4.4 Wissen von Gottes Existenz und fitra

Autor: Yusuf Kuhn - Fr., 13.11.2020 - 11:55

Dass Gott jeglichem anderen Wesen ungleich ist und nicht seinesgleichen hat, ist eine Aussage, die Ibn Taymiyya nicht beweist, sondern eher behauptet. Die Attribute, die Gott prädiziert werden, sind nur insofern verständlich, als wir uns eine Vorstellung machen können von dem Verhältnis zwischen den Eigenschaften, die im erschaffenen Universum zu finden sind, und jenen entsprechenden Eigenschaften, die im Schöpfer zu finden sind. Existenz qua Existenz beispielsweise wird sowohl den möglichen Wesen als auch dem Notwendigen Wesen prädiziert. Doch das Notwendige Wesen hat eine Existenz, die derjenigen der möglichen Dinge ungleich ist. Das Notwendige Wesen, das indes eine ewige Existenz hat, besitzt Eigenschaften der Dauerhaftigkeit, die Ihn von allen möglichen Existierenden scharf unterscheiden. Eine Analogie einer solchen Unterscheidung ist die Weiße, die sich sowohl in Schnee als auch in Elfenbein findet; beide werden als weiß beschrieben, aber die Stärke und Reinheit der weißen Farbe von Schnee zieht im Kontrast zum fahleren Weiß von Elfenbein eine Trennlinie zwischen den beiden Farben.1 Alle Eigenschaften, deren sich die erschaffenen Wesen erfreuen, wie beispielsweise Liebe, Barmherzigkeit, Großmut usw., werden in einer stärkeren und gesteigerten Form Gott prädiziert. Dieser Beweis einer analogischen Prädikation (taschkīk) von Eigenschaften, die einerseits im Notwendigen Wesen und andererseits in den möglichen Existierenden vorhanden sind, wird von Ibn Taymiyya nicht weiter ausgeführt. Wie viele andere Theologen und Philosophen scheint er die Existenz dieser Prädikation und somit einer einzigen Gottheit mehr zu postulieren2 als zu beweisen.3

Wie dem auch sei, die Einzigkeit Gottes schließt die Möglichkeit der Verwendung jeglichen Schlussfolgerns zum Beweis Seiner Existenz aus. Streng genommen, so insistiert Ibn Taymiyya, kann die Existenz Gottes weder durch syllogistisches und induktives Schließen noch auch mittels irgendeines anderen Schließens bewiesen werden.4 Was Ibn Taymiyya hier eigentlich zum Ausdruck bringt, ist die Auffassung, dass der beste Beweis oder die beste Erkenntnis Seiner Existenz durch andere Mittel als das Schließen erlangt wird, obgleich manche Leute unter bestimmten Bedingungen darauf angewiesen sein mögen, auf argumentative Schlussverfahren zurückzugreifen.5 Ibn Taymiyya anerkennt letztlich zwei Mittel, durch welche die Existenz Gottes erkannt werden kann. Das erste ist gewissermaßen intuitiv und beinhaltet kein Schließen, während das zweite die Ausübung der Fähigkeit des schlussfolgernden Denkens verlangt.6 Während er das erstere Mittel ohne Einschränkung übernimmt und befürwortet, zeigt er, wie wir später sehen werden, gegenüber dem letzteren ein hohes Maß an Ambivalenz; und seine Position könnte sogar als widersprüchlich ausgelegt werden. Doch bevor wir uns dieser Schwierigkeit in seinen Schriften zuwenden, wollen wir seine Ansichten über das untersuchen, was er als den legitimen und natürlichen Kanal, durch den die Existenz Gottes erkannt wird, erachtet.

