ERSTER TEIL - UNMÖGLICHER STAAT?
ERSTER TEIL - UNMÖGLICHER STAAT? Yusuf Kuhn1 Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität
1 Der unmögliche Staat: Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität Yusuf KuhnVorbemerkung
Dieser Text ist eine ausführliche Vorstellung des Buches The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament von Wael B. Hallaq.
1.1 Einführung
1.1 Einführung Yusuf KuhnWael B. Hallaq
1.1.1 Die moralische Dimension
An die Darstellungsweise seiner großen Studie über die Geschichte der Scharia knüpft Hallaq auch mit seinem Buch The Impossible State (Der unmögliche Staat) an, allerdings mit einem bemerkenswerten Unterschied, auf den der Autor ausdrücklich hinweist: Nicht nur werden die historische Darstellung des modernen Staates im islamischen Kontext und ihre theoretischen Implikationen breiter ausgeführt, indem sie mit Bezug auf westliche Wissenschaften wie Politologie, Rechtswissenschaft und Moralphilosophie erörtert werden, sondern vor allem besitzt diese Studie auch eine normative Dimension.
Hallaq stellt am Ende der Einleitung klar, dass »dieses Buch nicht lediglich eine Geschichte des islamischen Rechts ist«;
[…] während es Mannigfaltigkeit, Unordentlichkeit (messiness) und Verletzungen (violations) in der langen Geschichte der Scharia anerkennt und in Rechnung stellt, zieht es Nutzen aus dem Begriff des Paradigmas, um aus einer paradigmatischen Struktur heraus die moralische Dimension wiederzugewinnen, die gleichwohl diese komplexen und verworrenen Realien durchdringt. (S. xiv)
Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013.
Was dies genau zu bedeuten hat, wird sich hoffentlich im Verlauf der Vorstellung des Buches aufklären. Es sollte hier lediglich vorab schon auf diesen wichtigen Aspekt aufmerksam gemacht werden. Denn es soll dem Eindruck vorgebeugt werden, der gleichwohl häufig zu entstehen scheint und auch in etlichen Rezensionen des Buches zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich um eine historische Darstellung der Geschichte des islamischen Rechts handele, die allzu beschönigend, verklärt oder gar rosig ausfalle. Doch dabei gerät offenkundig die entscheidende Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer paradigmatischen Darstellung aus dem Blick. Es geht also keineswegs um eine Beschönigung, Verschleierung oder gar Leugnung von Unrecht, Unterdrückung, Gewalt oder Rechtsverletzungen in der islamischen Geschichte, die vielmehr als solche anerkannt werden, sondern um einen anderen Blick auf diese Geschichte, der den Begriff des Paradigmas ins Zentrum stellt. Hallaq versucht diesem Missverständnis in einer Anmerkung entgegenzuwirken, auf die eben schon Bezug genommen worden ist und die darüber hinaus zur weiteren Klärung vollständig wiedergegeben sei:
Es muss hier so klar wie möglich gemacht werden, dass mein Narrativ des vormodernen islamischen Rechts auf dem beruht, was ich in Sharīʿa
Siehe Wael B. Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, New York, Cambridge University Press, 2009. und IntroductionSiehe Wael B. Hallaq, An Introduction to Islamic Law, New York, Cambridge University Press, 2009. dargelegt habe. Das vorliegende Werk als Abweichung von diesen beiden Büchern oder als Ausdruck eines Wechsels in Richtung einer Reduktion der Komplexität dieses Narrativs zu betrachten, ist eine Versuchung, der widerstanden werden sollte. Wenn die Leserin, die mit meinem früheren Werk vertraut ist, eine derartige qualitative Differenz im Narrativ feststellt, so ist ihr dringlich anzuraten, dies in Begriffen der hier dargelegten Theorie des Paradigmas zu verstehen. Es sollte klar werden, dass unser Narrativ des vormodernen islamischen Rechts in einer Weise gestaltet ist, die dem vorliegenden Projekt angemessen ist, nämlich dem, was wir moralische Wiederherstellung genannt haben. Daher ist der vorliegende Band nicht eine Geschichte des islamischen Rechts und sollte nicht als solche betrachtet werden. (S. 174, Fußnote 22)
Damit sollte deutlich geworden sein, dass es keineswegs um ein nostalgisches Plädoyer für eine Rückkehr in eine vermeintliche Idylle geht, sondern vielmehr, in voller Anerkennung der Kluft zwischen sozialer Wirklichkeit und Norm, um eine vergleichende Reflexion über unterschiedliche Paradigmen, die zwar Einfluss auf die soziale Wirklichkeit haben, aber weit davon entfernt sind, diese kraft ihrer Normativität vollständig zu determinieren. Es ist hier nicht der Ort, diesen Ansatz weiter auszuführen, der durch die folgende Darstellung ohnehin ausführlich erläutert werden soll. An dieser Stelle muss es genügen, auf dieses mögliche Missverständnis mit aller Deutlichkeit hingewiesen zu haben, so dass die weitere Darlegung in diesem klärenden Lichte betrachtet werden kann. Wer dennoch dazu neigt, einen entsprechenden Vorwurf der Nostalgie zu erheben, sollte dies allerdings in voller Kenntnis der in obigem Zitat erwähnten beiden Bände tun, und nicht allein auf der Grundlage des hier erörterten Buches The Impossible State, das aus den genannten Gründen nicht der geeignete Adressat einer solchen Kritik sein kann.
Ein weiteres Missverständnis bestünde in der Annahme, dass sich aus der in diesem Buch vorgenommenen Analyse des modernen Staates unmittelbar Schlüsse über das politische Verhältnis von Muslimen, die in einem solchen Staat leben, zu eben diesem Staat ableiten ließen. Diese müssten in der Tat Kurzschlüsse sein, da diese Frage hier überhaupt nicht thematisiert wird und daher die nötigen Voraussetzungen gar nicht vorliegen, um daraus entsprechende Schlüsse ziehen zu können.
Nachdem also einiges dazu gesagt worden ist, worum es in diesem Buch nicht geht, um gängigen Missverständnissen möglichst vorzubeugen, nun aber näherhin zum eigentlichen Inhalt: Wovon handelt dieses Buch?
1.1.2 Staat, Islam, Moral: Worum geht es?
Zunächst sei der Titel kurz erläutert. Hallaq vertritt die These, dass der moderne Staat und der Islam nicht vereinbar sind. Der unmögliche Staat (The Impossible State) des Titels ist also der moderne und zugleich islamische Staat. Die tieferen Gründe für diese Unvereinbarkeit liegen nicht, wie das Thema des Staates vermuten lassen könnte, allein auf der politischen Ebene, sondern im wesentlichen auf der moralischen Ebene. Daher besitzen in dieser Untersuchung moralphilosophische Überlegungen und insbesondere die Diagnose einer tiefen moralischen Krise der modernen westlichen Zivilisation einen zentralen Stellenwert. So erklärt sich auch der Untertitel: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament (Islam, Politik und die moralische Misere der Modernität). Und diese Krise ist so tief, dass nicht nur der moderne islamische Staat, sondern der moderne Staat selbst und darüber hinaus das Überleben der Menschheit insgesamt fraglich werden.
Die Krise übergreift westliche und islamische Zivilisation. Sie strahlt vom Westen auf den ganzen »Rest« aus, ist universell und verlangt nach entsprechenden Lösungen. Schließlich haben, wie Hallaq resümiert, Muslime kein Monopol auf Krise. Welche Rolle spielt dabei der moderne Staat selbst und sein Verhältnis zum Islam? Welche Bedeutung kommt der moralischen Grundlagenkrise der westlichen Kultur und deren Verhältnis zum Islam zu? Gibt es einen Ausweg aus der universellen Krise? Hallaq wirft diese Fragen auf und stellt sich ihnen, übrigens nicht aus einer muslimischen Perspektive, sondern, wie er immer wieder betont, aus der Sicht eines Beobachters, der durch seine kulturübergreifenden Analysen diskursive Schnittstellen zwischen westlicher und islamischer Zivilisation schafft und so das Gespräch all derer befördert, die erkannt haben, dass die universelle Krise, welche die geistige wie die physische Existenz aller Menschen in einem Strudel der Sinnlosigkeit und Vernichtung zu verschlingen droht, nur durch gemeinsame Anstrengung und Verantwortlichkeit überwunden werden kann.
1.2 Einleitung
1.2 Einleitung Yusuf Kuhn1.2.1 These der Unvereinbarkeit von Islam und modernem Staat
Der Autor beginnt die Einleitung mit einer knappen und klaren Darlegung der zentralen These:
Das Argument dieses Buches ist ziemlich einfach: Der »islamische Staat« ist, gemessen an irgendeiner Standarddefinition dessen, was den modernen Staat ausmacht, sowohl eine Unmöglichkeit wie auch ein Widerspruch in sich. (S. ix)
Das Buch dient der Darstellung, Erläuterung und Begründung dieser These samt ihrer weitreichenden Konsequenzen.
Die Scharia, das moralische Recht des Islam – wie Hallaq sagt –, hatte über zwölf Jahrhunderte lang Gesellschaft und Regierung als höchste moralische und rechtliche Kraft erfolgreich geordnet. Hallaq setzt dieses »Recht« ganz richtig in Anführungszeichen, denn die Scharia war immer sehr viel mehr und anderes als bloßes Recht. Scharia mit Recht gleichzusetzen, wäre daher ein großer Fehler. Um dem von vornherein zu wehren, betont Hallaq den moralischen Charakter der Scharia.
Zudem führt er sogleich den Begriff des Paradigmas ein, dem in seiner Analyse große Bedeutung zukommt, wie sich im Fortgang zeigen wird, indem er feststellt:
Dieses »Recht« war paradigmatisch, da es als zentrales System von hohen und allgemeinen Normen von den Gesellschaften und den dynastischen Mächten, die über sie regierten, Anerkennung fand. (S. ix)
Doch die von der Scharia geleitete soziale und politische Ordnung wurde seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts durch das kolonialistische Europa strukturell zersetzt. Dadurch wurde die Scharia selbst ausgehöhlt und auf einen Status herabgesetzt, der ihr keine andere Rolle mehr beließ als die Lieferung von Rohmaterial für die Gesetzgebung des modernen Staates auf dem Gebiet des Personenstandsrechts. Und selbst in diesem beschränkten Bereich verlor die Scharia ihre Selbständigkeit und gesellschaftliche Wirksamkeit zugunsten des modernen Staates. Die Scharia sollte fortan nur noch als Lieferant bestimmter Vorkehrungen dienen, welche die Gesetzgebung des Staates legitimieren sollten und zu diesem Zweck umgeformt und geradezu wieder erschaffen wurden.
Diese Entwicklung änderte nicht allzu viel daran, dass die Scharia gleichwohl ihre zentrale Stellung für die große Mehrheit der Muslime als eine und wohl die entscheidende geistige Quelle für ihr Leben und für alle religiöse und moralische Autorität beibehielt. Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass sich daher die überwältigende Mehrheit der modernen Muslime eine Rückkehr der Scharia wünscht. Warum dies so ist, wird in der folgenden Untersuchung deutlich werden, obgleich dies, wie Hallaq betont, nicht die mit ihr verfolgte Absicht ist.
Dieser Wunsch heutiger Muslime mündet jedoch unter den Bedingungen der Moderne in eine ausweglose Lage, derer sich kaum jemand bewusst ist. Nicht nur wird kein Widerspruch erkannt, sondern die meisten Muslime und ganz besonders ihre führenden Intellektuellen betrachten den modernen Staat als selbstverständliche und natürliche Wirklichkeit. Sie nehmen nicht nur an, dass er während des gesamten Verlaufs der langen muslimischen Geschichte existiert habe, sondern darüber hinaus auch noch im Islam selbst seine Rechtfertigung finde. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Hallaq verweist u.a. auf den pakistanischen Intellektuellen al-Mawdudi.
Als wenn dies nicht schon genügen würde, wird überdies der Nationalismus, ein vor der Moderne unbekanntes Phänomen, das von einzigartiger Bedeutung für die Herausbildung des modernen Staates ist, auf islamische Grundlagen zurückgeführt, wie etwa die sogenannte Verfassung von Medina. Und auch so moderne Begriffe wie Bürgerschaft, Demokratie und Wahlrecht sollen in den islamischen Grundlagen verankert oder zumindest von den frühen islamischen Gesellschaften ausgebildet worden sein. Andere wiederum mit einem etwas mehr autoritären Staatsverständnis meinen, den modernen Staat islamisieren zu können, indem er um bestimmte drakonische Strafen bereichert wird, die vorgeblich aus der Scharia abgeleitet werden, jedoch in Wirklichkeit gegen die von ihr vorgesehene Verfahrensweise und Berücksichtigung der sozialen Umstände verstoßen.
Hallaq zieht daraus den Schluss:
Moderne Muslime sind daher mit der Herausforderung konfrontiert, zwei Tatsachen miteinander zu vereinbaren: erstens die ontologische Tatsache des Staates und seiner unbestreitbar mächtigen Präsenz und zweitens die deontologische Tatsache der Notwendigkeit, eine Form der Scharia-Gouvernanz herbeizuführen. (S. x)
Moderne Muslime stehen also vor der Aufgabe, angesichts der Existenz des modernen Staates und seiner Macht dem islamischen und moralischen Gebot gerecht zu werden, eine Gesellschaft zu schaffen, deren Ordnung und Zusammenhalt von der Scharia gewährleistet wird – mittels einer Form der Scharia-Gouvernanz. Ich habe den englischen Ausdruck governance absichtlich unübersetzt gelassen oder, genauer gesagt, durch die deutsche Entsprechung des französischen Wortes gouvernance ersetzt, daher »Gouvernanz«. Dieses Wort hat sich im Deutschen bisher zwar nicht wirklich durchsetzen können, bleibt aber mangels Alternative die bessere Wahl, wenn der Bedeutungshorizont nicht vorschnell eingeschränkt werden soll, was mit einer Übersetzung als Regierung oder auch Regierungsform geschehen würde. Denn der Begriff der governance (Gouvernanz) soll ja gerade auf die Wichtigkeit auch außerstaatlicher Lenkungsformen anspielen. Umgekehrt wäre eine Übersetzung mit Lenkungsform wiederum zu allgemein, da somit der Bezug auf den Staat verlorenzugehen drohte. Ich gehe hier deswegen so ausführlich auf Fragen der Übersetzung ein, weil damit inhaltliche Fragen eng verknüpft sind, die dadurch ersichtlich werden. Der Begriff der Gouvernanz soll daher im folgenden beibehalten werden, auch um den offenen Charakter der Frage zu betonen, was – im Unterschied und möglicherweise Gegensatz zu »Staat« oder »Regierung« – »Gouvernanz« wohl bedeuten wie auch worin diese Gouvernanz tatsächlich bestehen könnte.
Trotz der realen Schwierigkeiten und des Scheiterns vieler Versuche bei der Errichtung eines »islamischen Staates« bleibt der Staat die Folie, auf deren Hintergrund moderne muslimische Intellektuelle in der Gestalt von »Islamisten« ihre Projekte entwerfen. An Beispielen dafür, wie gesagt, mangelt es nicht. Hallaq führt eine »repräsentative Stellungnahme« der Organisation der Muslimbrüder (ikhwān al-muslimīn) an, in der es heißt, dass der moderne Nationalstaat »nicht im Widerspruch zur Anwendung der Scharia steht« oder zumindest »stehen sollte«, was durch entsprechende Maßnahmen im Rahmen einer fortschreitenden Entwicklung zu erreichen sei. Ein Zwischentitel dieses Dokuments bringt es auf den Punkt: »Es gibt keinen Widerspruch zwischen dem Nationalstaat und der islamischen Scharia« (siehe S. xi).
Gleiches gilt für die islamistische Konkurrenz auf der ägyptischen politischen Bühne in Gestalt der von Saudi-Arabien unterstützten wahhabitischen, ihrem Selbstverständnis zufolge salafistischen Partei an-Nūr. Sie spricht sich in ihren Erklärungen für die Anwendung der Scharia aus, ohne die Bedeutung dieses Ausdrucks näher zu erläutern, und erklärt zugleich, dass ihr höchstes Ziel darin bestehe, einen »islamisch gegründeten demokratischen Nationalstaat« (siehe S. xi) aufzubauen.
Gegenüber diesem Ansinnen betont Hallaq, dass es sehr wohl einen Widerspruch zwischen modernem Staat und Islam gibt:
Jedwede Konzeption eines modernen islamischen Staates ist inhärent selbstwidersprüchlich. (S. xi; Hervorhebungen im Original)
Für das Verständnis dieser These ist es von großer Wichtigkeit, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die Begründung, wie sie im Verlauf der Untersuchung vorgetragen wird, nicht ausschließlich auf der politischen Ebene verbleibt, sondern weit darüber hinausgeht, indem die Grundlagen des modernen Staates in den sehr viel weiter gefassten Strukturen des Projekts der Moderne verortet und auf dieser dann auch moralphilosophischen Ebene in ihrem Verhältnis zur Scharia verhandelt werden.
Das ist vielleicht der Ort, um deutlich darauf aufmerksam zu machen, worum es nicht geht. Denn es könnte sich angesichts dieser These das Missverständnis einstellen, es solle behauptet werden, dass die Scharia oder eine Form der islamischen Gouvernanz in dieser Welt überhaupt keinen Platz finden könne. Das Gegenteil ist richtig. Um nicht falsch verstanden zu werden, stellt Hallaq nachdrücklich fest:
Daher muss ein für alle Mal festgestellt werden, dass das Argument dieses Buches auf der Prämisse beruht, dass eine kreative Reformulierung der Scharia und der islamischen Gouvernanz eine der bedeutendsten und konstruktivsten Weisen sein kann, das moderne Projekt umzugestalten, denn es hat einen moralischen Wiederaufbau bitter nötig. […] Dieser Wiederaufbau und seine politischen und rechtlichen Folgeerscheinungen sind für Muslime nicht vorstellbar ohne eine richtige Diagnose des Problems des »islamischen Staates«, woraus sich ebenfalls erklärt, warum ein robuster Entwurf für solch eine zukünftige Rekonstruktion ein echtes Verstehen des vielschichtigen Widerspruchs, der jedwedem Konzept des »islamischen Staates« innewohnt, zur Voraussetzung hat. (S. 172-173, Fußnote 15)
Das Projekt der Moderne und die moderne Gesellschaft selbst bedürfen der moralischen Erneuerung, zu der eine Wiederbelebung des islamischen Denkens und der Scharia einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten könnte, vorausgesetzt, dass das moderne Denken einer ernsthaften Prüfung und Kritik unterzogen wird. Wie sich zeigen wird, kann und muss dabei an die bereits geleistete interne Kritik angeknüpft werden, wodurch erstaunliche Überschneidungen und Parallelen kenntlich werden.
Vielleicht muss an eine Tatsache erinnert werden, die allzu leicht aus dem Blick gerät: Auch die Muslime leben in der Modernität und sind insofern ebenfalls Teil des Projekts der Moderne. Wenn also diese Modernität eine moralische Misere erfährt, sind alle davon betroffen, die daran teilhaben. Hallaq vertritt die These, dass die Widersprüche, die das Konzept des modernen islamischen Staates birgt, ihre hauptsächlichen und wesentlichen Gründe in der moralischen Misere der Modernität haben. Die politischen und ökonomischen Probleme gehen letztlich auf diese moralische Misere zurück. Was bedeutet, dass die Aufhebung der moralischen Misere auch zu einer Lösung der politischen und ökonomischen Probleme führen würde, oder zumindest einen wesentlichen Beitrag dazu leisten würde.
Hallaq beschließt daher diesen Abschnitt seines Gedankengangs mit folgender Bemerkung:
Die inhärenten Widersprüche jeder Konzeption eines modernen muslimischen Staates erfassen – kraft des gewaltigen vertikalen Effekts und der horizontalen Macht des modernen Staates – nicht nur das gesamte Spektrum dessen, was als die »Krise des modernen Islam« beschrieben worden ist, sondern implizieren auch die moralischen Dimensionen des modernen Projekts in unserer Welt von Anfang bis Ende. Dieses Buch ist daher ein Essay in moralischem Denken mehr noch als ein Kommentar über Politik oder Recht. (S. xi-xii)
1.2.2 Wie wird die These der Unvereinbarkeit entfaltet?
Zur Entfaltung der These der Unvereinbarkeit ist es erforderlich, einerseits die »paradigmatische islamische Gouvernanz« wie auch andererseits den »paradigmatischen modernen Staat« zu beschreiben. Dies erfolgt jeweils in Kapitel 1 und 2. Zur Vorbereitung darauf wird der Begriff des Paradigmas vorgestellt. Da das Argument mit vielen Annahmen des Modernismus in Konflikt gerät, ist es unvermeidbar, die Ideologie zu erörtern, die einem weit verbreiteten Denken über Modernität und die Leistungen der Moderne zugrunde liegt. Und im Zentrum dieser Ideologie steht die Idee des Fortschritts.
In Kapitel 2 werden dann Eigenschaften des Staates ausgezeichnet, die trotz aller vielfältigen historischen Entwicklungen seinen Wesenskern ausmachen. Dazu gehören die Ideen des souveränen Willens und der Herrschaft des Rechts (rule of law). Ich übersetze rule of law nicht mit Rechtsstaatlichkeit, weil damit eine zu große Nähe zwischen Recht und Staat im Sinne von Gesetzmäßigkeit oder gar Identität von Recht und Staat vorausgesetzt wäre, was mit dem vorgetragenen Argument jedoch nicht vereinbar ist. Denn das auf moralischer Grundlage verstandene Recht im Sinne der Scharia kann und darf keinesfalls darauf eingeschränkt werden.
Die beiden genannten Ideen werden in Kapitel 3 in Begriffen der Theorie und Praxis der Gewaltenteilung untersucht. Dies dient dazu, den konstitutionellen Bezugsrahmen sowohl des modernen Staates als auch der islamischen Gouvernanz herauszustellen, um zugleich damit die konstitutionellen Unterschiede dieser beiden Formen der Gouvernanz aufzuzeigen.
Dies führt in Kapitel 4 zu einer weitergehenden Erkundung der Bedeutung des Rechts und seines Verhältnisses zur Moral. Diese eher philosophische Abhandlung rückt die qualitativen Differenzen der beiden Konzeptionen des Rechts in den Vordergrund. Darauf aufbauend werden sodann die politischen Differenzen analysiert, die sich als ebenso inkompatibel erweisen.
Kapitel 5 vollzieht dann einen Wechsel von den Ordnungen des Denkens und der Politik auf die Ebene des Selbst und der Subjektivität. Der moderne Nationalstaat und die islamische Gouvernanz verfügen über sehr unterschiedliche Verfahren, Subjektivität auszubilden, die Hallaq im Anschluss an Foucault als »Technologien des Selbst« bezeichnet. Die durch diese beiden paradigmatischen Felder erzeugten Subjekte verfügen dementsprechend über »zwei verschiedene Arten von moralischen, politischen, epistemischen und psychosozialen Konzeptionen der Welt.« (S. xiii)
In Kapitel 6 wird sodann die Frage aufgeworfen, was geschehen würde, wenn gegen alle Hemmnisse eine islamische Gouvernanz tatsächlich verwirklicht werden sollte. Hallaq argumentiert, dass die modernen Formen der Globalisierung und die Stellung des Staates darin jede Ausprägung der islamischen Gouvernanz völlig unmöglich oder zumindest auf längere Sicht nicht überlebensfähig machen würden. Das kann freilich nur als verstärkendes Argument verstanden werden, da die Hauptthese ja besagt, dass eine islamische Gouvernanz unter den Bedingungen der Moderne ohnehin unhaltbar ist, da sie schon aufgrund der Widersprüche unmöglich ist.
Im abschließenden siebten Kapitel wird die moderne Krise der Moral einer genaueren Untersuchung unterzogen. Die strukturellen und begrifflichen Grundlagen der modernen Moralphilosophie werden als die Wurzel der moralischen Misere ausgemacht, welche die Moderne in allen ihren Gestalten in Ost und West erfahren hat. Hallaq stellt fest:
Wir bestehen darauf, dass es, wenn die Unmöglichkeit der islamischen Gouvernanz in der modernen Welt direkt das Ergebnis des Fehlens einer günstigen moralischen Umgebung ist, die den minimalen Standards und Anforderungen dieser Gouvernanz genügen kann, dann geboten ist, diese moralisch begründete Unmöglichkeit mit den weiteren problematischen Kontexten in Verbindung zu bringen, welche die moralischen Schwierigkeiten der Modernität erzeugt haben. Daher argumentieren wir, dass diese Unmöglichkeit lediglich eine weitere Manifestation – und ein steter Begleiter – einer Reihe von anderen Problemen ist, zu denen nicht zuletzt der zunehmende Zerfall der organischen sozialen Einheiten, das Wachstum der ökonomischen Ungerechtigkeit und in erster Linie die Zerstörung der natürlichen Wohnstätte und der Umwelt gehören. All dies wird in diesem Buch als ebenso philosophisch-moralische und epistemische wie auch materielle und physikalische Angelegenheit betrachtet. Wir finden in der Tat bei näherer Betrachtung der internen moralischen Kritiken innerhalb der westlichen Postmodernität enge Parallelen, sogar eine virtuelle Identität, zwischen ihnen und den latenten Bedeutungen des modernen muslimischen Rufs nach der Errichtung einer islamischen Gouvernanz. (S. xiii)
1.3 Prämissen
1.3 Prämissen Yusuf KuhnWenn ein moderner islamischer Staat unmöglich und sogar ein Widerspruch in sich ist, drängen sich zwei Fragen auf: Welche Form der Gouvernanz haben Muslime in der Vergangenheit praktiziert? Und welche Regierungsformen bestehen in der gegenwärtigen muslimischen Welt? Diese Fragen stellen sich insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte der letzten zweihundert Jahre, die von Kolonialherrschaft und postkolonialer nationalistischer Reaktion und Kontinuität geprägt war.
1.3.1 Kolonialismus, Staat, Scharia
Hallaq geht davon aus, dass die postkolonialen nationalistischen Eliten die Machtstrukturen, die ihnen der Kolonialismus vermacht hatte, aufrechterhalten und nach der Erlangung der Unabhängigkeit keinen wirklichen Bruch mit der Kolonialpolitik vollzogen haben. Die europäischen Kolonialmächte vermachten ihnen einen Nationalstaat samt seiner konstitutiven Machtstrukturen, der nicht zu den bestehenden Gesellschaftsformen passte. Das paradigmatische Konzept des Bürgers, ohne das kein Staat bestehen kann, bildete sich nur sehr schleppend heraus. Die politischen Lücken, die durch die Zerstörung der traditionellen Strukturen aufbrachen, wurden nicht angemessen aufgefüllt. Der Nationalstaat stand daher immer in einem Spannungsverhältnis zu den Gesellschaften in der muslimischen Welt. Die politische Organisation, die vom Kolonialismus übernommen und danach weiter ausgebaut wurde, blieb stets von Autoritarismus und Unterdrückung gekennzeichnet. Soweit die Scharia für die Regierungsform in Anspruch genommen wurde, ging dies kaum über bloße Lippenbekenntnisse hinaus. Wo mehr angestrebt wurde, hat der Staatsapparat die Scharia-Normen der Gouvernanz in seinen Dienst gestellt und entstellt, woraus sich in der Folge ergeben hat, dass sowohl die islamische Gouvernanz als auch der moderne Staat als politische Projekte misslungen sind.
Das moderne Experiment in der muslimischen Welt muss daher als in politischer und rechtlicher Hinsicht gescheitert gelten. Aus ihm können keine positiven Lehren darüber gezogen werden, wie Muslime sich selbst regieren sollten. Dass die »Scharia« in etlichen Verfassungen als »eine« oder »die« Quelle des Rechts verankert wurde, ändert nichts daran, dass sie institutionell tot und politisch missbraucht ist. Für die Frage nach einer islamischen Gouvernanz hat die Erfahrung mit dem modernen Staat und seiner sogenannten »Scharia« keinen positiven Beitrag zu leisten. Daher muss sich unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was die Scharia für Muslime während der zwölf Jahrhunderte vor der Kolonialzeit bedeutete, als ihr noch der Rang eines Paradigmas zukam.
So bleibt einzig die Frage, wie sich Muslime in der vorkolonialen Geschichte organisiert und regiert haben. Wenn die These von der Unmöglichkeit eines modernen islamischen Staates zutrifft, kann es eine solche Regierungsform nicht gegeben haben. Aber auch historische Gründe schließen diese Möglichkeit aus, da der moderne Staat ausschließlich ein Produkt der europäischen Geschichte ist. Zudem sprechen nicht-historische Gründe dafür, denn es bestand eine qualitative Differenz bereits zwischen vormodernen prototypischen »Staaten« und vormodern islamischen Formen der Gouvernanz. Wer letztere unterschiedslos als vormoderne »Staaten« klassifiziert, macht sich Hallaq zufolge des Versäumnisses schuldig, die paradigmatischen Kräfte nicht gebührend zu berücksichtigen, die der »islamischen Gouvernanz« Form und Inhalt verliehen.
Gestalt und Verfassung der modernen Welt sind weitgehend von den materiellen und geistigen Institutionen des übermächtigen Europas samt seinem kolonialen Ableger Nordamerika bestimmt. Während der Westen in einer Gegenwart lebt, die immerhin aus seiner eigenen Geschichte mit Aufklärung, industrieller Revolution, moderner Wissenschaft, Nationalismus, Kapitalismus und amerikanisch-französischer Verfassungstradition hervorging, wurden dem »Rest« der Welt die Bedingungen der Modernität von außen aufgezwungen. Die meisten Menschen wurden ihrer eigenen Geschichte und Lebensweise beraubt. Die politischen, rechtlichen und kulturellen Kämpfe der heutigen Muslime entspringen daher in hohem Maße der durch die westliche Vorherrschaft gegen ihren eigenen Willen erzeugten Spannungen zwischen den moralischen Realitäten der modernen Welt, in denen sie zwangsweise leben müssen, einerseits und ihren eigenen moralischen und kulturellen Bestrebungen und Hoffnungen andererseits. Der hegemoniale Diskurs der Modernität lässt ihnen dabei nur die Wahl zwischen Untergang und Anpassung, bestenfalls Aufholen. Fortschritt jedenfalls gibt es nur um den Preis des Verlusts der eigenen Traditionen und historischen Erfahrungen. Und meist führen die Anstrengungen in diese Richtung ohnehin nur in verheerende Kriege, Armut, Elend, Krankheit und Zerstörung der Natur.
Die Fürsprecher des modernen Projekts mögen dagegenhalten, dass es Armut und Elend schon immer gegeben habe und gerade der Fortschritt einen Ausweg aufzeige. Hallaq begegnet ihnen mit drei Gegenargumenten. Erstens sind Armut und Elend unter den Bedingungen der Moderne allemal nicht mehr das Werk der Natur, sondern menschengemacht, also Produkt von Kapitalismus, Industrialismus und der damit einhergehenden Naturzerstörung; sie sind eben Wirkungen des sogenannten Fortschritts. Zweitens führt die durch den staatlichen Kapitalismus hervorgerufene Zersplitterung der Gesellschaft zur Auflösung der traditionellen Familie und Gemeinschaft und zur Herausbildung des entzauberten, fragmentierten und narzisstischen Individuums; dieser Zusammenbruch ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Projekts. Drittens kann es keinen Zweifel an den zerstörerischen Folgen des modernen Projekts für die natürliche Umwelt geben.
Dieses Projekt der Zerstörung muss auf einer moralischen Grundlage untersucht und bewertet werden, wie Hallaq unmissverständlich deutlich macht:
Es ist ein Desaster, für das wir alle verurteilt werden müssen, nicht als wissenschaftlich bestimmter homo oeconomicus oder bloß als unverantwortliche Konsumenten, sondern als moralisch verantwortliche Wesen. Die moralischen und anderen Implikationen dieses Projektes sind im wesentlichen epistemologischer Natur, denn sie betreffen unsere Philosophien, Soziologien, Wissenschaften, Technologien, Politiken und alles, was wir tun. (S. 4)
Alle drei Gegenargumente sind mit unserer Konstitution als moralische Subjekte untrennbar verbunden und müssen auf moralische Verantwortung hin befragt werden. Erst die Marginalisierung der moralischen Dimension und ihre Abspaltung von Wissenschaft, Ökonomie und Recht, die zum Wesen des modernen Projekts gehören, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass soziale Ungerechtigkeit, gesellschaftliche Auflösung und Naturzerstörung in einem solchen Ausmaß hervorgebracht werden konnten. Selbst nach Maßgabe der Aufklärung, die doch meist immerhin Moral auf rationaler Grundlage predigt, - geschweige denn nach islamischen Ansprüchen – sollte die Frage nach der moralischen Verantwortung nicht völlig aufgegeben werden. Und die Fürsprecher der Moderne müssen sich zumindest vorhalten lassen, dass das Verständnis moralisch verantwortlichen Handelns in vormodernen Gesellschaften eine hohe Hürde gegen die Durchführung des Projekts der Zerstörung gebildet hätte, wenn letzteres dieses Verständnis freilich nicht ohnehin völlig neutralisiert und unterminiert hätte. Menschen, die sich bewusst sind, für die Folgen ihres Handelns zur Verantwortung gezogen zu werden, und die mit den verheerenden Konsequenzen nicht leben können und wollen, bilden sich nur unter sorgsam gewählten und gehüteten Bedingungen heraus. Doch alle dafür erforderlichen Voraussetzungen und Schranken wurden vom Projekt der Moderne niedergerissen. Und der Staat hat dabei eine ebenso entscheidende wie unrühmliche Rolle gespielt.
1.3.2 Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin – »sogenannte«, weil es sich um eine konstruierte eurozentrische Tradition handelt. Denn Platon und Aristoteles sind keineswegs so eindeutig »europäisch«, sondern vielmehr durch einen Prozess der Ausblendung dazu gemacht worden, und Thomas von Aquin könnte durchaus als Schüler des arabischen und muslimischen Philosophen Ibn Ruschd gelten.
Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
So schreibt MacIntyre etwa:
Gibt es also solch eine alternative Weise des Verstehens? Wessen hat uns die Aufklärung beraubt? Wofür uns die Aufklärung größtenteils blind gemacht hat und was wir wiedererlangen müssen, ist, so werde ich argumentieren, eine Konzeption der rationalen Untersuchung als in einer Tradition verkörpert, eine Konzeption, der zufolge die Maßstäbe der rationalen Rechtfertigung selbst aus einer Geschichte hervorgehen und zu dieser gehören, in der sie bestätigt werden durch die Weise, in der sie die Grenzen überschreiten und Abhilfen für die Mängel ihrer Vorgänger innerhalb der Geschichte eben derselben Tradition liefern.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana, 1988, S. 7; Hallaq zitiert lediglich einen kleinen Ausschnitt davon.
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Hallaq beschreibt diese Lebensweise auch als paradigmatische islamische Gouvernanz, um einen qualitativen Unterschied zwischen einem Leben in, unter und mit dem modernen Staat einerseits und einem Leben in, unter und mit der vormodernen Scharia andererseits zu kennzeichnen. Beide Daseinsweisen verfügen zwar über eine ähnliche hegemoniale Reichweite, unterscheiden sich aber auf dramatische Weise in nahezu allen anderen Hinsichten.
1.3.3 Begriff des Paradigmas
Der Begriff des Paradigmas dient dazu, die beiden Phänomene miteinander vergleichen zu können, indem jeweils entsprechende systemische Eigenschaften und »Triebkräfte«, welche die »Ordnung der Dinge« bestimmen, identifiziert werden. Hallaq schließt dabei an Carl Schmitt, Thomas S. Kuhn und Michel Foucault an.
Hallaq wählt als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffs des Paradigmas den von Carl Schmitt geprägten Begriff des Zentralgebiets. Schmitt schreibt in Der Begriff des Politischen:
Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selbst ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebiets gelöst sind.
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München und Leipzig, 1932, S. 72.
Als Beispiel wählt Schmitt die europäische Vorstellung des Fortschritts, die zeitweilig paradigmatisch im Sinne von Hallaq war. Schmitt fährt also fort:
Ich darf das an einem Beispiel deutlich machen. Die Vorstellung eines Fortschritts z. B., einer Besserung und Vervollkommnung, modern gesprochen einer Rationalisierung, wurde im 18. Jahrhundert herrschend, und zwar in einer Zeit humanitär-moralischen Glaubens. Fortschritt bedeutete infolgedessen vor allem Fortschritt in der Aufklärung, Fortschritt in Bildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, moralische Vervollkommnung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens wird der Fortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomischer oder technischer Fortschritt gedacht, und der humanitär-moralische Fortschritt erscheint, soweit er überhaupt noch interessiert, als Nebenprodukt des ökonomischen Fortschritts.
Ebenda, S. 72.
Schmitt unterscheidet in der europäischen Geschichte vier große Stufen mit jeweils anderem Zentralgebiet: vom Theologischen, zum Metaphysischen, zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen. Das jeweilige Zentralgebiet bestimmt alle anderen Gebiete, was Schmitt folgendermaßen erläutert:
Alle Begriffe und Vorstellungen der geistigen Sphäre: Gott, Freiheit, Fortschritt, die anthropologischen Vorstellungen von der menschlichen Natur, was Öffentlichkeit ist, rational und Rationalisierung, schließlich sowohl der Begriff der Natur wie der Begriff der Kultur selbst, alles erhält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentralgebietes und ist nur von dort aus zu begreifen.
Ebenda, S. 73.
