nur das erste Stadium, statt aller drei Stadien, der Bestimmung von Tugenden zu durchlaufen, um zu einer angemessenen Vorstellung einer Tugend zu kommen. MacIntyre gibt zu, diesen Eindruck zwar befördert, in Wirklichkeit aber immer die Auffassung vertreten zu haben, »daß keine menschliche Eigenschaft als Tugend bezeichnet werden sollte, bevor sie nicht die in jedem der drei Stadien spezifizierten Bedingungen erfüllt.« (365)
Zur Erinnerung sei kurz erwähnt: Die erste Stufe der Bestimmung von Tugenden bezieht sich auf eine Praktik, die zweite auf die narrative Einheit des Lebens und die dritte auf die Integration in eine soziale Tradition. Damit eine menschliche Eigenschaft in den Rang einer Tugend erhoben werden kann, muss sie auf allen drei Stufen die Bedingung erfüllen, zur jeweiligen Art von Gütern beizutragen. Die dritte Stufe ist dadurch ausgezeichnet, dass sie die Suche nach dem Guten und dem Besten betrifft.
MacIntyre räumt überdies ein, dass er mit seiner Beschreibung der dritten Stufe Gründe für den Vorwurf des Relativismus liefert, nämlich für die Annahme, dass seine »Darstellung kompatibel mit der Anerkennung der Existenz gesonderter, unvereinbarer und rivalisierender Traditionen der Tugenden sei.« (366) MacIntyre widerspricht dem allerdings nicht. Denn zwei moralische Traditionen, die rivalisierende Behauptungen über wichtige Fragen aufstellen, müssen eben daher einiges gemeinsam haben, und ihren Anhängern wird es mithin zumindest manchmal möglich sein, mit ihren jeweiligen Maßstäben sich gegenseitig zu verstehen und zu beurteilen. Aus solchen Begegnungen können sich Berichtigungen, Lernprozesse und Einsichten in die Vorzüge und Mängel der vertretenen Traditionen ergeben, wobei die Maßstäbe selbst Veränderungen erfahren können. Gelingt es einer Tradition solche Herausforderungen zu bestehen, »dann werden die Anhänger dieser Tradition rational Anspruch auf ein großes Maß an Vertrauen darauf haben, daß die Tradition, in der sie leben und der sie das Wesen ihres moralischen Lebens verdanken, die Mittel finden wird, zukünftigen Herausforderungen mit Erfolg zu begegnen.« (367) Diese Tradition beziehungsweise die in sie eingebettete Theorie der Moral hat sich somit als »die bisher beste Theorie erwiesen« (368; Hervorhebung im Original) und bewährt.
Dies heißt freilich nicht, dass es nicht eine Situation geben kann, in der es keine rationale Auflösung der Konflikte zwischen rivalisierenden Traditionen gibt. Einem daraus möglicherweise abgeleiteten Relativismus zu widersprechen, macht für MacIntyre keinen Sinn. Diese Auffassung begründet er folgendermaßen:
Denn meine Position bringt mit sich, daß es keine erfolgreichen Argumente a priori gibt, die im voraus garantieren, daß eine solche Situation nicht doch eintreten könnte. In der Tat könnte uns nichts eine solche Garantie geben, was nicht die erfolgreiche Wiederbelebung des transzendentalen Projekts von Kant enthielte.
Es muß eigentlich kaum wiederholt werden, daß es die zentrale These meines Buches ist, daß die aristotelische moralische Tradition das beste Beispiel für eine Tradition ist, deren Anhänger rational Anspruch auf ein hohes Maß an Vertrauen in ihre epistemologischen und moralischen Mittel haben. (368)
Den Nachweis, dass das Unterfangen einer historistischen Verteidigung der aristotelischen Tradition kein Paradoxon darstellte, betrachtet MacIntyre als eine weitere notwendige Aufgabe, die er im nächsten Buch in Angriff zu nehmen gedenkt; gemeint ist wohl wieder: Whose Justice? Which Rationality?.
6.7.3 Moralphilosophie und Theologie
6.7.3 Moralphilosophie und Theologie Yusuf KuhnIm dritten und letzten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Beziehung der Moralphilosophie zur Theologie geht es um die Kritik, dass MacIntyres Erzählung einer angemessenen Behandlung des Verhältnisses zwischen der aristotelischen Tradition der Tugenden und der christlichen Tradition ermangelt. MacIntyre gesteht diesen Mangel ein, der freilich von großer Tragweite ist.