Ibn Taymiyya wird nicht müde, immer wieder die Aussage zu treffen, dass Gottes Existenz durch die fitra gewusst wird,7 ein Begriff, der erheblich komplexer ist, als es zunächst erscheinen mag. Die Grundbedeutung des Verbs fatara ist erschaffen oder ins Dasein bringen.8 Der Ausdruck fitra verweist demnach auf das Vermögen des natürlichen Verstandes oder das angeborene Vermögen der Erkenntnis, das im Gegensatz steht zu den erworbenen Methoden des schlussfolgernden Denkens, die Erkenntnisse in unserem Geist hervorbringen. Ibn Taymiyya verleiht diesem Begriff allerdings zusätzliche Bedeutungen, die die Befähigung einschließen, als eine Quelle oder ein Mechanismus des Wissenserwerbs zu funktionieren. Die Fähigkeit der fitra, Wissen zu erwerben, muss so verstanden werden, dass sie kein Schlussverfahren beinhaltet. Und eben in diesem Sinne unterscheidet sich dieser Begriff von der Vernunft (ʿaql), deren Funktion darin besteht, Operationen des Schließens durchzuführen.9 Das in der fitra verkörperte Wissen ist einfach darin vorhanden, und dessen letztliche Quelle ist kein anderer als Gott.10

Gott hat die fitra in uns erschaffen, so dass wir das Wahre vom Falschen sowie das Nützliche vom Schädlichen unterscheiden können. An dem, was wahr und nützlich ist, findet unsere fitra Gefallen, während sie an dem, was falsch und schädlich ist, keinen Gefallen findet.11 Unter der Voraussetzung, dass sie heil und unverdorben ist, sieht die fitra das Licht der Wahrheit. Genauso wie das gesunde Auge, wenn kein Hindernis seine Sicht verstellt, die Sonne sehen kann, erkennt die fitra die Wahrheit, wenn diese fitra nicht von maliziösen Elementen beeinträchtigt oder beschädigt ist.12 Eben durch diese fitra hat Gott in uns eingepflanzt (arkazahā Allāh), dass wir dazu gelangen, nicht nur Seine Existenz anzuerkennen, sondern auch Seine Allmacht, Größe und Überlegenheit über alles andere im Universum.13

Das Wissen von Gottes Existenz, das in der heilen fitra eingewurzelt ist, ist also notwendig (dharūrī), da es keinerlei Schlussfolgerung bedarf.14 Ibn Taymiyya verknüpft den Ausdruck fitra ziemlich häufig mit dem Wort dharūra (z.B. ʿilm fitrī dharūrī),15 womit er die Vorstellung hervorhebt, dass Wissen, das fitrī ist, dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen eingepflanzt und sogar auferlegt ist. Es bedarf dabei wohl kaum einer Erwähnung, dass der Begriff der dharūra (Notwendigkeit) in der fachlichen Terminologie des mittelalterlichen Islam dem Ausdruck muktasab (erworben) entgegengesetzt wurde, das heißt dem durch Schlussfolgerung oder Deduktion erworbenen Wissen.16 Ein Wissen, das dharūrī ist, stellt jenes Wissen dar, welchem das wahrnehmende Vermögen nicht widerstehen kann, sobald es ihm einmal begegnet ist. Wenn mein Finger mit einer Flamme in Berührung kommt, tritt die Wahrnehmung des Schmerzes notwendigerweise in mir auf, ohne über das Verhältnis zwischen der Tatsache, dass mein Finger die Flamme berührt hat, und meinem Schmerz reflektiert zu haben oder auch nur zur Reflexion fähig gewesen zu sein. Und eben in diesem Sinne gibt die fitra ein direktes und notwendiges Wissen von der Existenz Gottes.