Die Aufklärung liefert Hallaq zufolge ein weiteres Beispiel eines Paradigmas. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen stellt die Aufklärung ein Paradigma dar, eine Menge von geteilten Annahmen und Voraussetzungen, die ihr eine gewisse Einheit verleihen. Den Kern des Projekts der Aufklärung erkennt Hallaq in der Auflösung aller traditionellen Formen von Moral und Glauben durch eine kritische oder rationale Moralität. Die von allen äußeren Schranken befreite Vernunft sollte so den Grund für den Aufbau einer universellen Zivilisation legen. Darauf beruht sowohl der Liberalismus samt seinen Abkömmlingen Marxismus und Sozialismus als auch der neue Konservativismus. Dieses Projekt bildete das Zentralgebiet, durch das alle großen Probleme gelöst werden sollten. Und es bestimmt die europäische Kultur und Lebensweise bis heute in erheblichem Maße.
Hallaq stellt über den Begriff des Paradigmas zusammenfassend fest:
In unserem Verständnis des Paradigmas handelt es sich um ein System von Wissen und Praxis, dessen konstitutiven Bereiche eine bestimmte Struktur von Begriffen teilen, die sie von anderen Systemen der gleichen Art qualitativ unterscheiden. Während es zutrifft, dass die Probleme im Zentralgebiet Priorität gewinnen und die anderen Gebiete diesen Prioritäten unterordnen, so funktionieren alle diese Gebiete innerhalb eines Wissenssystems, das die Prioritäten innerhalb der peripheren Gebiete selbst prägt. (8)
Paradigmen stellen Felder von »Kräfteverhältnissen« dar, die widerstreitende und konkurrierende Diskurse und Strategien umfassen. Machtkämpfe entscheiden darüber, welches Gebiet die Vorherrschaft gewinnt und zum Zentralgebiet wird. Ein Zentralgebiet bleibt solange zentral, als die Kräfteverhältnisse den entsprechenden Konzepten und Werten erlauben, die Spielregeln und Machtverhältnisse innerhalb des Systems zu diktieren.
Gelingt es einer subversiven Kraft, das bestehende Paradigma umzustürzen und an dessen Stelle zu treten, wird sich das ehemalige Zentralgebiet in die subversiven Kräfte einreihen oder ganz verschwinden. Dieser Paradigmenwechsel wird von der modernen Geschichte mannigfaltig bezeugt, angefangen mit der Schaffung einer Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert und endend mit dem modernen bürokratischen Staat, modernen Kapitalismus und Nationalismus. Es kann daher von einem Paradigma des modernen Staates gesprochen werden.
Hallaq fährt nun damit fort, das Paradigma der islamischen Gouvernanz in Grundzügen zu skizzieren. Eine ausführliche Darstellung ist späteren Kapiteln vorbehalten.
1.3.4 Paradigma und islamische Gouvernanz
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre. Die paradigmatische Stellung der Scharia geht darauf zurück, dass sie ein moralisches Gefüge ist, in welchem dem Recht (im modernen Sinn) lediglich der Status eines Werkzeugs zukommt, das der Moral untergeordnet ist. Das Recht ist kein Zweck an sich, sondern Mittel im Dienst der Moral.
Die Scharia bildete das Zentralgebiet, nach dessen Maßgabe die anderen Gebiete beurteilt wurden und dessen Lösungen weitgehend die Lösungen der anderen Gebiete bestimmten. Das gilt für die Bestimmung der Prioritäten sowohl für die intellektuellen Bereiche wie etwa Bildung, Linguistik, Hermeneutik, Logik und Epistemologie wie auch für die praktischen Bereiche der Ökonomie und Politik. Das wirtschaftliche und politische Leben wurde dadurch nicht nur von technischen Regeln, sondern auch von einer umfassenden Ethik auf der Grundlage der Scharia zutiefst geprägt.
Das heißt freilich nicht, dass das Leben ideal gewesen wäre, sondern dass es bei allen Unzulänglichkeiten und Regelverstößen an den Zielen der Scharia als vorherrschendem moralischen Paradigma ausgerichtet war. Das individuelle wie gesellschaftliche Leben stand im Zeichen des Strebens nach der Erfüllung des moralischen Zwecks: dschihād (wörtl.: Streben). Das ist der wahre Gehalt dieses tiefen und oft so falsch verstandenen islamischen Begriffs. Es wäre daher ein grobes Missverständnis, das Anliegen einer Wiederbelebung der Scharia als moralischer Ressource mit dem rückwärtsgewandten Trachten nach der Restauration bestimmter Verhältnisse der Vergangenheit zu verwechseln.
Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, hält Hallaq es für erforderlich, zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Welche Bestandteile einer nun institutionell toten Scharia können als derartige moralische Ressourcen identifiziert werden? Zweitens: Wie kann eine solche Identifikation dem Vorwurf der Nostalgie entgehen?
Die erste Frage verlangt eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem modernen muslimischen Subjekt und der Scharia als einem Ordnungsgefüge, das zugleich moralisch, rechtlich, kulturell und zutiefst psychologisch ist. Das Projekt der Säkularisierung, das auf das Auseinanderbrechen dieses Gefüges zielte, hat sich als weitgehend erfolglos erwiesen und im Endeffekt sogar als Gegenreaktion den Aufstieg des Islamismus befördert. Bei aller Politisierung ist der Islamismus als gesellschaftliche Erscheinung mehr als eine Ablehnung der herrschenden Politik. Er ist auch Ausdruck einer moralischen Bewegung, die soziale Ungerechtigkeit, politische Korruption und die Vorherrschaft des Westens in moralischen Begriffen kritisiert.
Die heutigen Muslime beziehen sich, auch aufgrund der Einsicht in das Scheitern der Anwendung vor allem aus dem Westen importierter Modelle, auf ihre eigene Geschichte als Quelle moralischer Ressourcen, um den Herausforderungen des modernen Projekts zu begegnen. So gewinnt das Paradigma der islamischen Gouvernanz seine aktuelle Bedeutung. Es geht dabei eben nicht um die bloße Wiederherstellung der Scharia in der vermeintlichen Gestalt ihrer traditionellen Formen und Institutionen, sondern vielmehr um die Einsetzung der Scharia als Zentralgebiet des Moralischen in gleichzeitigem Widerstreit und Ergänzung zu konkurrierenden Paradigmen wie etwa dem der europäischen Aufklärung, die sich als unfähig erwiesen hat, auch nur die eigenen Probleme zu lösen.
Obgleich die Scharia in institutioneller Gestalt nahezu vollständig abgestorben und vielfach durch westliche Institutionen ersetzt worden ist, hat sie doch im Bewusstsein der Muslime weithin überlebt. Es ist unübersehbar, dass die Säulen des Islam keineswegs abgestorben sind. Die Scharia lebt fort in der alltäglichen Praxis der Muslime wie auch als Anspruch und Erinnerung des Strebens nach der Erfüllung des moralischen Ziels. Sie ist lebendig als moralische Ressource.
Die Säulen des Islam bestimmen weiterhin, was es heißt, Muslim zu sein. Daher rückt Hallaq ins Zentrum seiner Betrachtung dieser moralischen Ressourcen die »Technologien des Selbst« (Foucault), die in den Diskursen und Praktiken der Säulen in reichem Maße bereitgestellt werden.
Hallaq erläutert:
Der Bezug auf die Technologien des Selbst bedeutet daher keineswegs eine Wiederherstellung von vormodernen scharʿi-Institutionen, Praktiken oder gar Erziehung. Es handelt sich um ein moralisches Projekt ersten Ranges, einen Versuch, sich im Streben nach moralischer Orientierung auf das historische Selbst zurückzubeziehen. Es ist ein Projekt der moralischen Kritik, der moralischen Reflexion und der moralischen Substitution, d.h. es ist ein Projekt, das darauf zielt, moralischen Raum für das muslimische Subjekt in der modernen Welt zu finden, ein Subjekt, das von der Modernität nicht weniger desillusioniert wurde als seine oder ihre westliche Entsprechung. Die Wiederherstellung der islamischen moralischen Ressourcen ist deshalb so sehr ein modernes Projekt wie die Modernität selbst. Und als ein modernes Projekt ist sie auch zutiefst postmodern. Postmodernität, das sei klar gesagt, geht davon aus und erstrebt zugleich, die Modernität zu übersteigen, aber Modernität gleichwohl. (13-14)
1.3.5 Nostalgie und Fortschrittsideologie
Dieses Projekt der Suche nach moralischen Ressourcen wird dennoch, insbesondere von Anhängern der westlichen liberalen Tradition, zweifellos den Vorwurf ernten, nostalgisch und rückwärtsgewandt zu sein und daher keinen Platz in der modernen Welt zu verdienen. Dem ist zu erwidern, dass dieser Vorwurf auf einem Missverständnis und einer unhaltbaren Voraussetzung beruht.
Das Missverständnis besteht in der Unterstellung, es ginge darum, das Rad der Zeit zurückzudrehen und vergangene Verhältnisse wiederherzustellen. Das wäre in der Tat fruchtlose Nostalgie. Die Suche nach moralischen Ressourcen in einer Situation, in der sich die Probleme häufen, Lösungen äußerst rar und moralische Quellen – insbesondere in der westlichen Kultur – nahezu ausgetrocknet sind, zielt hingegen darauf ab, den Herausforderungen der Gegenwart durch die Wiederbelebung der übergreifenden und umfassenden Werte zu begegnen, die den Islam und seine Lebensweise paradigmatisch bestimmen. Wer von vornherein ausschließt, aus der Geschichte und von anderen lernen zu können, schätzt entweder seine eigene Lernfähigkeit sehr gering oder ergeht sich in narzisstischem Hochmut, der durch den Glauben an die eigene Überlegenheit kraft unübertrefflichen Fortschritts verblendet.
Damit wären wir bei der unhaltbaren Voraussetzung des Vorwurfes der Nostalgie. Denn dieser setzt die Doktrin des modernen Fortschritts voraus, die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweist. Der Glaube an den Fortschritt ist im europäischen Denken selbst längst erschüttert, und dennoch behält die Ideologie des Fortschritts ihre fesselnde Kraft. Das dürfte ihrer engen Verzahnung mit dem Aufstieg des Kapitalismus einerseits sowie des Westens zur Herrschaft über die Welt andererseits und ihrer legitimatorischen Funktion geschuldet sein, auf die auch heute keinesfalls verzichtet werden kann. Die eigene Gegenwart wird absolut gesetzt und allem anderen gegenüber für überlegen deklariert, so dass jeder historisch begründete Anspruch, welcher der einsinnigen Herrschaft dieses Fortschritts zuwiderläuft, von vornherein als ungültig und überholt abgewiesen werden kann.
Diese Ideologie erhebt sich damit selbst zur einzig möglichen Quelle für Ressourcen zur Problemlösung. Im Auge des Fortschritts werden alle Problem zu technischen Problemen, für die es immer neue technische Lösungen zu schaffen gilt. Da dies auch für die durch diesen Prozess selbst geschaffenen Probleme gilt, ist die Selbstzentrierung perfekt. Die zerstörerischen Folgen dieses Prozesses mögen sich als noch so katastrophal erweisen, so gibt es dennoch nie einen Grund, aus dem in sich geschlossenen Kreis des Fortschritts herauszutreten. Wer und was sich darin nicht einfangen lässt, gilt als reaktionär, irrational und fundamentalistisch. Gegenüber genuin moralischen Fragen ist diese Ideologie entgegen ihrem eigenen Anspruch blind, denn Moral und Verantwortung wurden längst in wissenschaftliche Erkenntnis und technisch-instrumentelle Manipulation im Dienst des unvermeidlichen Fortschritts verflüchtigt.
Hallaq bemerkt dazu:
Die Doktrin des Fortschritts hat daher weder Grundlage noch Bezug, außer jeweils in und auf sich selbst. Sie ist ihre eigene Quelle der Autorität, und in diesem Sinne ist sie ein Gott. Da er rational autonom ist, wie ja uns allen unterstellt wird, hat dieser Gott durch Wissenschaft und Vernunft bestimmt, dass den großen Fragen der Vergangenheit kein Gehör geschenkt werden kann, da sie überholt und für die Fortschritte der modernen Zivilisation, modernen Wissenschaft und Vernunft irrelevant sind, wobei letztere selbstverständlich universell sind. (16)
Die Doktrin des Fortschritts entspringt der modernen Geschichtsphilosophie. Die Aufklärung verleiht der Geschichte eine neue Struktur, die alle menschliche Erfahrung vom Urbeginn der Zeit an in einen linearen Prozess einspannt. Diese Struktur wird vom liberalen universalistischen Postulat determiniert, dass die geschichtlichen Erfahrungen aller Gesellschaften und Kulturen, von dem einen Geist getrieben, dem einen Zweck der fortschreitenden Vervollkommnung dienen.
Im Gegensatz zu vielen Kulturen, in denen die Geschichte komplex und vielschichtig im Sinne einer Eschatologie strukturiert ist, welche die Menschen mit sinnhaften Erzählungen versorgt, die moralische Entscheidungen zur Wahl stellen, besitzt die moderne Zeit eine einsinnige und homogene Struktur, die von Anbeginn an teleologisch auf den Gipfel des menschlichen Fortschritts in Gestalt der westlichen Moderne festgelegt ist. Indem alles vergangene und gegenwärtige Geschehen einschließlich Leid und Übel dadurch als notwendige Bedingung des Fortschritts und somit als vorherbestimmt erscheint, wird damit auch eine säkularisierte Theodizee geboten. Umgekehrt ist alles, was sich diesem unvermeidlichen Lauf widersetzt, zum unwiderruflichen Untergang verdammt. Nicht anders konnte das Schicksal jeder Kultur außerhalb der modernen europäischen verlaufen. Dieser Eurozentrismus durchzieht das gesamte moderne europäische Denken. Hegel wollte bezeichnenderweise gar die Erfüllung der Geschichte des Geistes im modernen Staat, namentlich dem preußischen, erkennen, der ihm als die endlich verwirklichte objektive Gestalt des absoluten Geistes erschien.
Hallaq beschließt dieses Kapitel mit folgenden Worten:
Mit dem Vorstehenden im Geiste fahren wir nun unter der Annahme fort, dass es legitim ist, jedes Zentralgebiet des Moralischen, aus Vergangenheit oder Gegenwart, in Anspruch zu nehmen, das uns eine Ressource der moralischen Wiederherstellung zu liefern vermag. Während die Vergangenheit materiell und institutionell abgestorben ist, sind es ihre moralischen Prinzipien nicht. Daher ist die Inanspruchnahme des Paradigmas der islamischen Gouvernanz ein ebenso plausibles und legitimes Projekt wie die Inanspruchnahme von Aristoteles, Thomas von Aquin oder Kant. Diese Inanspruchnahme wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen. (18)
1.4 Der moderne Staat
1.4 Der moderne Staat Yusuf KuhnWas ist der moderne Staat? So sehr die Realität des modernen Staates im gesellschaftlichen Leben spürbar ist, so unklar ist, was ihn eigentlich ausmacht. Die herausragenden Denker, die sich mit dieser Frage befasst haben, sind allesamt zu ganz unterschiedlichen Antworten gekommen. Es ist kaum übertrieben festzustellen, dass es ebenso viele Theorien über den Staat gibt wie Theoretiker, die sich auf die Suche nach dem Wesen des Staates gemacht haben. Jeder Staatstheoretiker hat in seiner jeweiligen Konzeption einen anderen Aspekt unter Ausschluss oder zumindest Marginalisierung anderer Aspekte ins Zentrum gerückt: so etwa Weber das Bürokratische, Kelsen das Rechtliche, Schmitt das Politische, Marx das Ökonomische, Gramsci das Hegemonische und Foucault das Kulturelle.
Hallaq führt diese große Uneinigkeit darauf zurück, dass jeweils eine bestimmte Perspektive gegenüber anderen bevorzugt wird. Das Phänomen des Staates erscheint so in jeweils unterschiedlichem Licht. Hallaq wählt daher hingegen einen synthetischen Ansatz, der verschiedene Perspektiven mehr oder weniger kohärent zusammenfasst:
Für unsere Zwecke, zwangsläufig ebenso perspektivistisch, bleiben alle diese und verschiedene andere Theorien sehr nützlich, und wir werden uns deshalb darauf stützen.
Darüber hinaus muss unsere Betrachtung des Staates weder umfassend noch erschöpfend sein, obgleich es wichtig ist, dass wir keine Eigenschaften des Staates übersehen, die entweder ihm inhärent oder notwendig für unsere Frage nach dem islamischen Staat sind. Denn das Fehlen einer solchen Eigenschaft in unserer Betrachtung könnte offensichtlich der Einschätzung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieses Staates abträglich sein. (20-21)
Hallaq unterscheidet deshalb zwischen der Form und dem Inhalt des Staates, wobei der Inhalt als Variable und die Form als fundamentale Struktur betrachtet wird. Als fundamental gelten Strukturen oder Eigenschaften, die der Staat in der Realität für mindestens ein Jahrhundert besessen hat und ohne die er, da sie so wesentlich sind, nie als Staat hätte betrachtet werden können. Als Maßstab fungiert also der reale, existierende und paradigmatische Staat, nicht ein utopischer oder futuristischer. Unter dem wechselhaften Inhalt des Staates wird hingegen beispielsweise verstanden, welche Gruppe samt ihrer spezifischen Ideologie den Staat jeweils kontrolliert, wie etwa Liberale, Kommunisten, Oligarchen usw., ohne jedoch die Form des Staates zu verändern.
Der Staat muss als Produkt einer besonderen Geschichte aufgefasst werden, nicht als ahistorisches Wesen. Diese historische Abkunft gehört vielmehr selbst zum Wesen des Staates. Die Geschichte eines Staates ist der Prozess, durch den der Staat sich sowohl als abstraktes Konzept als auch als eine Menge von Praktiken herausbildet.
Als Voraussetzung dafür, dass ein Gemeinwesen die paradigmatischen Eigenschaften des modernen Staates erwirbt, muss es über die Mittel verfügen, Gesellschaft und Kultur in einer Weise zu durchdringen, die dazu geeignet ist, die Subjekte des Staates zu formieren. Ein voll herausgebildeter moderner Staat muss über die Fähigkeit verfügen, eine besondere Subjektivität hervorzubringen, nämlich den Staatsbürger (engl. citizen, franz. citoyen).
Hallaq betont wiederholt den historischen Charakter seiner Untersuchung. Dies gilt auch für die Unterscheidung von Form und Inhalt des Staates, so dass es beispielsweise durchaus möglich ist, dass ein bestimmter Inhalt sich in eine Formeigenschaft verwandelt und damit den Charakter des Staates grundlegend verändert. Hallaq wählt daher als Bezugspunkt für die Frage nach der Möglichkeit eines islamischen Staates den modernen Staat, wie er sich historisch entfaltet hat:
Die Frage – wiederum gestellt aus der Perspektive der Befassung mit dem islamischen Staat – setzt vielmehr einen besonderen Verlauf voraus, in dem das Paradigma des Staates bestimmte konstitutive Eigenschaften erfordert, die in der historischen Realität für das regelmäßige Funktionieren und die Existenz des modernen Staates wesentlich blieben. […] Aber wenn davon die Rede sein soll, wie ein islamischer Staat in der Gegenwart oder voraussehbaren Zukunft aussehen könnte, müssen wir die Tatsachen im realen Zusammenhang betrachten, wie sie für ein Jahrhundert oder länger wirklich bestanden haben. (22-23)
Vor diesem Hintergrund führt Hallaq nun fünf Formeigenschaften des modernen Staates an, ohne die er unter den historischen Voraussetzungen nicht vorstellbar ist:
-
seine Konstitution als historische Erfahrung, die spezifisch und lokal ist;
-
seine Souveränität und die dadurch hervorgebrachte Metaphysik;
-
sein Monopol über die Gesetzgebung und über die damit verbundene legitime Gewalt;
-
seine bürokratische Maschinerie;
-
seine kulturell-hegemoniale Durchdringung der Gesellschaftsordnung einschließlich der Erzeugung des nationalen Subjekts.
Die Nation als politische Gemeinschaft und politisches Konzept wie auch die Bildung und die Bildungseinrichtungen der Nation sind von wesentlicher Bedeutung für diese kulturelle Hegemonie.
Diese fünf Eigenschaften werden zwar getrennt erörtert, müssen aber in einem unlösbaren Zusammenhang betrachtet werden, da sie sich gegenseitig beeinflussen und bedingen.
1.4.1 Der Staat ist ein spezifisches historisches Produkt
Der moderne Staat ist das Produkt der besonderen europäischen Geschichte. In Europa wurde er geschaffen und entwickelte er sich, so dass der paradigmatische Staat bis heute in Europa verortet ist. Er entstand auf der Grundlage paradigmatischer Wandlungen im 18. und 19. Jahrhundert, die aus ebenso radikalen wie raschen Veränderungen der Ökonomie, Technologie, Gesellschaftsordnung, Politik, Regierungsform und auch des Geistes hervorgingen.
Dazu zählt die gewaltige Bewegung der Aufklärung, die, obgleich sie Einflüssen aus dem islamischen Denken viel zu verdanken hat, gleichwohl europäischen Ursprungs ist. Aufklärung und Staat standen stets in einem engen Wechselverhältnis. Die Aufklärung trug nicht nur entscheidend zur Entstehung des modernen Staates bei, sondern lieferte auch dessen ideologische Rechtfertigung.
Durch die Verknüpfung des Begriffs des Staates mit den Theorien von Fortschritt, Rationalismus und Zivilisation erschien der moderne Staat im Lichte der Zeitlosigkeit und Universalität. Der Fortschritt der Menschheit schlechthin sollte in ihm seinen unvermeidlichen Höhepunkt erreichen. In Europa herrschte die Überzeugung, dass der wahrhaft zivilisierte Mensch in den Grenzen des Systems moderner Staaten lebt, während der »Rest« aus bedauernswerten Wilden, Stämmen, Barbaren und anderen Untermenschen besteht. Die Entwicklung zum modernen Staat folgte dieser Ideologie zufolge, ob metaphysisch wie beispielsweise bei Hegel oder positivistisch wissenschaftlich begründet, historischen Gesetzen mit universeller Gültigkeit. Der Staat galt als Objektivierung der Vernunft.
Diese ideologische Konstruktion des modernen Staates gehört zu dessen Formeigenschaften. Und sie ist ebenso historisch erwachsen wie der Staat selbst.
Hallaq stellt pointiert fest:
Die Geschichte des Staates ist der Staat, denn es gibt nichts im Staat, das der Zeitlichkeit entkommen kann. Er ist daher ein historisches Produkt eines besonderen, kulturspezifischen Ortes: Europa, Nordamerika – nicht Südamerika, nicht Afrika, nicht Asien. (24-25; Hervorhebung im Original)
1.4.2 Souveränität und ihre Metaphysik
Der Begriff der Souveränität ist eine der Formeigenschaften, die den modernen Staat bei allem Wandel seit über zweihundert Jahren kennzeichnen. Als abstrakter Begriff ist er wesentlicher Bestandteil seiner ideologischen Struktur und Rechtfertigung.
Die begriffliche Konstruktion der Souveränität kreist um den fiktiven Begriff der Repräsentation des Willens der Nation. Die Nation, die den Staat verkörpert, ist der alleinige Urheber ihres eigenen Willens und Schicksals. Damit diese Vorstellung historisch zum Durchbruch kommen konnte, bedurfte es der besonderen Bedingungen Europas, nämlich den Bruch mit der Tyrannei, wie sie sich paradigmatisch in der Französischen Revolution vollzog. Die Vorstellung des Willens der Nation als Herr ihres eigenen kollektiven Schicksals gehört mithin ebenso zu den Formeigenschaften des modernen Staates.
Souveränität bedeutet nach außen, auf der internationalen Ebene, dass die Staaten wechselseitig ihre jeweilige Souveränität anerkennen, die sie innerhalb ihrer Grenzen und als legitime Repräsentation ihrer Nation ausüben. Nach innen bedeutet sie, dass es keine höhere Ordnung gibt als die des Staates. Sein Recht ist das Recht des Landes. Als Ausdruck des souveränen Willens lässt sie es nicht zu, dass eine höhere Ordnung gegen sie in Anspruch genommen wird. Da es in diesem Rahmen mithin keine moralische Grundlage für eine Herausforderung der souveränen Herrschaft gibt, kann jegliche grundsätzliche Herausforderung nur auf Gewalt basieren, die sich auf einen alternativen Volkswillen und damit auf eine alternative Souveränität beruft. Die Legitimität einer solchen Ablösung der alten Ordnung hängt dann einzig vom Erfolg des Gewalteinsatzes ab, ohne den keine alternative Konstitution möglich ist. Gewalt ist daher unerlässlich und bildet eine notwendige Bedingung für die innere Souveränität des Staates.
Für die Entstehung von Souveränität bedarf es nicht nur eines Staates, sondern auch des imaginären Konstruktes der Nation. Aufgrund seiner Souveränität ist der Nationalstaat ausschließlich das Produkt seiner selbst. Er schafft sich kraft seiner konstitutionellen Gewalt selbst, was ihm in der Folge die ausschließliche Durchsetzung und Anwendung seines Rechts erlaubt. Er ist in diesem Sinne durchaus mit der Creatio ex nihilo (Schöpfung aus nichts) als reinem Ausdruck des göttlichen Willens vergleichbar.
Der Staat als Erbe des Begriffs der göttlichen Souveränität maßt sich eine Reihe von deren Eigenschaften an: Allmacht, Allgegenwart, Monopol der Gesetzgebung usw. Und er erhebt vor allem auch den normativen Anspruch der Identifikation der staatsbürgerlichen Subjekte mit ihm.
Somit läuft die Identifikation des Selbst mit dem Souverän darauf hinaus, das Subjekt durch den souveränen Willen zu betrachten und zu formen, der wiederum als Quelle sowohl des Rechtes wie auch der Nation gilt, die als Kollektivität wiederum im Spiegel des Rechts geformt wird. Das Recht, das den souveränen Willen widerspiegelt, und mithin der Wille, der das Subjekt erschafft und nach seinem eigenen Bild formt, ist wenig mehr als ein Ersatz und Stellvertreter für den christlichen Begriff des Willens.
Carl Schmitt hat dies mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht:
Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur [...]
Carl Schmitt, Politische Theologie, München und Leipzig, 1922, S. 37.
Der Nationalstaat ist weder ein Mittel zu einem Zweck, noch verfolgt er selbst einen höheren Zweck als seine eigene Existenz. Er verkörpert den höchsten Zweck, dem alle anderen zu opfern sind. Die Überlegenheit des Staates als höchster Wert, die der Staatsbürger stets zu respektieren hat, ist diesem nicht äußerlich.
Hallaq führt dazu aus:
Es gibt nichts im Willen des paradigmatischen Staatsbürgers, das außerhalb des Willens des Souveräns ist, da der letztere Wille […] nicht nur den individuellen Willen subsumiert, sondern auch alle anderen Willen. Aber das ist nicht alles: Der Staatsbürger selbst steht nicht darüber, für diesen höchsten Zweck geopfert zu werden. Der Staatsbürger ist in der Tat der Archetyp und die vollste Manifestation des Opfers, denn es gibt nichts Wertvolleres als das Leben außer dem Nationalstaat, die Sache sui generis, die legitimerweise das höchste Opfer verlangen und erhalten kann. Ein Staatsbürger zu sein, bedeutet daher, unter einem souveränen Willen zu leben, der über seine eigene Metaphysik verfügt. Das heißt, mit und unter noch einem anderen Gott zu leben, einem, der das Leben der Gläubigen fordern kann. (28)
1.4.3 Gesetzgebung, Recht und Gewalt
Die bedeutendste paradigmatische Manifestation der Souveränität des modernen Staates besteht darin, Recht zu setzen. Als Ausdruck des souveränen Willens ist der Staat der gottgleiche Gesetzgeber. Hallaq schreibt:
Wenn Souveränität zum Wesen des Staates gehört, dann ist die Fähigkeit, Recht zu erzeugen, eine weitere damit verwandte Wesenseigenschaft, ein Attribut, ohne das kein Staat weiterhin als Staat betrachtet werden kann. (29)
Nach Hans Kelsen geht die traditionelle Staatslehre davon aus, dass der Staat aus drei Elementen besteht: Territorium, Volk und Macht.
Da der moderne Staat durch den souveränen Willen geschaffen wird und dieser souveräne Wille sich selbst durch das Recht manifestiert, wird die Durchsetzung des Rechts zur Realisierung dieses Willens. Und da der Staat und somit das Recht, das er ist, sein eigener Zweck ist, also kraft seiner Konstitution keine höhere Ordnung kennt, werden die Grenzen der Gewalt ausschließlich vom Staat gesetzt. Das exklusive Recht, Gewalt auszuüben und zur Durchsetzung des souveränen Rechtswillens mit ihrem Einsatz zu drohen, gehört zu den wesentlichsten Eigenschaften des modernen Staates.
Hallaq merkt pointiert an:
Der Staat ist der höchste Akteur bei der Rechtfertigung von Gewalt, denn selbst wenn angenommen würde, dass irgendeine gottgebotene Strafe angewendet oder eingeführt werden sollte, würde sie als eine Wahl des Staates, als Ausdruck seines Willens eingeführt werden. Hier ist es der Staat, der den göttlichen Willen ratifiziert, nicht umgekehrt. Hier steht, noch deutlicher ausgedrückt, der Staat als Gott der Götter. Wenn, wie wir gesehen haben, der souveräne Wille der neue Gott ist, dann gibt es keinen Gott außer dem Staat. (30)
1.4.4 Die rationale bürokratische Maschine
Es gibt wohl kaum eine weniger umstrittene Charakterisierung des modernen Staates als folgende von Max Weber:
Den Staatsbegriff empfiehlt es sich, da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend – aber wiederum: unter Abstraktion von den, wie wir ja gerade jetzt erleben, wandelbaren inhaltlichen Zwecken – zu definieren. Dem heutigen Staat formal charakteristisch ist: eine Verwaltungs- und Rechtsordnung, welche durch Satzungen abänderbar ist, an der der Betrieb des Verbandshandelns des (gleichfalls durch Satzung geordneten) Verwaltungsstabes sich orientiert und welche Geltung beansprucht nicht nur für die – im wesentlichen durch Geburt in den Verband hineingelangenden – Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln (also: gebietsanstaltsmäßig). Ferner aber: daß es »legitime« Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt oder vorschreibt (z.B. dem Hausvater das »Züchtigungsrecht« beläßt, einen Rest einstmaliger eigenlegitimer, bis zur Verfügung über Tod und Leben des Kindes oder Sklaven gehender Gewaltsamkeit des Hausherrn). Dieser Monopolcharakter der staatlichen Gewaltherrschaft ist ein ebenso wesentliches Merkmal ihrer Gegenwartslage wie ihr rationaler »Anstalts«- und kontinuierlicher »Betriebs«-Charakter.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, in: Max Weber, Gesammelte Werke, S. 1499-1500, http://www.digitale-bibliothek.de/band58.htm.
Eine herrschende bürokratische Struktur ist eine wesentliche Eigenschaft des modernen Staates. Darin stimmen nahezu alle Theoretiker mit Weber überein.
In Webers politischer Soziologie besitzt die Verwaltungsordnung, die selbst Teil und Erweiterung der Rechtsordnung ist, eine eigentümliche rationale Herrschaftsform. Die zentralen Eigenschaften dieser Herrschaft sind die Prinzipien des Voluntarismus und der Systematisierung.
Voluntarismus bedeutet, dass die Schaffung der politischen Organisation auf rationaler Grundlage geschieht, was den Einfluss von Tradition und Religion ausschließt. Diese Rationalität rechtfertigt beliebige Veränderungen jeder bestehenden Ordnung und erzeugt so ein hohes Maß an Kontingenz und Willkürlichkeit.
Die Systematisierung wiederum zielt auf die Berechenbarkeit und Standardisierung der Verwaltungsordnung. Die unpersönliche Struktur der bürokratischen Herrschaft trägt aufgrund ihrer Rationalität zur Gleichbehandlung aller Bürger bei. Weber hat jedoch dabei die komplexen Beziehungen zwischen der herrschenden Elite einerseits und den rechtlichen und bürokratischen Strukturen andererseits nicht angemessen berücksichtigt. Die Bürokratie wird vielmehr, wie der Staat insgesamt, in den Dienst der herrschenden Klasse gestellt, die damit die Unterdrückung und Ausbeutung der »niederen« Klassen aufrechterhält. Hallaq führt aus:
Bürokratie ist das Werkzeug und Instrument der Verwaltung, und Verwaltung im modernen Staat ist die Organisation von Kontrolle, Regierung, Gouvernementalität
und Gewalt. (32)
Die staatliche Bürokratie reguliert nicht nur die Verwaltung selbst, sondern übt einen weitreichenden Einfluss auf die gesamte Gesellschaft und jeden Einzelnen aus, von der Geburt bis zum Tod über Schule, Bildung, Gesundheitsversorgung, Sicherheit, Steuern, Arbeit, öffentliche Einrichtungen und Unterhaltung, um nur ein paar Bereiche zu nennen. Hallaq schreibt dazu:
Die Bürokratie dringt nicht nur in die Privatsphäre und Zivilgesellschaft ein, sondern – und von großer Bedeutung für uns – ordnet und setzt die Maßstäbe für die Gemeinschaft. […] Die Bürokratie erzeugt daher ihre eigene Gemeinschaft, die Gemeinschaft des Staates. (33)
1.4.5 Kulturelle Hegemonie oder die Politisierung des Kulturellen
Hallaq bezieht sich hier besonders auf Foucault, mit dem er betont, dass es erforderlich ist, nicht nur die Funktionsweise des Staates und seiner Organe zu untersuchen, sondern darüber hinaus sowohl den Diskurs der ideologischen Rechtfertigung des Staates selbst zu entmythologisieren als auch den Bereich der Kultur in die Analyse einzubeziehen. Denn hier ist das Feld, auf dem sich Staat und Kultur/Gesellschaft gegenseitig dialektisch erzeugen (Gouvernementalisierung) und durch den zunehmend ausgreifenden Einfluss des Staates auf die kulturelle Ordnung bestimmte Arten von Subjektivität produziert und reproduziert werden. Die Gesellschaft kann daher nicht als vom Staat getrennt betrachtet werden.
Diese dialektische Beziehung von Staat und Kultur ist eine wesentliche Formeigenschaft des Staates. Der innere Zusammenhalt und die Stärke jedes Staates hängt in erheblichem Maße nicht nur von seiner Fähigkeit ab, die Gesellschaft zu organisieren, was bereits durch seine Konstitution erfolgt, sondern auch von seiner Macht, sie kulturell zu durchdringen. Da innerhalb des Staates keiner Instanz eine autonome Autorität zuerkannt werden darf, hat der europäische Staat alle unabhängigen Wesenheiten zerstört. Hallaq legt dar:
Die Vernichtung solcher internen Entitäten ist freilich der erste konkrete Schritt in der »kulturellen« Durchdringung des Staates, wie sich an den klassischen Beispielen des Aufstiegs des englischen und französischen Staates seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert zeigt. Die kulturelle Durchdringung setzt die Zerstörung (und Rekonstitution) der traditionellen vorstaatlichen soziokulturellen Einheiten voraus, und beide sind daher sukzessive Stadien, durch die der souveräne Wille sich selbst manifestiert. (34)
Kultur und Gesellschaft eine Unabhängigkeit oder gar Autonomie gegenüber dem Staat zuzuschreiben, widerspricht dem Wesen des souveränen Willens, der sich im modernen Staat manifestiert. Diesen falschen Schein als ideologische Rechtfertigung des Staates zu erzeugen, ist die Aufgabe von politischer Philosophie und Wissenschaft, die selbst Teil des Staates sind.
Soviel die politische Wissenschaft auch tut, so trägt sie zur Legitimierung des Staates und seines ideologischen Apparates bei, indem sie den Staat erforscht – oder zu erforschen behauptet. Dieses legitimierende wissenschaftliche Projekt exemplifiziert eben das hier behandelte Thema: dass durch staatliche Schulen und eine Erziehung, die durch staatliches Recht reguliert wird – was frühere Formen zerstört -, eine paradigmatische wissenschaftliche Elite als ein kultureller Bereich geschaffen und aufrechterhalten wird, der für die allumfassende Durchdringung der Gesellschaftsordnung durch den Staat empfänglich ist.
1.4.6 Verflechtungen
Hallaq betont abschließend zwei Punkte.
Erstens: Die erörterten Formeigenschaften besitzt der Staat zweifellos tatsächlich; kein paradigmatischer Staat kann ohne sie bestehen.
Zweitens: Diese Formeigenschaften sind strukturell derart miteinander verwoben, dass sie wechselseitig aufeinander einwirken. Hallaq erläutert:
Dass sie in einer wechselseitig dialektischen Beziehung stehen, ist nicht nur offensichtlich, sondern auch wesentlich für die fortgesetzte Existenz des modernen Staates und sein regelmäßiges Funktionieren. (36)
1.5 Gewaltenteilung: Herrschaft des Rechts oder Herrschaft des Staates?
1.5 Gewaltenteilung: Herrschaft des Rechts oder Herrschaft des Staates? Yusuf KuhnEs hat sich gezeigt, dass der paradigmatische moderne Staat Politik, Recht und Gesellschaft zu einer eng verwobenen Einheit zusammenschweißt. Er ist überall, und nichts ist außerhalb seiner.
Hallaq argumentiert nun, dass diese Einheit nicht den Kriterien der islamischen Gouvernanz entspricht. Denn die Instanzen, die im Rahmen der islamischen Gouvernanz das Politische und Gesellschaftliche regeln, sind nicht so eng miteinander verflochten wie im modernen Staat.
Der moderne Staat bildet trotz aller relativen Heterogenität und inneren Konflikte eine strukturelle Einheit, die vom Recht als Ausdruck des souveränen Willens durchdrungen wird. Die Verteilung der rechtlichen Macht erreicht alle Elemente, aus denen sich der Staat zusammensetzt. Daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Recht als normativer Ordnung und den Institutionen als dessen Verkörperung, die auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekution seiner spezifischen Normen spezialisiert sind.
