3 Vernunft, Offenbarung und die Rekonstitution der Rationalität: Ibn Taymiyyas Darʾ taʿārudh

3 Vernunft, Offenbarung und die Rekonstitution der Rationalität: Ibn Taymiyyas Darʾ taʿārudh Yusuf Kuhn
Textlänge des Kapitels in Buchseiten ca. 190

3.1 Vorbemerkung

3.1 Vorbemerkung Yusuf Kuhn

Dieser Text ist eine referierende Zusammenfassung und Vorstellung des Buches Reason, Revelation & the Reconstitution of Rationality: Taqī al-Dīn Ibn Taymiyya's (d. 728/1328) Darʾ Taʿāruḍ al-ʿAql wa-l-Naql or ‚The Refutation of the Contradiction of Reason and Revelation‛, von Carl Sharif El-Tobgui.1 Der vollständige Titel lautet ins Deutsche übertragen:

Vernunft, Offenbarung & die Rekonstitution der Rationalität: Taqī ad-Dīn Ibn Taymiyyas (gest. 728/1328) Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql oder »Die Widerlegung des Widerspruchs von Vernunft und Offenbarung«.

Kürzlich ist die Dissertation als Buch veröffentlich worden unter dem Titel Ibn Taymiyya on Reason and Revelation. A Study of Darʾ taʿāruḍ al-ʿaql wa-l-naql (Ibn Taymiyya über Vernunft und Offenbarung. Eine Studie des Darʾ taʿāruḍ al-ʿaql wa-l-naql).2


1Carl Sharif El-Tobgui, Reason, Revelation & the Reconstitution of Rationality: Taqī al-Dīn Ibn Taymiyya's (d. 728/1328) Darʾ Taʿāruḍ al-ʿAql wa-l-Naql or ‚The Refutation of the Contradiction of Reason and Revelation‛, McGill University, Montreal: unveröffentlichte Dissertation, 2013. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Zum Herunterladen verfügbar unter: https://b-ok.cc/book/5000250/3470d5.

2Carl Sharif El-Tobgui, Ibn Taymiyya on Reason and Revelation. A Study of Darʾ taʿāruḍ al-ʿaql wa-l-naql, Leiden-Boston: Brill, 2020. Diese Ausgabe konnte hier leider nicht mehr berücksichtigt werden. Zum Herunterladen verfügbar unter: https://brill.com/view/title/55796.

3.2 Einführung

3.2 Einführung Yusuf Kuhn

Mise en scène (Szenerie)

Es ist das Jahr 1300. Syrien erzittert vor der mongolischen Invasion. Die meisten Einwohner sind bereits aus Damaskus geflohen. Währenddessen sitzt einer der berühmtesten Bürger dieser Stadt, Ibn Taymiyya, im Kerker der Zitadelle von Kairo und schreibt und schreibt, solange der Nachschub an Papier und Tinte anhält. Er war zu einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt worden wegen angeblich anthropomorpher Vorstellungen vom Wesen Gottes. Dies konnte einen so kraftvollen und mutigen Denker jedoch nicht abhalten, seinen geistigen Kampf mit spitzer Feder fortzuführen.

Die Kampflinien waren schon lange zuvor gezogen worden. Nahezu sieben Jahrhunderte waren vergangen, seit der Prophet des Islam Gottes endgültige Botschaft der Menschheit überbracht hatte. Diese Offenbarung war das Wort Gottes. Ihre Botschaft war klar und ursprünglich. Gott war al-haqq, die wahre Wirklichkeit. Er war auch al-khāliq, der Schöpfer der Himmel und der Erde und allem, was darin ist.

Gott hat auch den Menschen erschaffen und auf die Erde gesetzt, damit er seinem Herrn diene und gute Werke verrichte, bis er eines unvermeidlichen Tages den Tod kostet. Dann lässt Gott ihn, Körper und Geist, wiederauferstehen, um Rechenschaft über Glauben wie Taten abzulegen und gerichtet zu werden. Das war den Menschen offenbart worden, und daran glaubten sie mit Herz und Verstand.

Doch das Wort Gottes wurde im Laufe der Jahrhunderte langsam, aber beständig von äußeren Einflüssen überdeckt, die manchen muslimischen Denker zu überwältigen drohten. Die Übersetzungen wissenschaftlicher und vor allem philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische seit dem frühen 3./9. Jahrhundert führten zu einem Zustrom allerlei neuer und eigentümlicher Ideen ins muslimische Denken. Die Werke von Aristoteles und verschiedenen neuplatonischen Denkern über Logik, Epistemologie und Metaphysik stießen auf Begeisterung und Ablehnung zugleich. Denn sie boten ein umfassendes und ausgearbeitetes Weltbild, das seine Überzeugungskraft nicht zuletzt aus dem Versprechen schöpfte, der Vernunft selbst zu entspringen.

Aber warum sollte es überhaupt Grund zur Sorge geben? Ersucht der Koran selbst nicht die Muslime an vielen Stellen, nachzudenken, zu überlegen, ihren gottgegebenen Verstand zu gebrauchen, um das Geheimnis ihres Daseins zu ergründen? »Wollen sie denn nicht ihren Verstand gebrauchen?« (Koran 36:68); »Wollen sie denn nicht verstehen?« (Koran 4:82); »… auf dass sie nachdenken mögen.« (Koran 7:176).