Die Einsicht in die Bedeutung und die Folgen dieses Mangels dürften maßgeblich mit dazu beigetragen haben, dass MacIntyre in der Folgezeit im Geiste der Versöhnung von Aristotelismus und Christentum seine Position in Richtung eines thomistischen Aristotelismus weiterentwickelt hat. Den Kern der problematischen Beziehung zwischen aristotelischer Tugendethik und christlicher Gebotsethik beschreibt MacIntyre folgendermaßen:
Von dem Augenblick an, als die biblische Religion und der Aristotelismus einander gegenübergestellt wurden, verlangte die Frage der Beziehung von Behauptungen über die menschlichen Tugenden zu Behauptungen über das göttliche Gesetz und die göttlichen Gebote eine Antwort. Jede Versöhnung von biblischer Theologie und Aristotelismus müßte die These verteidigen, daß nur ein Leben, das im wesentlichen durch Gehorsam gegenüber dem Gesetz konstituiert wird, so sein könnte, daß es vollständig jene Tugenden zeigt, ohne die menschliche Wesen ihr Telos nicht erreichen können. Jede gerechtfertigte Zurückweisung einer solchen Versöhnung müßte Gründe für die Ablehnung dieser These anführen. Die klassische Darlegung und Verteidigung dieser These stammt selbstverständlich von Thomas von Aquin […]. (369)
Im Lichte der thomistischen Versöhnung von christlicher Theologie und aristotelischer Philosophie erkennt MacIntyre manche Teile seiner philosophischen Geschichte als unzulänglich oder gar fehlerhaft. Er nennt insbesondere das komplexe und wechselhafte Wesen der protestantischen und jansenistischen Reaktion auf die aristotelische Tradition sowie Kants Versuch einer Gründung der Moral auf Vernunft, die impliziert, dass der Aristotelismus nicht nur verworfen wird, sondern auch als eine Hauptquelle moralischen Irrtums identifiziert wird. Daraus ergibt sich das Erfordernis weiterer Zusätze und Berichtigungen zu seiner philosophischen Erzählung, wenn die daraus abgeleiteten Thesen ihren Anspruch auf rationale Rechtfertigung wahren sollen.
MacIntyre beschließt das Postskript mit dem trefflichen Hinweis darauf, dass After Virtue in dieser und mancher anderer Hinsicht als ein Werk, das noch in der Entwicklung ist, (a work still in progress) gelesen werden sollte.
6.8 Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?
6.8 Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität? Yusuf KuhnDer im Postskript zur 1984 erschienenen zweiten Auflage angekündigte »Folgeband«
Zur Zeit der Abfassung des Postskripts war MacIntyre offensichtlich mit der Arbeit an diesem Buch bereits intensiv beschäftigt, so dass sich im Postskript vielerlei Vorwegnahmen von Ideen finden, die darin zu ausführlicher Darstellung gebracht werden. Der wichtigste Mangel, der nicht nur im Postskript, sondern auch schon in After Virtue selbst ausdrücklich angesprochen wird, betrifft die Theorie der Rationalität.
Denn MacIntyre hat schon in der ersten Auflage von After Virtue dazu bemerkt:
Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus.
Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 346; Hervorhebungen im Original.
Im Vorwort zu Whose Justice? Which Rationality? lässt MacIntyre keinen Zweifel daran, dass die Theorie der Rationalität das zentrale Thema dieses Buches ist. Er erwähnt darin zunächst, dass After Virtue zu der Einsicht geführt hat, dass es einerseits trotz aller Versuche über die Jahrhunderte immer noch keine kohärente und rational begründete Theorie der Moral vom Standpunkt des liberalen Individualismus gibt und andererseits die aristotelische Tradition in einer Weise neu gefasst werden kann, dass sie zur Wiederherstellung der zerrütteten modernen Moral befähigt.
Daran schließt MacIntyre folgende Bemerkung an:
Aber ich habe auch festgestellt, dass diese Schlussfolgerungen der Unterstützung durch eine Darstellung dessen bedurften, was Rationalität ist, in deren Licht rivalisierende und inkompatible Bewertungen der Argumente von After Virtue adäquat erklärt werden können. Ich habe ein Buch versprochen, in dem ich mir zur Aufgabe gesetzt habe, zu sagen, sowohl was es rational macht, auf eine bestimmte Weise statt auf eine andere zu handeln, als auch was es rational macht, eine bestimmte Konzeption der praktischen Rationalität statt einer anderen vorzubringen und zu verteidigen. Hier ist es.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. IX.