Es gilt daher, die Theorie und Praxis zu untersuchen, die sich in der sogenannten Gewaltenteilung manifestiert. Hallaq geht es dabei nicht um eine umfassende Darstellung, sondern lediglich darum, die strukturellen Probleme aufzuzeigen, auf die bereits viele Verfassungsrechtler hingewiesen haben:
Wenn es sich herausstellen sollte, dass die Probleme im westlichen Konzept der Teilung [der Gewalten] strukturell und vielfältig sind, dann können wir zu Recht sagen, dass Muslime, wie auch weitere nicht-westliche Andere, diesem Konzept mit der gebührenden Vorsicht begegnen sollten. (39)
1.5.1 Gewaltenteilung im Nationalstaat
In der modernen Staatstheorie wird gemeinhin vorgebracht, dass die Trennung der drei Staatsgewalten – Legislative, Judikative, Exekutive – die Grundlage von Freiheit, Demokratie und Verfassungsstaat bildet. Durch die wechselseitige Unabhängigkeit dieser Gewalten soll die Herrschaft des Rechts sichergestellt werden. Dafür ist neben der völligen Unabhängigkeit der Legislative auch erforderlich, dass sie ihre Befugnisse nicht an andere Organe, insbesondere die Exekutive, überträgt. Nur durch eine klare Bestimmung dieser Gewaltentrennung kann ein Staat daher konstitutionell und demokratisch sein.
In der am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündeten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) heißt es daher in Artikel 16 sogar:
Eine Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.
Siehe den Wikipedia-Eintrag Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: https://de.wikipedia.org/wiki/Erkl%C3%A4rung_der_Menschen-_und_B%C3%BCr…
Hallaq fügt beiläufig, aber trefflich an:
Es sei zugleich festgestellt, dass diese geläufige Konzeption des Verhältnisses zwischen Demokratie und der staatlichen Herrschaft des Rechtes nie dazu fähig ist, solche Phänomene wie das Dritte Reich, Israel und die südafrikanische Apartheid richtig zu erklären, die allesamt starke Formen der Herrschaft des Rechtes darstellen. (39)
Wenn diese Staatstheorie ihren Ansprüchen gerecht werden könnte, wäre sie auch für Muslime als Ausgangspunkt für den Aufbau eines islamischen Staates von Interesse, da sie in Einklang mit den vormodernen islamischen Regierungsformen stünde und daher eine Anknüpfung an die eigene Tradition erlaubte. Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, dass die Rhetorik und Theorie der Gewaltenteilung keineswegs der realen Praxis entspricht. Sie verschleiert vielmehr eine Wirklichkeit, in der die Trennung ebenso problematisch erscheint wie die Behauptung, dass sie Grundlage einer demokratischen Regierung sei.
Hallaq führt nun eine ganze Reihe von Staatswissenschaftlern an, welche die in der Theorie und Praxis der Gewaltenteilung angelegten begrifflichen Probleme erkannt, anerkannt und beschrieben haben. Dabei ist die Rede von »notorischen Schwierigkeiten« bis hin zu völligem Versagen.
Die Probleme entspringen letztlich der strukturellen Einheit des Nationalstaats, wie sie oben beschrieben wurde und die sich in der vormodernen islamischen Gouvernanz nie herausgebildet hat. Die Vorstellung der gegenseitigen Kontrolle der drei Staatsgewalten zum Zweck der Machtbegrenzung führte, da eine vollständige Trennung in den Strukturen des modernen Staates offenkundig unmöglich ist, in das Dilemma der Verbindung von Trennung und Einheit. Da es sich nur noch um die Frage des Maßes der Trennung handeln konnte, wurde anstelle von Gewaltenteilung immer mehr von Gewaltenverschränkung gesprochen.
Wie viele andere Kritiker hat daher Hans Kelsen sich dafür ausgesprochen, dass der Begriff der Gewaltenteilung ungenau und falsch ist, da das Verhältnis der drei Gewalten eher durch Verteilung bestimmt ist. Denn es kann kaum von einer Trennung der Legislative von anderen Funktionen des Staates gesprochen werden. Die Legislative hat kein Monopol über die Gesetzgebung, sondern ist lediglich darauf spezialisiert. Das gilt entsprechend genauso für die beiden anderen Gewalten. Von einer echten Trennung der Staatsgewalten in der politischen Theorie und Praxis der westlichen Staaten zu sprechen, ist aufgrund ihrer realen Verschränkung vielmehr eine Übung in ideologischer Fiktion. Die Beispiele dafür sind Legion, und Hallaq listet eine ganze Reihe auf, worauf wir hier verzichten wollen.
Es sei nur stichwortartig auf die Rolle der immer mächtiger werdenden Verwaltung als geradezu vierter Gewalt im Verwaltungsstaat, die Einbettung der Richterschaft als Teil der herrschenden Elite in den Staatsapparat und der Parteienpolitik bei der zunehmenden Aushöhlung der Gewaltenteilung hingewiesen.
Hallaq fasst die Ergebnisse der Betrachtung von verschiedenen Beispielen der realen Verschränkung und Verstrickung der Staatsgewalten in mehr allgemeinen Aussagen zusammen:
Die vorstehenden Merkmale, die wir beschrieben haben, führen auf zwei Hauptpunkte zurück. Erstens: Die gesetzgebende Gewalt schafft nicht alle allgemeinen Normen der Staatsordnung; sie wird nur deshalb gesetzgebend genannt, weil sie ein Organ ist, das sich auf die Schaffung allgemeiner Normen spezialisiert hat. Zweitens: Ein Großteil der Gesetzgebung von allgemeinen und besonderen Normen entspringt außerhalb des Bereichs der legislativen Gewalt, nämlich in der Exekutive und Judikative. […] Wenn der souveräne Wille im Recht verkörpert ist, dann ist die Legislative (vermeintlich das Organ, das den Ausdruck dieses Willens in Gesetze formt) nicht dessen Sprecher im vollen Sinne des Wortes. Denn unter diesem System des souveränen Willens wird beispielsweise die Exekutive mit einer inkompatiblen Dualität ausgestattet: Gesetze zu erlassen und ihre eigene Gesetzgebung zu vollziehen. In dieser Hinsicht hat sie vieles gemeinsam mit der judikativen Gewalt, die eine ähnliche Rolle ausführt: Sie schafft Normen durch Präzedenz, hebt Gesetzgebung durch gerichtliche Überprüfung auf (was »negative Gesetzgebung« genannt wurde) und vollzieht sodann eine Kehrtwendung, um über Fälle auf der Basis eines Rechts, das sie teilweise selbst geschaffen hat, gerichtlich zu urteilen, und schreitet fort, Sanktionen zu erlassen. (46-47)
Die Praxis und selbst die Theorie der Gewaltenteilung werfen tiefe Fragen auf. Wie kann die Legislative als Vertretung der Souveränität des Volkes und des souveränen Willens nicht das alleinige gesetzgebende Organ des Staates sein? Wie können gesetzgebende Funktionen an Organe übertragen werden, deren Aufgabe darin besteht, das Recht anzuwenden und zu vollziehen? Wie kann derart Machtbegrenzung als eigentlicher Zweck der Trennung der Gewalten erreicht werden?
Die reale Entwicklung im modernen Staat führt indessen zu einer immer weiteren Konzentration der Macht in den Händen der Exekutive. Hallaq stellt daher fest:
Die grundsätzliche Frage ist: Wie kann es eine Herrschaft des Rechts geben, wenn eine Exekutive und eine Judikative ermächtigt werden, allgemeine Normen als Gesetze zu erlassen? Zumindest muss der Anspruch auf die Herrschaft des Rechts in Frage gestellt werden und damit der Anspruch auf Demokratie. (47-48)
Hallaq meint, dass dieses Paradox vielleicht niemand besser erfasst hat als Hans Kelsen, von dem er ein etwas längeres Zitat anführt, dessen Aussage ihn durch ihre außergewöhnliche Schärfe besticht und für das im weiteren Verlauf des Kapitels verhandelte Thema von unmittelbarer Relevanz ist:
Das Prinzip der Gewaltentrennung wörtlich verstanden oder interpretiert als ein Prinzip der Teilung der Gewalten ist nicht wesenhaft demokratisch. Der Idee der Demokratie entspricht im Gegenteil der Begriff, dass alle Gewalt im Volk konzentriert sein sollte; und wo nicht direkte, aber indirekte Demokratie möglich ist, dass alle Macht von einem einzigen Kollegiatsorgan ausgeübt werden sollte, dessen Mitglieder vom Volk gewählt sind und das dem Volk gesetzlich verantwortlich sein sollte. Wenn dieses Organ nur gesetzgebende Funktionen hat, sollten die anderen Organe, welche die vom gesetzgebenden Organ erlassenen Normen zu vollziehen haben, letzterem verantwortlich sein, auch wenn sie selbst ebenfalls vom Volk gewählt sind. Es ist das gesetzgebende Organ, dem es am meisten an einer strikten Vollziehung der generellen Normen, die es erlassen hat, gelegen ist. Kontrolle der Organe der exekutiven und judikativen Funktionen durch die Organe der legislativen Funktionen entspricht dem natürlichen Verhältnis, das zwischen diesen Funktionen besteht. Folglich erfordert Demokratie, dass dem legislativen Organ Kontrolle über die administrativen und judikativen Organe gegeben werden sollte. Wenn die Trennung von der gesetzgebenden Funktion von den gesetzanwendenden Funktionen oder einer Kontrolle des gesetzgebenden Organs durch die gesetzanwendenden Organe und insbesondere wenn die Kontrolle der legislativen und administrativen Funktionen durch die Gerichte von der Verfassung einer Demokratie vorgesehen ist, kann dies nur durch historische Gründe erklärt, nicht als spezifisch demokratische Elemente gerechtfertigt werden.
Hans Kelsen, General Theory of Law and State. Cambridge, 1945, S. 282 (Übersetzung ins Englische von Anders Wedberg; deutsches Original unveröffentlicht); Hervorhebungen von Wael Hallaq.
1.5.2 Das Paradigma der islamischen Gouvernanz
Es hat nie einen islamischen Staat gegeben. Der Staat ist modern [...]. (48)
So beginnt Hallaq seine Erörterung der islamischen Gouvernanz. Mit »modern« ist hier nicht so sehr ein Abschnitt der Geschichte gemeint, sondern vielmehr eine »bestimmte Struktur von Verhältnissen« (48), die den Staat zu einem einzigartigen Phänomen machen. Dadurch ist der Staat von allen seinen »Vorgängern« und insbesondere der islamischen Gouvernanz grundsätzlich, strukturell und qualitativ unterschieden.
Die islamische Gouvernanz und der moderne Staat ruhen auf jeweils völlig unterschiedlichen rechtlichen, politischen, sozialen und metaphysischen Grundlagen. An der Stelle der Nation des modernen Staates steht die umma (Gemeinschaft), die in ihrer ideellen wie realen Gestalt von moralisch-rechtlichen Begriffen bestimmt und begrenzt wird, die in der Scharia zusammengefasst sind. Jedes Gebiet, auf dem die Scharia als paradigmatisches moralisches Recht angewandt wird, gilt als islamisch. Die Scharia gehört zum Wesen des Islam.
1.5.2.1 Souveränität im Lichte der Scharia
Der Nationalstaat ist als Verkörperung des souveränen Willens Selbstzweck. Die Gemeinschaft (umma) und ihre Mitglieder sind hingegen Mittel zu einem höheren Zweck und verfügen nicht über Souveränität und einen autonomen politischen oder rechtlichen Willen. Denn der Souverän ist Gott allein.
Die Gemeinschaft besitzt zwar die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Diese beschränken sich aber auf die Interpretation allgemeiner moralischer Prinzipien, die sich als Repräsentation des göttlichen moralischen Willens der Verfügung der Gemeinschaft entziehen. Die Scharia hat als Ausdruck dieses souveränen Willens die moralischen Prinzipien durch ein moralisch gegründetes Recht artikuliert.
Die Gemeinschaft besteht aus der Gesamtheit der Gläubigen, die als solche alle vor Gott und untereinander gleich sind. Die sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft wie auch mit anderen Gruppen sind nicht durch äußerliche Faktoren wie Abstammung, Reichtum oder soziale Stellung bestimmt, sondern in erster Linie durch den Glauben, der das Wissen einschließt, dass die moralischen Werte, auf denen er gründet, von Gott als dem einzigen Souverän aufgestellt werden. Gott ist der höchste Zweck, dem gegenüber das irdische Dasein in seiner Vergänglichkeit seine höhere Bedeutung lediglich dadurch gewinnt, dass es in den kosmischen Zusammenhang der göttlichen Schöpfung eingebunden ist.
Der »Staat« oder vielmehr die sultanische Exekutive, wie Hallaq sagt, ist der Gemeinschaft und ihrer Scharia nachgeordnet. Die Exekutive besitzt nicht die religiöse Autorität. Und der Einzelne dient nicht dem »Staat« als höchstem Zweck zum Mittel, sondern letzterer hat vielmehr dem Wohl des Einzelnen zu dienen, der eigentlich nur Gott verpflichtet ist. Die Exekutive findet ihre Rechtfertigung letztlich in dem Maße, in dem sie die Anstrengungen des Einzelnen, Gott zu dienen, fördert.
Gott als Souverän gehört in Wahrheit alles. Menschlicher Besitz ist lediglich abgeleitet und geht daher mit Pflichten und Verantwortung einher. Da beispielsweise das Vermögen der Wohlhabenden in Wahrheit Gott gehört, kann Gott in Seiner Fürsorglichkeit den Bedürftigen ein Recht an diesem Vermögen zusprechen. Diese Beschränkung betrifft die Verfügung über jegliches Eigentum, auch den Besitz eines Gesetzes oder moralischer Regeln. Daher ist Gott der einzige Gesetzgeber. Und bei Gott allein liegt jegliche Souveränität.
Im modernen Staat ist das Recht der Ausdruck des souveränen Willens des Staates; im Islam ist das Recht der Ausdruck des souveränen Willens Gottes. Das von Gott kraft Seines moralischen Willens erlassene Recht ist die Scharia. Alles weitere wie die technische Ausarbeitung des Rechts und noch vielmehr jede Form der weltlichen politischen Herrschaft ist dem nach- und untergeordnet.
Die Scharia als moralisch gegründete Rechtsordnung, die sich aus hermeneutischen, begrifflichen, theoretischen, praktischen, pädagogischen und institutionellen Elementen zusammensetzt, geht aus der Absicht und dem Bemühen hervor, Gottes moralischen Willen auf Grundlage der Offenbarung zu entdecken. Hallaq spricht dabei von einer Dialektik zwischen dem Soziologischen und dem Metaphysischen, zwischen der Gemeinschaft (umma) als weltlicher Gesellschaft und ihrer anhaltenden Anstrengung, sich selbst in einer bestimmten moralischen Kosmologie zu verorten.
Auf dieser Grundlage trifft Hallaq nun folgende entscheidende Feststellung:
Es kann keinen Islam ohne moralisch-rechtliches System, das in einer Metaphysik verankert ist, geben; es kann kein solches Moralgefüge ohne oder außerhalb göttlicher Souveränität geben; und zugleich kann es keinen modernen Staat ohne seine Souveränität und seinen souveränen Willen geben, denn niemand kann meines Erachtens überzeugende Gründe dafür anführen, dass der moderne Staat ohne diese wesentliche Formeigenschaft der Souveränität auskommen kann. Wenn alle diese Prämissen wahr sind, wie sie es unausweichlich sein müssen, dann kann der moderne Staat ebenso wenig islamisch sein, wie der Islam zu einem modernen Staat kommen kann. (51)
Diese ebenso bedeutsame wie grundlegende Aussage besitzt wiederum zahlreiche Implikationen, von denen Hallaq einige mit besonderer Bedeutung für die Frage nach dem islamischen Staat ausführt. Dazu gehört die Frage nach der konstitutionellen Kraft der Scharia: Was ergibt sich aus der Scharia für die Verfassung eines politischen Gemeinwesens?
1.5.2.2 Scharia und Herrschaft des Rechts
Die Scharia als Ausdruck von Gottes souveränem Willen regelt alle Bereiche des menschlichen Lebens, alle gesellschaftlichen Institutionen. Daher ist auch jede politische Institution dem moralischen Willen der Scharia untergeordnet. Dies betrifft selbstverständlich auch die vollziehende und die richterliche Gewalt. Die Scharia selbst kann in dieser Hinsicht als die gesetzgebende Gewalt schlechthin betrachtet werden.
Im Gegensatz zum modernen Staat gibt es in der islamischen Gouvernanz keine andere Gewalt mit gesetzgebender Funktion neben der Scharia. Die Scharia allein ist gesetzgebend. Die Judikative kann nicht zur Gesetzgebung beitragen. Der Exekutive sind von der Scharia allenfalls in sehr beschränkten Bereichen gewisse Befugnisse zur Gesetzgebung übertragen worden, die aber immer abgeleitet und ergänzend sowie im Vergleich zum modernen Staat äußerst marginal blieben.
Die islamische Gouvernanz mit ihrer strikten Gewaltentrennung und der Vorherrschaft der Legislative könnte mithin im Vergleich zum modernen Staat die von Kelsen aufgestellten Voraussetzungen für eine demokratische Verfassungsordnung besser erfüllen.
Hallaq wirft nun einen näheren Blick auf diesen Themenkomplex, indem er die Rolle der Gewaltenteilung und somit der Herrschaft des Rechts im Rahmen der Scharia als gelebte Wirklichkeit untersucht. Bei der Beschreibung der Geschichte der Scharia geht er von der Frage aus: Wenn die Scharia nicht das Produkt des islamischen Herrschers oder des islamischen Staates ist, wer hat sie dann gemacht?
Die Scharia als gelebte Wirklichkeit ist aus der Verbindung von Offenbarung und menschlicher Anstrengung des Verstehens hervorgegangen, indem die Gemeinschaft (umma) ihre Rechtsgelehrten hervorgebracht hat, die eine Vielzahl von rechtlichen Aufgaben erfüllt haben, die in ihrer Gesamtheit wiederum die islamische Rechtsordnung geschaffen und entfaltet haben.
Die Rechtsgelehrten teilten die gleichen Werte und Normen wie die soziale Welt, der sie entstammten. Ihre Aufgabe selbst war eben durch diese Gebote bestimmt, wozu auch der starke Egalitarismus der koranischen Offenbarung gehört. So sahen sie sich selbst und so wurden sie von anderen gesehen als die Fürsprecher der Gesellschaft, insbesondere der Schwachen und Bedürftigen gegenüber den herrschenden Schichten.
Die Rechtsgelehrten und Richter kümmerten sich kraft ihrer Aufgabe um allerlei gesellschaftliche Belange und stiegen zu Führungspersönlichkeiten auf. Sie galten als Vorbilder der Gottesfurcht, Aufrichtigkeit und Bildung sowie des tugendhaften muslimischen Lebensstils. Sie wurden sogar als »Erben der Propheten« betrachtet, wie es in einem Wort des Gottesgesandten Muhammad (sas) heißt. Die einfachen Menschen erkannten in ihnen nicht nur Vertreter ihrer Interessen, sondern auch den paradigmatischen Ort der Legitimität sowie der religiösen und moralischen Autorität.
Als Rechtsgelehrte erfüllten sie viele Funktionen auf den Gebieten der Bildung, des Rechts, der sozialen Aufsicht usw., von denen in unserem Zusammenhang am wichtigsten die Rollen des muftī (Mufti) und des qādhī (Richter) sind. Dem Mufti kommt dabei die höchste sozialrechtliche Funktion zu, da er die zentrale Rolle spielte sowohl bei der frühen Entwicklung des islamischen Rechts als auch bei dessen fortlaufenden Weiterentwicklung und Anpassung über viele Jahrhunderte und Regionen der Welt hinweg.
Der Mufti war als privater Rechtsgelehrter nicht dem Herrscher und dessen Interessen, sondern der Gesellschaft, in der er lebte, rechtlich und moralisch verantwortlich. Die Aufgabe, die seine Rolle in erster Linie bestimmte, bestand darin, eine fatwā zu erlassen, nämlich auf eine Frage, die ihm gestellt wurde, eine schariarechtliche Antwort zu geben. Für seine Dienste nahm er keine Gebühren, so dass Rechtsberatung gleichermaßen für alle, für Arme wie Reiche, leicht zugänglich und erhältlich war. Die Fragen an den Mufti kamen von Mitgliedern der Gemeinschaft oder auch von Richtern, die mit für sie schwierig zu entscheidenden Problemen konfrontiert waren. Das islamische Recht hat sich von Anfang an ausgehend von solchen Fragen und Antworten entwickelt und ausgebildet. Mit der Zeit wurden die Antworten gesammelt, geordnet und schließlich mündlich wie schriftlich in Rechtskompendien überliefert.
Der Mufti gibt allerdings keine universell gültige Antwort. Er stellt vielmehr lediglich fest, was das Recht in einer bestimmten tatsächlichen Situation seiner Auffassung nach ist. Obgleich er die höchste rechtliche Autorität darstellt, ist seine Meinung (fatwā) nicht bindend. Gleichwohl trugen die Rechtsauskünfte der Muftis zur Beilegung vieler Streitigkeiten bei, auch vor Gericht. Das Gericht selbst konnte hingegen nicht gesetzgebend tätig werden, sondern unterstand immer der schariarechtlichen Autorität der Rechtsgelehrten und keinesfalls einer exekutiven Autorität.
Entscheidend war die Autorität der Fatwa (fatwā). Wenn eine Fatwa keine Beachtung fand, dann nicht, weil ein Richter sie schlichtweg abgelehnt hätte, sondern weil eine andere Fatwa eine überzeugendere Antwort bot.
Hallaq fasst zusammen:
[…] die Fatwa ist das Produkt von rechtlicher Expertise und hochentwickelter Rechtskenntnis und wurzelt insgesamt in einer tiefen Sorge für die Gesellschaft und ihre allgemeinen moralischen Prinzipien und nicht für einen Staat oder ein von oben verordnetes Recht. (54)
Hallaq betont dabei, dass das Recht in islamischen Gesellschaften ein soziales Phänomen ist und nicht ein politisches, das von oben, d. h. vom Staat verordnet wird und mit dem Staat geradezu gleichgesetzt werden kann. Nicht Recht und Staat, sondern Recht und Gesellschaft sind so eng miteinander verwoben, dass es kaum möglich ist, sie auseinanderzuhalten.
So waren beispielsweise auch die Gerichte leicht zugänglich. Die Parteien konnten ihren Fall ohne Zwang zu besonderen Formen vor den Richter bringen. Es bedurfte weder einer rechtlichen Vertretung, denn die Scharia kannte keine Rechtsanwälte, noch eines technischen Jargons. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass das Gericht als Rechtsinstitution in die Gesellschaft eingebettet war, da beide die selbe moralische Welt der schariarechtlichen Werte und Gebote teilten.
Das moralische Recht der vormodernen muslimischen Gesellschaften war eine lebendige und gelebte Tradition, mit der die Menschen vertraut waren. Sie kannten das Recht, da Rechtskenntnisse weit verbreitet und zugänglich waren. Schließlich waren die Muftis und andere Rechtsgelehrte, ohne Gebühren zu verlangen, jederzeit bereit, Rechtsauskünfte zu erteilen.
Hallaq führt dazu näherhin aus:
Wenn das gemeine Volk vor Gericht erschien, sprach es eine »rechtliche« Sprache, die für den Richter ebenso völlig verständlich war, wie die volkstümliche »moralische« Sprache des Richters für sie verständlich war. Rechtliche Normen und gesellschaftliche Moralität waren weithin untrennbar, wobei sie zugleich aufeinander aufbauten und sich gegenseitig stützten. Das muslimische Gericht als ebenso soziale wie rechtliche Institution war in hohem Maße das Produkt eben der Gemeinschaft, der es diente und in deren Schoß es seine Funktion erfüllte.
Es trifft wohl zu, dass die Scharia gewisse Besorgnisse (oder in der amerikanischen konstitutionellen Redeweise »Misstrauen«) gegenüber der exekutiven politischen Gewalt entwickelte, Besorgnisse, welche die Fähigkeit der Scharia bezeugen, der Gesellschaft und Moralität, in der sie wirkte und lebte, Loyalität abzuverlangen. Es ist keineswegs eine Übertreibung, zu sagen, dass die Scharia und ihre Rechtsgelehrten aus der Mitte der Gesellschaft hervorgingen und dieser Gesellschaft fortgesetzt dienten, bis die Scharia effektiv niedergerissen wurde. (56)
Nach dieser Erörterung der legislativen Gewalt wirft Hallaq nun die Frage nach der richterlichen Gewalt auf:
Wenn die »legislative Gewalt« im Islam völlig eingebettet war in ein gesellschaftlich verankertes göttliches Gesetzeswerk (und daraus muss kein Widerspruch erwachsen) und wenn die Scharia eine unabhängige »legislative Gewalt« war, in welcher Art von Beziehung steht sie dann mit der judikativen Gewalt? (57)
Wie der Mufti war auch der Richter ein Mitglied der Gemeinschaft, der er diente. Ihm fielen dabei neben seiner Funktion, über Rechtsstreitigkeiten zu urteilen, viele verschiedene Aufgaben zu, zu denen auch die Aufsicht über etliche Belange des gesellschaftlichen Lebens wie etwa öffentliche Einrichtungen, Stiftungen, Märkte, Schließungen von Verträgen usw. gehörte. Er sah dabei seine Aufgabe vor allem in der Vermittlung und Schlichtung, um möglichst die sozialen Verhältnisse für ein geselliges Zusammenleben zu schützen und zu bewahren. Das islamische Gericht war mithin mit der Gesellschaft, der es diente, zutiefst verwoben.
Das von den Richtern angewandte Recht war das Ergebnis eines kumulativen hermeneutischen Projekts, das über Jahrhunderte hinweg von den Rechtsgelehrten selbst betrieben wurde. Sie entwickelten Methoden der Findung und der Interpretation des Rechts, die als usūl al-fiqh (Grundlagen des Rechts) bekannt wurden. Sie bildeten eine systematische Zusammenstellung von Wissen aus einer ganzen Reihe von Bereichen: Logik, Theologie (kalām), Sprache, Linguistik, Hermeneutik, Rechtsdenken und vieles mehr.
Hallaq erläutert:
Diese interpretativen Methoden bildeten die Werkzeuge des idschtihād, der Prozesse des kreativen Denkens, die der dazu befähigte Rechtsgelehrte einsetzt, um zu der besten Vermutung dessen zu gelangen, was seines Erachtens das Recht hinsichtlich eines besonderen Falles sein mochte. (58)
Bis auf einige Normen, die aus eindeutigen Texten der Offenbarung unmittelbar hervorgehen und als gewiss gelten, war der größte Teil des Rechts Produkt des idschtihād (selbständige Urteilsfindung), der auf Ableitungen basiert und daher in den Bereich des Wahrscheinlichen fällt.
Die Rechtsgelehrten konnten durch ihren idschtihād in der gleichen Frage also durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, wobei Gott allein weiß, wer die Wahrheit gefunden hat. Da die verschiedenen Meinungen der Rechtsgelehrten gleichwohl als richtig galten und für die Rechtsbildung zur Auswahl standen, bildete sich ein beachtlicher Rechtspluralismus heraus. Dieser Pluralismus wurde zur Grundlage für die Entstehung einer vielfältigen Rechtskultur, die sich sowohl durch unterschiedliche Rechtsschulen als auch eine Vielzahl von Rechtsmeinungen innerhalb einer Schule auszeichnete. Es gab also nicht die eine und einzige Rechtsetzung, die über ein Monopol oder ausschließliche Geltung verfügt, wie das im modernen Staat vorgesehen ist.
Dieser Pluralismus verlieh dem islamischen Recht drei seiner grundlegenden Eigenschaften: ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an sehr unterschiedliche soziale und regionale Bedingungen; die Fähigkeit der Berücksichtigung neuer Entwicklungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben; die Widerspiegelung einer in Raum und Zeit schier endlosen Vielfalt von gesellschaftlichen Interessen, wobei immer diejenigen der Unterdrückten und Bedürftigen im Vordergrund standen, was auch für die Herrschenden rechtlich verpflichtenden Ausdruck fand.
Hallaq bemerkt:
Der muslimischen Richterschaft fiel daher nicht die Aufgabe zu, ein Recht anzuwenden, das von den herrschenden Gewalten eines Staates oder eines gebieterischen Herrschers bestimmt wurde, sondern vielmehr, ein Scharia-Recht zu verbürgen, dessen hauptsächliche Sorge die Regelung von sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen auf moralischer Grundlage war. Es war ein Recht des Volkes, wiewohl eines, das gleichermaßen dazu diente, den Herrscher in seiner Behandlung der Bevölkerung einzuschränken. (59)
Der Herrscher hatte zwar die Befugnis, Richter einzusetzen und zu entlassen, aber keinerlei Einfluss auf die Arbeit der Richter selbst. Außerdem beruhte die Ernennung der Richter durch den Herrscher auf dem Begriff der Delegation, der auf die Frühzeit der islamischen Geschichte zurückgeht, in der der Kalif als Vertreter des Propheten zugleich als Rechtsgelehrter galt und als solcher die Richter ernannte. Jedenfalls muss unabhängig von der Art der Ernennung betont werden, dass vom Richter verlangt wurde, die Scharia samt ihrer Normen und Regeln anzuwenden und keinesfalls irgendein anderes Recht. Die muslimische Richterschaft war in der Ausübung ihrer Aufgabe also völlig unabhängig von der Exekutive.
Dem steht eine Auffassung entgegen, die vom libanesischen Orientalisten Émile Tyan vertreten wurde und jahrzehntelang großen Einfluss hatte. Sie besagt, dass eine der Konsequenzen des Begriffs der Delegation das vollständige Fehlen der Trennung zwischen Judikative und Exekutive sei.
Hallaq begegnet dieser Auffassung mit vier Gegenargumenten. Erstens: Das Recht des Scharia-Gerichtes ist nicht vom Rechtswillen des Herrschers abhängig, sondern vielmehr untersteht der Herrscher bzw. die sultanische Exekutive dem Scharia-Recht. Zweitens: Der Richter wird nicht wirklich, sondern nur nominell vom Herrscher ernannt, da dieser als Repräsentant der Gemeinschaft (umma) gilt und somit die Ernennung und Entlassung von Richtern lediglich in Ausübung seiner Repräsentation in einer Vermittlerrolle durchführt. Drittens: Der Begriff der Delegation könnte auch als Kontrolle der Judikative durch die Exekutive verstanden werden, da die Entlassung aus dem Amt aus moderner Sicht als Untergrabung der richterlichen Unabhängigkeit gilt, aber die Richter und andere Rechtsgelehrte in muslimischen Gesellschaften waren nicht in der gleichen Weise von ihrem »Beruf« als Richter abhängig, da sie über andere Einkommensquellen beispielsweise als Handwerker, Lehrer, Schreiber oder Händler verfügten. Viertens: Neben diesen praktischen oder funktionalen Gründen lässt sich noch die paradigmatische moralische Kraft der Scharia anführen, die in der Regel Richter wie Herrscher gleichermaßen dazu anhielt, die richterliche Unabhängigkeit zu respektieren.
Hallaq kommentiert diesen Punkt folgendermaßen:
Die richterliche Unabhängigkeit war integraler Bestandteil der Kultur. Dass das moralische Argument in Tyans Analyse keine Rolle spielt, sagt weniger über die beschriebene Ordnung aus als über Tyans eigene modernistische und positivistische Konzeptionen. (62)
Die bisherige Betrachtung des auf die Scharia gegründeten Verhältnisses von gesetzgebender und richterlicher Gewalt hat gezeigt, dass die Legislative völlig unabhängig und souverän war, während die Judikative das moralische Recht der Scharia in Übereinstimmung mit dem Willen der gesetzgebenden Gewalt zur Anwendung brachte. Nun stellt sich die Frage: In welchem Verhältnis standen diese Gewalten zur Exekutive?
Hallaq beginnt die Antwort mit einer Beschreibung der Exekutive als einer gedungenen Klasse, die zur Ausübung bestimmter Funktionen verpflichtet war. An ihrer Spitze stand ein dynastischer Herrscher, der sich üblicherweise auf eine Söldnertruppe (»Sklaven«) stützte und die Vorschriften der Scharia ausführte, denen er selbst sich fügte im Austausch gegen eine Rente, die er von der Bevölkerung erhob. Diese Rente bestand vor allem aus Steuern, die unter Umständen zwar die schariarechtlichen Bestimmungen übersteigen konnten, aber allemal relativ niedrig waren.
Die einigermaßen provisorische Natur des exekutiven Sultanismus kommt auch in dessen üblicher Bezeichnung zum Ausdruck. Denn die dynastische Herrschaft wurde dawla genannt. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert wurde dieser Ausdruck für den modernen Staat verwendet. Davor aber hatte er eine ganz andere Bedeutung. Er bezeichnete nämlich eine dynastische Herrschaft, die in irgendeiner Region, ob islamisch oder nicht, an die Macht kommt und dann wieder verschwindet. Der Wechsel und die Abfolge von Dynastien ist ein wesentliches Merkmal der dawla, das diese Regierungsform im Gegensatz zur Gemeinschaft (umma), die beständig ist bis zum Tag des Gerichts, als temporär und flüchtig erweist, ohne innere Bindung an die Gemeinschaft und deren Scharia. Sie ist lediglich ein Mittel zum Zweck, von der Gemeinschaft gedungen und in Dienst gestellt, um die von der Scharia geprägte Gesellschaft im Auftrag der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Allerdings wurde das Ende einer dawla nicht durch eine Entscheidung der Gemeinschaft besiegelt, sondern durch den Aufstieg einer neuen und mächtigeren dawla, die sich gleichwohl wiederum in den Dienst der Scharia stellte.
Hallaq hebt hervor:
Diese provisorische Natur der dynastischen Herrschaft, die in krassem Gegensatz zur dauerhaften Beständigkeit der Gemeinschaft und ihrer Scharia steht, ist grundlegend für ein Verständnis des islamischen Begriffes der Gewaltentrennung und daher für die islamische Verfassungstheorie und -praxis. (63)
Besonders augenfällig wird dieser Kontrast, wenn man sich vergegenwärtigt, dass über zwölf Jahrhunderte der islamischen Geschichte hinweg, bis zur Zerstörung vieler islamischer Einrichtungen durch den Kolonialismus, die Gemeinschaft und ihre Scharia eine für die menschliche Geschichte herausragende Stabilität erlebten, während sich der Wechsel der Dynastien in rascher Abfolge vollzog.
Die Herrscher und ihre Söldnertruppen drangen zumeist von außen in die Gebiete vor, die sie unter ihre Herrschaft brachten. Oftmals waren es Nicht-Muslime, die sich erst nach einer gewissen Zeit zum Islam bekehrten. Da es ihnen in jedem Fall an der bürokratischen Maschinerie ermangelte, über die der moderne Staat verfügt, konnten sie die Gesellschaft nicht durchdringen und mussten sich der lokalen von der Scharia geprägten Kultur fügen. Sie erkannten daher die schariarechtlichen Gebote und ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft an und versuchten ihren finanziellen Nutzen vor allem aus Steuern zu ziehen. Natürlich kam es dabei zu Konflikten verschiedener Art, wodurch jedoch die allgemeinen Strukturen dieses Verhältnisses im Kern nicht berührt wurden.
Hallaq legt zusammenfassend dar:
[…] der exekutive Herrscher hielt sich fern von der »legislativen« und sogar der judikativen Gewalt, während er in vielerlei Hinsicht ihren Geboten unterstand. Die islamische rechtlich-politische Theorie und Praxis (siyāsa scharʿiyya) verlangte eben dies, und die Theorie wurde weitgehend in die Praxis umgesetzt. Eine wesentliche konstitutionelle Tatsache ist hier, dass es die Scharia selbst war, die dem Herrscher gewisse Befugnisse zugestand. Während nicht jeder Herrscher jede einzelne Vorschrift der siyāsa scharʿiyya befolgte, so bleibt es doch eine Tatsache, dass das paradigmatische Recht eben dies war, nämlich paradigmatisch, d. h. dass die Handlungen des Herrschers nach Kriterien beurteilt wurden, die dem Geiste der Scharia folgten und auf dieser gegründet waren. Verrat der Prinzipien der siyāsa scharʿiyya war schlechte Regierung. (64-65)
1.5.3 Vergleiche und Schlussfolgerungen
Die Erörterungen dieses Kapitels münden in zwei Schlussfolgerungen, die sich auf vier der fünf Formeigenschaften des Staates beziehen.
Erstens: Der Islam als Weltzivilisation hat eine historisch verankerte paradigmatische moralisch-rechtliche Ethik entwickelt, die seine Identität bestimmt. Ohne sie kann es keinen Islam und keine muslimische Identität geben. Heute ein Muslim zu sein, heißt, auf ganz grundlegende Weise mit der durch die Scharia bestimmten Ethik verbunden zu sein. Die Entwicklung einer muslimischen Identität bedeutet die Anerkennung der übergeordneten Stellung der Scharia als Ethik, die das menschliche Handeln orientiert und regelt.