Wie steht es indessen mit der großen Mehrheit der Theologen und Philosophen, die in ihrem Streben nach dem Beweis der Existenz Gottes wohlbegründete und ausgefeilte Argumente vorgebracht haben? Ibn Taymiyya war der Auffassung, dass jeder, der es für nötig hält, auf Argumente zurückzugreifen, um die Existenz dessen zu beweisen, was auf eingeborene Weise bereits gewusst wird, über eine verdorbene fitra verfügen muss. Denn die fitra kann dadurch, dass sie von einer tugendhaften und gesunden Umgebung abgetrennt und Ideen und Vorstellungen, die irrig und abweichend sind, ausgesetzt ist, verdorben werden. In Ibn Taymiyyas besonderem Sprachgebrauch repräsentiert eine tugendhafte Umgebung den wahren Islam, wie er in Geist und Buchstaben von Koran und Sunna des Propheten zum Ausdruck kommt; die Fehler und Irrtümer verweisen auf die »irreführenden« Lehren der spekulativen Theologen (mutakallimūn) und insbesondere auf die Irrlehren, die von den Philosophen und Mystikern, wie etwa Ibn Sīnā (Avicenna), Ibn ʿArabī und ihresgleichen, vertreten worden sind.17 Wir entnehmen also den Aussagen von Ibn Taymiyya, dass Gott die fitra in heiler und vollkommener Verfassung erschafft und es in den Händen der einzelnen Person liegt, ihre Gesundheit zu bewahren.18 Er macht es völlig klar, dass es der einzelnen Person obliegt, sich von den Lehren der Theologen und Philosophen fernzuhalten, die unausbleiblich unheilbare Zweifel in die Köpfe streuen und somit den Glauben an den Allmächtigen zutiefst erschüttern.19

Dass die irrigen theologischen und philosophischen Lehren die fitra zu verderben vermögen, scheint aus Ibn Taymiyyas Sicht nicht die Möglichkeit auszuschließen, die Existenz Gottes durch auf Schlussverfahren basierende Argumente zu beweisen. Ibn Taymiyya führt nicht nur zustimmend die Ansicht von Abū Yaʿlā al-Farrāʾ an, die ein durch Schließen erworbenes Wissen von Gott zulässt,20 sondern stellt auch in einer Schlüsselpassage ganz deutlich heraus, dass es, obschon Gottes Existenz vornehmlich durch die fitra erkannt wird, möglich ist, dass Seine Existenz durch nadhar erkannt wird, das heißt durch Schlussverfahren oder Spekulation.21

Solche Aussagen scheinen, wie wir bereits festgestellt haben, den zahlreichen Behauptungen von Ibn Taymiyya zu widersprechen, denen zufolge kein Syllogismus, keine Analogie und kein anderes Schlussverfahren auf angemessene Weise beweisen kann, dass Gott existiert.22 Es wäre sehr schwierig, die Diskrepanz zwischen diesen Aussagen zu erklären, wenn wir die Ablehnung von auf Schlussverfahren basierenden Argumenten völlig uneingeschränkt auffassen würden. Da Ibn Taymiyya aber, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit zulässt, dass eine verdorbene fitra dazu fähig sein kann, das Wissen, dass Gott existiert, zu erlangen,23 müssen wir seine Ablehnung mithin so verstehen, dass sie im Fall derjenigen eingeschränkt ist, die nicht im Besitz einer gesunden fitra sind. Personen, die einer solchen fitra ermangeln, können dennoch in der Lage sein, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Gott existiert, obgleich ihr Wissen nicht als erstrangig erachtet wird. Das steht in vollkommenem Einklang mit Ibn Taymiyyas epistemologischem Postulat, dass durch Schlussverfahren erworbenes Wissen (nadharī, muktasab) einen niedrigeren Rang einnimmt als unmittelbares, notwendiges Wissen (dharūrī). Wenn wir Ibn Taymiyyas Prämisse annehmen, dass Gottes Existenz mit Gewissheit gewusst werden muss, werden wir seine Missbilligung von auf Schlussverfahren basierenden Argumenten verstehen, die seiner Ansicht nach nicht zu vollständiger Gewissheit führen können. Dass er nichtsdestotrotz einer Person mit einer verdorbenen fitra erlaubt, ihren Weg zum Wissen von Gottes Existenz mittels Schließen zu bahnen, ist ebenfalls verständlich, da die fitra, wenn sie einmal verdorben ist, nicht so leicht einen Weg finden kann, ihre ursprüngliche, gesunde Verfassung zurückzugewinnen; und da ist jeder Versuch, Wissen über die Existenz Gottes zu erlangen, sicherlich besser, als gar keinen Versuch zu unternehmen. Obgleich beispielsweise angenommen wurde, dass die Mehrheit der spekulativen Theologen eine mangelhafte fitra besitzen, so strebten sie schließlich doch danach, die Existenz desselben Gottes zu beweisen wie Ibn Taymiyya auch.24


1Dschahd, S. 145. Also see Tawhīd al-ulūhiyya, S. 48.