Die hiermit in Aussicht gestellte Theorie der Rationalität bezieht sich also sowohl auf die Rationalität von Handlungsweisen als auch auf die Rationalität von Konzeptionen der praktischen Rationalität und beansprucht, Kriterien für eine rationale Wahl auf beiden Ebenen zu liefern.
Darüber hinaus weist MacIntyre darauf hin, dass er zwischenzeitlich zur Einsicht in den engen Zusammenhang des Begriffs der Rationalität mit dem der Gerechtigkeit gelangt ist. Denn »verschiedene und inkompatible Konzeptionen der Gerechtigkeit sind in charakteristischer Weise eng verknüpft mit verschiedenen und inkompatiblen Konzeptionen der praktischen Rationalität«
Aus dieser Einsicht ergibt sich zudem die Möglichkeit, eine Antwort auf die im dritten Abschnitt des Postskripts zur zweiten Auflage von After Virtue angesprochene Kritik zu geben, die das Fehlen einer Untersuchung des Verhältnisses der aristotelischen Tradition der Tugenden zur christlichen Moral bemängelte. Einigen Kritikern hatte sich in der Tat nicht ganz zu Unrecht der Eindruck aufgedrängt, dass After Virtue eine einseitige Verteidigung der Tugendethik zum Nachteil der Regelethik darstellt. MacIntyre hält dies allerdings für ein Missverständnis, das auf das Versäumnis dieser Kritiker zurückgeht, seine Aussagen über die Angewiesenheit jeglicher »Moralität der Tugenden« auf eine »Moralität der Gesetze« zur Kenntnis zu nehmen.
Um den genannten Aufgaben und Anliegen nachzukommen, unternimmt MacIntyre eine ausführliche historische Untersuchung von drei Traditionen: die griechische Tradition von Homer über Platon bis Aristoteles; die christliche Tradition von Augustinus bis Thomas von Aquin; die Tradition der schottischen Aufklärung von Hutcheson bis Hume. Diesen drei Studien, die drei Viertel des Buches einnehmen, folgen sodann vier Kapitel, in denen der Gedankengang der historischen Erzählungen in einem mehr theoretischen Licht beleuchtet wird.
Aus den historischen Studien geht die Einsicht in einen engen Zusammenhang zwischen den Tugenden, insbesondere der Tugend der Gerechtigkeit, und der praktischen Rationalität hervor. Nicht nur der Begriff der Tugend, sondern auch die praktische Rationalität selbst erweist sich als an eine Tradition gebunden. Die Vorstellung einer zeitlosen, absoluten praktischen Rationalität jenseits aller Traditionen stellt sich als Chimäre heraus.
MacIntyre erläutert:
Es hat freilich immer wieder Bestrebungen gegeben, von denen Kants Versuch sicherlich der größte war, dies zu bestreiten. Aber die Geschichte der Bestrebungen, eine Moralität für traditionsfreie Individuen zu konstruieren, ob durch Berufung auf eine von verschiedenen Konzeptionen der Universalisierbarkeit oder auf eine von gleichermaßen mannigfaltigen Konzeptionen der Nützlichkeit oder auf geteilte Intuitionen oder auf irgendeine Kombination dieser Elemente, ist in ihrem Ergebnis […] eine Geschichte von fortwährend unaufgelösten Disputen gewesen, so dass keine unbestrittene und unbestreitbare Darlegung dessen hervorgeht, worin traditionsunabhängige Moralität besteht, und folglich keine neutrale Menge von Kriterien, mittels derer die Ansprüche von rivalisierenden und widerstreitenden Traditionen einer Entscheidung zugeführt werden könnten.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 334.
Rationalität und Gerechtigkeit sind Begriffe mit einer Geschichte, die in eine Tradition eingebettet sind. Sie müssen stets in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Da es nun eine Vielzahl von Traditionen gibt, gibt es folglich auch eine Vielzahl von Rationalitäten und Gerechtigkeiten.
Führt die Annahme einer Vielfalt von Traditionen mit ihrer jeweiligen Weise der rationalen Rechtfertigung aber nicht ebenso wie die moderne Moralität zu unlösbaren Konflikten und letztlich in den Relativismus?