Hallaq erläutert näherhin:
Ebensosehr wie der moderne Staat und seine Bürger mithin das Produkt eines historisch bestimmten Phänomens sind, ist daher die heutige muslimische Identität unauflöslich verbunden mit einer besonderen moralisch-rechtlichen Ethik, die durch die übergeordneten zentralen Werte der Scharia historisch bestimmt wurde. (70-71)
Und zur zweiten Schlussfolgerung legt Hallaq dar:
[…] in dieser Geschichte und der Identität, die sie hervorbrachte, war die Scharia der Ausdruck von Gottes Souveränität, denn die paradigmatische Anrufung »la ilāha illā Allāh« (»Es gibt keine Gottheit außer Gott«) fasst das grundlegende Wissen sowie die religiöse und diskursive Praxis zusammen, dass Gott der einzige Souverän ist. Dieses Wissen war strukturell: es durchdrang das Gefüge des muslimischen Lebens, von der sozial-praktischen Ethik bis zur politischen Gouvernanz. (71)
Und das Konzept von Gottes Souveränität wiederum prägte ein besonderes Paradigma der Gewaltentrennung. Die »legislative« Funktion wurde von privaten Rechtsgelehrten ausgeführt, die in und mit der Gesellschaft und ihren Gemeinschaften lebten und ihre Stellung vor allem ihrem Ansehen als religiöse und moralische Vorbilder verdankten. Sie folgten dem Geist der Scharia, indem sie die einfachen Menschen und deren Belange gegenüber den herrschenden Schichten vertraten. Denn das auf die Scharia gegründete Recht selbst steht – im Gegensatz zum Recht des modernen Staates – auf der Seite der Schwachen und Bedürftigen.
Daraus ergibt sich für Hallaq:
Und wenn man somit die Repräsentation der Rechtsgelehrten zur privilegierten Stellung der gemeinen Gesellschaftsschichten im Recht hinzufügt, heißt dies, eine Repräsentation auf intensive, extensive und substantielle Weise zu gewährleisten. (71)
Hans Kelsen hat die Auffassung vertreten, dass »Demokratie verlangt, dass dem legislativen Organ die Kontrolle über die administrativen und judikativen Organe gegeben werden sollte.«
Die Oberhoheit der Scharia verbürgte eine Herrschaft des Rechts, die ihrer westlichen Entsprechung überlegen war.
So kann Hallaq darlegen:
Für Muslime heute bedeutet das Trachten nach der Übernahme des Systems der Gewaltenteilung des modernen Staates, auf einen Handel zu setzen, der demjenigen unterlegen ist, den sie für sich selbst über die Jahrhunderte ihrer Geschichte gewährleisteten. Der moderne Handel repräsentiert die Macht und Souveränität des Staates, der […] für seine eigene Fortdauer und Interessen arbeitet. Die Scharia hingegen – weil sie nicht dafür bestimmt war – diente nicht dem Herrscher oder irgendeiner Form der politischen Macht. Sie diente dem Volk, den Massen, den Armen, Unterdrückten und Reisenden, ohne den Händler und seinesgleichen zu benachteiligen. In diesem Sinne war sie nicht nur zutiefst demokratisch, sondern menschlich in einer Weise, wie es für den modernen Staat und sein Recht nicht wiederzuerkennen ist. Wenn die Probe ist, »was die unveräußerlichen Rechte jenseits des Zugriffs jeglicher Regierung bilden sollte,« um die Worte von Robert Dahl
Siehe Robert A. Dahl, On Removing Certain Impediments to Democracy in the United States, in: Robert H. Horwitz (Hg.), The Moral Foundations of the American Republic, 3. Auflage, Charlottesville: University Press of Virginia, 1986, S. 230–252, hier S. 235; Hervorhebungen von Hallaq. zu entleihen, dann hat die Scharia die Probe bestanden, indem sie die Herrschaft des Rechts über die des Staates erhebt. (72; Hervorhebungen im Original)
Hallaq stellt abschließend fest, dass die paradigmatischen Strukturen der Scharia für eine »wohlgeordnete Gesellschaft« sorgten – ein Begriff von John Rawls, der meinte, dass unter den aktuellen Bedingungen eine solche Gesellschaft höchstens in »hochgradig idealisierter« Gestalt vorstellbar sei.
Hallaq kommentiert:
Er wusste wohl kaum, dass jedes Detail seiner Beschreibung einer »wohlgeordneten Gesellschaft« in der paradigmatischen islamischen Gouvernanz nicht nur, mutatis mutandis, gültig war, sondern auch als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. (72-73)
Hallaq bezieht sich auf die Kennzeichnung einer wohlgeordneten Gesellschaft, wie sie Rawls in seinem Buch Politischer Liberalismus vorgenommen hat:
Wenn wir sagen, eine Gesellschaft sei wohlgeordnet, so teilen wir dadurch drei Dinge mit: Erstens (und dies folgt aus der Vorstellung einer öffentlich anerkannten Gerechtigkeitskonzeption) handelt es sich um eine Gesellschaft, in der alle genau dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennen und in der jeder weiß, daß dies der Fall ist; zweitens (und dies folgt aus der Vorstellung, daß eine solche Konzeption wirksam regulativ ist) ist öffentlich bekannt oder wird aus guten Gründen geglaubt, daß ihre Grundstruktur – das heißt ihre wichtigsten politischen und sozialen Institutionen und die Art und Weise, in der sie sich zu einem System der Kooperation zusammenfügen – diesen Grundsätzen genügt; drittens haben ihre Bürger einen normal wirksamen Gerechtigkeitssinn und befolgen deshalb im allgemeinen die Regeln der grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen, die sie als gerecht betrachten. In einer solchen Gesellschaft bildet die öffentlich anerkannte Gerechtigkeitskonzeption eine gemeinsame Basis, von der aus die Ansprüche der Bürger an ihre Gesellschaft beurteilt werden können.
Wir haben es hier mit einem stark idealisierten Begriff zu tun. Doch jede Gerechtigkeitskonzeption, die nicht in der Lage ist, einen demokratischen Verfassungsstaat wohlzuordnen, ist für eine demokratische Konzeption unangemessen.
John Rawls, Politischer Liberalismus, Übersetzt von Wilfried Hinsch, Frankfurt am Main, 2017 (Erste Auflage 1998), S. 105; Hervorhebungen im letzten Absatz von Hallaq.
Und Hallaq merkt abschließend dazu an:
Hier könnte Rawls leicht als muslimischer Rechtsgelehrter ausgemacht werden, der die Realität seiner eigenen Rechtskultur beschreibt, indem er die Unzulänglichkeiten der modernen konstitutionellen Demokratie scharfsichtig kommentiert. (73; Hervorhebung im Original)
1.6 Das Rechtliche, das Politische und das Moralische
1.6 Das Rechtliche, das Politische und das Moralische Yusuf KuhnMuslime, die danach trachten, den westlichen Staat zu übernehmen, begegnen unvermeidlich zwei weiteren grundsätzlichen Schwierigkeiten, die zumindest große Besorgnis, wenn nicht die Aufgabe dieses Projektes nach sich ziehen sollten. Das erste Problem besteht in der Unterscheidung, ja Trennung von Sein und Sollen, die sich im modernen Europa herausgebildet hat. Hallaq bezeichnet dieses Problem als Aufstieg des Rechtlichen. Das zweite Problem steht im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Politischen, der seinen prägnantesten Ausdruck im neo-hobbesianischen Denken von Carl Schmitt gefunden hat. Beide sind historisch und inhaltlich eng miteinander verwoben und beziehen sich auf einen bestimmten Begriff und Praxis der Herrschaft.
Hallaq geht es nun um den Nachweis,
dass der Aufstieg des Rechtlichen und des Politischen im modernen Projekt sie unvereinbar macht mit den konstituierenden Formen jeglicher Weise der islamischen Gouvernanz, weil sie in Widerspruch stehen auch nur zum Mindestmaß an moralischem Gehalt, das in jeder derartigen Gouvernanz bestehen muss, damit sie überhaupt sinnvoll als islamisch bezeichnet werden kann. (75; Hervorhebungen im Original)
1.6.1 Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen
Von zahlreichen kritischen Beobachtern wie beispielsweise Friedrich Nietzsche, Max Scheler, Michel Foucault und der Frankfurter Schule wurde immer wieder festgestellt, dass sich die Kultur des modernen Westens durch ein obsessives Streben nach Wissen zur Kontrolle und Manipulation auszeichnet. Die moderne Wissenschaft zielt auf eine Erklärung der Natur, die letztlich auf den Gebrauch und die Beherrschung der Natur abgestellt ist.
Dieses Streben ist eng verbunden mit dem durch das Denken der Aufklärung entwickelten Begriff des autonomen Selbst, der seine paradigmatische Gestalt in Kants berühmtem Aufsatz »Was ist Aufklärung?« gefunden hat. Durch die objektive Erklärung und rationale Beherrschung der Natur gewinnt das moderne Selbst die für es wesentliche Autonomie und Freiheit. Die Freiheit von den Lasten der Geschichte, Autorität und Unterdrückung schlägt in der Praxis sogleich um in die Freiheit, zu kontrollieren und zu beherrschen.
Das Streben nach Wissen gründet in einem Willen zur Macht, der nach der Beherrschung der materiellen Welt trachtet. Der moderne Mensch erscheint in diesem Denken als souveränes Wesen, das über aller Natur steht. Und damit ist nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur gemeint. Das moderne Subjekt, das sich in seiner Autonomie über alles erhebt, unterwirft schließlich auch seine eigene Natur seinem Drang nach universeller Herrschaft. Beherrschung war daher die paradigmatische Einstellung nicht nur gegenüber der für »nackt« und »tot« erklärten Materie, sondern auch gegenüber dem Menschen als natürlichem Wesen selbst. Dem transzendentalen Subjekt, das sich gottgleich ins Zentrum der Welt setzte, wurde alles um es herum zur beliebig nach seinem souveränen Willen manipulierbaren Masse.
Wenn das moderne System des westlichen Wissens seinem Wesen nach auf das Streben nach Macht, Disziplin, Beherrschung und Verwandlung der Welt ausgerichtet ist, so schließt dieses Wissen zugleich ein, sich der Welt zu bemächtigen und sie in Dienst zu stellen. Das brachte Francis Bacon Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in seinem Novum Organum (Das Neue Organon) mit unübertroffener Klarheit zum Ausdruck: »Wissen ist Macht«. Keine Form des modernen Wissens, einschließlich des rechtlichen und des politischen, kann der Verstrickung in diesen Willen zur Macht entkommen.
Indem durch die Aufklärung alle ihrem Paradigma des Wissens als Beherrschung zuwiderlaufenden Überreste des aristotelischen, christlichen und teleologischen Denkens fortschreitend aus dem Begriff der Natur getilgt wurden, wurde diese vollends mechanisiert und auf bloße Materie herabgesetzt, die dem willkürlichen Gebrauch des modernen Menschen keinen Widerstand entgegenzusetzen hat. Durch das mechanistische Denken wurde sie aller spirituellen Kräfte und moralischen Werte beraubt und stand somit als natürliche Ressource zur Ausbeutung und Unterdrückung bereit. Sie konnte nun der gewaltsamen Nutzung ohne jede moralische Schranke zugeführt werden, was seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert durch die kapitalistische Industrialisierung mit der vollen Wucht und Zerstörungskraft der modernen Technologie geschah.
Die »Objektivität« der Wissenschaft und der schrankenlose Zugriff der Technik wurden nicht nur durch die Herabsetzung der Natur auf mechanisierte Materie erkauft, sondern, bedingt durch die Austreibung aller Werte und Normen, auch durch die Trennung von Tatsache und Wert. Die strikte Scheidung von Sein und Sollen ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Projekts. Was sich dieser zur wissenschaftlichen Weltanschauung geronnenen Denkstruktur der Herrschaft widersetzte, wurde schlicht eliminiert.
Freilich kam dem modernen Staat bei der Ausgestaltung und Beförderung dieser Weltanschauung eine herausragende Rolle zu. Und er war selbst Bestandteil dieser Weltanschauung. Der moderne Staat mit seinem souveränen Willen als einziger Quelle des Rechts war selbst Produkt dieses Denkens, wie es mustergültig in der Staatsphilosophie von Hobbes zum Ausdruck kommt. Recht ist, was der Staat kraft seiner Macht gebietet und für rechtlich gültig erklärt. Die Austreibung der Moral aus dem Bereich des Politischen ist die Voraussetzung für die Entwicklung des Begriffs des politischen souveränen Willens.
Auf der scharfen begrifflichen Trennung zwischen dem Recht des Souveräns und dem moralischen Recht beruht der Rechtspositivismus, dem zufolge jedes tatsächlich bestehende Recht, wie unmoralisch es auch immer sein mag, Recht ist. Das Band zwischen Sein und Sollen ist damit vollends zerschnitten.
Die Trennung von Tatsachen und Werten hat die gesamte moderne Moralphilosophie zutiefst durchdrungen. Der Begriff der Autonomie des Selbst als Zentrum des Projekts der Aufklärung überträgt Willen, Freiheit und Macht, die einstmals Gottes Prärogative waren, auf das transzendentale Subjekt. Die menschliche Vernunft wird nun zum alleinigen Herrscher über die vergegenständlichte Welt, die sie ihren eigenen manipulativen und instrumentalistischen Interessen unterwirft. Die vormals von der Offenbarung eingeschränkte Vernunft befreit sich von allen Fesseln und erhebt sich selbst zur einzigen Autorität.
Die souverän gewordene Rationalität erkennt keine anderen Quellen von Vernunft und somit von Moral, Pflicht und solchen Begriffen wie Kants kategorischem Imperativ an als sich selbst. Auch die Menschenwürde verbindet sich nun mit dem Begriff der souveränen Vernunft, denn Würde kann eben letztlich nur durch die Verwirklichung dieser Souveränität erlangt werden.
Die Spaltung von Sein und Sollen erweist sich als Ergebnis besonderer geschichtlicher Umstände, einer bestimmten philosophischen Entwicklung, die Begriffen wie Wille, Freiheit, Würde und Vernunft eine neue Bedeutung verliehen hat. Wie viele andere Elemente der Modernität wurde diese Entwicklung jedoch mit dem Siegel der Zeitlosigkeit versehen und zur universalen Wahrheit verklärt, deren Imperativen jegliches Denken sich zu fügen habe, wenn es nicht dem Urteil der Irrationalität verfallen wollte.
Hallaq geht nun zum Vergleich mit dem islamischen Diskurs über und stellt einleitend fest:
Die Trennung zwischen Sein und Sollen im modernen Recht, ein maßgeblicher Grundsatz, kann in jedweder Form der islamischen Gouvernanz niemals Bestand haben, wenn wir auch nur auf eine minimale moralische Bestimmung dessen bestehen, was der Islam ist oder sein kann. Dieses wie auch immer relative Minimum übersteigt, wie wir sehen werden, in Dichte und Textur bei weitem die »internen« moralistischen Interventionen im modernen Recht. (82)
In der vormodernen islamischen Tradition und ihren Quellen wie dem Koran gab es, im Gegensatz zum modernen europäischen Denken, keine Trennung zwischen dem Rechtlichen und dem Moralischen. Es gab sie übrigens auch nicht im Europa vor der Aufklärung. Sein und Sollen bildeten vielmehr eine unauflösliche Einheit. Dies zeigt sich auch daran, dass es weder im Altgriechischen und Lateinischen noch im Arabischen ein Wort gibt, das dem modernen Begriff der Moral entspricht.
Auch der Begriff des Rechts ist ideologisch derart aufgeladen mit Assoziationen an die diversen Mechanismen der Kontrolle und Herrschaft des modernen Staates – Überwachung, unauffällige Bestrafung sowie Hegemonie über das und Unterwerfung des gefügigen Subjekts, Begriffe, die insbesondere von Foucault untersucht worden sind -, dass sich seine moderne Bedeutung grundlegend von früheren oder anderen Vorstellungen von Recht und Moral unterscheidet.
Was im Koran und der darauf gründenden Scharia als »rechtlich« erscheint, ist ebenso »moralisch« und umgekehrt. Eher ließen sich noch Gründe dafür finden, dass im Gegensatz zum modernen Vorurteil das Recht von der Moral als mustergültiger Struktur abgeleitet war – wenn man das moderne Vokabular zur Anwendung bringen will, was leider unvermeidlich ist, wenn man sich einer modernen europäischen Sprache bedient. Die »moralische« Botschaft und Struktur des Koran hat die Bildung der Scharia und damit der muslimischen Subjektivität in einem Maße geprägt, dass ohne sie ihre »rechtliche« Ausgestaltung und Praxis nicht verstanden werden kann.
Der Koran lieferte den Muslimen von Beginn an eine Kosmologie, die zutiefst in moralischen Naturgesetzen verankert ist und zudem tiefe und machtvolle psychologische Wirkungen zeitigt. Diese Kosmologie beinhaltet eine Metaphysik, ja ist selbst Teil einer umfassenden moralischen Ordnung, welche die Begriffe der Metaphysik übersteigt. In diesem weiten Sinne von Kosmologie kann gesagt werden, dass der Koran nicht weniger als eine Theorie der kosmologischen Moralität aufbietet, die nicht nur zutiefst moralisch ist, sondern selbst in Inhalt und Form als moralisches Anliegen gebildet ist. Alles, was dieses Universum enthält, wurde für den Genuss und Nießbrauch der Menschen erschaffen, aber nicht in utilitaristischer Weise, sondern vielmehr in einer Weise, die tiefe moralische Verantwortlichkeit erzeigt. Denn Handlungen haben trotz ihrer und unserer vergänglichen Existenz unausweichliche Konsequenzen.
Die koranische Schöpfungsgeschichte legt die Grundlagen für eine moralische Kosmologie. Denn ihr zufolge wurden die Himmel und die Erde gemäß dem Prinzip von Wahrheit und Gerechtigkeit (haqq) erschaffen (siehe Koran 39:5). Und auch die Botschaft des Koran folgt dem gleichen Prinzip. Nur drei Verse davor heißt es nämlich, dass die Herabsendung des Koran ebenfalls gemäß dem Prinzip der Wahrheit und Gerechtigkeit (haqq) erfolgte (siehe Koran 39:2). Botschaft und Schöpfung sind untrennbare Teile des selben Projekts und gehorchen den gleichen Regeln und Prinzipien im Rahmen einer moralischen Kosmologie.
Die Schöpfungstätigkeit Gottes erstreckt sich ebenso auf das Geschehen im Universum, das von Gesetzen des Entstehens und Vergehens gelenkt wird, die wiederum gleichermaßen moralisch gegründet sind.
Hallaq erläutert:
Hier ist die physikalische Welt nicht ein wissenschaftlicher Schauplatz, der kalter und farbloser rationaler Erklärung und Berechnung unterliegt, sondern vielmehr eine natürliche Welt, die von Spiritualität und Psychologie erfüllt und den moralischen Handlungen völlig dienstbar ist, die von eben den Menschen unternommen werden, die von Gott erschaffen worden sind. (84)
Keine entleerte und entzauberte Welt erwartet den Menschen, sondern eine sinnerfüllte. So heißt es im Koran nach Muhammad Asads Übertragung in Die Botschaft des Koran
Gott hat nicht die Himmel und die Erde und alles, was zwischen ihnen ist, ohne (eine innere) Wahrheit erschaffen und eine (von Ihm) gesetzte Frist. (Koran 30:8)
Und mit scharfem Blick auf die Folgen menschlichen Tuns:
Fürwahr, Gott gehört alles, was in den Himmeln ist, und alles, was auf Erden ist: und so wird Er jenen vergelten, die Übles tun, in Übereinstimmung mit dem, was sie taten, und wird jenen vergelten, die Gutes tun, mit letztem Gutem. (Koran 53:31)
Jedes im Universum läuft »auf eine (von Ihm) gesetzte Frist« (Koran 13:2) zu, eine Frist, an deren Ende die kosmische Ordnung umgestürzt wird, worauf der Tag des Gerichts folgt, da jeder einzelne für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.
Die koranischen Naturgesetze sind mithin moralisch und nicht physikalisch. Hinter ihnen stehen erklärbare, rationale Absichten, die letztlich in Moralgesetzen gründen. Die von Gott in seiner Güte und Macht zur Regelung des Laufs der Schöpfung bestimmten Gesetze verfolgen in erste Linie die Absicht, die Menschen zu guten Taten anzuspornen. Die Rede von den guten Taten ist in der Offenbarung allgegenwärtig, kommt aber besonders kraftvoll in folgendem Vers zum Ausdruck, in dem Gottes Allmacht mit dem natürlichen Projekt des Entstehens und Vergehens verbunden wird, das wiederum mit der Herausforderung Gottes an die Menschen verknüpft wird, gute Taten zu wirken:
Geheiligt sei Er, in dessen Hand alle Herrschaft liegt, da Er die Macht hat, alles zu wollen: / Er, der den Tod erschaffen hat wie auch das Leben, so daß Er euch einer Prüfung unterziehen möge und (also zeige), welcher von euch am besten im Verhalten ist, und (euch erkennen lasse, daß) Er allein allmächtig, wahrhaft vergebend ist. (Koran 67:1-2)
Damit ist von der Offenbarung selbst bereits die moralische Richtschnur allen menschlichen Handelns gesetzt, auf die sich die Verantwortung im Leben jedes einzelnen gründet. Das Gesetz der Folgen ist somit ein Gesetz der Natur, das dem Zweck der Verwirklichung des Guten dient. Das Leben ist der Grund, auf dem sich die Probe vollzieht, für die – nicht nur – die Menschen erschaffen wurden:
Siehe, Wir haben gewollt, daß alle Schönheit auf Erden ein Mittel sei, mit dem Wir die Menschen einer Prüfung unterziehen, (die zeigt,) welche von ihnen am besten im Verhalten sind. (Koran 18:7)
Das Leben endet nicht mit dem Tod, sondern findet seine Fortsetzung im jenseitigen Leben, das wiederum dem diesseitigen Leben seine Struktur verleiht, indem es immer schon darauf ausgerichtet ist – als Prüfung des Menschen in Verantwortung für die Gesetzmäßigkeit seiner Taten, die als unausweichliche Folge mit Lohn oder Strafe vergolten werden.
Den Gläubigen (muʾmin) zeichnet aus, Gott zu dienen, Ihm für Seine Wohltaten (niʿma) und Seine Barmherzigkeit (rahma) dankbar zu sein und Seine Gebote zu befolgen, indem er seiner Verantwortung gerecht wird und auf die göttliche Gerechtigkeit vertraut. Das ist der Geist der Ethik des Koran, der wiederum die Scharia nicht nur durchdringt, sondern aus dem die Scharia selbst hervorgegangen ist. Den Zusammenhang von Glauben (imān) und Handeln bringt nichts so deutlich zum Ausdruck wie die Tatsache, dass die gemeinsame Erwähnung von Glauben und Handeln zu den häufigsten Wendungen im Koran gehört: »jene, die Glauben erlangt haben und gute Werke tun« (z. B. Koran 2:25). Der Glaube muss durch Taten erwiesen werden, dann wartet der gerechte Lohn. Das ist gewissermaßen das vertragliche Angebot, das Gott dem Menschen unterbreitet. Der Gläubige (muʾmin) nimmt es an und richtet sein Leben danach aus. Dadurch entsteht die unlösliche Verbindung von Glauben und Handeln im Herzen der islamischen Ethik.
Diese koranische Moral, die auf dem inneren Zusammenhang von Glauben und guten Taten beruht, hat nicht nur die Scharia durchdringend geprägt, sondern ist für Denken und Handeln der Muslime stets von zentraler Bedeutung geblieben. Der Koran selbst bildet kein Recht im technischen Sinne, das vielmehr von den Rechtsgelehrten im Laufe der Zeit entwickelt wurde und als solches Teil der Scharia ist. Die Scharia als ethisches Projekt, in dem die moralische Botschaft des Koran und das darauf gegründete Recht eine Einheit bilden, schließt völlig aus, dass es zu einer Trennung von Recht und Moral wie im modernen europäischen Denken kommen könnte.
Hallaq beschließt die Erörterung zum Aufstieg des Rechtlichen mit folgenden Bemerkungen:
Paradigmatisches modernes Recht ist positives Recht, das Gebot der Fiktion des souveränen Willens. Islamisches Recht ist nicht positives Recht, sondern substantielle, auf Grundsätzen basierende atomistische Normen, die ihrem Wesen nach pluralistisch und letztlich in einen kosmischen moralischen Imperativ eingebettet sind. Für Muslime heute bedeutet die Übernahme des positiven Rechts des Staates und seiner Souveränität ganz unzweifelhaft die Annahme eines Rechts, das aus einem politischen Willen hervorgeht, eines Rechts, das von Menschen gemacht ist, die ihre ethischen und moralischen Richtlinien ändern, wie es die modernen Bedingungen erfordern. Es heißt, zu akzeptieren, dass wir in einem kalten Universum leben, das uns gehört und mit dem wir nach unserem Belieben verfahren können. Es heißt, zu akzeptieren, dass die ethischen Prinzipien des Koran und der jahrhundertealten moralisch gegründeten Scharia beiseite gelegt werden zugunsten von sich ändernden menschengemachten Gesetzen, Gesetzen, die nichts weniger als die Beherrschung und Zerstörung eben der Natur sanktioniert haben, die Gott der Menschheit gegeben hat, um sie mit moralischer Verantwortlichkeit zu genießen. Ob dies zu akzeptieren ist oder nicht, ist eine Frage, die nur Muslime für sich selbst beantworten können. Unsere eigene Auffassung ist hingegen, dass – aus einer gewissen Entfernung betrachtet – Muslime sehr wenig Grund haben, für das Recht des modernen Staates zu optieren, da sie sich einer Rechtskultur erfreut haben, die über mehr als zwölf Jahrhunderte lang an einem Recht festgehalten hat, das von einer übergreifenden moralischen Quelle paradigmatisch strukturiert und mit Leben erfüllt worden ist. (89)
In einer bemerkenswerten Fußnote erläutert Hallaq darüber hinaus:
Keines meiner Argumente hier sollte so verstanden werden, dass die islamische Gouvernanz dem Untergang geweiht ist, denn wenn sie dieses Schicksal ereilen sollte, so würde sie einfach das Schicksal der Modernität selbst teilen. Und wie das letzte Kapitel dieses Buches aufzeigt, so ist die Moderne selbst unhaltbar und muss überwunden werden. Die Frage, die offen bleibt, ist, ob die nächste Phase der Weltgeschichte (die sogenannte Zukunft) der islamischen Gouvernanz mit der Einsicht Platz bieten kann, dass dieses Gefüge auf das spirituell-moralische Selbst, auf die Familie und Gemeinschaft, auf wirtschaftliche Gerechtigkeit und, ebenso wichtig, auf die Umwelt achtet. Denn um die Probleme des modernen Projekts wahrhaft zu übersteigen, muss diese Liste von Belangen für alle Gesellschaften in unserer Welt Vorrang erlangen, nicht nur für die islamische. In einem wichtigen Sinne sind die paradigmatischen Probleme und scheinbaren Sackgassen, denen die islamische Gouvernanz begegnet, praktisch identisch mit jenen, denen nicht-muslimische Gesellschaften fast überall begegnen. Der Islam und sein Versprechen einer islamischen Gouvernanz haben kein Monopol auf Krise. (Daher wäre das Wort »unmöglich« im Titel dieses Buches ebensosehr eine Feststellung über die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustands des modernen Projekts wie eine über den islamischen Staat.) (198, Fußnote 99)
1.6.2 Opfer und der Aufstieg des Politischen
Zusammen mit dem Aufstieg des Rechtlichen vollzog sich der Aufstieg des Politischen. Dieser Begriff wurde von Carl Schmitt in seiner Schrift Der Begriff des Politischen
Das Politische ist nicht ein getrennter Bereich von Machtverhältnissen, sondern umfasst und durchdringt alle Bereiche. Das gewaltsame Wesen des Politischen, das im Kontext des Tötens oder Getötetwerdens geschmiedet wurde, zwingt dazu, alle anderen Gebiete in Anspruch zu nehmen und sich zu unterwerfen.
Gewalt bildet die wichtigste und zuverlässigste Quelle der Macht auf dem Gebiet des Politischen. Das Politische ist daher die höchste Manifestation des modernen Projektes der Trennung von Sein und Sollen. Noch mehr als die Gebiete des Ethischen und Rechtlichen, in denen Überreste der Vorstellungen von Gerechtigkeit und dem moralisch Guten überleben, ist das Politische ausschließlich mit dem befasst, »was ist«.
Das entscheidende Merkmal des Politischen ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, durch die Form und Inhalt der Politik bestimmt wird. Schmitt gibt folgende Begriffsbestimmung:
Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München und Leipzig, 1932, S. 14.
Diese Bestimmung verleiht dem Politischen seine Stellung als selbständigen Bereich und Zentralgebiet, dem alles andere unterworfen ist, da es um Leben und Tod geht. Das Politische entspringt also der Erkenntnis einer Gesellschaft, dass ihr Dasein auf Gewalt und Krieg zurückgeht, sich mithin in einem Naturzustand befindet, in dem das Überleben stets bedroht ist.
So stellt Schmitt überdies fest:
Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz und jede konkrete Gegensätzlichkeit um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte der Freund-Feindgruppierung nähert.
Ebenda, S. 17.
Gewalt und Feindschaft sind der Gehalt des Politischen. Der Krieg bricht zuzeiten aus, aber die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist jederzeit vorhanden, denn der Feind ist einfach nur der Andere, wie Schmitt ausführt:
Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der Andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind [...].
Ebenda, S. 14.
Diese Möglichkeit von Konflikten ist entscheidend. Von daher bestimmt das Politische alle anderen Bereiche. Der Konfliktfall ist die Ausnahme, aber von diesem Ausnahmezustand her bezieht das Politische seinen Sinn und Zweck. Er bestimmt das politische Verhalten. Und da das Politische ein selbständiges Gebiet bildet, bestimmt es alle anderen Bereiche des menschlichen Handelns.
Um Feind zu sein, genügt es nicht, einfach nur ein Konkurrent oder ein Gegner im Allgemeinen oder ein privater Feind zu sein, sondern es bedarf einer organisierten Gesamtheit, wie Schmitt betont:
Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht.
Ebenda, S. 16.
Es ist offensichtlich, dass hier dem Staat eine zentrale Rolle zukommt. Denn der Staat ist die »organisierte politische Einheit, die als Ganzes für sich die Freund-Feindentscheidung trifft«
In welchem Verhältnis steht vor diesem Hintergrund der Staat als zentraler Ort des Politischen zum Bürger?
Es gibt keinen neutralen Ort ohne Staatlichkeit, der es einem Menschen erlaubte, einfach nur Mensch zu sein ohne politische Zugehörigkeit zu einem Staatswesen. Der Bürger gehört zum Staat wie der Staat zum Bürger gehört. Niemand kann sich dem entziehen. Und die Beziehung wird dadurch noch enger, dass der Nationalstaat aus einer Nation besteht, wobei der Bürger sowohl die Nation bildet als auch von dieser gebildet wird. Staat, Nation und Bürger sind untrennbar in einer politischen Einheit verschmolzen.
Das moderne Subjekt ist ein nationalisiertes Wesen, das sich mit der Nation als Lebensweise identifiziert. Der Bürger ist der Ort des Politischen als Lebensweise, indem er die Bedeutung von Staat, Territorium und Nation als Großfamilie als Sinn seiner Bürgerschaft in sich aufnimmt. Eine Folgerung aus dieser Angleichung ist, dass der Bürger sich selbst mit der Fähigkeit ausgestattet sieht, sich für den Staat zu opfern. Dies steht in enger Verbindung zum Begriff des Politischen von Schmitt.
So legt Paul W. Kahn dar:
Nur das Politische hat die Macht über Leben und Tod. […] Das Politische beginnt, wenn ich mir vorstellen kann, mich selbst zu opfern und andere zu töten, um den Staat zu bewahren. Der moderne Staat ist nicht dann vollends angekommen, wenn er mich gegen Gewalt verteidigt, sondern wenn er mich zu den bewaffneten Kräften einberuft.
Paul W. Kahn, Putting Liberalism in Its Place, Princeton, 2005, S. 231 u. 240.
Die volle Bedeutung der Bürgerschaft erschließt sich erst aus der Bereitschaft zum Selbstopfer. Der Staat setzt diese Bereitschaft als selbstverständlich voraus. Sie stellt ein Potential dar, das in der Nation als Nation und ihren Mitgliedern als Bürgern angelegt ist. Schmitt hat diese Vorstellung mit der geziemenden Kaltblütigkeit zum Ausdruck gebracht:
Mit jedem neugeborenen Kind wird eine neue Welt geboren. Um Gottes Willen, dann ist ja jedes neugeborene Kind ein Aggressor!
Carl Schmitt, Glossarium, Berlin, 1991, S. 320.
Dieser Begriff des Politischen schreibt dem Staat das Recht zu, zu töten und seine Bürger töten zu lassen, zu keinem anderen Zweck als seinem eigenen Erhalt.
Paul W. Kahn führt näherhin aus:
Die Politik liefert eine Lizenz zum Töten und Getötetwerden, die nicht auf der Grundlage irgendeiner moralischen Überlegung gerechtfertigt werden kann. Die grundlegende moralische Botschaft des Westens ist, dass es kein Töten geben sollte: »Du sollst nicht töten.« Aber die Politik des Westens war eine lange Geschichte des Tötens und Opferns. Das war nicht nur die Geschichte der Kolonisation von nicht-westlichen Bevölkerungen, sondern auch des Massenopfers ihrer eigenen politischen Gemeinschaften durch westliche Staaten in den Kriegen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Wie Michael Waltzer schreibt: »Es hat sicherlich niemals einen erfolgreicheren Prätendenten des menschlichen Lebens gegeben als den Staat.«
Paul W. Kahn, Putting Liberalism in Its Place, Princeton, 2005, S. 238–239. Das Zitat von M. Waltzer findet sich in: Michael Waltzer, Obligations: Essays on Disobedience, War and Citizenship, Cambridge, 1970, S. 77.
Der Staat ist der Prätendent, der neue Gott, der über Leben und Tod gebietet, um seiner selbst willen und kraft seiner bloßen Selbstermächtigung. Wie kann unter diesen Bedingungen der Begriff des Opfers des Bürgers mit dem Paradigma der islamischen Gouvernanz vereinbart werden?
Hallaq formuliert die Frage folgendermaßen:
Wenn der moderne Staat auch die Verkörperung des Rechtlichen und seines Positivismus ist […]; wenn seine konstitutionellen Strukturen in ihrer besten Gestalt nicht mehr sind als eine schwache Repräsentation der Herrschaft des Rechts […]; und wenn es der neue Gott ist, der kraft eines positivistischen, souveränen Rechtswillens über Leben und Tod gebietet, dann stellt das Sterben für ihn ein erhebliches begriffliches Problem im Kontext eines islamischen Staates dar. Mit anderen Worten, wie können Muslime, die danach trachten, einen islamischen Staat aufzubauen, Opfer für einen Staat rechtfertigen, der sich dem Moralischen nicht verpflichten konnte und nicht verpflichten kann, der sich nicht binden konnte und nicht binden kann außer, bestenfalls, an eine amoralische Weise des Daseins, an Positivismus, Faktizität und Ist-heit (Is-ness)? (92-93)
Wie kann der Begriff des Opfers um des Staates, einer amoralischen Wesenheit willen in den Rahmen der islamischen Gouvernanz sich einfügen?
Und Hallaq beantwortet diese Frage zunächst folgendermaßen:
Die relativ einfache Antwort ist, dass der Islam den Begriff der Wehrpflicht niemals kannte. Noch gebot er in irgendeiner wirksamen Weise über Leben und Tod um irgend jemandes willen, nicht einmal um Gottes willen. Der Begriff der Wehrpflicht als potentielles Opfer war unbekannt. Und wie wir in Kürze sehen werden, gab es nichts im dschihād, der hauptsächlichen Theorie über Krieg und Frieden, um dieses Opfer zu gebieten. (93; Hervorhebungen im Original)
Im exekutiven Sultanismus stützte sich das Militär auf Söldnertruppen, die für das Geschäft des Krieges eingesetzt wurden. Sie lebten zudem oftmals getrennt von der zivilen Bevölkerung. Die gewöhnlichen Muslime hingegen beteiligten sich normalerweise nicht am Krieg. Und der einzige Weg zum Krieg, den die Scharia erlaubte, war der über den dschihād. Die vielen Kriege, die muslimische Sultane und Machthaber gegeneinander führten und die häufiger waren als die Kriege gegen Nicht-Muslime, fielen gar nicht unter den Begriff des dschihād und blieben daher eine Angelegenheit der Sultane und ihrer Söldner.
Nur wenn es um einen Verteidigungskrieg gegen nicht-muslimische Armeen ging, die muslimische Bevölkerungen erobern wollten, handelte es sich um einen dschihād, an dem teilzunehmen, zur individuellen Pflicht wurde, allerdings auch nur für die Muslime, die in der Nähe des bedrohten Gebiets lebten.
Hallaq erläutert:
Diesem Begriff des dschihād liegt – insbesondere nach dem achten Jahrhundert – stets die stillschweigende Annahme zugrunde, dass die Hauptstütze und der Kern der militärischen Kräfte nicht die Zivilisten sind, die sich der dschihād-Anstrengung anschließen, sondern die Reihen der Söldnertruppen im bezahlten Dienst des exekutiven Sultanismus. (94)
Auch wenn der dschihād als eine wichtige Pflicht dargestellt wurde, erhoben die muslimischen Rechtsgelehrten ihn nicht über zivile Pflichten. So konnten beispielsweise Schulden oder die fehlende Zustimmung der Eltern einen Hinderungsgrund für die Teilnahme am dschihād bilden.
Außerdem brachten muslimische Rechtsgelehrte vor, dass die Verteidigung gegen nicht-muslimische Feinde von der Scharia nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Zweck der Aufrechterhaltung der islamischen Ordnung geboten wurde. Für diesen Zweck genügt die Teilnahme einiger Muslime, so dass die anderen von der Pflicht befreit sind. Als Grund dafür wird angeführt, dass die allgemeine Pflicht zur Teilnahme am Verteidigungskrieg die religiöse wie weltliche Ordnung zugrunde richten würde, die doch gerade geschützt werden sollte.