2Mufassal, S. 40.

3Für eine aufschlussreiche kritische Analyse des Gebrauchs der analogischen Prädikation (oder Analogie) siehe Kaufmann, Critique, S. 183-189.

4Radd, S. 356; Dschahd, S. 235; Mufassal, S. 40; Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 15.

5Tafsīl, S. 41; Muwāfaqa, 2: 254-255; Fitra, S. 325-326.

6Fitra, S. 325. Siehe auch Radd, S. 254-255 (Dschahd, S. 213), wo er anerkennt, dass es immer mehr als einen Weg zur Erlangung von Erkenntnis bezüglich irgendeines Erkennbaren gibt, obschon viele dieser Wege redundant sind. Diese Aussage muss so verstanden werden, dass diese Wege Arten oder Weisen des Denkens sind, die unter die Kategorie des Schlussfolgerns subsumiert werden können.

7Muwāfaqa, 2: 10, 254, 263; Tawhīd ar-rubūbiyya, S. 15, 72; Tafsīl, S. 41; Naqdh, S. 39; Tawhīd al-ulūhiyya, S. 45, 47 ,48; Fitra, 325 ff.; Mufassal, S. 40, 45. Siehe auch Ibn Qayyim al-Dschawziyya, Schifāʾ, S. 302 ff.

8Ibn Mandhūr, Lisān al-ʿarab, 5: 56b ff.

9Siehe Fitra, S. 328, wo Ibn Taymiyya zwischen fitra und ʿaql (Vernunft) unterscheidet.

10Tafsīl, S. 41; Ibn Qayyim al-Dschawziyya, Schifāʾ, S. 283; Ibn Mandhūr, Lisān al-ʿarab, S. 56b.

11Mufassal, S. 32; Naqdh, S. 29.

12Fitra, S. 326; Mufassal, S. 247.

13Fitra, S. 325, 329, 333; Mufassal, S. 40, 45; Tafsīl, S. 41.

14Muwāfaqa, 2: 10.

15Siehe beispielsweise Tafsīl, S. 41; Muwāfaqa, 1: 76; 2: 263; Mufassal, S. 45; Fitra, S. 329, 333. Siehe auch Anmerkung 45 unten.

16Siehe beispielsweise Baghdādī, Usūl ad-dīn, S. 8.

17Dschahd, S. 138-139; Mufassal, S. 140-141.

18Fitra, S. 325.

19Siehe beispielsweise Muwāfaqa, 2: 253, wo er die negative Wirkung der Philosophen auf die fitra ausdrücklich erwähnt. Siehe ebenfalls Radd, S. 147-148; Dschahd, S. 138-139.

20Tasawwuf, S. 377. Abū Yaʿlā al-Farrāʾ war ein führender hanbalitischer Theologe und Rechtsgelehrter in der ersten Hälfte des fünften/elften Jahrhunderts.

21Fitra, S. 325, 329: (»fahya fī al-asl dharūriyya wa-qad takūn nadhariyya« [S. 325, Zeile 5]). In der Hierarchie der Schlussverfahren weist Ibn Taymiyya dem argumentum a fortiori einen höheren Rang zu. Siehe Muwāfaqa, 1: 14; Radd, S. 150; Dschahd, S. 141.

22Siehe Anmerkung 24 oben.

23Fitra, S. 330.

24Ebenda, S. 329. Siehe auch Tafsīl, S. 41, wo er feststellt, dass es Belege und Beweise für die Existenz Gottes für diejenigen, die ihre ursprüngliche fitra verloren haben, zuhauf gibt.