Das Titelelement Which rationality? (Welche Rationalität?) deutet auf eine mögliche Antwort auf die Herausforderung des Relativismus hin. Es gibt nur eine Wahrheit, aber das stets fehlbare Streben nach ihr auf den verschiedenen Wegen der Rationalitäten muss nicht zu unlösbaren Konflikten führen. Denn eine Tradition kann sich entwickeln und Lernprozesse durchlaufen, wodurch sich bestimmte Positionen als rational überlegen erweisen können.
Dies gilt nicht nur für die innere Entwicklung einer Tradition, sondern auch für die Begegnung mit anderen Traditionen, bei der sich beispielsweise die Ansprüche einer anderen Tradition auf Rationalität nach ihren eigenen Rationalitätskriterien als überlegen erweisen können. Eine Tradition kann gemäß ihren eigenen Kriterien eine andere Tradition als rational überlegen oder unterlegen beurteilen, freilich ohne den Anspruch auf Erkenntnis der absoluten Wahrheit zu erheben, sondern lediglich auf Erkenntnis der bisher und jeweils besten Lösung.
Auf den Vorwurf, dass eine Vielfalt von Traditionen unweigerlich zu Relativismus, Unlösbarkeit von Konflikten oder gar Inkommensurabilität führt, kann es also durchaus eine Antwort geben, wie MacIntyre darlegt:
Darauf hat der Vertreter der Rationalität von Traditionen eine zwiefache Erwiderung: dass, wenn die Vielfalt der Traditionen einmal richtig charakterisiert worden ist, eine bessere Erklärung der Vielfalt der Standpunkte zugänglich ist, als entweder die Aufklärung oder ihre Erben liefern können; und dass diese Anerkennung der Vielfalt der Traditionen der Untersuchung, jede mit ihrer eigenen spezifischen Weise der rationalen Rechtfertigung, nicht impliziert, dass die Differenzen zwischen rivalisierenden und inkompatiblen Traditionen nicht rational gelöst werden können. Wie und unter welchen Bedingungen sie gelöst werden können, ist etwas, das erst zu verstehen ist, nachdem ein vorausgehendes Verstehen der Natur solcher Traditionen erlangt worden ist. Vom Standpunkt der Traditionen der rationalen Untersuchung ist das Problem der Vielfalt nicht abgeschafft, sondern in einer Weise transformiert, die es einer Lösung zugänglich macht.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 10-11; Hervorhebung im Original.
Für eine Lösung von Konflikten im Rahmen der Rationalität der Traditionen muss freilich vorausgesetzt werden, dass alle Beteiligten sich als Vertreter einer bestimmten Tradition verstehen, die sich in Konflikt mit rivalisierenden Traditionen befindet.
MacIntyre geht nun dazu über, vier Traditionen darzustellen. Drei davon verstehen sich in diesem Sinne selbst als Traditionen: die aristotelische Tradition, die augustinische Tradition und die Tradition der schottischen Aufklärung. Die vierte hingegen, der Liberalismus versteht sich selbst hingegen als Ausdruck einer traditionsunabhängigen universellen Rationalität. Allerdings hat sich der Liberalismus, der anfänglich alle Traditionen im Namen universeller Vernunftprinzipien zu verwerfen beanspruchte, durch seine Unfähigkeit, die Debatten über eben diese Vernunftprinzipien zu einer rationalen Auflösung zu führen, selbst in eine Tradition verwandelt. Die Kontinuität dieser Tradition zeichnet sich nicht zuletzt durch die endlose Fortführung der Debatte über diese Prinzipien aus.
Der Liberalismus war ursprünglich mit dem Anspruch angetreten, eine Reihe von Prinzipien mit universeller Geltung durch absolute Vernunftbegründung zu bestimmen und damit ein Regelwerk für eine soziale Ordnung zu schaffen, die auf kein übergeordnetes Gut ausgerichtet ist, sondern vielmehr das friedliche Zusammenleben von Anhängern völlig unterschiedlicher und unvereinbarer Vorstellungen des guten Lebens in dieser Gesellschaft ermöglicht. In diesem Rahmen steht es jedem Individuum frei, sein Leben nach jeder beliebigen Vorstellung des Guten, aus welcher Tradition auch immer diese stammen mag, auszurichten, solange diese Vorstellung des Guten nicht die Umgestaltung des Lebens der restlichen Gesellschaft verlangt.