Hallaq fügt schließlich noch zwei Bemerkungen an:
Erstens: dschihād ist kein staatliches Gesetz, sondern eine moralisch gegründete Menge von Vorschriften, deren Verletzung eine Sache des Gewissens ist. Zweitens: Selbst wenn der dschihād als Pflicht für jeden erwachsenen männlichen Muslim betrachtet wird, bleibt die Verpflichtung eine moralische, und daher gibt es keine vorgeschriebene irdische Strafe in der Scharia für die Weigerung, sich der Kriegsanstrengung anzuschließen, außer der Drohung, den Lohn im Jenseits zu verlieren. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu den staatlichen Strafmaßnamen, die für jene vorgesehen sind, die sich der Wehrpflicht entziehen, geschweige denn für Deserteure. Im letzteren Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass das Verlassen der dschihād-Schlacht (sogenanntes Desertieren) rechtlich erlaubt war, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt waren, einschließlich Müdigkeit, Zusammenbruch oder Tod des Pferdes des Kavalleristen oder sogar in Fällen, in denen die feindlichen Kräfte die muslimischen Kämpfer zahlenmäßig übertrafen. (95)
1.6.3 Die moralische Dimension: eine abschließende Bemerkung
Der moderne Staat formt die Identität des Bürgers auf ganz andere Weise, als die islamische Gouvernanz die Identität ihrer Subjekte auf der Grundlage der Werte der Scharia formt, so dass diesen das Politische und der politische Sinn des Opfers fremd, ja unbekannt sind. Opfer in der paradigmatischen islamischen Gouvernanz war eine moralische Pflicht, die ausschließlich im Rahmen der Selbstverteidigung auferlegt wurde und die Liebe für die Nation sowie die daraus hervorgehende gesetzlich vorgeschriebene Wehrpflicht nicht kannte. Denn die islamische Gemeinschaft dreht sich um die Achse der Scharia als Zentralgebiet des Moralischen.
Hallaq legt näherhin dar:
Die Scharia, das Paradigma der islamischen »legislativen« Gewalt, besaß keinen politischen Willen, zumindest keinen, der mit dem Willen des Staates vergleichbar wäre. Die Scharia handelt von der Gesellschaft, sehr viel weniger von der Politik […] Das moderne Projekt repräsentiert und konstituiert in der lebendigen Realität der gegenwärtigen muslimischen Welt eine tiefe Transformation vom Zeitalter der rechtlichen Moralität zum Zeitalter des Politischen. In der Modernität sind die Politik und das Politische überall, und sie haben die Vorherrschaft. (96)
Während die islamische Kultur von moralischen Geboten und dem von der Scharia vorgeschriebenen ethischen Verhalten durchdrungen war, ist sie nun von Positivismus, Politik und dem Politischen kraft der Begriffe der Bürgerschaft und des politischen Opfers durchsetzt. Der Bürger steht dabei im Dienst des Staates, der nicht nur durch Krieg hervorgebracht wurde, sondern ihn auch stets fortführt und seine Bürger darin opfert.
Dazu bemerkt Hallaq abschließend:
Wenn der Staat nur »Tatsachen« und das Sein anerkennen kann, das tatsächlich aus einer Welt besteht, die aller Werte und moralischen Antriebe beraubt ist, und wenn der Staat durch seine Gesetze über das Leben seiner Bürger und ihre Kraft zum Kampf für und in diesem wertlosen mundus verfügt, heißt dies dann, dass der Bürger sich selbst um des Staates willen opfert, der keinen Wert, keinen moralischen Imperativ und kein Wohl jenseits seines eigenen kennt? Das ist eine Frage, der sich Muslime in der Gegenwart stellen müssen, klaren Auges und ohne Abschwächung, auch wenn Muslime – wie wir sehen werden – nicht die einzigen sind, die mit dieser Frage konfrontiert sind. (96-97)
1.7 Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst
1.7 Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst Yusuf KuhnJede Gesellschaft bedarf ordnender Strukturen und Formen der Disziplin. Bei aller Unterschiedlichkeit ist den meisten Gesellschaften gemeinsam, dass sie ihre Ordnung organisch herausgebildet haben. Vormoderne Gesellschaften, also vorstaatliche und außereuropäische, waren weitgehend autonom und haben sich selbst geregelt. Sie waren nur selten und oberflächlich von bürokratischen Apparaten durchdrungen. Der Herrscher war fern und machte sich vor allem durch seine gelegentlichen Versuche der Besteuerung bemerkbar. Abgesehen davon praktizierten diese Gesellschaften Selbstregierung.
Davon unterscheidet sich grundsätzlich die Ordnung und Disziplin, die der moderne Staat der Gesellschaft auferlegt. Hallaq geht es nun vor allem darum, was diese Unterschiede für die Formation besonderer Subjekte bedeuten. Da der moderne Staat einzig das Produkt der europäischen Geschichte ist, sind auch seine Systeme der Ordnung und Disziplin geschichtlich einzigartig. Und da der Staat eine durchdringende Kontrolle über seine Bevölkerung ausübt, erzeugt er Individuen mit einer völlig neuartigen Subjektivität. Wie ist diese Subjektivität beschaffen? Und ist sie mit der von der islamischen Gouvernanz hervorgebrachten Subjektivität vereinbar?
1.7.1 Die Produktion der Staatssubjekte
Die vom europäischen Staat geschaffene einzigartige Form der Disziplin zielte darauf ab, die Subjektivität des neuen Bürgers zu formen, der sich mit dem Staat identifiziert und willens ist, für ihn zu sterben. Der Ursprung dieses Staates geht auf den Aufstieg mächtiger Monarchien zurück, denen es an der Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle über die Bevölkerung gelegen war, um sich ungestört bereichern zu können. Durch Industrialisierung und Kolonialismus wuchsen die Profite der herrschenden Klasse, während die arbeitenden Klassen verarmten. Der Staat entwickelte sich im Dienst dieser Klassenherrschaft.
Angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit und daraus entspringender Unruhen sollte die Klassenherrschaft mithilfe des Staates gesichert werden, der deswegen Systeme der Ordnung einführte. Ein ausgefeilter Polizeiapparat, der allmählich die gesamte Gesellschaft überwachte, allein reichte dafür nicht aus. Neben der physischen Gewalt bedurfte es subtilerer Mechanismen, welche der Bevölkerung gutes Verhalten im Dienst der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung beibrachten. Unter kapitalistischen Verhältnissen schließt dies freilich zudem die Fähigkeit ein, zu arbeiten und zu produzieren. Die Disziplinierung des Subjekts verlangte daher ein System der Ordnung und instrumentellen Nützlichkeit.
Das System, das zu diesem Zweck eingerichtet wurde, war die Schule. Sie wurde gesetzlich zur Pflicht erhoben, damit kein Kind als angehender Bürger sich dem staatlichen Eintrichtern bestimmter Ideen und Ideale entziehen konnte. In rascher Folge kamen weitere Institutionen der staatlichen Kontrolle, Überwachung, Erziehung, sozialen Wohlfahrt und Gesundheitsversorgung hinzu: Armeen, soziale Einrichtungen, Gefängnisse, Schulen, Krankenhäuser usw. Sie bildeten zusammengenommen eine bürokratische Maschinerie, die bestimmte ideologische Ziele verfolgte und die Gesellschaft mit einer spezifischen Handlungsweise und »Ordnung der Dinge« (Foucault) überzog und durchdrang.
Bei der Disziplinierung der Operationen des Körpers ging es vor allem um Unterwerfung und Nützlichkeit. Dazu wurde der Körper erforscht und dadurch kolonisierbar gemacht, um ihn nach den Erfordernissen eines bestimmen Willens nach Belieben formen und manipulieren zu können. Dieser Wille war neu, denn er entsprang nicht dem Innern des Subjektes oder der lokalen Gemeinschaft, sondern einer äußeren Macht, einem politischen Willen, der von außen auf es einwirkte.
Michel Foucault beschreibt diesen Prozess so:
Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine »politische Anatomie«, die auch eine »Mechanik der Macht« ist, ist im Entstehen. Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 1989, S. 176-177.
Das ist nicht nur Kontrolle, sondern Abrichtung durch die Techniken der Disziplinierung, die dem Körper von außen ihre Imperative diktieren und ihn dadurch umformen. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen modernen Techniken und vormodernen Formen der Disziplin besteht eben darin, dass sie dem Körper von außen aufgezwungen werden, während die klassische Askese darin besteht, durch inneren Willen und Anstrengung die Beherrschung über den Körper zu gewinnen und zu vergrößern.
Wenn die Institutionen der Disziplinierung voll ausgebildet sind und das Staatssubjekt dadurch geschaffen ist, kann der Staat sich des abgerichteten Subjekts bedienen, das sich im Erfolgsfall durch selbstauferlegte Loyalität und effiziente Nützlichkeit auszeichnet. Dieses Subjekt ist nun ebensosehr Produkt wie Teil des Staates, so dass der Eindruck entsteht, dass nicht mehr eine bestimmte Gruppe, sondern die Gesamtheit der sozialen und bürokratischen Institutionen, die freilich immer auf dem Staat basieren, regieren. Das ist der Hintergrund für eine beliebte Erklärung des Erfolgs westlicher Demokratien, nämlich dass Machtteilung die Macht vergrößert, die zugleich zur ideologischen Rechtfertigung dieser Herrschaftsform dient. Übersehen werden dabei nicht zuletzt die vorgängigen Prozesse der Disziplinierung, die allererst das fügsame Subjekt erschaffen, das dem Geheiß des Staates willenlos Folge leistet.
Das ist kaum irgendwo anders so offensichtlich wie in der akademischen Welt, die sich doch ihrer geistigen Unabhängigkeit rühmt und einer wissenschaftlichen Methode folgt, die objektive Erkenntnis der Welt verspricht. Gleichwohl ist der Wissenschaftsbetrieb eine staatliche Institution aus zumindest drei Gründen. Denn er übernimmt erstens fraglos den Positivismus des Staates und erhebt ihn zum wissenschaftlichen Paradigma; er erkennt zweitens den Staat als selbstverständliches Phänomen an und nimmt ihn als unhinterfragte Voraussetzung in den Diskursen der Sozial- und Geisteswissenschaften an; und er spielt drittens eine große Rolle im Staatsbetrieb, und zwar nicht nur durch seine direkte Zuarbeit durch Forschung im Dienste von Militär und Politik, sondern weit darüber hinaus.
Denn in einem viel tieferen Sinn verhilft der Wissenschaftsbetrieb der modernen Regierung dazu, sich als problemlösende Maschine zu präsentieren. Dieses Merkmal ist immer hintergründig im Spiel, wenn die Regierung ihre Aufgabe bekundet, »im Dienst des Volkes« zu stehen. Der historische Ursprung dieses ideologischen Musters geht auf die Entstehung des Staates selbst zurück, der im Zuge seiner Herausbildung die traditionellen Gesellschaften gewaltsam aufgelöst hat. Durch die Zerstörung dieser Ordnung und ihre permanente Reorganisation durch Reformen in Wirtschaft, Erziehung, Bildung, Recht usw. wurden sicherlich einige als solche deklarierte Probleme behoben, aber oftmals eben auch neue und völlig unvorhergesehene geschaffen.
Hallaq erläutert:
Die Wahrnehmung, dass ein »Problem« besteht und dass es daher einer Lösung bedarf, muss auch im Verhältnis zu den Wissensformen des Staates gesehen werden, nämlich dass »Probleme« ontologisch nur dann möglich werden, wenn der Staat möglich wird. So kommt es, dass eine große Mehrheit von diesen »Problemen« die normale und sogar natürliche Ordnung der vormodernen Gesellschaften waren, »Probleme«, mit denen diese Gesellschaften seit unvordenklichen Zeiten gelebt hatten (ohne sie als Probleme zu betrachten). Das Attribut der »problemlösenden Maschine« gehört daher zum Wesen des paradigmatischen Staates. (103)
Der Regierungsapparat setzt bei der Lösung der allgegenwärtigen Probleme stets auf die unvermeidlichen Experten, die meist Wissenschaftler sind. Damit etwas als Lösung überhaupt in Betracht kommen kann, muss es sich im Rahmen der vom Staat geforderten Ideologie des positivistischen Realismus bewegen.
Der Wissenschaftsbetrieb muss unentwegt unter Beweis stellen, dass er den Interessen des Staates dient, indem er die Nation und ihre Elite im rechten Geiste erzieht. Die diversen Wissenschaften wie etwa Soziologie, Ökonomie und Psychologie stellen dazu eine Art intellektuelle Maschinerie für die Regierung zur Verfügung. Die Erziehung im modernen Staat, in der diese wissenschaftlich gestützten Verfahren zum Einsatz kommen, ist das Gebiet, auf dem das Subjekt sein Leben lang in »Obhut« genommen wird. Der Bildung in den entscheidenden Lebensjahren der Kindheit kommt dabei größte Bedeutung zu.
Dazu führt Hallaq aus:
Es beginnt damit, dem Kind Fertigkeiten und Wissen von der Nützlichkeit und Effizienz, von der Liebe zum Heimatland und seiner Güte einzuflößen, und es wird darauf aufbauend und schrittweise mit dem erwachsenen Studenten fortgefahren, um staatliche Interessen, staatliche Prioritäten, staatliche Programme, Nationalismus und die staatliche »problemlösende« Ideologie einzuschärfen. Das ist keine eindimensionale Macht, die einem außen gelegenen Objekt eine Menge von fremden Regeln auferlegt, sondern vielmehr eine Macht, die sich in das Subjekt einschreibt, das durch Bildung und Abrichtung mit der Fähigkeit ausgestattet worden ist, politisch und willentlich reguliert zu werden. (104)
Der paradigmatische Staat produziert den paradigmatischen Bürger und umgekehrt. Der Bürger lebt nicht nur im Staat, sondern gehört dem Staat und ist Teil des Staates, so dass eine totalisierende Subjektivität erzeugt wird, die auf der sozialpsychologischen Ebene wesentliche Eigenschaften des Staates widerspiegelt.
Hallaq stellt pointiert fest:
Das bedeutet die Einführung einer Subjektivität in das menschliche Subjekt, da der Staat relativ neu ist. Es bedeutet die Produktion des einzigartigen homo modernus. (104)
Dafür durchdringt der Staat auch die Familie, die ihm als Produktionseinheit gilt, deren Erzeugnis der Bürger, das nationale Subjekt ist. Die Familie wird kraft des souveränen Rechtswillens umgeformt, um in den Dienst des Staates genommen werden zu können. Diese Umformung wird vorgeblich im Interesse des Kindes vollzogen, das über die Interessen der Eltern und insbesondere des Vaters gestellt wird.
Hallaq beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen:
Das Kind wird der Ort, auf dem die Autorität des Staates ein Reformprogramm durchführt, bevölkert von Recht, Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern und Technikern. Das Patriarchat der Familie wird durch das des Staates ersetzt: Gericht, Schule, Psychiater und Sozialarbeiter lösen weithin die Eltern ab. (105)
Die Krise der modernen Familie, die einst eine Säule der Gesellschaft war, und die Auflösung der Familienstrukturen ist das Ergebnis der staatlichen Politik, mittels derer die Familie in den Disziplinarapparat des Staates eingespannt wird.
Hallaq legt dar:
Ebenso wie der Staat den Bereich des Politischen hervorgebracht hat, so hat er auch durch seine disziplinierende Sozialtechnik den Bereich des Sozialen geschaffen, wo die Gesellschaft sich nach dem Bild des Staates entwickelt. (105)
Das Soziale ist der Bereich, in dem das Politische die Gesellschaft, insbesondere ihre Kinder, nach dem Modell des Bürgers des Nationalstaats samt all der Eigenschaften, welche die nationale Identität erfordert, formt.
Der Aufbau der staatlichen Maschinerie zur Erzeugung des fügsamen Staatssubjekts ging mit dem Aufstieg des Nationalismus einher, der durch die politische Integration der Subjekte deren Unterwerfung weiter verstärkte, indem an die Stelle der traditionellen sinnstiftenden Moralordnung die Metaphysik des Staates und der Nation gesetzt wurde. Die dadurch geschaffene Nation ist ein wesentlicher Bestandteil des modernen Staates.
Der Nationalismus ist die wichtigste Quelle von Sinn für den nationalen Bürger und seine Identität. Die Bürger sind die Nation, und die Nation ist ihre Bürger. Damit wird sowohl die individuelle wie auch die kollektive Identität gebildet. Die Nation erzeugt das »Ich« und »Wir«, die unlöslich ineinander verwoben sind.
Der Nationalismus als sinnstiftende Kraft bildet die Gemeinschaft als Sozialordnung und wird umgekehrt von dieser gebildet. Das Individuum ist in diese Gemeinschaft in einer Weise eingebettet, dass es weitgehend von deren Kultur, Geschichte und Ethos bestimmt und gestaltet wird.
Das führt Hallaq folgendermaßen aus:
Wie das Recht ist auch der Nationalismus überall: Er schafft die Gemeinschaft und verleiht der Weltgeschichte Gestalt, noch bevor der Nationalismus in sie eintritt. Hier liegt kein Widerspruch vor, denn der Nationalismus ist eine Metaphysik. Er hebt die Geschichte nicht nur auf; er macht und schreibt sie nach Belieben um. […] Der Staat und sein Nationalismus, welche die Gemeinschaft sowohl als politisch opferbare wie auch sozialpsychologisch untertänige Mitglieder einberuft, sind zwei Götter in einem. Das ist der politische Bezugsrahmen und die Metaphysik, innerhalb derer der Bürger geboren wird. Sie gestalten ihn nach ihrem Bild, so dass er sie reproduzieren kann, ewig, um ihrer selbst willen. (107)
Die der disziplinierenden Abrichtung des modernen Subjekts auf instrumentelle Nützlichkeit und Effizienz entsprechende Form der Rationalität wurde von Max Weber als »stählernes Gehäuse« bezeichnet, in dem die Moralität des modernen Subjekts mittels Recht, Bürokratie, Mechanisierung, Materialismus und Instrumentalismus gefangen ist. Das »stählerne Gehäuse« ist auch der Ort der modernen Pädagogik, wo Heere von technischen und intellektuellen Experten die Individuen auf deren Funktionieren in der bürokratischen und kapitalistischen Maschinerie einschwören, statt im Rahmen einer umfassenden praktischen Ethik zur Bildung des Menschen zu einer rundum ausgebildeten Persönlichkeit zu verhelfen, über die der technische Experte selbst freilich schon lange nicht mehr verfügt.
Diese moderne Pädagogik wird von Hallaq so beschrieben:
Sie weist Disziplin, Effizienz und Arbeit höchste Bedeutung zu, drei der vielen Lektionen, die der Staat seinen Bürgern als zweite Natur eingeimpft hat. Arbeit um der Arbeit willen, genauso wie das Geld des Kapitalismus um der Anhäufung des Reichtums willen gemacht ist, genauso wie der Staat um seiner selbst willen existiert und sich selbst erhält um seiner Selbsterhaltung willen. Weber sah im Anspruch der Moderne auf Fortschritt einen Begriff, der gleichbedeutend ist mit der »Produktion und Akkumulation von Reichtum und der Beherrschung der Natur … sowie der Idee der Emanzipation des rationalen Subjekts.«
Lawrence A Scaff, Weber on the Cultural Situation of the Modern Age, in: Stephen Turner (Hg.), The Cambridge Companion to Weber, Cambridge, 2000, S. 103. Doch der Preis des Fortschritts war das, was er »Entzauberung« nannte, ein tiefes Empfinden von Verlust, des Verlustes des Heiligen, eines Zustandes der Ganzheit, der spirituellen Verankerung des Selbst in der Welt, in der Natur und in dem, was ich moralische Kosmologie genannt habe. (108)
Das durch die Standardisierung und Automatisierung seiner Psychologie und Rationalität verarmte moderne Subjekt, das immer weiter isoliert und fragmentiert wird, erhält als Ersatz für den Verlust an Sinn die Produkte der Kulturindustrie, die für es eine neue Identität schaffen.
Hallaq erläutert:
Die Spaltungen des inneren Selbst haben ein narzisstisches Individuum hervorgebracht, dessen Bezugsrahmen und Sinn von den unpersönlichen, von den idealen Machttypen (repräsentiert in Nationalismus, Faschismus, Nazismus usw.) abgeleitet sind, die es in einen Zustand der Betäubung verführen.
Siehe Theodor W. Adorno, Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda (Freudsche Theorie und das Muster der faschistischen Propaganda), in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden - Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main, 1972, S. 408-433. In diesen Machttypen findet das narzisstische Ego Zuflucht, Stabilität und sogar Zufriedenheit. (109)
Der Nationalismus kann so als vermeintlich heilsame Kraft in Erscheinung treten, die der Auflösung des modernen Subjekts, dem Sinnverlust und der Entzauberung entgegenwirkt, eben den Effekten, die der Staat durch die Zerstörung und den sozialtechnischen Umbau der Gesellschaft selbst ausgelöst hat.
Diesen Prozess beschreibt Hallaq so:
Durch die Übernahme von Vergangenheit und Zukunft und die Schaffung einer eigenen universalen Historiographie wird die Nation zu einer natürlichen Ontologie, die nicht nur Werte enthält, die alle Werte zersetzen und ersetzen, sondern auch, wie wir gesehen haben, eine historische Transzendenz, eine Metaphysik. […] Die metaphysische Dimension des Nationalismus und seiner psychologischen Investition in die Sozialordnung schaffen für das Subjekt nicht nur einen Bezugsrahmen, sondern eine Welt des Sinns, welche die nunmehr verlorene Welt ersetzt. Deshalb kann es einen Staat ohne Nation nicht geben, und deshalb muss der moderne Staat stets ein Nationalstaat sein, denn ohne Nationalismus hätte der Staat eine so geringe Aussicht auf Überleben wie der Krebspatient ohne Behandlung. Aber wie bei jeder modernen Behandlung hat die Kur Nebenwirkungen. Im Falle des Nationalismus waren diese so schwerwiegend, dass es unmöglich ist, nicht den Schluss zu ziehen, dass die Genozide und Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts (und die gegenwärtigen) das direkte Produkt des Phänomens des Nationalstaats sind. (109)
1.7.2 Die moralischen Technologien des Selbst
Das Paradigma des modernen Staates samt seiner Fähigkeit zur Produktion von Subjekten hat keine Gemeinsamkeit mit dem Paradigma der islamischen Gouvernanz. Im Gegensatz zur europäischen Erfahrung, die den modernen Staat hervorbrachte, beruht die islamische Gouvernanz auf einer ganz anderen historischen Erfahrung mit ihrer eigenen Kultur, Werteordnung und Denkweise. Von entscheidender Bedeutung für die Differenz ist das Fehlen von Monarchie oder Staat, der die Gesetzgebung beherrschte und diese in den Dienst schrankenloser Bereicherung der kleinen herrschenden Schicht und der Unterdrückung der großen Masse stellte, was schließlich Revolutionen notwendig machte. Die muslimischen Gesellschaften waren hingegen von weit geringerer Ungleichheit und vor allem von einer Herrschaft des Rechts geprägt.
Die islamische Gouvernanz kannte keine den Disziplinierungsapparaten des modernen Staates wie Polizei, Gefängnis, Überwachung usw. vergleichbaren Einrichtungen. Die Bildung blieb stets privat, informell und leicht zugänglich. Die sultanische Exekutive gründete zwar Bildungseinrichtungen wie die madrasa, hatte aber keinen Einfluss auf Inhalt und Form der Lehre. Die Bildungsinhalte waren auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichtet und standen im Dienst des Strebens nach dem guten Leben. Die Bildung war daher wie die Scharia selbst weitgehend unabhängig vom Willen der Exekutive. Die politische Macht verfügte nicht über die Fähigkeit, Subjekte zu produzieren, die sich mit dieser Macht identifizierten und sich selbst darin wiedererkannten.
Die islamische Gouvernanz brachte allerdings sehr wohl Subjektivitäten hervor, die paradigmatisch auf der Scharia als Ausdruck der Souveränität Gottes auf Erden gründeten und sich daher grundsätzlich vom Subjekt des modernen Staates unterschieden. Während es dem modernen Subjekt vor allem um die Erkenntnis des Selbst ging, stand hier die Sorge um das Selbst im Vordergrund.
Hallaq wendet sich nun einer methodologischen Frage zu, die sich aus der orientalistischen Betrachtung der Scharia ergibt, welche die Bereiche des Rechtlichen und Moralischen strikt voneinander trennte. Indem diese Trennung auf die Scharia projiziert wird, in der Recht und Moral unauflöslich miteinander verschmolzen sind, wird der islamischen Kultur eine ihr fremde Konzeption aufgezwungen, die das Verstehen verhindert, da der Gegenstand der Untersuchung dadurch verzerrt und entstellt wird. Dieser epistemische Eingriff bleibt nicht nur oberflächlich, sondern führt weit darüber hinaus geradezu zu einer Rekonstitution des Untersuchungsgegenstandes.
Hallaq führt dazu aus:
Die Unterscheidung zwischen – und die Trennung von – dem Rechtlichen und dem Moralischen bildete in der Tat den ersten Akt in der Heraufkunft des akademischen Themas des »islamischen Rechts« im kolonialen Europa des neunzehnten Jahrhunderts. Von diesem »Recht« – eine weitere Fehlbezeichnung – wurde und wird bis auf den heutigen Tag weiterhin behauptet, dass es »versagt« habe, zwischen dem Moralischen und dem Rechtlichen zu unterscheiden. Dieses vermeintliche Versagen – ein begriffliches Urteil, dessen Maßstab das paradigmatische Modell des europäischen Rechts war – lief auf eine Anklage hinaus, die fest auf den vom modernen Staat geschaffenen ideologischen Grundlagen aufruhte. Die Wissenschaftler, die das Wissen schufen, welches das »islamische Recht« ist, und deren Maß einer Rechtskultur eine solche ist, die von der zudringlichen und allgegenwärtigen Aktivität des Staates erfüllt ist, hielten ein »Recht« für unverständlicherweise mangelhaft, das nicht nur nahtlos mit Moralität verwoben war, sondern für seine Durchsetzung von Moralität abhing. Denn in ihrer rechtlichen Weltanschauung zählte eine Durchsetzung durch Moralität nur wenig, wenn überhaupt. (112)
Diese Geringschätzung des Moralischen passt zu einer Kultur, in deren Moralphilosophie eine Frage zentrale Bedeutung gewinnen konnte, die in der islamischen Tradition niemals ernstlich gestellt wurde, nämlich: »Warum überhaupt moralisch sein?« Diese Frage kann nur einem Denken entspringen, in dem die Moral als gesonderter Bereich und nicht als selbstverständlich gilt. Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Dilemma der Modernität. Die Frage ist schlechterdings modern und hätte sich so wohl in keiner vormodernen Kultur gestellt.
Dieser Unterschätzung der »moralischen« Kraft, die in der islamischen Tradition als wesentlicher und integraler Bestandteil des »Rechts« gilt, liegt eine ideologisch bedingte Geringschätzung der Religion, zumindest der islamischen, zugrunde. Die Abscheu gegen die Religion als moralischer Kraft macht blind gegen die Einsicht in die Rolle, welche die Moral tatsächlich auf dem Gebiet des Rechts und umgekehrt spielt. Im Rahmen der modernen moralfeindlichen Denkweise mussten daher andere Erklärungen gesucht und die Geschichtsschreibung entsprechend angepasst werden.
Hallaq richtet dagegen seine Aufmerksamkeit gerade auf die Verwobenheit von Moral und Recht in der islamischen Kultur. So stellt sich nicht die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?«, deren Antwort für muslimische Rechtsgelehrte allzu offensichtlich war, um eine entsprechende Stellung wie in der modernen Moralphilosophie einnehmen zu können, sondern vielmehr die Frage: Wie wird das moralische Subjekt gebildet?
Diese Frage untersucht Hallaq aus einer Perspektive, welche die Herausbildung des moralischen Subjekts in einer Sphäre ansetzt, die dessen Kontakt mit dem »Recht« im engeren Sinne und insbesondere der Judikative vorausliegt:
Denn das moralische Subjekt wurde vorausgesetzt als bereits gebildet qua moralisches Subjekt innerhalb des »Rechts« zum Zeitpunkt des rechtlichen Ereignisses (judicial event), also zu dem Zeitpunkt, da das »Recht« die Präsenz der moralischen Kraft – wie es dies immer tat – als gegeben ansah. Wenn die Moralität sich innerhalb des Habitats des »Rechts« ununterscheidbar verortete, so deshalb, weil das Subjekt dieses »Rechts« in seinen individuellen und kollektiven Formen uneingeschränkt als moralischer Akteur angenommen wurde. Sonst hätten die allgemeinen Weisungen der Scharia im Kontext der sozialen Verhältnisse keine Bedeutung gehabt und wären nicht mehr als ein Gespinst in der Einbildung der Rechtsgelehrten gewesen. (114; Hervorhebung im Original)
Und Hallaq setzt hinzu:
Unser schematischer Ansatz nimmt eine theoretische und praktische Interaktion zwischen der Rechtslehre und dem individuellen muslimischen Subjekt als Mitglied der Gemeinschaft voraus. Es wird als gegeben angesehen, dass die Scharia, wie sie sich durch die Rechtslehre (in ihren substantiellen wie auch prozeduralen und verfahrensrechtlichen Vorgaben) manifestierte, in muslimischen Gesellschaften die höchste Form der Legitimität erworben hatte, dass sie als exemplarisch für das akzeptiert wurde, was das »Recht« sein sollte und ist, dass sie die vollkommen legitime kontextuelle Struktur und Paradigma war, in der die »wohlgeordnete Gesellschaft« funktionierte und lebte, und dass die richtige und gute Praxis das war, was ihren Vorschriften entsprach. Diese Interaktion, eine sozialrechtliche Dialektik erster Ordnung, findet umfassende Bestätigung insbesondere in der Weise, in der ich die Frage nach der Bildung des moralischen Subjekts angehe. Meine Betonung auf die sogenannten rituellen Aspekte des Rechts bestärken Annahmen über die historische Existenz dieser Dialektik, denn meines Wissens hat niemand die Behauptung erhoben, dass diese Aspekte der Scharia irgendeine Abtrennung von der praktischen und sozialen Realität erlitten hätten. Auch wenn der skeptische Orientalismus (fälschlicherweise) eine Trennung zwischen dem »substantiellen Recht« der Scharia einerseits und den sozialen und politischen Praktiken andererseits behauptet hat, so hat er doch nie die spirituelle und religiöse (und, so können wir hinzufügen, praktische) Bedeutung des »Rituellen« für Muslime infrage gestellt. (114-115; Hervorhebungen im Original)
Wie die religiöse und soziale Moralität die Scharia stützte, so bestärkten sich die verschiedenen Teile der fiqh-Lehre (Rechtslehre) gegenseitig in moralischer Hinsicht. Dies kommt in der sorgfältig angelegten, reich ausgearbeiteten und hochgradig strukturierten Darlegung der Rechtslehre zum Ausdruck und ist ein erheblicher Faktor in ihrer Wirksamkeit.
Dass die moderne Wissenschaft diesem Umstand keine Aufmerksamkeit schenkte, führt Hallaq darauf zurück, dass die Schaffung des Untersuchungsgegenstandes »islamisches Recht« unter der Voraussetzung vorgenommen wurde, einen Bereich der »Riten« vom eigentlichen Recht trennen zu können und zu müssen. Als das »islamische Recht im eigentlichen Sinne« galt dabei der Teil der Scharia, der Gebiete des Rechts behandelte, die dem entsprachen, was im westlichen Verständnis als »Recht« galt.
Hallaq erläutert:
Diese Gebiete des »eigentlichen Rechts« waren als muʿāmalāt bezeichnet worden, um darauf hinzuweisen, dass diese Bereiche die Rechtsverhältnisse zwischen und unter Individuen betrafen, wie etwa Familienrecht, Handelsrecht und Strafrecht. Im Gegensatz dazu bezogen sich die ʿibādāt auf jene Gesetze, die vermeintlich die Beziehung des Menschen zu Gott regelten, offensichtlich eine Reihe religiöser Praktiken. Dieser Bereich des Rituellen wurde daher in der Wissenschaft weitgehend außer Acht gelassen bis zum Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als sehr wenige Schriften, die sich mit Waschung und Reinheit befassten, schließlich erschienen. (115-116)
Hallaq weist darauf hin, dass diese Unterscheidung zwar ursprünglich vormodern ist, aber im modernen Diskurs zwangsläufig eine ganz andere Bedeutung gewinnt.
Im Orientalismus wurden jedenfalls die »Rituale« nie als Teil des »Rechts« betrachtet, geschweige denn als konstitutiv für das »eigentlich Rechtliche«. Die Trennung des Rechtlichen vom Moralischen beruht auf einer Blindheit gegenüber der moralischen Kraft des Rechts, welche den Blick für die rechtlichen Wirkungen der »gottesdienstlichen« ʿibādāt wie auch die moralischen Wirkungen der »strikt rechtlichen« Vorschriften der muʿāmalāt verstellt.
Dass es schon einer fortgeschrittenen Schwachsichtigkeit bedarf, um dies nicht zu sehen, beweist bereits die Tatsache, dass alle muslimischen Rechtswerke mit fünf großen Kapiteln beginnen, in denen der Reihe nach die fünf Säulen des Islam (arkān al-islām) ausführlich behandelt werden, d.h. neben der Glaubensbezeugung (schahāda) insbesondere die vier grundlegenden religiösen, gottesdienstlichen Praktiken des Gebets (salāt), der sozialen Pflichtabgabe (zakāt), der Pilgerfahrt (hadschdsch) und des Fastens (sawm).
Aus dem Aufbau der Rechtswerke lässt sich unschwer die vorrangige Bedeutung dieser religiösen Praktiken ersehen. In ihnen kommt die enge und unmittelbare Beziehung des Gläubigen zu Gott zum Ausdruck. Indem sie als Erfüllung eines Abkommens zwischen Gott und dem Gläubigen verrichtet werden, wird nicht nur diese Beziehung bestärkt und stets erneuert, sondern durch ihre tiefen psychologischen Wirkungen zugleich die Grundlage für die willige Befolgung des Rechts geschaffen, das in den Rechtswerken im Anschluss daran dargelegt wird.
Am Anfang steht immer das Gebet, das die Hingabe an Gott ausdrückt und durch seine Regelmäßigkeit beständig übt. Beim Fasten wird ebenfalls die Selbstbeherrschung eingeübt, und durch den erfahrenen Verzicht entsteht zudem ein Mitgefühl für das Leid anderer Menschen und zugleich Dankbarkeit für Gottes Gaben, mit denen Er die Menschen in Seinem Großmut und Seiner Fürsorge bedenkt. Auch die Zakat weckt durch die reinigende Gabe das Mitgefühl und das Verantwortungsgefühl gegenüber den bedürftigen Mitmenschen sowie das Bewusstsein, nichts wirklich selbst zu besitzen, da alles letztlich Gottes Eigentum ist und dem Menschen nur zum rechten Gebrauch anvertraut wurde. Und die anspruchsvolle Pilgerfahrt stellt überdies die Demut und Geduld der Gläubigen gegenüber Gott und in ihrer Gleichheit vor Gott auf die Probe. Schon in dieser rudimentären Skizze einiger weniger Aspekte dieser Praktiken, die angesichts ihrer wahren Tiefe nur eine winzige Andeutung sein können, erweist sich unübersehbar ihr »moralischer« Gehalt.
Die Scharia kann ohne ihre moralischen Stützen gar nicht verstanden werden, und auch nicht, wie sie ihre Wirkung in der Gesellschaft entfalten und diese zu einer wohlgeordneten bilden konnte. Die Moralität, auf der die Scharia gründet, hat ihre Quelle in großem Maße in der performativen Kraft der fünf Säulen.
Hallaq legt dazu weiterhin dar:
Die Moralität, welche die willige Unterwerfung unter die Autorität des »Rechts« beflügelte, wurde durch diese performativen Handlungen konstituiert. Dass ihnen eine hervorragende Stellung und Vorrang eingeräumt wurde, war nicht nur Zeugnis ihrer rituellen religiösen Bedeutung, sondern auch, wenn nicht primär, ihrer grundlegenden moralischen Kraft. Diese Säulen aus dem fiqh zu vertreiben, heißt, die moralischen Grundlagen des Rechts aufzulösen, letzteren den stärksten Antrieb für Rechtsgehorsam zu entziehen. Ein muʿāmalāt-Recht, das seines ʿibādāt-Untergrunds beraubt wurde, ist daher ein Recht, das nicht nur der moralischen Kraft ermangelt, sondern ein Recht, das nicht anwendbar, unwirksam und häufig nicht durchsetzbar ist. (118; Hervorhebung im Original)
Wir können die anschließende Beschreibung der islamischen Praxis der »fünf Säulen« (arkān al-islām) als moralische Grundlage der Scharia, die in viele Einzelheiten geht, hier nicht wiedergeben, da dies zu großen Raum einnehmen und eigentlich eine eigene Darstellung erfordern würde. Daher sei nur noch der Satz zitiert, mit dem Hallaq seine Darlegung zusammenfassend beschließt:
In ihrer vereinigten Kraft sorgen diese performativen Handlungen für die Vorbedingungen, durch welche die moralische Grundlage und moralische Dimension des Rechts konstituiert werden. (129)
Diesen Verzicht auf eine breitere Darstellung müssen wir desgleichen üben, was die darauf folgende Vertiefung der Untersuchung betrifft, die im Anschluss an den großen muslimischen Denker Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) und dessen vielschichtige Verbindung von Scharia, Sufismus und Philosophie zu einer umfassenden Ethik vorgenommen wird. Für Hallaq spiegelt diese Ethik die »scharʿi-sufische Orthopraxis, die vieles von dem ausmachte, was der Islam als eine gelebte spirituelle und weltliche Erfahrung war.« (129) Und sie gilt ihm daher als paradigmatisch.
Wie Kant das Zeitalter der Moderne überschattete, so überschattete al-Ghazālī etliche Jahrhunderte in der Mitte der islamischen Geschichte. Da für eine eingehendere Darstellung und Erörterung hier nicht der Ort ist, wollen wir uns auf ein für unseren Zusammenhang unmittelbar relevantes Zitat beschränken, das dem Kontext von reiner Absicht (niyya), Ehrfurcht gegenüber und Liebe zu Gott sowie dem Wissen um die eigene Beschränktheit im Gebet entstammt:
Letzteres repräsentiert ein denkendes Bewusstsein des beständigen Wunsches und Strebens nach der »Sorge um das Selbst«, das heißt ein Bewusstsein einer grundlegenden Ethik, die allen anderen Handlungen und Verrichtungen zugrunde liegt. Eingebettet in das Gebet (die erste Säule von allen) legt der Wunsch nach Übung des Selbst und stetiger Verbesserung die logische und chronologische Grundlage für die angemessene Ausführung anderer Pflichten. Hierin liegen daher die Samen des ethischen Verhaltens. […] Liebe zu Gott überwiegt für Ghazālī offenkundig die Furcht vor göttlicher Bestrafung […] Gott zu lieben, heißt, für das Selbst zu sorgen, es zu üben und es einer selbstreflektiven und bewusst beabsichtigten Routine performativer Handlungen zu unterziehen. (134; Hervorhebungen im Original)
1.7.3 Unvereinbarkeit der Subjektivitäten
Die Verbindung von Recht, Moral und maßvollem Sufismus führt eine Vertiefung des Sinns der religiösen Praxis mit sich.
Hallaq erläutert:
Liebe und Furcht verbinden sich, um ein tiefes Gefühl der Ergebenheit gegenüber einer höheren Macht zu wecken, die alles in diesem Universum erschaffen hat – und daher besitzt. In Ghazālīs Konzeption wie in der sufischen Tradition, welche die Begriffe des moralischen Rechts zutiefst durchdrungen haben, gewann die Liebe eine herausragende Stellung im Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Die Sorge für das Selbst und die Übung des Selbst sind Mittel, um diese Liebe auszudrücken, denn der Ausdruck selbst repräsentiert eine Gewähr der qurba, das Erlangen eines Platzes in Gottes Nähe. (135-136)
In diesem Denken stellt sich nicht die Frage, warum man überhaupt moralisch sein sollte, sondern vielmehr die Frage, wie man sich selbst als moralisches Wesen bildet. Und der Weg dieser Bildung besteht aus einer Reihe von sich gegenseitig unterstützenden Handlungen, die am Selbst verrichtet werden. Diese Übungen wirken zugleich auf Körper und Geist des Gläubigen, der dadurch lernt, den moralischen Imperativen des Herzens zu folgen.
In der modernen Kultur ist durch eine epistemische Transformation an die Stelle der Sorge für das Selbst die bloße Selbsterkenntnis getreten, in deren Verlauf die Technologien des Selbst in Technologien des Körpers verwandelt wurden. Die Betonung des Selbst, des Ich und seiner Interessen und Wünsche, die Verlagerung des Ortes der Bildung des Individuums vom inneren Selbst zum äußeren Körper führen zu den modernen Phänomenen des Narzissmus und Hedonismus. Da die neuen Technologien des Körpers die Imperative der materiellen Welt in den Mittelpunkt stellen, tragen sie zur Entzauberung und Fragmentierung des Selbst bei. Statt wie in den Technologien des Selbst Körper und Geist zu üben, stärken die Technologien des Körpers ausschließlich den Körper und setzen ihn so zur seelenlosen Hülle herab.
Das gleiche Schicksal widerfährt darüber hinaus der äußeren Welt insgesamt. Indem ihr jeglicher Sinn und Wert ausgetrieben werden, verkommt sie als natürliche Ressource zum beliebig verfügbaren Spielball der beschränkten Interessen des seinerseits sinnentleerten Menschen.
Hallaq führt aus:
Das ist der Mensch, der in einer modernen Welt Einzug gehalten hat, die nicht viel anderes anerkennt als das Politische, als die Eroberung der Welt, die normativ stumm und bar aller moralischen Weisungen ist. Das ist der Mensch, der die Welt sieht »wie sie ist«, ein positivistisches Wesen, das Macht und Stärke als einzige Logik und Gesetz der soziopolitischen Verhältnisse zulässt. [...]
Das ghazālische Projekt stellt daher nicht nur eine intellektuelle Synthese von Moralität, Recht, Theologie, Mystik und Philosophie dar, sondern auch einen »anthropologischen« Streifzug in die muslimische Subjektivität, der die geistigen, sozial-gemeinschaftlichen und psychologischen Kräfte, die diese Subjektivität geformt haben, in ein Paradigma zusammenfasst. Die juristischen Erörterungen der fünf konstitutiven Säulen – die unzweifelhaften Grundlagen des Konzepts, was es heißt, ein Muslim zu sein – werden nicht nur als selbstverständlich angenommen, sondern auch in soziopsychologische Werkzeuge der Bildung von Denken und Handeln verwandelt. (137)
So erstreckt sich die Scharia weit über das »Recht« hinaus in den Bereich der Kultur. In der gesamten vormodernen islamischen Tradition ist das Recht nicht nur in eine Dialektik mit sozialen und kulturellen Normen verwoben, sondern insbesondere im Bereich des Sufismus auch mit der Psychologie, dem Seelenleben.
Diese Dialektik beschreibt Hallaq folgendermaßen:
Wenn die Scharia auch ein psychologisch-mystisches Unternehmen war und wenn sie die paradigmatische und unbestrittene »legislative« Gewalt der islamischen Gouvernanz bildete, dann betraf diese Gouvernanz nicht nur Recht, Moralität und deren organischen Zusammenfluss; sie betraf auch und gleichermaßen die mystische Wahrnehmung der Welt, eine Wahrnehmung, die tief in einer Gesellschaft – repräsentiert von einer Klasse von Mystiker-Rechtsgelehrten – verankert war, die in der Lebenspraxis nicht zwischen den Bedeutungen des Rechtlichen, des Moralischen und des Mystischen unterschied. (137-138; Hervorhebungen im Original)
Hallaq beschließt dieses Kapitel sodann mit folgender Bemerkung:
Die Frage, die sich hier stellen sollte, lautet: Wie würde unsere Welt sein, wenn die legislative Gewalt im modernen Staat unbestreitbar und ausschließlich das Recht des Landes bestimmten würde, ein Recht, das – im Bereich der zivilen Bevölkerung – von der Judikative und Exekutive durchgängig respektiert werden würde? Und wie würde, diese echte Trennung vorausgesetzt, unsere Welt sein, wenn dieses Recht zugleich sowohl moralisch als auch maßvoll mystisch wäre? Die westliche Moralphilosophie hat, wie wir gesehen haben, gewisse kritische Denkströmungen entwickelt, aus denen ein Aufruf resultiert, auf das moralische Repertoire des europäischen geistigen Erbes zurückzugreifen, doch dies bleibt ein ziemlich dürftiger Versuch, der nirgendwo auch nur annähernd zu einer aufsteigenden paradigmatischen Kraft geworden ist, und noch viel weniger zu einem Paradigma. Der Staat und sein erfolgreich erzeugtes modernes Subjekt – und auch, wie wir sogleich sehen werden, der Kapitalismus und die Kapitalgesellschaft – haben beständig und zunehmend darauf hingearbeitet, sicherzustellen, dass kein solches Paradigma ins Dasein treten kann, einbegriffen und ganz besonders ein islamisches. Der homo modernus des Staates steht kraft seines Wesens im Gegensatz zum homo moralis unserer Vorstellung. (138; Hervorhebung im Original)
1.8 Belagernde Globalisierung und moralische Ökonomie
1.8 Belagernde Globalisierung und moralische Ökonomie Yusuf KuhnUm das Verhältnis von Globalisierung und islamischer Gouvernanz näher zu bestimmen, beginnt Hallaq mit einer schematischen Beschreibung der wichtigsten Voraussetzungen, die für eine islamische Gouvernanz gegeben sein müssten:
Nehmen wir an, um den Gedankengang einmal durchzuspielen, dass die islamische Gouvernanz vollends errichtet worden ist. Nehmen wir an, dass die Minimalbedingungen für eine derartige Hervorbringung erfüllt worden sind, einschließlich der, aber nicht begrenzt auf die folgenden: (1) die Errichtung einer göttlichen Souveränität, in der Gottes kosmische Moralgesetze als ein System von Moralprinzipien in praktische »rechtliche« Normen übersetzt sind; (2) eine robuste Trennung der Gewalten, wobei die Legislative – die Entdeckerin der besagten praktischen »rechtlichen« Normen – vollkommen unabhängig ist und die Quelle aller Gesetze des Landes wahrhaft repräsentiert; (3) die legislative und die judikative Gewalt sind aus einem moralischen Stoff gewoben, dessen Kette und Schuss ein durchgängiges Amalgam von Tatsache und Wert sowie von Sein und Sollen ist; (4) eine exekutive Gewalt ist weitgehend auf die Umsetzung des legislativen Willens beschränkt, und es ist ihr erlaubt, temporäre und kleine administrative Regelungen zu erlassen, die mit diesem Willen verträglich sind; (5) eine Lage, in der moralisch gegründete praktische »Rechtsnormen« in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden, indem sie die Gemeinschaft qua Gemeinschaft nähren und ihren Interessen als einer moralisch konstituierten Wesenheit dienen (dies beinhaltet eine gesunde Portion von Egalitarismus und eine koranisch gegründete Ordnung der sozialen Gerechtigkeit); (6) Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen werden entworfen und betrieben von einer völlig unabhängigen Zivilgesellschaft, die durch eine Dialektik der Bedingungen 1-5 oben gebildet worden ist; (7) das Bildungssystem, das niedrigere und das höhere, stellt und beantwortet Fragen über den Sinn des guten Lebens und engagiert Natur- und Geisteswissenschaften nur insofern, als das moralisch gute Leben eine Untersuchung erfordert (hier wird die Vernunft nicht instrumentalisiert); (8) der Begriff des Bürgers ist erfolgreich umgebildet in den Begriff der paradigmatisch moralischen Gemeinschaft, in der jedes Mitglied mit anderen Mitgliedern in einer moralischen Beziehung wechselseitiger Bindungen steht (hier ist der schmittianische Begriff des Politischen der Vergessenheit übergeben und zusammen mit ihm das Opfer des Bürgers); und (9) die einzelnen Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft üben die Kunst der Sorge für das Selbst, indem sie sich, vereinigt wie getrennt, als eine Erweiterung eines moralisch erfüllten Universums sehen. (139-140; Hervorhebung im Original)
1.8.1 Eine globalisierte Welt
Wenn man annimmt, dass eine islamische Gouvernanz unter den Bedingungen der bestehenden Weltlage entsteht, muss auch angenommen werden, dass sie in einer Gemeinschaft mit modernen Staaten leben und von diesen als politische Entität anerkannt werden muss. Darüber hinaus wird sie mit dem diese internationale Staatenordnung zunehmend prägenden Phänomen der Globalisierung konfrontiert werden, die nicht nur ökonomische, sondern auch politische und kulturelle Formen der Hegemonie mit sich bringt. Diese Hegemonie macht sich besonders stark bemerkbar durch die damit einhergehende wechselseitige Durchdringung des Lokalen und Globalen, die insbesondere durch die neuen Technologien der Telekommunikation hervorgerufen wird.
Die ökonomische Hegemonie als Teil der Globalisierung ist zweifellos kapitalistischer Natur. Die Globalisierung ist ein Projekt der reichen und mächtigen Staaten und der ihnen zugehörigen riesigen Konzerne in Gestalt von Kapitalgesellschaften. Das politisch-ökonomische Paradigma dieser mächtigen Staaten ist der Liberalismus mit dem Ziel der Schaffung eines von ihnen kontrollierten Weltmarktes unter weitgehend einheitlichen Rechtsnormen. Auch wenn diese Expansion staatliche Grenzen überschreitet, verkörpert und spiegelt sie doch nahezu die Ideologie des liberalen Staates.
Die Globalisierung auf der kulturellen Ebene bringt die schnelle, aggressive und massive Verbreitung von Formen der westlichen Kultur mit sich, die sich überall ausbreiten und alle nicht-westlichen Kulturen und Traditionen zu zerstören drohen. Der Staat büßt zwar sein Monopol auf die Produktion der Kultur ein, indem wesentliche Funktionen von transnationalen Konzernen übernommen werden. Die Formen der Kultur, die dadurch verbreitet werden, ändern sich jedoch im Kern nicht.
Auf der politisch-militärischen Ebene bleibt der Staat ein entscheidender Hebel der Globalisierung. Die westliche Hegemonie basiert auf dem westlichen Staat als einer globalen Form der Staatsmacht.
Herausragend ist freilich der ökonomische Aspekt der Globalisierung. Die Institutionen, Mechanismen und Märkte, auf die sich die westliche Hegemonie stützt, sind großenteils ein Werk des Staates, wobei sich die ideologische Ausrichtung auf materiellen Reichtum, ökonomisches Wachstum und Profit auf Kosten aller anderen Normen und Werte ohnehin mit der herrschenden Logik des modernen Staates deckt.
Eine zentrale Rolle als treibende Kraft der kapitalistischen Globalisierung spielt der transnationale Konzern, der historisch auf die vom Staat geschaffene und regulierte Kapitalgesellschaft als Korporation zurückgeht. Der frühe moderne Staat erkannte zwar die moralische Verwerflichkeit dieser Korporation an und hat sie zeitweilig mit der Begründung verboten, dass sie die persönliche moralische Verantwortlichkeit untergräbt, aber sie schließlich doch sogar mit einer erweiterten juristischen Persönlichkeit erlaubt.
Eine Korporation in diesem Sinne ist eine Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, deren Gesellschafter (Aktionäre, Anteilseigner) mit Einlagen auf das in Anteilen zerlegte Grundkapital beteiligt sind, ohne persönlich für die Verbindlichkeiten der Kapitalgesellschaft zu haften. Eben diese »Unverantwortlichkeit« hatte ursprünglich zu ihrem Verbot durch die britische Regierung geführt, die dadurch eine Auflösung der persönlichen moralischen Verantwortlichkeit befürchtete, die jahrhundertelang die Geschäftswelt geprägt hatte. Über den Charakter dieser Korporation kann jedenfalls kein Zweifel bestehen.
So legt Hallaq dar:
Die Korporation wird durch das Gesetz zu einem einzigen Zweck geschaffen: ihren Reichtum zu mehren und diesen Zweck über alle anderen zu erheben, einschließlich der sozialen Verantwortung, die, wenn sie überhaupt besteht, in den Dienst der Schaffung von noch mehr Profit gestellt wird. (145)
Die korporativ verfassten transnationalen Konzerne sind berüchtigt dafür, im Interesse der Profitmaximierung und Kapitalakkumulation vor dem Einsatz keiner noch so unmenschlichen, ausbeuterischen und naturzerstörenden Praktik bis hin zur massenhaften Vernichtung von Menschenleben zurückzuschrecken, da diese lediglich als Ressourcen und allenfalls externe Kosten verbucht werden.
Die Betrachtung der Globalisierung und der Rolle des Staates zeigt, dass sich weder die Formeigenschaften des Staates grundsätzlich verändert haben, noch die Globalisierung wesentliche neue Eigenschaften eingeführt hat, so dass sich auch durch die Globalisierung keine wesentlichen Veränderungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen für die islamische Gouvernanz ergeben.
Die islamische Gouvernanz muss den Herausforderungen des modernen Staates und der Globalisierung begegnen, wobei allerdings ein Faktor, der im Zusammenhang der Globalisierung besonders hervorgetreten ist, noch in seinem Verhältnis zur islamischen Gouvernanz zu untersuchen bleibt, nämlich der Kapitalismus. Dies ist bisher nicht geschehen, denn Hallaq rechnet den Kapitalismus nicht zu den wesentlichen Eigenschaften des modernen Staates, da er eine bestimmte ökonomische Ausrichtung nicht zum Wesensmerkmal des Staates erklären will, um damit nicht die Möglichkeit der Existenz beispielsweise eines sozialistischen Staates auszuschließen.
1.8.2 Die moralische Ökonomie des Islam
Die islamische Wirtschaftsordnung basiert auf einer Vorstellung der Welt, des Menschen und des politischen Lebens, die von der Scharia geprägt ist. Während die liberale Ökonomie Profitmaximierung und Kapitalakkumulation zum höchsten Zweck erhebt, beruht das islamische Paradigma auf einer moralischen Ökonomie, in der bei aller Vielfalt die Werte und Normen der Scharia unangefochten an erster Stelle stehen.
Zum Verhältnis von Kapitalismus und Scharia führt Hallaq aus:
Der Erfolg kann durch die unbestreitbare Tatsache ermessen werden, dass die islamische materielle Zivilisation und der islamische regionale und internationale Handel zu den kraftvollsten und hervorragendsten in der vormodernen Weltgeschichte gehörten. Diese (möglicherweise untertriebene) Charakterisierung wird nicht nur durch das, was wir über den Islam und seine Wirtschaftsgeschichte wissen, erwiesen, sondern auch durch die Tatsache bestätigt, dass der europäische Kolonialismus im neunzehnten Jahrhundert die muslimischen Gebiete nicht wirklich unter seine Herrschaft bringen konnte, ohne zuerst die ökonomischen Strukturen niederzureißen, und diese Strukturen beruhten in einem erheblichen Maße auf den Regelungen, Gesetzen und Werten der Scharia. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb das kolonialistische Projekt alles daran setzte, die Scharia auszumerzen, da sie ein Hindernis für die politische Expansion und noch viel mehr für die ökonomische Herrschaft Europas war. Diese wahrgenommene und tatsächliche Hinderung fasst alles treffend zusammen, denn sie bestätigt die Inkompatibilität der Scharia als moralischer Ordnung mit den Methoden und Werten des modernen Kapitalismus. (147)
Für das Verständnis der moralischen Ökonomie der Scharia ist eine Betrachtung ihres Begriffs des Eigentums von wesentlicher Bedeutung. Der Schutz und die Förderung von Eigentum und Reichtum ist eine der fünf »universellen Prinzipien« (kulliyyāt), durch welche die Zwecke des moralischen Rechts bestimmt werden und gemäß deren die Rechtsordnung der Scharia und damit die islamische Gesellschaft als Ganzes strukturiert wurden. Die anderen vier Prinzipien sind der Schutz des Lebens (nafs), der Religion (dīn), der Vernunft (ʿaql) und der Gemeinschaft (nasl; wörtlich: Nachkommen). Die einzelnen Rechtsnormen können so verstanden werden, dass sie im Dienst dieser allgemeinen Zwecke und somit zugleich im besten Interesse der Gläubigen stehen.
Die maqāsid asch-scharīʿa genannten Prinzipien gingen in der Rechtstheorie aus einer induktiven Untersuchung der Gesamtheit der Scharia-Normen hervor. Sie erfolgte, als die Scharia ein hohes Maß an Reife erreicht hatte, so dass die Rechtsgelehrten auf das Ganze zurückblicken und die Prinzipien aus der vollen Breite der Rechtskultur gewinnen konnten.
Hallaq erläutert:
[…] die Gesamtwirkung der Scharia – als diskursive, theoretische, institutionelle und praktische Ordnung – wurde auf diese allgemeinen Prinzipien konzentriert, die wiederum, einmal entpackt und bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet, nichts anderes als die Scharia in ihrer vollen Entfaltung hervorbrachten. Unter Rückbezug auf mindestens fünf Jahrhunderte einer fest gegründeten Rechtstradition wurden die allgemeinen Prinzipien induktiv ermittelt und später kontinuierlich ausgearbeitet, da sie zu paradigmatischen Eigenschaften der Scharia als rechtlicher und kultureller Ordnung geworden waren. Es kann in der Tat gesagt werden, dass sie vieles von dem erfassen, was den Islam ausmacht. (148)
Keines der fünf Prinzipien ist freilich selbständig. Alle hängen wechselseitig voneinander ab und bedingen sich gegenseitig. Gleichwohl ragen zwei heraus. Das Prinzip des Schutzes des Lebens ist offensichtlich wesentlich, insofern es die grundlegende Struktur der Sozialordnung liefert, während das Prinzip des Schutzes der Religion dieser Ordnung sowie dem Leben des Einzelnen allererst Sinn und Bedeutung verleiht. In ihrer wechselseitigen Verwobenheit bilden sie den Rahmen, in dem der Begriff des Eigentums erst recht verstanden werden kann.
Zum Begriff des Eigentums stellt Hallaq fest:
So wurde das Prinzip des Eigentums durch eine strukturelle Dialektik der Werte, Praktiken und Institutionen der Scharia abgegrenzt, eingeschränkt, unterstützt und zur Verwirklichung gebracht. Die Prinzipien der Eigentumsrechte sowie des Erwerbs, der Erhaltung und der Verausgabung von Reichtum wurden allesamt zugleich von einer Dialektik aus spirituellen, metaphysischen und weltlichen Überlegungen reguliert. (149)
Die Scharia erlaubt Handel, Geschäfte und den Erwerb von Reichtum, stellt aber zugleich alle Praktiken und Verfahren unter strenge Regeln, die von moralischen Werten erfüllt sind. Dies kommt auch in den ausführlichen Abhandlungen zu wirtschaftlichen Themen in den Rechtswerken zum Ausdruck, in denen sie einen breiten Raum einnehmen. Dazu gehören bis in kleinste Einzelheiten gehende Erörterungen und Regelungen zu einer großen Vielfalt von Themen: Kauf, Verkauf, Vertrag, Handel, Markt, Risiko, Zins und Wucher (ribā), Abgaben (zakāt), milde Gaben (sadaqa), Stiftungen (waqf) usw. All diesen Bestimmungen unterlag unlöslich eine große Vielfalt von moralischen Begriffen wie Vergebung, Großmut, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Vermeidung von Gier und Habsucht, Gerechtigkeit, soziale Verantwortlichkeit usw.
Aller Verdienst, Gewinn und Reichtum entspringt nicht einer wertberaubten rohen und trägen Welt, sondern gehört zu den Gaben und Segnungen, mit denen Gott die Menschen bedacht hat und wofür Ihm wiederum Dankbarkeit gebührt. Und diese Dankbarkeit übersetzt sich zugleich im Bewusstsein, dass Gott allein alles gehört, in soziale Verantwortung, in die Bereitschaft, den Bedürftigen zu geben, denen ein natürliches Recht daran zusteht. Denn zwei Verpflichtungen müssen erfüllt werden: die Rechte Gottes und die Rechte der Menschen, die gleichermaßen Pflichten ihrer Mitmenschen sind.
Weiterhin erläutert Hallaq:
Der Erwerb von Reichtum, der erlaubt ist und sogar gefördert wird, ist daher von höheren moralischen Prinzipien geregelt und diesen unterworfen, wodurch ihm qualitative Beschränkungen auferlegt werden. Diese Prinzipien sind nicht von technischer Art, sondern gehen auf die epistemischen und psychologischen Technologien des moralischen Subjekts zurück. Es ist einfach nicht genug, die Aufnahme von offensichtlich wucherischen und risikobeladenen (gharar) geschäftlichen Unternehmungen zu vermeiden, zwei Säulen, auf denen das moderne islamische Bank- und Finanzwesen zu basieren behauptet, und selbst das auf problematische Weise. Das Betreiben von Geschäften und Profitmachen muss von einer ganzheitlichen Weltsicht getragen werden, einer Sicht, die sich von einer Ordnung von Praktiken und Überzeugungen herleitet, die den gesamten Bereich der Technologien des Selbst konstituieren und widerspiegeln, die das moralische Subjekt bilden und stützen. Diese Technologien sind überhaupt nicht auffindbar in den Ansätzen des modernen islamischen Bank- und Finanzwesens, ein Phänomen, das (wenn man es mit den beschränkten technischen Belangen verbindet, welche diese Ansätze prägen) zu der Schlussfolgerung nötigt, dass sowohl die Theorie wie auch die Praxis des gegenwärtigen islamischen Bank- und Finanzwesens zutiefst mangelhaft ist. Letztlich ist es nur dem Namen nach islamisch, da es fast nichts von dem widerspiegelt, was den Islam als moralische Ordnung ausmacht. (151-152)
1.8.3 Abschließende Bemerkungen über Dilemmata
Wenn man die Existenz einer islamischen Gouvernanz annimmt, muss man zweifellos auch annehmen, dass sie sich den Herausforderungen der globalisierten Welt stellen muss, die sich insbesondere auf drei Ebenen manifestieren: der Militarismus der mächtigen imperialen Staaten, das kulturelle Eindringen von außen und der gewaltige liberal-kapitalistische Weltmarkt. Alle drei Faktoren entspringen nahezu den gleichen Machtzentren und sind stark miteinander verknüpft.
Die bestehenden politisch-militärischen Kräfteverhältnisse befördern unzweifelhaft einen modernen Staat im Sinne von Carl Schmitt, so dass eine islamische Gouvernanz jederzeit in seiner Existenz bedroht sein wird.
Aufgrund der äußeren Einflüsse auf der kulturellen Ebene wird eine islamische Gouvernanz dazu gezwungen sein, die Formen der globalisierten Kultur zu untersuchen und zu bewerten. Sie muss deren Quellen verstehen, die unter anderem in Materialismus, Hedonismus, Narzissmus, Entzauberung, Positivismus und der Trennung von Sein und Sollen, von Moral und Werten einerseits und Tatsachen, Wissenschaft, Recht und Ökonomie andererseits zu finden sind. Die kulturellen Kräfte der westlichen Hegemonie samt ihren alles durchsetzenden Konzerne, insbesondere auf dem Gebiet der Informationstechnologie, stellen eine unleugbare Bedrohung für eine islamische Gouvernanz dar, in der nicht Macht und Profit, sondern die Moral die Kultur bestimmt.
Die ökonomische Herausforderung ist sicher nicht geringer. Wie soll sich eine moralische Ökonomie auf dem von Kapitalakkumulation getriebenen Weltmarkt behaupten? Die Folgen einer kapitalistischen Durchdringung um den Preis der Aufgabe aller maßgeblichen Normen und Werte wären nicht hinnehmbar. Schon die Kapitalgesellschaft mit ihrer zerstörerischen Wirkung auf die persönliche moralische Verantwortung könnte unter den Bedingungen der Scharia nicht geduldet werden. Denn die Scharia wäre ohne die moralische und rechtliche Verantwortung natürlicher Personen einer ihrer wichtigsten Grundlagen beraubt. Eine islamische Gouvernanz mit ihrer Betonung der sozialen Gerechtigkeit ist jedenfalls mit den aller Moral spottenden, einzig auf Profit ausgerichteten Praktiken des modernen Kapitalismus unvereinbar.
1.9 Zentralgebiet des Moralischen
1.9 Zentralgebiet des Moralischen Yusuf KuhnHallaq beginnt das letzte Kapitel mit folgender Feststellung:
Der moderne islamistische Diskurs nimmt an, dass der moderne Staat ein neutrales Werkzeug der Regierung ist, das dazu eingespannt werden kann, bestimmte Funktionen gemäß der Wahl und auf Geheiß ihrer Führer auszuführen. Wenn die Maschinerie der staatlichen Regierung nicht für Unterdrückung verwandt wird, kann sie von den Führern in eine Repräsentation des Volkswillens verwandelt werden, wodurch bestimmt wird, was der Staat werden wird: eine liberale Demokratie, ein sozialistisches Regime oder ein islamischer Staat, der die Werte und Ideale zur Anwendung bringt, die im Koran enthalten sind und die der Prophet einst in seinem »Mini-Staat« von Medina verwirklicht hatte. (155)
Dabei wird allerdings übersehen, dass der moderne Staat keineswegs so neutral ist, wie hier angenommen wird, sondern auf zahlreichen metaphysischen Voraussetzungen beruht, deren Verträglichkeit mit islamischen Normen und Werten, gelinde gesagt, äußerst fraglich ist. Der moderne Staat geht freilich mit einem ganzen Arsenal von metaphysischen Voraussetzungen einher. Seine spezifische Verfasstheit zieht daher Wirkungen nach sich, die sich auf alle Ebenen des Politischen, Sozialen, Ökonomischen, Kulturellen, Epistemischen und Psychologischen erstrecken. Der Staat schafft dadurch besondere Ordnungen des Wissens, die für die Bildung individueller und kollektiver Subjektivität bestimmend sind und damit auch für den Sinn des Lebens seiner Subjekte.
Darin spiegelt sich freilich auch die historische und geographische Herkunft des modernen Staates, der von seinem europäischen Kerngebiet aus in die Kolonien und den Rest der Welt exportiert wurde. Da dort die auch in Europa selbst über einen langen Zeitraum mit äußerster Gewalt erst hergestellten Bedingungen, derer der Staat für sein Funktionieren bedarf, weitgehend fehlen, gebricht es ihm an der Legitimität und der Fähigkeit, Gesellschaften zu beherrschen, welche die vorgängigen Prozesse der meist kriegerischen Homogenisierung und Nationalisierung noch nicht durchlaufen haben. Was dann als »schwacher« Staat erscheint, beweist nur die Fremdheit und Untauglichkeit des modernen Staates.
Natürlich heißt all dies nicht, dass sich der moderne Staat nicht verändert. Aber es zeigt sich, dass er bei aller Wandlung doch wesentliche Strukturen bewahrt, die sich stets als unvereinbar auch nur mit den aller elementarsten Erfordernissen der islamischen Gouvernanz erwiesen haben. Die Globalisierung hat diese Inkompatibilität nur noch verstärkt, die letztlich moralischer Natur ist.
1.9.1 Hauptsächliche Inkompatibilitäten
Hallaq führt nun fünf Inkompatibilitäten von modernem Staat und islamischer Gouvernanz an, die von besonderer Bedeutung sind. Da es sich dabei um eine Zusammenfassung von in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich Dargestelltem handelt, wollen wir uns kurz fassen.
Erstens: Der Staat als anthropozentrische Entität besitzt eine Metaphysik, die als Produkt seines eigenen souveränen Willens die höchste Manifestation des Positivismus ist und als solche seinen Willen zur Macht widerspiegelt. Die islamische Gouvernanz hingegen schließt eine auf Positivismus und Willen zur Macht basierende Metaphysik aus, da für sie der Vorrang des Moralischen nicht nur die Metaphysik, sondern darüber hinaus alle Bereiche bestimmt. Die beiden Metaphysiken sind also unvereinbar.
Zweitens: Die islamische Gouvernanz ist durch die Souveränität Gottes gebunden, da ihre Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit sowie die uneingeschränkte Herrschaft des Rechts darauf beruhen, während die selbstgeschaffene Souveränität des modernen Staates keinerlei äußeren Schranken unterliegt. Daher sind die beiden Begriffe der Souveränität unvereinbar.
Drittens: Da in der islamischen Gouvernanz Gott die höchste Quelle der moralischen Autorität und des Rechts ist, ist zu deren konkreter Umsetzung eine strikte Trennung der Gewalten mit einer uneingeschränkten Herrschaft der »legislativen« Gewalt über die Judikative und Exekutive erforderlich. Im modernen Staat hingegen wird die Herrschaft des Rechts durch die beiden anderen Gewalten zumindest stark beschnitten. Daher sind diese beiden Konzeptionen der Gewaltenteilung weitgehend unvereinbar.
Viertens: Die Weltsicht der islamischen Gouvernanz geht davon aus, dass Welt und Mensch als Geschöpfe Gottes von Wert und Sinn erfüllt sind. Das durch religiös-moralische Praxis gebildete Subjekt unterliegt moralischen Imperativen und lebt in der Verantwortung vor Gott und für die Mitmenschen in der Gemeinschaft. Es ist aufgerufen, Gutes zu tun, und hat schließlich vor Gott als seinem gerechten und allwissenden Schöpfer und Richter Rechenschaft für sein Tun abzulegen. Das Subjekt des modernen Staates hingegen lebt in einer durch die Trennung von Sein und Sollen jeglichen Werts und Sinnes beraubten Welt und wird vom Staat mittels seiner disziplinierenden Technologien des Selbst zum folgsamen und opferbereiten nationalen Bürger abgerichtet, dessen Wert ausschließlich im endlosen Kampf um weltliche Interessen in einer sinnlosen Welt liegt. Das Subjekt des Seins und das Subjekt des Sollens sind grundlegend verschiedene Konzeptionen des Menschen, die in unüberwindlichem Gegensatz zueinander stehen und völlig unvereinbar sind.
Fünftens: Der moderne Staat und das kapitalistische Projekt der Globalisierung agieren in einer materiellen Welt der nackten Tatsachen und schaffen darin folgerichtig einen homo oeconomicus, der ausschließlich vom Streben nach materiellem Profit geleitet ist. Die islamische Gouvernanz bringt hingegen einen homo oeconomicus hervor, der von höheren moralischen Imperativen geleitet ist, der im Angesicht Gottes seiner sozialen Verantwortung verpflichtet ist, der keinen Begriff des beliebig und schrankenlos verfügbaren Eigentums kennt, da letztlich alles Gott gehört, der es ihm nur zur pfleglichen Behandlung anvertraut hat und eben nicht zur Profitmacherei und unendlichen Kapitalakkumulation in universeller Konkurrenz, die nur Feindschaft und keine Liebe kennt. Die Unvereinbarkeit der beiden Konzeptionen ist unübersehbar.
Aus dieser Diagnose ergeben sich vielfältige Schlussfolgerungen, von denen Hallaq einige herausstellt:
Die Gesamtheit dieser inhärenten und grundsätzlichen Gegensätze wirft ein erhebliches Problem auf. Wenn Muslime ihr Leben in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht organisieren wollen, stehen sie vor einer entscheidenden Wahl. Entweder müssen sie sich dem modernen Staat und der Welt, die ihn hervorbrachte, ergeben, oder der moderne Staat und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, muss die Legitimität der islamischen Gouvernanz anerkennen, das heißt die muslimische Konzeption von Politik, Recht und, von größter Bedeutung, Moralität wie auch ihrer untergeordneten politischen und ökonomischen Erfordernisse. Die erste Option erscheint auf den ersten Blick als realistischer, vorausgesetzt, dass sie gegenwärtig weithin von Muslimen und sogar ihren Intellektuellen akzeptiert wird, obgleich meist aufgrund der irrtümlichen Annahme, dass das System des modernen Staates beizeiten in einen islamischen Staat umgewandelt werden könne. Wie ich in den vorausgehenden Kapiteln zu zeigen versucht habe, gebricht es dieser Annahme an einem angemessenen Verständnis des Wesens des modernen Staates, seiner Formeigenschaften und seiner inhärenten moralischen Inkompatibilität mit jeglicher Form der islamischen Gouvernanz. Die zweite Option erscheint allen Anzeichen zufolge als weniger wahrscheinlich, da jede Form der islamischen Gouvernanz innerhalb eines Systems von Staaten wird leben müssen, das selbst unter dem Druck der Imperative einer globalisierten Welt steht. Wenn der moderne Staat, wie uns so viele Analysten sagen, selbst mit dem Druck der Globalisierung kämpfen und sich unter diesem Druck neu anpassen muss, so würde eine islamische Gouvernanz vielfältige und zunehmende Herausforderungen erleiden, die ziemlich wahrscheinlich ihren Niedergang und ebenso wahrscheinlich ihren völligen Zusammenbruch verursachen würden. (161-162)
1.9.2 Ein Ausweg?
Die Untersuchung muss jedoch über diese Realpolitik hinausgehen. Wie der moderne Staat fremd und drückend auf der muslimischen Welt – und einem großen Teil des »Rests« der Welt – lastet, so wirft die Modernität als Ganzes für die gesamte Welt einschließlich der westlichen, die sie ursprünglich hervorgebracht hat, eine Vielzahl von Problemen auf. Sie reichen von spiritueller Leere, Sinnlosigkeit, Nihilismus, Hedonismus und Narzissmus bis zur Zerstörung jeglicher Gemeinschaft, der Familie und der Natur.
Dazu merkt Hallaq an:
Nichts davon kann von dem übergreifenden Projekt des modernen Staates abgetrennt werden. Daher kommt die Infragestellung des modernen Projekts nicht umhin, den Staat in die vorderste Reihe der Kritik zu stellen. Und sie kommt ebenfalls nicht umhin, zugleich die Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Welt in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken, denn […] unsere Einstellung zu und unser Umgang mit dieser natürlichen Welt ist das Maß unseres Daseins, unserer Auffassung dessen, was es für uns heißt, Menschen zu sein. Die Folge dieser Einstellungen ist nicht, wie viele denken, bloß eine Tatsache des Lebens, eine lediglich bedauerliche Begleiterscheinung unserer ansonsten guten Absichten und Errungenschaften des Fortschritts. Sie ist vielmehr das eigentliche Maß des Menschen, da sie die niedrigste Richtgröße bildet, an der unsere moralische Verantwortlichkeit gegenüber allen Dingen in der Welt gemessen und beurteilt werden muss. Sie ist, mit anderen Worten, die zentralste Frage, die das bedrängt, was das Zentralgebiet des Moralischen sein sollte, eine Frage, deren Lösung alle anderen Fragen, Probleme und wiederum deren Lösungen innerhalb der Gesamtheit dessen, was wir die untergeordneten Gebiete genannt haben, vorherbestimmt. (162-163; Hervorhebungen im Original)
Da diese Probleme neben allen praktischen Herausforderungen, die damit einhergehen, letztlich auf eine Entstellung in der moralischen Auffassung der Natur zurückgehen, kann nur eine Berichtigung dieses Moralverständnisses zu echten Lösungen führen. Und das betrifft selbstverständlich nicht nur das islamische Denken, wie Hallaq herausstellt:
Und diese Lösungen haben unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf jegliche Möglichkeit einer islamischen Gouvernanz in der modernen Welt, sondern auch und in erster Linie auf den modernen Staat und die Bedingungen, unter denen er besteht. […] Die grundlegendsten Probleme des modernen Islam sind nicht ausschließlich islamisch, sondern wohnen in der Tat gleichermaßen dem modernen Projekt selbst in Ost und West inne. (163; Hervorhebungen im Original)
Für eine Erörterung dieser Fragen ist es erforderlich, auf die durch die Aufklärung forcierte Trennung von Sein und Sollen zurückzukommen, denn durch sie wurde das in der Moderne vorherrschende Moralverständnis zutiefst geprägt. Bei der Behandlung dieses Themas stützt sich Hallaq neben Charles Taylor und Alasdair MacIntyre auch auf die Kritiken von H. A. Prichard und Charles Larmore.