MacIntyre stellt dazu fest:
Und diese Kennzeichnung impliziert natürlich nicht nur, dass dieser liberale Individualismus in der Tat seine eigene breite Konzeption des Guten hat, die er politisch, rechtlich, sozial und kulturell aufzuerlegen bemüht ist, wenn immer er die Macht dazu hat, sondern auch, dass dabei seine Tolerierung rivalisierender Konzeptionen des Guten in der Öffentlichkeit stark begrenzt ist.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 336.
Damit erweist sich das übergeordnete Gut des Liberalismus als die Aufrechterhaltung der liberalen politischen und sozialen Ordnung. Das Scheitern aller Versuche einer rationalen Begründung der grundlegenden Prinzipien verstärkt den Eindruck, dass der Liberalismus nicht als das Streben nach einer traditionsunabhängigen Rationalität begriffen werden sollte, sondern als Ausdruck von sozialen Institutionen, die sich geschichtlich herausgebildet haben und weiterentwickeln, und zwar nicht als zeitlose Stimme einer universellen Vernunft, sondern als wandelbare Stimme einer partikulären Tradition.
MacIntyre beschreibt die Tradition des Liberalismus folgendermaßen:
Wie andere Traditionen trägt der Liberalismus in sich seine eigenen Kriterien der rationalen Rechtfertigung. Wie andere Traditionen hat der Liberalismus seine Menge von autoritativen Texten und seine Dispute über ihre Interpretation. Wie andere Traditionen findet der Liberalismus seinen gesellschaftlichen Ausdruck durch eine besondere Art der Hierarchie.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 345.
Viele Anhänger des Liberalismus verweigern sich freilich dieser Einsicht. Doch immer mehr liberale Denker, zu denen nicht zuletzt so herausragende philosophische Vertreter des Liberalismus wie etwa John Rawls und Richard Rorty gehören, haben nichtsdestotrotz anerkannt, dass ihre Theorie und Praxis einer kontingenten Tradition verhaftet ist, die zwar einen Anspruch auf universelle Geltung erhebt, jedoch über den Status einer Tradition, die mit anderen Traditionen rivalisiert, ohne sich auf eine absolute Begründung stützen zu können, nicht hinauskommt.
Der Liberalismus ist sicherlich der bislang stärkste Vertreter des Anspruchs auf einen neutralen traditionsunabhängigen Standpunkt. Aus seinem Scheitern kann zwar nicht gefolgert werden, dass es überhaupt keinen solchen neutralen Standpunkt geben kann, aber es liefert doch »den stärksten Grund, den wir tatsächlich für die Behauptung haben können, dass es keinen solchen neutralen Boden gibt, dass es keinen Platz für die Berufung auf eine praktische-Rationalität-an-sich oder eine Gerechtigkeit-an-sich geben kann, der alle rationale Personen aufgrund eben ihrer Rationalität anzuhängen gezwungen wären.«
Wenn es keinen Standpunkt außerhalb einer Tradition mit ihrer besonderen Geschichte und Verkörperung im gesellschaftlichen Leben gibt, so erweist es sich als unmöglich, außerhalb einer bestimmten Tradition mit ihren internen Problemen und ihren Konflikten mit rivalisierenden Traditionen zu sprechen. MacIntyre zieht daraus den Schluss, dass es ihm von nun an nicht mehr möglich ist, die Untersuchung im gleichen Stile fortzuführen. Denn die weitere Darstellung der vier Traditionen, die Gegenstand des Buches sind, verlangt eine Verortung des Autors in der jeweiligen Tradition, die er darzustellen wünscht.
MacIntyre führt näherhin aus:
Es gibt nämlich mindestens vier alternative Weisen, die Erzählungen der vorigen Kapitel fortzuführen, mindestens vier alternative Weisen, dieses Buch zu weiteren Schlussfolgerungen voranzubringen, aber kein Autor alleine könnte mehr als eine von ihnen schreiben. Denn genau hier müssen zeitgenössische substantielle Argumente zwischen, für und gegen besondere Traditionen der Untersuchung und auch für und gegen Antitradition hinsichtlich sowohl Gerechtigkeit als auch Rationalität beginnen. Genau hier müssen wir beginnen, als Protagonisten einer streitenden Partei zu sprechen, oder in Schweigen verfallen.