Von hier ab bis zum Ende des Buches beschränke ich mich auf die Übersetzung, um Hallaqs abschließende Überlegungen in voller Länge sowie möglichst ungefiltert und getreu wiederzugeben. Denn sie entwerfen das Projekt einer Debatte, das wahrlich ernst genommen zu werden verdient.
Zu diesen moralphilosophischen Fragen von grundlegender Bedeutung führt Hallaq also aus:
[…] die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen stand in einer dialektisch kausalen Beziehung mit der Trennung des Wertes von einer natürlichen Welt, die als »nackt« und »träge« betrachtet wurde. Wenn die Materie allen Wertes beraubt wird, hört sie auf, Teil eines anima mundi zu sein, und kann somit als ein Objekt behandelt werden. Sie kann erforscht und dem gesamten Arsenal unserer autonomen rationalen Analyse (und mithin unseren Handlungen) unterworfen werden, ohne dass sie moralische Forderungen gegen uns erheben könnte. Aber diese noch nie dagewesene paradigmatische Unterscheidung brachte eine weitere bedeutsame Konsequenz hervor, nämlich die Isolation der Vernunft von Gründen (the isolation of reason from reasons), wobei die Vernunft ein Instrument des Denkens über die Welt ist und Gründe die substantiellen »Ursachen« repräsentieren, die durch die Vernunft Denken generieren. Während vor der Aufklärung Vernunft und Gründe unterschiedslos zusammenarbeiteten, wurde nach der Aufklärung die Vernunft, im Unterschied zu Gründen, zu einem autonomen Status erhoben und von ihr erwartet, Gründe selbständig zu generieren. Daher das unerschütterliche Beharren der modernen Moralphilosophie darauf, dass die Moralität durch die autonome und selbstgesetzgebende Vernunft gerechtfertigt werden muss – das Rückgrat der kantischen Konzeption, die über das moderne Paradigma der Moral herrscht. Obgleich diese kantische Position wiederholten und vernichtenden Kritiken unterworfen worden ist, hatte sie weiter Bestand und hat nicht aufgehört, Anziehungskraft auszuüben. Der Grund dafür ist die Verschanzung der Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert in allem modernen Denken, wo die Welt gesehen wird »als letztlich nichts mehr als die Materie in Bewegung ... normativ stumm, bar jeglicher Leitung, wie wir uns verhalten sollten.«
Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge 2008, S. 111–112. Die Vernunft hat hier die Gründe auf eine Nichtigkeit reduziert und, wie Spengler sagte, leugnet alle Möglichkeiten außer sich.Siehe Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1983, S. 157.
Wie Prichard
Harold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 21-37. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 49–68. und LarmoreCharles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008; Charles Larmore, The Morals of Modernity. Cambridge, 1996. – und allgemeiner mit ihnen Taylor und MacIntyre,Charles Taylor, Justice After Virtue, in: John Horton / Susan Mendus (Hg.), After MacIntyre: Critical Perspectives on the Work of Alasdair MacIntyre, Cambridge, 1994, S. 16–43. Weite Teile dieses Aufsatzes sind in deutscher Übersetzung von Wolfgang Barus unter anderem Titel und in anderem Zusammenhang erschienen; die Kapitel I, II und III der englischen und der deutschen Version scheinen einander ziemlich genau zu entsprechen: Die Motive einer Verfahrensethik, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main, 1986, S. 101-135. unter anderen – in der Tat vorgebracht haben, ist es unmöglich, unseren Weg zur Moralität mittels autonomer Rationalität zu begründen, die, wie wir gesehen haben,Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 101 ff.; Paul Guyer, Kant on Freedom, Law, and Happiness. Cambridge, 2000; Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge 2008, S. 105. auf dem kantischen Begriff der Freiheit basiert. Prichard hat argumentiert, dass dieser wesenhaft kantische Ansatz »zum Scheitern verurteilt« ist, weil er auf »dem Irrtum« beruht, »zu glauben, man könne beweisen, was nur direkt durch einen Akt moralischen Denkens erfaßt werden kann.«Harold Arthur Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Mind, New Series, Bd. 21, Nr. 81 (Jan., 1912), S. 36. Deutsche Übersetzung von Günther Grewendorf: Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: Kurt Bayertz (Hg.), Warum moralisch sein?, Paderborn, 2002, S. 68. Aber die Anziehungskraft der autonomen Rationalität, die in Freiheit gegründet ist, ist keineswegs zufällig, denn das Wesen dieser Art von Rationalität ist eben gerade der Wille zur Freiheit. Diese Freiheit erweist sich letztlich als nicht bloß unsere persönliche und private Freiheit – die sie natürlich ist -, sondern als die Freiheit des Menschen, über die Natur und allem, was sich in ihr befindet, zu herrschen, einschließlich »jegliches« Menschlichen, das als ein integraler Bestandteil von ihr definiert werden mag (z.B. der »edle Wilde«, jene Wesen, die »in einem Naturzustand« leben). Es ist die Freiheit von den Verpflichtungen eines Lebens unter den moralischen Forderungen dieser Welt als einer kosmischen Werteordnung, die uns als solche ihre eigenen Beschränkungen auferlegt. Die Ethik der Autonomie, die sich aus dieser Freiheit ableitet, ist derart vorherrschend gewesen, dass eine Philosophin so weit gegangen ist, sie zu »der einzigen, die mit der Metaphysik der modernen Welt verträglich ist,«Siehe Christine Korsgaard, Sources of Normativity, Cambridge, 1996, S. 5; und Larmores Kritik: Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 112. zu erklären. Wie Larmore und Prichard jedoch überzeugend aufgezeigt haben, macht diese Konzeption der selbstgesetzgebenden Vernunft »wenig Sinn«, da sie annimmt, dass die Vernunft oder der kantische »vernünftige Wille« ein Akteur und ein proaktiver Gesetzgeber ist, während die Vernunft in Wirklichkeit »nicht ein Akteur ist, sondern vielmehr ein Vermögen, das wir, die wir [die]Einschub in eckigen Klammern von Wael Hallaq eingefügt. Akteure sind, mehr oder weniger gut ausüben.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 109. Dieses Vermögen ist gewissermaßen eine Maschine des vernünftigen Denkens, das über das entscheidet, was wir als Gründe sehen, und das, nach der Durchführung dieser Entscheidung, die Gründe dafür anführt, von etwas überzeugt zu sein oder in einer bestimmten Weise zu handeln. Mit anderen Worten, die Vernunft kann nicht autonom sein, da sie, damit ihr latentes Potential verwirklicht werden kann, aktiviert werden muss, und dies kann nur durch das Antworten auf Gründe geschehen. Folglich erfordert die Vernunft »Empfänglichkeit für Gründe«, und deshalb »kann kein Prinzip als rational gelten, wenn nicht Gründe vorhanden sind, die für seine Annahme sprechen.«Ebenda, S. 109 u. 112.
Wenn es daher solche Dinge wie Gründe für Denken und Handeln geben soll, muss die Vernunft »sie in die Welt von außen einführen, indem sie von ihr selbst entworfene Prinzipien der neutralen Oberfläche der Natur auferlegt,«
Ebenda, S. 112. das heißt anzunehmen, dass die Oberfläche der Natur neutral ist. Genau hier scheint dieser Ansatz eine naturalistische Konzeption der Welt zu verraten. Nachdem Larmore die hobbesianischen und kantianischen Argumente trefflich aufgelöst und die Unterscheidung zwischen Vernunft und Gründen kraftvoll und ebenso trefflich ausgearbeitet hat, konnte er schlussfolgern, dass der einzige Weg, die Autorität der Moralität anzuerkennen, darin besteht, - »von Anfang an« und »ohne jeden Umweg durch mein eigenes Wohl« – den Fokus zu richten auf »den bestimmenden Wert des moralischen Denkens – nämlich die Tatsache, dass das Wohl eines anderen an sich ein Grund für eine Handlung meinerseits ist [...] Unsere moralische Identität besteht nicht darin, unsere eigene Menschlichkeit wertzuschätzen und damit zu bestimmen, dass wir die Menschlichkeit in jedweder Person, in der sie erscheinen mag, wertschätzen sollten. Sie ist ein Grund, unseren Nachbarn in nicht weniger unmittelbarer Weise zu lieben, als wir natürlicherweise gewogen sind, uns um uns selbst zu sorgen. [...] Die [kantianische]Einschub in eckigen Klammern von Hallaq eingefügt. Ethik der Autonomie muss verworfen werden, und an ihre Stelle gehört das, was ich die Autonomie der Moralität genannt habe – womit ich meine, […] dass die Moralität einen autonomen, irreduziblen Wertbereich bildet, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können, sondern den wir einfach anerkennen müssen.«Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 122; Hervorhebungen im Original.
Welche Eigenschaft der Welt genau den Kontext der Gründe für diese Autonomie bilden mag, ist eine Frage, die Larmore in allgemeinen platonischen Begriffen beantwortet. Gründe »bilden eine intrinsisch normative Ordnung der Wirklichkeit, die nicht auf physikalische oder psychologische Tatsachen reduziert werden kann.«
Ebenda, S. 123-129, insbesondere 129. Doch wohin gehen wir von hier aus, so dass wir Gründen eine spezifisch bestimmte Substanz und eine besondere Bedeutung zuschreiben können? Was in einer mit Werten gesättigten Welt ist es, das uns in konkreten und genauen Begriffen sagt, worin das Wohl eines anderen besteht? Und wie bestimmen wir dieses Wohl in einem spezifischen kulturellen Kontext und zu jedwedem konkreten Zeitpunkt?
Ironischerweise sind solche Fragen und Debatten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, die aus formidabler moderner Wissenschaft und rationalem Denken hervorgehen, ein genauer Widerhall eben der Debatten, die Muslime vor über tausend Jahren führten. Die Fragen und Probleme, denen sie begegneten und die im wesentlichen denen gleichen, die von Kantianern, Neukantianern, Antikantianern und anderen erhoben wurden, waren für mehr als zwei Jahrhunderte geistige Kampfplätze. Von der Mitte des achten Jahrhunderts A.D. bis zum Ende des zehnten und darüber hinaus bildeten sich große rechtlich-intellektuelle Bewegungen heraus, die das gesamte Spektrum der intellektuellen Meinungsvielfalt hinsichtlich der Frage der Moralität, ihrer Autonomie und der Rolle der Vernunft bei der Bestimmung menschlicher Handlungen repräsentierten. Der einzige große Unterschied zwischen den beiden Debatten ist ihr Kontext: während die meisten Denker der Aufklärung – bei all ihrer Verschiedenheit – nur eine entzauberte Welt kannten, bewohnten die vormodernen muslimischen Intellektuellen eine Welt, die mehr oder weniger »verzaubert« war. Diese Intellektuellen, die über mehr als zwei Jahrhunderte ihre geistigen Kräfte miteinander maßen, kamen schließlich zu dem überein, was ich an anderer Stelle die »Große Synthese«
Für eine eingehende Darstellung dieser Synthese siehe Wael Hallaq, The Origins and Evolution of Islamic Law. Cambridge, 2005 (Stellenangaben im Index unter »Great Synthesis«); Wael Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge, 2009, S. 55-60 u. 72. genannt habe, nämlich die Synthese zwischen Vernunft und Gründen.Dies wird auf dem Gebiet der Islamwissenschaft oftmals in die Begriffe eines Konflikts oder Gegensatzes zwischen »Vernunft und Offenbarung« gefasst, eine rudimentäre Konzeption, die dem Aufwerfen harter Fragen zuvorkommt. Wenn Gründe einmal auf »Offenbarung« reduziert sind, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, sie irrationaler Religion zuzuweisen, wodurch der »Wettstreit« zwischen Vernunft und Gründen so gestaltet wird, dass er vom Adel der Vernunft gewonnen werden müsste. Es konnte ebenso wenig eine Leugnung einer Welt, die mit Wert gesättigt ist, geben wie einer Welt, in der das menschliche Vermögen der Vernunft, Gottes eigene Schöpfung, sowohl stets gegenwärtig als auch kraftvoll ist. Und die Scharia, die bestimmende Überzeugung und Praxis der Muslime, war das Ergebnis einer Synthese zwischen den beiden.
Der Islam hat sich in der Tat von Beginn an selbst als al-umma al-wasat, die mittlere Gemeinschaft verstanden, ein Begriff, der seine Berechtigung vom Koran selbst bezieht und später in rechtlichen, theologischen und epistemischen Weisen weiter entwickelt worden ist. Die mittlere Gemeinschaft, wie sie in der Scharia durch das ausgefeilte und komplexe diskursive Feld der usūl al-fiqh (Rechtstheorie) bestimmt wurde, ist eben deshalb als solche betrachtet worden, weil sie eine mittlere Stellung einnahm zwischen den – sozusagen – »muslimischen Kantianern« und den Literalisten, also jenen, welche die menschliche Vernunft auf einen marginalen Status reduzieren wollten.
Siehe dazu Wael Hallaq, Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations, Cambridge, 2009, S. 72-124. Sie wurde deshalb metaphorisch als mittlere Gemeinschaft bekannt, weil diese zwei »extremen« Lager zu Minderheiten herabgesetzt wurden, während die Mehrheit das Mittelfeld belegte, wo die Vernunft die Entdeckerin von Gründen sein muss, wobei letztere ihre moralischen Forderungen erheben und die erstere beschränken.
Aber woraus gehen die Gründe hervor? In den Kapiteln 4
Siehe das Kapitel Das Rechtliche, das Politische und das Moralische, S. 100 ff. und 5Siehe das Kapitel Politisches Subjekt und moralische Technologien des Selbst, S. 120 ff. haben wir eine Antwort in einiger Ausführlichkeit dargelegt, indem wir die Quelle der Gründe als »eine kosmische Moralordnung« gekennzeichnet haben.Siehe den Abschnitt Moralität und der Aufstieg des Rechtlichen, S. 101 ff. Es sind genau die paradigmatischen Attribute dieser Ordnung, an denen es dem Koran gelegen war. Während das Erfüllen von Verträgen, die Verteilung der Erbteile und die Bestrafung des Übeltäters einen – wenn auch winzigen – Teil des koranischen Korpus bildeten, kann jeder einsichtige Leser des Textes nicht die Erkenntnis versagen, dass diese substantiellen »Urteile« beiläufige Nebenprodukte der übergreifenden koranischen Botschaft waren: dass wir Menschen nicht die Erde besitzen; dass es etwas oder jemanden Größeres als uns gibt; dass der Umstand, in Gemeinschaften erschaffen zu sein, damit einhergehend die Verpflichtung unsererseits schafft, gute Werke zu verrichten; dass Humanität und Moralität miteinander einhergehen; dass göttliche Allmacht, wie auch immer ewig und abstrakt, funktional und soziologisch in den Dienst dieser großen moralischen Imperative tritt. Es gibt keinen Sinn für diese Allmacht ohne den moralischen Imperativ, denn die Raison d’être dieser Allmacht hängt an der Forderung nach und dem Beharren auf den moralischen Bereich. Sollte der moralische Bereich eines Tages aus der kosmischen Ordnung verschwinden, dann hätte die Allmacht keinen Grund, weiter zu existieren. Die Welt wurde schon durch diese Allmacht erschaffen, einem Vermögen, das nun zurückgezogen oder beiseite gelegt werden kann, da die Aufgabe erfüllt worden ist. Wenn jedoch die Allmacht weiter besteht, dann kraft ihres Zwillings, der Allgegenwart, wobei letztere die Fortdauer der ersteren als Hüter des moralischen Bereichs gewährleistet.
Der Koran, die Scharia und die Rechtsgelehrten, die sie über Jahrhunderte repräsentiert haben, erkannten allesamt die Permanenz dieses moralischen Bereichs an. Doch alle von ihnen erkannten ebenfalls und mit gleicher Kraft die Tatsache an, dass die partikulären Rechtsnormen, die aus diesem moralischen Bereich abzuleiten sind, situativ sind und dem nie endenden idschtihād unterliegen. Dieser letztere umgreift die Seele und den Körper der Deckungsgleichheit von Vernunft und Gründen, der beständigen Dialektik zwischen ihnen, die dem ewigen moralischen Bereich erlaubt, sich entsprechend Zeit, Bedürfnis und Umstand auf unterschiedliche Weise zu manifestieren. Wenn der Koran in der Sprechweise der Araber offenbart wurde, so geschah dies, wie es wiederholt heißt, in der Absicht, ihnen den moralischen Bereich durch ihre Sprache und Gebräuche verständlich zu machen. Die Scharia folgte dieser Logik höchst getreu, indem sie die vielsagende Maxime – die sie über Jahrhunderte hindurch konsequent und beharrlich praktizierte – annahm, dass »die Scharia für alle Zeiten und Orte gut ist«.
Die rechtlichen Manifestationen dieser Maxime werden detailliert erforscht in: Wael Hallaq, Authority, Continuity, and Change in Islamic Law. Cambridge, 2001. Und dies wurde möglich gemacht durch den Begriff und die Institution des idschtihād, der beständig erneuerten Anstrengung, das moralische Recht vernünftig zu bedenken, bei jeder Gelegenheit und in jedem Augenblick die Dialektik zwischen Vernunft und Gründen zu untersuchen. In dieser Tradition war die Vernunft unweigerlich durch und durch empfänglich für Gründe. (163-167; Hervorhebungen im Original)
1.9.3Handlungsoptionen
Hallaq schließt in diesem letzten Abschnitt, der ungekürzt wiedergegeben sei, mit folgenden Überlegungen zu Handlungsoptionen, die sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Analyse ergeben:
Die moralische Veranlagung der Scharia war, wie wir gesehen haben, ein Stachel in der Seite des Kolonialismus in der muslimischen Welt, ein Stachel, der herausgerissen werden musste. Die Dezimierung der Scharia ist dessen vollendeter Ausdruck: Die Modernität und ihr Staat konnten und können die Scharia in ihren eigenen Begriffen nicht hinnehmen, da diese Begriffe zutiefst moralisch und egalitär sind, wohingegen der Staat und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, die Moral in einen untergeordneten Bereich verbannte. Um eine Minimalformulierung zu wählen: Das Zentralgebiet des Kolonialismus war das Ökonomische und das Politische, nicht das Moralische. Und so blieb das Ökonomische und Politische das Zentralgebiet der Modernität und ihrer fortschreitenden Globalisierung.
Doch trotz der zerstörerischen Wirkungen des Kolonialismus bleibt die historische Scharia, immer kraftvoller, der Ort des Zentralgebiets des Moralischen. Während ihre Institutionen, ihre Hermeneutik und ihr Personal allesamt ohne Hoffnung auf Rückkehr verschwunden sind,
Siehe Wael Hallaq, Can the Shariʿa Be Restored?, in: Yvonne Y. Haddad and Barbara F. Stowasser (Hg.), Islamic Law and the Challenges of Modernity, Walnut Creek, Calif., Altamira Press, 2004, S. 21–53. bestehen ihre moralischen Wirkungen mit unverbrüchlicher Standhaftigkeit fort. Diese Moralordnung, ein Kapital von unermesslichem Wert, kann zumindest zwei Handlungsoptionen stützen, eine interne und eine externe.Es könnte freilich vieles darüber gesagt werden, welche Lösungen für die Herausforderungen und Probleme, die dieses Buch aufwirft, vorgeschlagen werden könnten, aber eine ausführliche Darlegung solcher Lösungen würde es erforderlich machen, ein weiteres und viel längeres Buch zu schreiben.
Erstens: Im Einklang mit dem Zentralgebiet des Moralischen und seinen Imperativen können Muslime nun beginnen – insbesondere im Licht des »Arabischen Frühlings« -, aufkeimende Regierungsformen zu artikulieren und zu konstruieren, die zu gegebener Zeit weiterer und robusterer Entwicklung entlang der gleichen Linien fähig wären. Das würde nonkonformistisches Denken und native Vorstellungskraft erfordern, da die sozialen Einheiten, aus denen sich die größere soziopolitische Ordnung zusammensetzt, in Begriffen von moralischen Gemeinschaften überdacht werden müssen, die, neben anderen Dingen, wiederverzaubert werden müssen. Historische moralische Ressourcen würden eine Blaupause für eine Bestimmung dessen liefern, was es heißt, sich mit den Belangen der Wirtschaft, Bildung, privaten und öffentlichen Sphären und vor allem der Umwelt und der natürlichen Ordnung zu befassen. Sie würden auch ein Konzept der gemeinschaftlichen und individuellen Rechte liefern, das ein klares Verständnis der Unzulänglichkeiten und Stärken des Begriffs der Rechte der liberalen Ordnung erfordern würde. Eine deutliche und verständliche Position zum Begriff der Rechte ist von wesentlicher Bedeutung, wie wir sogleich sehen werden. Aber interne, indigene Überlegungen der Gemeinschaft als dem Zentralgebiet des Moralischen wären die letztliche Basis, auf der eine überzeugende Theorie des Antiuniversalismus errichtet werden könnte, eine Theorie, die sich für die Einzigartigkeit der Weltgesellschaften ausspricht, die aber auch die geistige Lebenskraft und Widerständigkeit aufbringen muss, die erforderlich ist, um ein überzeugendes Gegenmittel gegen das vorherrschende liberale Konzept des Universalismus bereitzustellen. Dieser anfängliche, aber nachhaltige Prozess ist daher dialektisch, indem er sich hin und her bewegt zwischen den konstruktiven Anstrengungen des Aufbaus einer Gemeinschaft und einer diskursiven Verhandlung mit – und über – den modernen Staat und seine liberalen Werte, im Osten wie auch im Westen. Das Beharren auf die zweite Komponente dieser Dialektik ist, wie wir sehen werden, wesentlich für die Standfestigkeit, mit der die erste Komponente – der Daseinsgrund des gesamten Projekts – verfolgt wird. Solch ein sich beständig und langsam entwickelnder Ansatz hat die Aussicht, wenn nicht Gewissheit, auf anfänglichen Erfolg, indem es die Kräfte meidet (wenn nicht ihnen entgeht, dank seiner maßvollen und zurückhaltenden Programmatik), die wir in diesem Buch als antagonistisch und destruktiv gegenüber einer umfassenden islamischen Gouvernanz identifiziert haben.
Zweitens: Während des langen Prozesses der Bildung aufkeimender Institutionen – die eine erneute Darlegung der Scharia-Normen und eine nochmalige begriffliche Fassung der politischen Gemeinschaft verlangen – können und müssen Muslime und ihre intellektuellen und politischen Eliten mit ihren westlichen Gesprächspartnern eine Debatte über die Notwendigkeit der Erhebung des Moralischen zum Zentralgebiet aufnehmen, was wiederum von den Muslimen verlangen würde, ein Vokabular zu entwickeln, das diese Gesprächspartner verstehen können, ein Vokabular, das neben anderen Dingen dem Begriff der Rechte innerhalb des Kontextes der Notwendigkeit Rechnung trägt, Varianten der moralischen Ordnung zu konstruieren, die der jeweiligen Gesellschaft angemessen sind. Hier würden Muslime, die sich in diesem Prozess engagieren, davon überzeugt werden und die größte geistige Energie darauf verwenden, andere – einschließlich muslimischer Liberaler
Obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass ein paradigmatischer Wandel in der westlichen liberalen Ordnung, nahezu automatisch, die muslimische und arabische liberale Bewegung schwächen wird, vielleicht bis hin zum Zusammenbruch, denn der islamische und arabische Liberalismus ist eine Strömung, die an noch tieferen Widersprüchen und Inkohärenz leidet als selbst die euro-amerikanische liberale Ordnung. – davon zu überzeugen, dass der Universalismus und eine universalistische Theorie der Rechte kein anderes Schicksal haben kann als letztliches Scheitern.
Mit anderen Worten, selbst während dieses anfänglichen Prozesses der Bildung von moralisch gegründeten Gemeinschaften gibt es vieles, was Muslime tun können,
Wie beispielsweise im beachtlichen Werk von Taha Abdurrahman schon ersichtlich. um zur Reformierung moderner Moralitäten beizutragen. Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick kühn und weit hergeholt erscheinen, aber er ist es nicht, denn es gibt zumindest eine bedeutende moralische Strömung der westlichen Philosophie und des westlichen politischen Denkens, die eine weitgehende Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen islamischen Streben aufweist, da es geistige Energie zur postmodernen Kritik beisteuert, wie problematisch modern diese Kritik auch bleiben mag. Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten,Siehe die »bemerkenswerte Fußnote«, S. 110. wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.
Die ausschlaggebenden Fragen bleiben daher: Können diese Kräfte auf allen Seiten ihren Ethnozentrismus überwinden und sich zusammenschließen bei der Infragestellung des modernen Projekts und seines Staates? Können die Taylors genug geistigen Mut aufbringen, MacIntyres zu werden? Können sie alle, Westler und Nicht-Westler, den gefährlichen und bösartigen Mythos des Zusammenstoßes der Zivilisationen demontieren? Können sie ihre moralische Kraft und Stärke so steigern, um einen Sieg herbeizuführen, der das Moralische zum Zentralgebiet der Weltkulturen erhebt, ungeachtet ihrer »zivilisatorischen« Varianten? Denn genauso wie es keine islamische Gouvernanz ohne einen solchen Sieg geben kann, wird es von vornherein keinen Sieg geben, ohne dass die Modernität ein moralisches Erwachen erfährt. Das muss erst noch geschehen.
[John Gray schreibt:]
»Die politischen Formen, die in wahrhaft post-aufklärerischen Kulturen entstehen mögen, werden jene sein, die Diversität schützen und ausdrücken – die unterschiedliche Kulturen, von denen einige, aber keineswegs alle oder auch nur die meisten von liberalen Lebensformen, unterschiedlichen Weltanschauungen und Lebensweisen beherrscht sind, befähigen, in Frieden und Harmonie zu koexistieren. Damit dies eine wirkliche historische Möglichkeit wird, müssen gleichwohl gewisse Konzeptionen und Bindungen, die nicht nur für die Aufklärung und somit für die Modernität, sondern auch und noch grundlegender für die zentralen Traditionen der westlichen Zivilisation konstitutiv waren, berichtigt oder aufgegeben werden. Gewisse Konzeptionen nicht nur der Moralität, sondern auch der Wissenschaft, die zentrale Elemente in den Kulturen der Aufklärung sind, müssen fallengelassen werden. Gewisse Auffassungen der Religion, die in westlichen Traditionen lange Bestand haben, nicht als Gefäß einer besonderen Lebensweise, sondern als Träger von Wahrheiten, die universelle Autorität besitzen, müssen verworfen werden. Die grundlegendste westliche Bindung und Verpflichtung, die humanistische Konzeption der Menschheit als eines privilegierten Ortes der Wahrheit, das in der sokratischen Erkundung und in der christlichen Offenbarung Ausdruck findet und das in säkularen und naturalistischen Formen des Aufklärungsprojektes der menschlichen Selbstemanzipation durch das Wachstum des Wissens wieder auftaucht, muss aufgegeben werden […]
Durch die Gewinnung einer neuen Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt, zur Erde und den anderen lebenden Wesen, mit denen wir die Erde teilen, in der die menschliche Subjektivität nicht als das Maß aller Dinge gilt, kann eine Wende in unseren ererbten Traditionen des Denkens erlangt werden, welche die Möglichkeit eröffnet, dass zutiefst unterschiedliche Formen menschlicher Gemeinschaft auf Erden in Frieden zusammenwohnen.«
John Gray, Enlightenment's Wake: Politics and Culture at the Close of the Modern Age, Abingdon, 2007, S. 232 u. 229; Hervorhebungen von Wael Hallaq.
Auf Erden in Frieden Zusammenwohnen ist sicherlich ein hoher Anspruch, vielleicht eine weitere moderne Utopie, aber die Modernität einer restrukturierenden moralischen Kritik zu unterziehen, ist das wesentlichste Erfordernis nicht nur für den Aufstieg der islamischen Gouvernanz, sondern auch für unser materielles und spirituelles Überleben. Islamische Gouvernanz und Muslime haben nicht das Monopol auf Krise. (167-170; Hervorhebungen im Original)
2 Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq
2 Über Wissen, Macht und intellektuelle Sklaverei: Ein Interview mit Wael Hallaq Yusuf KuhnVorbemerkung
Dieses Interview mit Wael Hallaq erschien 2014 in der Zeitschrift Jadaliyya
Der folgende Text ist die Übersetzung eines Interviews mit Wael Hallaq
2.1 Wissen als Politik mit anderen Mitteln
2.1 Wissen als Politik mit anderen Mitteln Yusuf Kuhn2.1.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 1 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya
Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte ist Wael Hallaq zu einem der führenden Gelehrten des islamischen Rechts in der westlichen akademischen Welt aufgestiegen. Er hat maßgebliche Beiträge nicht nur zur Erforschung der Theorie und Praxis des islamischen Rechts geliefert, sondern auch zur Entwicklung einer Methodologie, mittels derer islamische Gelehrte befähigt wurden, den Herausforderungen, mit denen die islamische Rechtstradition konfrontiert war, zu begegnen. Hallaq ist daher in einzigartiger Weise positioniert, um umfassendere Fragen hinsichtlich der moralischen und geistigen Grundlagen konkurrierender moderner Projekte zu behandeln. Mit seinem letzten Buch The Impossible State
2.1.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 1
Hasan Azad: Eine der Debatten, die heutzutage grassieren, drehte sich um das Desinteresse, das muslimischen Intellektuellen im Westen zuteil wird. Es lässt sich sagen, dass, mit ziemlich unbedeutenden Ausnahmen, die moderne muslimische Präsenz in – oder der Beitrag zu – der intellektuellen Welt des Westens nahezu null ist. Auf den letzten Seiten deines Buches Impossible State hast du darauf aufmerksam gemacht, dass ein robustes intellektuelles Engagement zwischen muslimischen Denkern und ihren westlichen Pendants wesentlich ist, nicht nur für ein besseres westliches Verstehen des Islam, sondern auch für eine Erweiterung des Bereichs der intellektuellen Möglichkeiten innerhalb des euro-amerikanischen Denkens. Dein Argument verfolgt, glaube ich, das Ziel, den Gedanken zu vermitteln, dass die islamische Weltsicht und das islamische Erbe einen großen Beitrag zur Bereicherung unserer Reflexionen über das Projekt der Moderne zu leisten haben, im Westen nicht weniger als im Osten. Worin besteht dieser Beitrag? Und warum geschieht er nicht? Was sind die Hindernisse, die dem im Wege stehen?
Wael Hallaq: Von den möglichen Beiträgen des Islam zu einer Kritik und Restrukturierung des Projekts der Moderne zu sprechen, ist eine ziemliche große Herausforderung, die erst nach einer Diagnose der gegenwärtigen modernen Verfassung und ihrer Ursachen kommen sollte. Die Hindernisse, die du angesprochen hast, sind zahlreich und vielschichtig, und sie entspringen auf beiden Seiten der Scheidelinie. Wenn es Versagen gibt – und es gibt in der Tat eine Menge -, dann kann es nicht auf einer Seite allein verortet werden. Das erste und offensichtlichste ist natürlich das Hindernis der Sprache, das einzige Mittel, um Gedanken zu kommunizieren. Der Westen – damit meine ich hier Europa, seine Aufklärung, seine spezifisch modernen Institutionen und Kultur sowie die Ausbreitung von alledem hauptsächlich nach Nordamerika – hat es für ausreichend gehalten, seine zwei oder drei großen Sprachen als so universal zu erachten, um sich nicht darum bemühen zu müssen, andere Sprachen gut zu lernen, wenn überhaupt. Sogar der Orientalismus als akademische Disziplin war darin nicht erfolgreich, eine anhaltende Beherrschung islamischer Sprachen
Aber dem Orientalismus ist hier eine weitere Bedeutung zu geben. Das Feld des Orientalismus ist auf vielerlei Weisen von einer äußeren, ungeheuer ausgedehnten Schicht umgeben, nämlich von unzähligen einflussreichen Stimmen, die sich nie darum geschert haben, in irgendeiner Weise die harte geistige und philologische Arbeit über den Islam zu verrichten. Doch sie fühlen sich gleichwohl im vollen Besitz der Berechtigung und selbstsicheren Befähigung, sich über den »Orient« auszulassen, sowohl in den Klassenzimmern der akademischen Welt wie auch als sogenannte »Experten« in den Massenmedien. Dieser »periphere« Orientalismus entgeht meist unseren gebräuchlichen Definitionen dieser Disziplin, auch wenn er den Großteil des verbreiteten und populären westlichen Wissens über den Rest der Welt, insbesondere den Islam, bildet. Dies ist jedenfalls grob angedeutet das sprachliche Hindernis.
Hasan Azad: Würdest du sagen, dass dies ein technisches Hindernis ist, eines der Logistik und der Überwindung von sprachlich-pädagogischen Problemen bei der Übermittlung von Gedanken?
Wael Hallaq: Es kann freilich als ein technisches Problem beginnen, aber in Wirklichkeit ist es viel mehr als das. Den Zugang zu einer anderen Kultur durch die Sprache zu suchen, ist eine Wahl, welche die westlichen Mächte und ihre intellektuellen Eliten zu einem bestimmten Zeitpunkt im Dienst ihrer kolonialen Vorhaben wirkungsvoll ausgeführt haben. Hier bildete der Zugang zu den islamischen Sprachen keine große Schwierigkeit, noch viel weniger eine technische. Der Kolonialismus erforderte die Erzeugung des klassischen Orientalismus, denn ohne den ersteren wäre der letztere nicht in der Weise und Gestalt entstanden, die er schließlich angenommen hat und in der er sich weiterhin entwickelt. Desgleichen ist das Versagen, den Zugang zu einer Sprache zu finden, im Grunde eine substanzielle Angelegenheit, nicht bloß eine technische im engeren Sinne. Meine Entscheidung beispielsweise, auf Englisch und nicht Indisch oder Chinesisch zu schreiben, - wenn dies überhaupt meine Entscheidung ist – ist eine komplexe substanzielle Angelegenheit, die unmittelbar mit dem Verhältnis zwischen Macht und Wissen, zwischen meinem Hintergrund als einem kolonisierten Subjekt und den Machern dieser kolonialen Geschichte verknüpft ist. Und es gibt nichts Aufschlussreicheres über die substanzielle Komplexität dieser Frage der Sprache als den westlichen Universitätsprofessor, der den »Islam« reproduziert, ohne das Bedürfnis und Erfordernis zu empfinden, »ihn« durch eine eingehende textuelle, soziologische oder – unter anderem – anthropologische Untersuchung dieses Phänomens zu verstehen. Und alle diese akademischen Unterfangen bedürfen, um wirklich engagiert zu sein, einer ordentlichen Beherrschung der einen oder anderen islamischen Sprache, ja sie verlangen sogar, sie zu sprechen und zu leben. Die Wahl dieses Professors, sich um keines dieser Erfordernisse zu scheren – die in nahezu jedem anderen Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt zu werden scheinen -, ist eine Sache, die mit der Konstitution und Struktur der Macht zu tun hat, nicht mit bloßer persönlicher Inkompetenz, eine Sprache zu beherrschen.
Hasan Azad: Was wäre ein anderes zentrales Hindernis?
Wael Hallaq: Ein weiteres sehr wichtiges Hindernis besteht darin, dass, abgesehen von seltenen Ausnahmen, muslimische Denker mit Prämissen beginnen, die sich grundsätzlich von denjenigen unterscheiden, von denen westliche Autoren ausgehen, wie sehr sie auch immer bewusst oder unbewusst westliches Denken und philosophisches Schreiben nachahmen. Sogar die »Utilitaristen« oder »Quasi-Utilitaristen« des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – wie etwa Muhammad Abduh und insbesondere Raschid Rida – dachten in einem Bezugsrahmen, der zwei Dinge zum Ausgangspunkt hatte: (a) einen religiösen Kontext, von dem aus sie sprechen können und der die Grenzen, wenn nicht gar Konturen ihrer Narrative definiert; und (b) einen historischen Kontext oder, genauer gesagt, einen substanziellen Rahmen der Geschichte, der weiterhin eine Quelle der Autorität zur Legitimation von modernen Lebensformen ist. Und wenn ich hier sage »Geschichte« oder »historisch«, meine ich ein ziemlich ausgeprägtes historisches Engagement, das sich auf viele vergangene Jahrhunderte als Quelle von Wissen und Leitung bezieht, indem es danach trachtet, aus dieser Geschichte oder durch sie eine Interpretation wiederzugewinnen, die dem Leben in der modernen Welt entspricht (dies zog freilich beträchtliche Probleme nach sich, auf die ich hoffentlich später eingehen kann). Oder man könnte es auch anders darstellen und sagen, dass wenig auf dem Weg des Engagements mit dem Modernen erreicht werden konnte, ohne diese Geschichte und jene religiösen Texte eine Wirkung auf eine besondere – sehr besondere – Interpretation entfalten zu lassen, nämlich diejenige, die spezifisch modern ist. Und diese zwei miteinander verbundenen Verpflichtungen – die religiöse im besonderen – standen und stehen weiterhin in Konflikt mit einem heiligen Prinzip des modernen westlichen intellektuellen Milieus – und ich gebrauche »heilig« mit Bedacht. Um in diesem intellektuellen Milieu, das heutzutage das unsrige ist, ernst genommen zu werden, kannst du eine traditionelle Metaphysik nicht als grundlegende Prämisse annehmen, wie intellektuell raffiniert sie auch immer sein mag und unangesehen des Ausmaßes, in dem sie liberale Doktrinen und Praktiken aufnimmt (widrigenfalls wirst du dich nur in noch größere Probleme verstricken). Und selbst wenn du all dies versuchst, was manche sicherlich getan haben, wird dein Argument kein Gehör finden, außer es wird mit aller Deutlichkeit den diskursiven Bedingungen eines »säkular-rationalistischen« Narratives unterworfen. Die Verteidiger des Naturrechts im heutigen Westen sind ein ausgezeichnetes Beispiel, aber diese besondere Gruppe ist mit relativ weniger und minder substanziellen Hindernissen konfrontiert als ihre muslimischen Pendants.
Zweitens, der Geschichtsbegriff der Aufklärung – mit dem wir auch heute noch leben – verleugnet, obgleich er selbst noch zutiefst historisch ist, paradoxerweise gewisse Aspekte der Geschichte. Es gibt beispielsweise einen Widerspruch innerhalb der westlichen Theorie des Fortschritts selbst – nämlich eine bestimmte Art der Geschichte in Anspruch zu nehmen, während sie sich selbst zugleich gegen das, was wir heute traditionelle Geschichte nennen – die von der Aufklärung und ihrer Theorie des Fortschritts allererst hervorgebracht wurde -, in Stellung bringt, wenn sie diese nicht sogar unterminiert. Geschichte war also immer eine problematische Angelegenheit in einer Modernität, die auf die paradigmatische Übernahme einer Theorie des Fortschritts dringt. Die muslimische intellektuelle Elite andererseits hat erst in jüngerer Zeit begonnen, sich mit den tieferen Bedeutungen dieser Weltsicht auseinanderzusetzen, was – in der besonderen Weise, in der dies getan wurde – meines Erachtens kein begrüßenswerter Schritt ist. Das Konzept des Fortschritts selbst ist zutiefst problematisch, und muslimische Intellektuelle und Historiker gleichermaßen sind bislang nicht dazu in der Lage gewesen, seine inneren ideologischen Strukturen zu analysieren. Und wir sehen die Auswirkungen dieses Versagens in mindestens einem wichtigen Bereich. Im Laufe der vergangenen zwei oder drei Jahrzehnte ist in der muslimischen Welt ein neuer Trend entstanden, der dazu neigt, die islamische Geschichte als »dunkel und gewalttätig« zu verurteilen, womit das europäische Narrativ der Verurteilung der Gewalttätigkeiten der katholischen Kirche und des monarchischen Absolutismus nahezu detailgetreu reproduziert wird. Der Trend – um sein eigenes intellektuelles Erbe und Geschichte fast völlig unwissend – begann zwar schon früh im zwanzigsten Jahrhundert schwache Zeichen zu zeigen, aber richtig in Schwung kam er erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Wie mit vielen liberalen Werten und Doktrinen, mit denen die Theorie des Fortschritts eine organische Verbindung bildet, dauerte es einige Zeit, sie in das zu internalisieren, was zu einem »nativen Diskurs« geworden ist. Obwohl die geschichtlichen Welten des mannigfaltigen und vielgestaltigen Islams und Europas nicht hätten unterschiedlicher sein können, beginnt die »islamische Geschichte« allmählich wie das europäische dunkle Mittelalter auszusehen. Als Geschichten der Unterdrückung und von politischer und »rechtlicher« Gewalttätigkeit treten sie wenig überraschend als nahezu identisch in Erscheinung. Vielleicht kann ich später etwas erläutern, wie sich dies mit Blick auf das Thema, das uns hier besonders interessiert, auswirkt.
Nichtsdestotrotz bleibt das Beharren auf historischen und religiösen Narrativen, die eine legitimierte und legitimierende Tradition bilden, das grundlegende Merkmal, das weiterhin die westlich-aufgeklärten Denker von ihren muslimischen Pendants trennt und sie in Gegensatz zu ihnen bringt – ganz zu schweigen von den notorischen epistemischen, politischen und ideologischen Schwierigkeiten, die dieses Merkmal hervorgebracht hat. Die ersteren erklären eine – vermeintlich – abstrakte »Vernunft« zum Werkzeug der menschlichen Leitung schlechthin, während die letzteren, selbst die liberalsten unter ihnen, dieses historisch-religiöse Narrativ bei nahezu jeder Gelegenheit in Anspruch nehmen, selbst wenn sie es verurteilen. Man betrachte nur Figuren wie Muhammad Arkoun, M. Abed al-Jabiri, Ali Harb, Hasan Hanafi, Muhammad Shahrur, selbst den Christen George Tarabishi, und zahlreiche andere aus den iranischen, malaysischen und subkontinental indischen Welten (sie und ihresgleichen, die den Großteil der Kategorie bilden, die ich als muslimische Intellektuelle bezeichne). Schlussendlich sind sie nicht dazu in der Lage, ohne den Koran auszukommen, gelinde gesagt. Und das heißt auch, dass diese Autoren niemals Anklang finden können bei einer säkularen, radikal nicht-skripturalistischen Tradition wie derjenigen des Hauptstroms des aufgeklärt-westlichen Denkens.
Hasan Azad: Es scheint mir, nach einigen deiner Vorträge zu urteilen, dass das, was du über die skripturalen Grundlagen gesagt hast, lediglich die Spitze des Eisbergs ist. Könntest du zu diesem Thema etwas mehr ausführen?
Wael Hallaq: Selbstverständlich. Ich sollte auch anmerken, dass die Art des Diskurses, in dem moderne muslimische Denker sich ausgedrückt haben und weiterhin ausdrücken, wahrscheinlich nicht dazu angetan ist, die Aufmerksamkeit – und somit das Engagement – der westlichen akademischen Welt oder auch des westlichen Denkens im Allgemeinen zu erwecken. Lass mich erklären warum. Grob (sehr grob) gesprochen, gibt es zwei Lager oder Strömungen innerhalb des modernen islamischen und islamistischen Denkens (für meine spezifischen Zwecke hier sind »islamisch« und »islamistisch« voneinander nicht sehr unterscheidbar). Das eine ist eine große Mehrheit, die schon allzu lange ein – sowohl intern wie extern – auf verlorenem Posten stehendes Unterfangen verficht, nämlich das Unterfangen der Rationalisierung des Islams (in nahezu allen seiner Aspekte) in Begriffen der liberalen Philosophie und Kategorien des liberalen Denkens. Ein tiefes Verständnis dieses Projekts würde gewichtige Gründe für sein unausweichliches Scheitern aufzeigen, aber dies ist heute nicht mein Thema. Stattdessen möchte ich herausstellen, dass der Liberalismus als ein System des Denkens und der Praxis von den führenden Intellektuellen der muslimischen Welt noch nicht durchdacht und verarbeitet worden ist – abgesehen von bemerkenswerten, aber seltenen Ausnahmen.
Dieses Scheitern des Verstehens ist in Wirklichkeit ein doppeltes: muslimische Intellektuelle müssen erst noch die scharfe – und zuweilen radikale – Kritik des Liberalismus, die sich innerhalb der euro-amerikanischen Tradition selbst entwickelt hat, - ob liberal oder nicht – verstehen und schätzen lernen. (Und hier wie andernorts schließt »euro-amerikanisch« auch Australien neben anderen Orten mit ein, da diese ebenfalls einige wichtige Beiträge in dieser Hinsicht geleistet haben.)
Die andere Strömung oder das andere Lager im modernen islamischen Denken ist stark beschränkt und bildet sich langsam, aber hoffentlich stetig und sicher heraus. Das ist die islamische kritische Schule, an deren Spitze der marokkanische Sprach-, Logik- und Moralphilosoph Taha Abdurrahman steht, der den Denkweisen der Aufklärung nicht verfallen ist. Sein kritisch-konstruktiver Ansatz signalisiert einen vielversprechenden innovativen Anfang, von dem aus ein neuer Pfad des Denkens und der Re-Artikulation seinen Ausgang nehmen kann.
Nun möchte ich folgenden Punkt herausstreichen: keines der beiden Lager kann wahrscheinlich in kürzerer Zeit die Aufmerksamkeit von westlichen Denkern auf sich ziehen, teilweise weil die »muslimischen Liberalen« (die die überwältigende Mehrheit bilden) von ihren westlichen Pendants als zweitklassige, wenn nicht drittklassige Intellektuelle und als eine Art von Nachahmern erachtet werden. In Denken und Praxis dieser muslimischen Liberalen gibt es nichts, was für die heftige Debatte über den Liberalismus von Wert wäre, die im Westen grassiert (wie auch immer problematisch und selbstzentriert sie sein mag). Wenn überhaupt, so stellt ihre kollektive Position im Endeffekt eine Unterstützung von liberalen Ansprüchen und Werten dar, eine Tatsache, die sich unvermeidlich dahingehend auswirkt, erstens diese Ansprüche zu stärken und sie gegenüber Kritik widerstandsfähig zu machen und zweitens liberale Staaten mit der Rechtfertigung zu versehen, sich an islamischen Ländern weiterhin unerbittlich zu vergehen. Darüber hinaus wird das Schicksal dieser Nachahmer unausweichlich der Verachtung gleichen, mit der die vormodernen muslimischen mudschtahidūn
Und das Schicksal des zweiten Lagers wird nicht besser sein, zumindest auf kurze oder vorhersehbare Frist. Ich setze allerdings stark auf die Anziehungskraft dieses Lagers auf lange Frist, weil ich es als einen Ausdruck, neben anderen, eines vielversprechenden Wandels sehe. Mir scheint der Gegensatz zwischen dem allgemeinen Pfad der westlichen Intelligenzija und solchen Ansätzen wie dem von Abdurrahman allzu groß zu sein (auch wenn man im Falle dieses Philosophen eine gewisse Bedeutung darin erkennen muss, dass er zu seinem Denksystem gelangt ist, nachdem er einen Großteil der europäischen Tradition der Philosophie durchdacht und verarbeitet hatte). Selbst wenn also das dominante westliche Denken den Werken des marokkanischen Philosophen und seinesgleichen Beachtung schenken würde oder für sie empfänglich wäre, bin ich nicht sicher, ob es damit etwas anzufangen wüsste. Sprachbarrieren oder nicht, die Herausforderungen, die dieses Lager stellt, sind auf jeden Fall enorm. Vielleicht werden sie auf das Regal der »orientalischen« Kuriositäten verwiesen, wie es mit so vielen islamischen Phänomenen getan wurde. Abdurrahmans tiefe moralische Herausforderung ist für den gegenwärtigen westlichen Mainstream schlicht unverdaulich.
Hasan Azad: Das klingt wie eine Sackgasse. Wie kommen wir da heraus?
Wael Hallaq: Bislang ist es eine Sackgasse gewesen, aber nur in dem Sinne, dass die beiden Lager sich noch nicht begegnet sind. Das Engagement muss erst noch stattfinden, und dann können wir sehen, ob es auf eine echte Sackgasse hinausläuft. Doch bisher findet nicht einmal ein Beginn eines Austausches statt. Ich sehe nicht einen Michael Sandel, einen Alasdair MacIntyre, einen Charles Taylor oder irgend jemanden ihres Kalibers oder mit ähnlichen Positionen in einem Dialog mit, sagen wir, Taha Abdurrahman oder sonst irgend jemandem auf diesem Gebiet. Höchstwahrscheinlich haben diese Philosophen niemals von ihm gehört. Und offen gesagt, habe ich meine Zweifel daran, dass Leute wie Taylor aus ihren unmittelbaren intellektuellen Welten und Interessen heraustreten, um solch ein Unterfangen voranzubringen. Und wenn solch eine Gruppe von Philosophen sich wohl eher nicht in einem Dialog engagieren wird, dann gibt es kaum Hoffnung, dass sich andere anschließen. In meinem Buch The Impossible State
Aber dies ist an sich sicherlich nicht ausreichend. Wie ich zuvor schon sagte, muss es eine qualitativ verschiedene und kritische Denkmasse geben, die genug Gewicht hinter sich herzieht, damit westliche Intellektuelle allererst Gehör schenken. Die Herausforderung ist riesig. Wir Wissenschaftler und Intellektuellen tun alles, was wir können, um das Bild des Wissens als ein erhabenes Streben zu adeln, doch dies ist einer der größten modernen Mythen in unserem Leben. Ich verstehe und akzeptiere die Wahrheitstreue dieses Bildes in einem Kontext, in dem Wissen für moralische Zwecke und Absichten erstrebt worden ist, das heißt im Rahmen einer praktischen Ethik, in einer Weise, wie beispielsweise ghazalische oder aquinische Ethiken in ihrer jeweils eigenen Umgebung aufgebaut und verfasst worden sind. Doch die Transformationen in der modernen Welt und die beispiellose Komplizenschaft zwischen Wissen und Macht (von der sich letztlich herausstellt, dass sie die Macht des schmittschen Politischen ist) machen daraus den Mythos, den ich sehe. Wenn Politik Krieg mit anderen Mitteln ist – und das ist sie zweifellos -, dann ist Wissen – einschließlich der akademischen Wissenschaft – Politik-cum-Krieg mit anderen Mitteln. Die äußere Erscheinung der Form des Wissens als dem Geschäft von schwachhändigen Professoren und bärtigen bejahrten Gelehrten mit eifrigen Studenten, die auf einer »Suche nach Wissen« sind, sollte diese nüchterne Realität niemals maskieren oder verstellen. Dies ist in der Tat eine der größten modernen Täuschungen. Muslimische Intellektuelle und unzählige viele andere müssen die Macht dieser physisch niederschmetternden Metapher erst einmal erfassen und gedanklich verarbeiten.
2.2 Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei
2.2 Muslime und der Pfad der intellektuellen Sklaverei Yusuf Kuhn2.2.1 Vorbemerkung von Hasan Azad zu Teil 2 des Interviews mit Wael Hallaq in Jadaliyya
Dies ist die Fortsetzung des zweiteiligen Interviews mit Wael Hallaq. In diesem zweiten Teil führt Hallaq Erläuterungen über den Konflikt aus, den er in dem Verhältnis zwischen Gelehrten in der muslimischen Welt und der Tradition der westlichen Wissensproduktion erkennt. Er sieht dabei insbesondere eine unkritische Übernahme von westlichen intellektuellen Kategorien und Weisen der Wissensübermittlung entlang dessen, was er als »den Pfad der intellektuellen Sklaverei« bezeichnet. Ein solches Vorgehen hat, Hallaq zufolge, weitreichende Implikationen, von der Konstruktion besonders nachteiliger historischer Narrative – wie etwa das »bayt al-hikma
2.2.2 Interview mit Wael Hallaq - Teil 2
Hasan Azad: Du hast das Unvermögen von Intellektuellen in der muslimischen Welt angesprochen, das sich wandelnde Verhältnis zwischen Wissen und Macht in der Moderne zu erfassen und gedanklich zu verarbeiten. Tragen auch die westlichen Intellektuellen einen Teil der Verantwortung dafür?
Wael Hallaq: Selbstverständlich. Die führenden westlichen Intellektuellen haben bislang wenig getan, wenn überhaupt etwas (auch wenn, wie wir alle wissen, eine Reihe von Gelehrten ihr Teil dazu beigetragen haben, den Islam und seine Traditionen als einen fruchtbaren Ort für intellektuelles Engagement zu präsentieren). Doch für diese führenden Intellektuellen zählt das Nicht-Euro-Amerikanische weiterhin, ganz im Geiste des neunzehnten Jahrhunderts, nicht viel. Für Euro-Amerika (um ganz allgemein und paradigmatisch zu sprechen) dreht sich die Welt wie vordem um Euro-Amerika, während der Rest nicht mehr als ein paar Fußnoten oder Marginalien ist. Es wäre naiv und dumm von uns, zu vergessen, dass in der westlichen liberalen Welt seit dem siebzehnten Jahrhundert nahezu ununterbrochen die selben Denkmuster Bestand haben. Es bleibt eine erstaunliche Tatsache, dass die Europäer und Amerikaner zahllose Aspekte von Freiheit und Befreiung analysiert und ihre Monarchen erbittert bekämpft haben; und, während sie all dies taten, haben sie (und vielleicht der heuchlerische John Locke und die »neo-römischen Juristen« an ihrer Spitze) nicht eine einzige Geste oder Achtung für eben die Menschen übrig gehabt, mit deren Unterdrückung in den Kolonien und zu Hause sie beschäftigt waren. Locke fuhr ungeniert damit fort, sein persönliches Vermögen in das Geschäft des Sklavenhandels zu investieren und leidenschaftlich von Freiheit und Befreiung zu sprechen, gleichzeitig! Und waren nicht viele der amerikanischen Gründer genauso? Keiner der Denker der Aufklärung, von einer oder zwei einsamen Stimmen abgesehen, verstanden die Menschenrechte und politischen Freiheiten in einem Sinne, der sich auch auf die Menschen erstreckte, die sie unterdrückten, als wenn sie überhaupt nicht Menschen wären. Und wir sehen, wie sich diese Muster in dem Augenblick wiederholen, während ich spreche, wie unterschiedlich ihre Form heutzutage auch immer erscheinen mag.
Das ist lediglich der Hintergrund. Ein Ausläufer dieses Hintergrunds ist die erstaunliche Unachtsamkeit – vielleicht Unfähigkeit – seitens der westlichen Intellektuellen, den »Feind im Spiegel« zu sehen, wie Roxanne Euben es so brillant ausgedrückt hat.
Zu diesem Thema gäbe es viel zu sagen. Um es so kurz wie möglich zu halten und paradigmatisch gesprochen: Die westliche intellektuelle Tradition hat sich auf keinerlei ernsthaftes oder halb-ernsthaftes Engagement mit anderen Traditionen – insbesondere der islamischen – eingelassen. Ihre dreihundertjährige Geschichte bestand vielmehr darin, ein solches Engagement abzuweisen und zugleich ein beiläufiges Verdammungsurteil zu erlassen, wann immer ihr eine Begegnung – wie kurz und unbedrohlich auch immer – aufgezwungen wurde. Zu sagen, dass die Reaktion auf den Islam gänzlich irrational ist, ist freilich keine erschöpfende Analyse, aber es ist sicherlich treffend. Dies ist äußerst ironisch angesichts der Tatsache, dass die westliche Kultur sich selbst definiert hat als die Heimstatt der Vernunft und rationalen Untersuchung par excellence!
Hasan Azad: Manche könnten vorbringen, dass der Mangel an Originalität im modernen muslimischen Denken – wie du selbst uns gesagt hast – die Weigerung der westlichen Intellektuellen, sich auf ein Engagement mit der muslimischen Welt einzulassen, rechtfertigten könnte. Was würdest du dazu sagen?
Wael Hallaq: Ich würde die kürzeste Antwort geben. Die »muslimische Welt« ist weitaus größer als ihre modernen muslimischen Intellektuellen. Sie ist viel reicher und erheblich komplexer als der Teil von ihr, den wir »modernen Islam« nennen. Ich würde sagen, dass mein Buch The Impossible State ein heuristisches Beispiel dessen ist, was ich meine.
Hasan Azad: So haben also beide Seiten offenkundig viel zu tun, wenn sie in einen echten Dialog eintreten wollen, aber sind sie beide gleichermaßen verantwortlich?
Wael Hallaq: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Angelegenheit einer quantitativen Analyse oder Messung unterzogen werden kann. Aber ich würde sagen, dass die westliche Seite eine riesige moralische Pflicht zu erfüllen hat, vor der sie sich auf elendige Weise gedrückt hat (und die analytischen Gründe dafür würden viele Seiten füllen). Andererseits hat die muslimische intellektuelle Seite ebenso elendig versagt, ihre eigene Stimme und Identität in der Welt zu finden, und unsere Welt ist heutzutage kleiner als je zuvor. Die heutigen muslimischen Denker (und Nicht-Denker), die die islamische Geschichte und Tradition mit dem Vorwurf des Mangels an Vernunft und rationaler Kreativität einem heftigen Angriff unterziehen, sind sich kaum bewusst, wie viel taqlīdische Mimikry sie sich selbst erlaubt haben. Ich finde es ironisch, dass sie die »mittelalterliche Vernunft« oder vielmehr »deren Mangel« kritisieren sollten, wenn sie selbst nichts besseres zu tun wissen, als, unter unzähligen anderen, Foucault, Derrida oder das, was im Westen zu irgendeinem Zeitpunkt gerade in Mode ist, zu imitieren. Aber das Schlimmste von allem ist, wenn sie den Liberalismus ohne das geringste Anzeichen von kritischem und gründlich prüfendem Denken ihrerseits nachahmen. Sie haben sich (abgesehen von einzelnen Ausnahmen) nicht gefragt, ob das Denksystem, das sie blind nachahmen, kritischer Prüfung standhält. Sie haben nicht gefragt, ob das System, das sie imitieren, auch in andersartigen Umgebungen, insbesondere ihren Umgebungen, funktionieren oder förderlich sein würde. Sie haben harte Fragen über die Folgen und Wirkungen des Systems auf unser Leben im Osten wie im Westen einfach nicht gestellt. Sie haben sich selbst in eben die Position versetzt, in die sie zu Unrecht muslimische Intellektuelle verflossener Jahrhunderte versetzen. Das ist eine extreme Ironie.
Ich kann mit manchen Ironien leben, aber nicht mit allen. Es gibt heutzutage so viele um uns herum, dass man gar keine andere Wahl hat, als die unschädlichsten zu ignorieren. Manche Ironien können allerdings trotzdem gefährlich werden. Die muslimischen Intellektuellen der fernen Vergangenheit konnten Implikationen sehr viel klarer und schärfer sehen als die Vielzahl von Kritikern und Intellektuellen, die heute in der muslimischen Welt schreiben und allerdings auch im Westen. Beispielsweise – und dies birgt tiefgründige Implikationen – waren die islamischen sogenannten »rechtlichen« und intellektuellen Traditionen wiederholt und über viele Jahrhunderte hinweg mit einer der größten und schwierigsten Fragen konfrontiert, mit denen menschliche Gesellschaften über Jahrtausende sich zu befassen hatten, nämlich dem Maß der moralischen Verantwortung, welches das natürliche Individuum tragen kann und sollte. In jedem Fall blieben die muslimischen Rechtsgelehrten und ihre (»nicht-rechtlichen«) Intellektuellen-Kollegen einer Anschauung verpflichtet, die die Ablösung der moralischen Verantwortung vom Individuum verwehrt. Wenn das Individuum der Träger der letztlichen Verantwortung für die Lebensführung ist, so muss er oder sie die Last der Konsequenzen tragen. Die Auflösung dieser Verbindung in der westlichen Welt hat zu sehr ernsten und nun grausamen Konsequenzen geführt: um nur ein Beispiel zu nennen, die multinationale Korporation oder Aktiengesellschaft, die unser Leben beherrscht. Nicht dass das englische Parlament von ehedem die unethischen Praktiken der Gesellschaften mit beschränkter Haftung nicht völlig verstanden hätte, ganz im Gegenteil, sie verstanden sie sehr wohl. Denn kurz nach der Legalisierung dieser Rechtspersönlichkeit zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit revidierten sie in der Tat ihre Gesetzgebung und untersagten sie, wobei ihre Ablehnung mit ihrem unmoralischen oder unsittlichen Charakter und Konsequenzen begründet wurde. Doch dann – und das ist schreiend vielsagend – wurde sie wieder in den Bereich der Legalität zurückgebracht, in London, aber vor allem in Delaware, um am Ende die Welt zu beherrschen und zu verwüsten. Die Scharia-Rechtsgelehrten beharrten immer auf moralische (lies heutzutage: rechtliche) Verantwortlichkeit, obgleich ihre technischen und substanziellen Überlegungen einem Korporations- oder Aktiengesellschaftsrecht mühelos hätten Platz bieten können (das entlang der gedanklichen Linien hätte entwickelt werden können, aus denen beispielsweise das waqf-System
Dieser Weitblick fehlt heute, sowohl im westlichen Rechtsmilieu wie auch in der islamischen intellektuellen Welt. Ich würde sogar nicht zögern, zu sagen, dass die Moderne insgesamt durch ganz besondere Kurzsichtigkeit ausgezeichnet ist. So werden wir vielleicht dem ansonsten gelehrten Ali Harb verzeihen, wenn er Pierre Bourdieu kritisiert, indem er ihm eine »reaktionäre Vision« vorwirft. Harb verpasst nicht nur eine Gelegenheit, zu verstehen, warum Bourdieu bestimmte moderne Praktiken und Institutionen scharf kritisiert, sondern auch, um Bourdieus kritischen Blick durch das zu vertiefen, was ich »die Wissenschaft der Verzweigungen« nennen möchte. Wie Sayyid Qutb etwa sechzig Jahre zuvor will Harb nicht verstehen, dass man den Wert nicht von seiner Quelle trennen kann und dass die Annahme des einen die Annahme des anderen mit sich bringt. Der Wert, so kann gesagt werden, wohnt seiner eigenen Genealogie inne, wenn er sie nicht sogar völlig erfüllt (vorausgesetzt freilich, dass man eine ordentliche genealogische Grabung durchführt).
Beispielsweise die Technologie anzunehmen und zu glorifizieren und zugleich das Wertesystem, das sie produziert, zu verurteilen, ist nichts als krasser Unsinn. Das ist genau, was Qutb getan hat. Und noch problematischer ist, dass darin das Versagen liegt, die fernen und weitreichenden Implikationen solcher Werte zu verstehen, die das Denken von Harb und Autoren wie ihm (zahllose sicherlich) beeinträchtigen – und inkohärent machen. Nirgendwo findet sich ein angemessenes Verständnis der Implikationen der Grundwerte, zu deren Übernahme vom Westen die muslimischen Denker aufrufen. Meines Wissens hat niemand die tiefen Verzweigungen und Auswirkungen des Begriffs der Freiheit (insbesondere in ihrer negativen Form) einer gründlichen Untersuchung und Prüfung unterzogen für (a) die Unmöglichkeit einer nachhaltigen Lebensweise; (b) seine Unentbehrlichkeit für die Entwicklung des unkontrollierbaren und destruktiven Kapitalismus; (c) seine Rolle bei der Desintegration der Gemeinde- und Familienstrukturen; (d) die Schaffung eines dahintreibenden, moralisch verunsicherten Individuums; und vieles mehr. Zugegebenermaßen sind diese Themen gewiss auch nicht im Gesichtsfeld des dominanten westlichen Denkens, das ihnen bestenfalls hie und da eine schlaglichtartige Behandlung gönnt. Aber die muslimischen Intellektuellen müssen dafür gleichermaßen verantwortlich gemacht werden, sich mit diesen Fragen ernsthaft und engagiert auseinanderzusetzen, ja eigentlich sich an die Spitze zu setzen, indem sie ihren westlichen Pendants die strukturellen Wirrungen und zerstörerischen Verzweigungen der zentralen liberalen Begriffe und Praktiken aufzeigen. Dass nichts davon zu sehen ist, ist ein Beleg für intellektuellen Bankrott, ein Bankrott, der in der arabischen und muslimischen Welt bislang nicht wirklich erfasst und bekämpft worden ist und der das westliche Mainstream-Denken weiterhin affiziert. Unhinterfragtes und vorherrschendes liberales Denken und – noch wichtiger – Praxis sind der jahrhundertealte Sklaventreiber gewesen, unter dessen Kommando Scharen von muslimischen Denkern weiterhin marschieren.
Es gibt noch zwei Punkte, die in diesem Kontext hervorgehoben zu werden verdienen. Erstens: Sich dem Studium der Wissenschaft der Verzweigungen zu widmen, hat offenkundig intrinsischen Wert. Und angesichts der brandgefährlichen Krise der modernen Welt ist es – davon bin ich überzeugt – eine moralische Pflicht geworden, die allen Intellektuellen obliegt. Die Wissenschaft der Verzweigungen untersucht, kritisiert und enthüllt die verborgenen Strukturen zwischen den geringsten Phänomenen und dem kosmischen Akt, das, was die Beziehung zwischen einer ephemeren menschlichen Tat und der Konstanz einer kosmologischen Struktur knüpft und einsichtig macht, die niemals unter unsere Kontrolle kommen wird, die sich stets dem entziehen wird, was Scheler den angeborenen Trieb und Drang des Westens (und nunmehr der gesamten Moderne), zu beherrschen und zu kontrollieren, nannte.
Zweitens: Die muslimischen Intellektuellen würden – angesichts der erforderlichen Behauptung ihrer intellektuellen Präsenz und in Folge der Dringlichkeit der ersten Überlegung – weiterhin hinter den Kulissen des Theaters stehen – und warten -, wenn sie fortfahren, die intellektuellen Melodien Euro-Amerikas nachzusingen, und das allzu oft auch noch auf klägliche Weise. Um Aufmerksamkeit zu gewinnen und, noch wichtiger, sich selbst und hoffentlich andere in eine verheißungsvollere intellektuelle Zukunft zu geleiten, müssen sie die Erfordernisse der ersten Überlegung mit einem massiven intellektuellen Angriff verbinden, der die tiefsten Grundlagen der Aufklärung auslotet und erkundet, wie diese Grundlagen zu der kritischen – wenn nicht massiv zerstörerischen – Fragilität des modernen Lebens geführt haben. Wirklich erstaunlich bei alldem ist, dass, von seltenen Ausnahmen abgesehen (hier wieder Taha Abdurrahman), der heuristische Wert der muslimischen Tradition fast völlig außer Acht gelassen wird. Der taqlīd [Befolgung, Nachahmung] der muslimischen Modernen hat nahezu grenzenlos neue Bedeutungen angenommen.
Hasan Azad: Und wie steht es mit den westlichen Intellektuellen?
Wael Hallaq: Na ja, ich denke nicht, dass sie auch nur annähernd genug getan haben. Als Teilnehmer in einer kolonisierenden Tradition und Erben der Kolonisatoren tragen sie eine ethische Verantwortung für die Rehabilitation der Kolonien, die sie zerstört haben. Die moralische Bürde muss erst noch erkannt werden, aber dieses Versagen der Erkenntnis wird die Bürde auch nicht um ein winziges Bruchteil verringern. Als eine epistemische Kollektivität und als ein integraler Bestandteil des Wissen-Macht-Systems, das so weite Teile der Welt zerstört hat, müssen sie solch eine ethische Last tragen. Sie tragen die spezifische moralische Verantwortung, sorgsam zuzuhören und sich behutsam und bedacht zu engagieren. Ein bisschen Demut kann schon viel bewirken, vorausgesetzt, dass sie keine Mühe scheuen. Vielleicht erwarte ich zu viel.
Hasan Azad: Ich bin sicher, dass viele dieser Intellektuellen ihre Unschuld an jeglichem kolonialen Projekt beteuern würden und dir sagen werden, dass sie kritisch zu den Praktiken ihrer Regierung stehen usw. Sie werden dir sagen, dass sie mit den Unterdrückten und Schwachen, Muslimen oder nicht, mitfühlen.
Wael Hallaq: Das ist wahr, aber kann wohl kaum mein Argument beeinträchtigen. Das Thema ist komplex, und ich möchte auf einen längeren Text verweisen, den ich als Antwort auf meine Kritiker geschrieben habe, genau zu diesem Punkt. Er ist 2011 in Islamic Law and Society veröffentlicht worden.
Hasan Azad: Welche Art von Beschränkungen hat das moderne, westliche Denken dem islamischen Denken auferlegt?
Wael Hallaq: Auf dem Gebiet des Denkens und der rationalen Untersuchung werden Ideen nur insofern wirklich restriktiv, als wir ihnen konzeptuell erlauben, als solche zu existieren. Das Abwerfen der eisernen Fesseln deines Herren ist ein äußerlicher Akt und für den machtvollen Herren erkennbar, der seine verheerenden Waffen gegen dich richten mag. Aber das gilt nicht für geistige Aktivitäten. Sie sind verborgen. Man kann physisch in Knechtschaft sein, aber geistig frei. Das heißt, frei zu denken und die Welt zu verstehen, wie er oder sie möchte. Die kurze Antwort auf deine Frage ist also, dass die intellektuelle Herrschaft des Westens über den Rest keinerlei Rechtfertigung hat. Ich verstehe die Schwierigkeiten, sich von den physischen Zwängen einer massiven Kolonialmacht freizumachen (zum Beispiel die USA in Afghanistan oder Israel in Gaza). Aber ich kann die geistige und intellektuelle Sklaverei nicht verstehen. Wie hart auch immer die Euro-Amerikaner daran gearbeitet haben und weiterhin arbeiten, das Denken und den Geist von Muslimen, Afrikanern und anderen zu versklaven, so haben diese doch keinerlei Entschuldigung. Wie ich schon sagte, abgesehen von seltenen und weniger bedeutenden Stimmen haben die muslimischen Autoren bislang den Pfad der intellektuellen Sklaverei gewählt. Lasst uns eine der ältesten Diskussionen in der Welt in Erinnerung rufen: Ein Sklave ist derjenige, der von dem Willen eines anderen abhängig ist. Wenn jemanden gelehrt wird, die Einzelheiten, die Aktionen, die Strukturen und Paradigmen der Lehren und des Verhaltens des Herren zu wollen, dann ist man ein Sklave. Und ich habe keine Belege dafür, dass die Gesamtverfassung der muslimischen intellektuellen Welt gezeigt hätte, dass die Dinge anders liegen.
Hasan Azad: Was gibst du denen zur Antwort, die das Beispiel des abbasidischen Kalifen al-Maʾmūn und seines bayt al-hikma [Haus der Weisheit], seiner Rolle bei der Übersetzung alter griechischer Texte, deren Inkorporation in einen Großteil der islamischen Philosophie, Metaphysik usw. anführen – als ein Beispiel dafür, wie muslimische Denker von fremden Wissensquellen Gebrauch machen als Mittel zur Bereicherung ihres eigenen Denkens in der Vergangenheit, womit das Argument vorgebracht wird, dass muslimische Denker das Gleiche tun sollten mit Blick auf modernes, westliches Denken und Philosophie?
Wael Hallaq: Das ist eine wichtige Frage, die mir öfter gestellt wird. Zunächst möchte ich sagen, dass das Narrativ des bayt al-hikma im Diskurs des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts im wesentlichen ein orientalistisches ist, ein zentraler Topos, der endlos und auf verschiedene Weisen wiederholt worden ist. Ich stelle nicht die tatsächliche Geschichtlichkeit des »Ereignisses« oder des bayt al-hikma genannten Phänomens in Frage, sondern spreche vielmehr davon, wie es in eine neue Interpretation der Geschichte und somit in eine besondere Identität eingepasst wurde. Dieses Narrativ hat viel mehr Parallelen, die allesamt auf das Gleiche hinauslaufen – nämlich ein Narrativ der »kulturellen Anleihe« zu konstruieren, das eine unabhängige und nicht-koloniale Identität zum Verschwinden bringt. Beispielsweise hat Joseph Schacht das gleiche Narrativ auf dem Gebiet des Rechts vorgeführt. Er hat das Argument vorgebracht, dass das »islamische Recht« eine Anleihe aus dem römischen, byzantinischen und jüdischen Recht war, die in ihrer Summe als ein westliches Produkt (was ohnehin eine Fiktion ist) betrachtet werden. Mit anderen Worten, der Islam wird durch die Zuschreibung konstruiert, seine Rechtskultur (welche ihrerseits, in seinen Worten, »Herzstück und Wesen«
Aber das ist nicht alles. Es ist unbestreitbar, dass die Muslime – seit spätestens dem achten Jahrhundert – ein starkes Interesse an anderen hatten, seien es Inder, Iraner oder Griechen. Sie übersetzten in der Tat ihre Werke und integrierten in ihren »intellektuellen Boden« vieles von dem, was sie als nützlich erachteten. Die Assimilation war so raffiniert, dass es nahezu unmöglich ist, die Komponenten dessen, was beispielsweise griechisch ist, von den islamischen zu trennen. Aber ich kann nicht genug betonen, dass diese Assimilation auf der Grundlage und im Rahmen des nativen epistemischen Systems vorgenommen wurde. Was aufgenommen und verarbeitet werden konnte, wurde inkorporiert, aber vieles war dafür nicht geeignet und wurde daher verworfen. Die hazmischen, ghazalischen und taymiyyischen Projekte, unter zahllosen anderen, sind schlagkräftige Zeugnisse. Dies entspricht auch meiner dreißigjährigen Erfahrung mit einem Zweig des Rechtswissens namens usūl al-fiqh neben anderen. Diese außerordentlich komplexe Rechtswissenschaft ist durchdrungen und erfüllt von intellektuellen Einflüssen, deren Herkunft vielfältig ist. Sie ist jedoch eine einzigartige Wissenschaft in der Welt und gleicht nichts, was von anderen Kulturen oder intellektuellen Formationen bekannt ist. Sie zog sicherlich Nutzen aus verschiedenen Disziplinen, aber ich denke nicht, dass auch nur ein seriöser Gelehrter behaupten würde, dass sie nicht eine besondere islamische Identität besitzt, indem sie den unabhängig erdachten Bedürfnissen des islamischen fiqh und Rechts in ihrer eigenen Umgebung dient.
Damit möchte ich sagen, dass die muslimischen Intellektuellen, insofern sie den taqlīd [Befolgung, Nachahmung] von Euro-Amerika und seiner Aufklärung meiden müssen, auch ihre eigenen Traditionen mit ihren großen Sub-Traditionen sorgfältig erkunden müssen, wie sie auch andere Kulturen betrachten und untersuchen sollten, insbesondere die Asiens (buddhistische, hinduistische etc.). Denn in der Tat spricht vieles dafür, dass Süd- und Ostasien mehr zu bieten haben als Euro-Amerika. bayt al-hikma [Haus der Weisheit] muss die Welt in ihrer Gänze sein, eine Welt, die in unserem Geist und kritischen Denken beginnt. Und ihr Ende kann nicht und sollte nicht vorhergesagt werden. Doch wenn sie sich auf all dies einlassen, müssen sie mit aller Entschiedenheit ihre höchste kritische Energie aufwenden, wobei der Schlüssel ihr eigenes, unabhängiges Denken ist.