Ein Buch, das mit der Schlussfolgerung endet, dass das, was wir aus seinem Argument lernen können, ist, wo und wie zu beginnen ist, mag nicht den Anschein haben, viel erreicht zu haben. Doch schließlich mag Descartes in einer Sache Recht behalten haben: in der Philosophie ist, zu wissen, wie zu beginnen ist, die schwierigste Aufgabe von allen. Wir, wer immer wir sind, können die Untersuchung nur von einem Gesichtspunkt aus beginnen, der durch unsere Beziehung zu irgendeiner spezifischen sozialen und intellektuellen Vergangenheit geboten wird, durch die wir uns irgendeiner besonderen Tradition der Untersuchung angeschlossen haben, indem wir die Geschichte dieser Untersuchung in die Gegenwart ausdehnen: als Aristoteliker, als Augustinianer, als Thomist, als Humeaner, als Post-Aufklärungs-Liberaler oder als etwas anderes.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 401-402.
An der Reihe von Alternativen, die MacIntyre hier in Betracht zieht, lässt sich schon ein weiterer bedeutender Unterschied zu After Virtue ablesen, in der es nur die Wahl zwischen zwei Alternativen gab: Aristoteles oder Nietzsche? Mittlerweile hat sich der Horizont deutlich erweitert. MacIntyre befasst sich nicht nur mit bereits vier Traditionen, sondern ist sich der auch darin weiterhin liegenden Beschränkung durchaus bewusst. Sein geweiteter Blickwinkel erlaubt MacIntyre nämlich nun, eine ausdrückliche Selbstbescheidung vorzunehmen. Denn er räumt ein, dass es zahlreiche weitere Traditionen gibt, die er nicht behandeln konnte, und dass sein Argument dadurch unvollständig bleiben muss. Er erwähnt beispielsweise die Geschichte des Judentums und seine Traditionen der Untersuchung, die aus der Begegnung des Studiums der Thora mit der Philosophie hervorgegangen sind.
Und MacIntyre merkt dazu an:
Aber von allen Geschichten der Untersuchung ist diese diejenige, die, vielleicht mehr als jede andere, von ihren eigenen Anhängern geschrieben werden muss; insbesondere für einen augustinischen Christen, wie ich einer bin, wäre der Versuch, sie in der Weise zu schreiben, wie ich mich befähigt gefühlt habe, die Geschichte meiner eigenen Tradition zu schreiben, eine schwere Anmaßung und Dreistigkeit. Christen haben es dringend nötig, Juden zuzuhören. Der Versuch, für sie zu sprechen, sogar zugunsten jener unglückseligen Fiktion, der sogenannten jüdisch-christlichen Tradition, ist immer beklagenswert.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 10-11.
Nach der trefflichen Anführung einer weiteren Auslassung, nämlich einer näheren Betrachtung von Kant, die nachzuholen wäre, setzt MacIntyre sodann ebenso trefflich hinzu:
[…] Das islamische Denken erfordert eine Behandlung nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch wegen seines großen Beitrags zur aristotelischen Tradition, aber auch dies musste ich auslassen. Und schließlich verlangt die Art von Geschichte, die ich zu erzählen versuchen werde, als ihre Ergänzung nicht nur jüdische, islamische und andere nachbiblische Erzählungen, sondern auch die Erzählungen von solch stark kontrastierenden Traditionen der Untersuchung wie diejenigen, die in Indien und China hervorgebracht wurden. Die Anerkennung einer solchen Unvollständigkeit tut nichts dafür, sie zu berichtigen, aber verdeutlicht zumindest die Grenzen meines Unternehmens.
Diese Erweiterung des Blickwinkels stellt einen großen Fortschritt gegenüber der Befangenheit von After Virtue dar. MacIntyres Projekt erscheint somit vor einem ganz anderen, wesentlich weiteren Horizont, der sein Licht auch auf die Bemerkung wirft, mit der MacIntyre das Buch beschließt:
Die rivalisierenden Ansprüche auf Wahrheit von konkurrierenden Traditionen der Untersuchung sind für ihre Rechtfertigung abhängig von der Angemessenheit und der Erklärungskraft der Geschichten, welche die Ressourcen jeder dieser Traditionen im Widerstreit ihre Anhänger zu schreiben befähigen.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 403.
Anhang
Anhang Yusuf KuhnZur Person von Wael B. Hallaq
Zur Person von Wael B. Hallaq Yusuf KuhnWael B. Hallaq ist ein palästinensischer Intellektueller, der 1955 in Nazareth geboren wurde. Zurzeit ist er Professor der Geisteswissenschaften am Institut für Mittelost-, Südasien- und Afrikastudien der Columbia University in New York (Avalon Foundation Professor in the Humanities am Department of Middle Eastern, South Asian, and African Studies). Seine langjährigen Forschungsarbeiten und zahlreichen Werke haben ihn zu einem äußerst renommierten und führenden Wissenschaftler und Gelehrten auf den Gebieten der Geschichte der islamischen Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und des islamischen Rechts (fiqh) wie auch der islamischen Geistesgeschichte werden lassen.
Er wurde 2009 in die Liste der 500 einflussreichsten Muslime (The 500 Most Influential Muslims) des Prinz-al-Walid-bin-Talal-Zentrums für muslimisch-christliche Verständigung der Georgetown University in Washington, D.C. und des Royal Islamic Strategic Studies Centre von Jordanien aufgenommen.
Wael B. Hallaq hat seit mehr als drei Jahrzehnten zahlreiche Werke, Beiträge und Artikel vornehmlich auf dem Gebiet der Geschichte des islamischen Rechts und Rechtstheorie veröffentlicht. Zu seiner langen Liste von Publikationen gehören beispielhaft folgende Titel: Ibn Taymiyya against the Greek logicians (New York, Oxford University Press, 1993; Ibn Taymiyya gegen die griechischen Logiker); A history of Islamic legal theories: an introduction to Sunnī usūl al-fiqh (New York, Cambridge University Press, 1997; Eine Geschichte der islamischen Rechtstheorien: eine Einführung in sunnī usūl al-fiqh); Authority, continuity, and change in Islamic law (New York, Cambridge University Press, 2001; Autorität, Kontinuität und Wandel im islamischen Recht); The origins and evolution of Islamic law (New York, Cambridge University Press, 2005; Die Ursprünge und Evolution des islamischen Rechts).
Die jüngsten vier Bücher, die Hallaq seit 2009 veröffentlicht hat, bilden in gewissem Sinn eine Einheit, da sie allesamt aus seiner großen Studie über die Geschichte der Scharia hervorgegangen sind und bestimmte Themen daraus weiter ausarbeiten. Dabei rückt zudem ein neuer Aspekt in den Vordergrund der Betrachtung, nämlich die Konfrontation der islamischen Kultur mit dem europäischen Kolonialismus und der westlichen Moderne. Diese Werke sind in der Reihenfolge ihres Erscheinens: Shari'a: theory, practice, transformations (New York, Cambridge University Press, 2009; Scharia: Theorie, Praxis, Transformationen); An introduction to Islamic law (New York, Cambridge University Press, 2009; Eine Einführung in das islamische Recht); The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity's Moral Predicament (New York, Columbia University Press, 2012; Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität); Restating Orientalism: A Critique of Modern Knowledge (New York, Cambridge University Press, 2018; Erneute Darlegung des Orientalismus: Eine Kritik des modernen Wissens).
Auf der offiziellen Website der Columbia University wird er folgendermaßen vorgestellt:
Wael B. Hallaq ist ein Gelehrter des islamischen Rechts und der islamischen Geistesgeschichte. Seine Lehre und Forschung befasst sich mit den problematischen epistemischen Brüchen, die vom Ausbruch der Moderne und den von ihr subsumierten sozio-politico-historischen Kräften erzeugt wurden; mit der Geistesgeschichte des Orientalismus und den Auswirkungen des orientalistischen Paradigmas in der späteren wissenschaftlichen Forschung und den Studien des islamischen Rechts als Ganzes; und mit der synchronen und diachronen Entwicklung der islamischen Traditionen der Logik, der Rechtstheorie und des materiellen Rechts wie auch der interdependenten Systeme innerhalb dieser Traditionen. Hallaqs Schriften haben die strukturellen Dynamiken des Rechtswandels im vormodernen Recht erforscht und haben in der letzten Zeit die Zentralität der Moraltheorie für das Verstehen der Geschichte des islamischen Rechts und moderner politischer Bewegungen untersucht. […] Hallaqs Werk wurde weithin diskutiert und unter anderem ins Arabische, Hebräische, Indonesische, Italienische, Japanische, Persische und Türkische übersetzt.
Siehe http://www.columbia.edu/cu/mesaas/faculty/directory/hallaq.html