Doch was tun, wenn sich dabei herausstellen sollte, dass die vernunftgegründeten Lehren der Philosophen über Mensch, Welt und Gott dem, was Gott selbst, der Schöpfer von Mensch, Himmel und Erde offenbart hat, nicht entsprechen oder gar widersprechen? Die Vernunft, so lehrt Aristoteles, erkennt, dass Gott ein vollkommenes Wesen ist. Nun, dem mögen alle zustimmen. Aber die Vernunft, so Aristoteles weiter, urteilt zudem, dass ein vollkommenes Wesen auch vollkommen einfach, unteilbar und nicht-zusammengesetzt sein muss. Während also die Offenbarung Gott mancherlei Eigenschaften, Qualitäten oder Attribute zuschreiben mag – wie etwa hayy (lebendig), dschabbār (mächtig), wadūd (liebend), ʿalīm (wissend), basīr (sehend), samīʿ (hörend) -, erklärt die Vernunft, dass Gott in Wirklichkeit solche Attribute nicht besitzen kann, da Er sonst nicht mehr vollkommen einfach wäre, was die Vernunft doch von Ihm verlangt, sondern zusammengesetzt, nämlich zusammengesetzt aus Seinem einzigartigen unteilbaren Wesen und Seinen vermeintlichen Attributen oder Qualitäten.

Desgleichen fordert die Vernunft, so heißt es der philosophischen Tradition zufolge weiter, dass Gott nicht das Wissen von irgendeinem besonderen, individuellen, gewordenen Ding zugeschrieben werden kann, da solche Dinge vergänglich sind, in der Zeit entstehen und vergehen und ein Wissen solcher Flüchtigkeiten eine Veränderung in Seinem Wissen bedingen würde. Aber Gott Selbst sagt doch in der Offenbarung: »Kein Blatt fällt herab, ohne dass Er es weiß« (Koran 6:59).

So sind die Kampflinien gezogen. Und die Fehde wird ausgetragen.

3.2.1 Überblick

In diesem Text wird Ibn Taymiyyas Versuch, den vermeintlichen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken seiner Zeit aufzulösen, in groben Umrissen dargestellt. Dieses Ziel verfolgte Ibn Taymiyya vor allem in seinem großen Werk Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql (Die Widerlegung des Widerspruchs von Vernunft und Offenbarung), das in zehn Bänden 4046 Seiten umfasst.1

Ibn Taymiyya verfolgt darin das Anliegen, den Gegensatz von Vernunft und Offenbarung zu überwinden, indem die Voraussetzungen und Kategorien, die der Debatte über den Begriff der Vernunft und ihr Verhältnis zur Offenbarung zugrunde liegen, untersucht, kritisiert und neu gefasst werden. Ibn Taymiyya vertritt dabei die Auffassung, dass die klare und reine Vernunft (ʿaql sarīh) und die recht verstandene Offenbarung (naql sahīh) gar nicht in Widerspruch zueinander geraten können. Jeder vermeintliche Gegensatz zwischen ihnen entspringt entweder einem Missverstehen der Offenbarung oder einem verfehlten Verständnis und Gebrauch der Vernunft. Je spekulativer und deshalb zweifelhafter die rationalen Prämissen und vorgängigen Festlegungen sind, desto ausgefallener muss die Offenbarung interpretiert oder nach Ibn Taymiyya »verdreht« werden, um sie in Gleichschritt mit solcher »Vernunft« zu zwingen.

Carl Sharif El-Tobgui veranschaulicht diese Auffassung in folgender Abbildung mit einer »taymiyyanischen Pyramide«, an deren Spitze gesunde, unverfälschte Vernunft und authentische Offenbarung zusammenstimmen:



Schaubild 2: Taymiyyanische Pyramide

 

Wahrheit ist der Punkt der Einigkeit, Klarheit und Gewissheit (yaqīn), an dem das Zeugnis der gesunden Vernunft und der authentischen Offenbarung völlig übereinstimmen. Am Gegenpol liegen Sophisterei (safsata) im Vernunftgebrauch und Allegorisierung (qarmata; abgeleitet von qarāmita, einer ismaʿilitischen Gruppe, die für ihre äußerst esoterische Interpretation des Koran bekannt war) der Offenbarung. Je weiter die Entfernung vom Einklang zwischen Vernunft und Offenbarung desto größer wird die Uneinigkeit (ikhtilāf) und Zweifelhaftigkeit, selbst in grundlegenden Fragen, in absteigender Reihenfolge ausgehend von den Aschʿariten über die Muʿtaziliten bis hin zu den falāsifa (Philosophen).

Die Debatte um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung drehte sich weitgehend um die Frage der Attribute Gottes. Die Offenbarung beruht nicht nur darauf, dass Gott überhaupt existiert, sondern auch als besonderes Wesen mit bestimmten intrinsischen und irreduziblen Eigenschaften. Doch manche dieser Eigenschaften wurden von verschiedenen Gruppen wie den falāsifa, Muʿtaziliten und Aschʿariten als rational unhaltbar erachtet, da sie zu einer unzulässigen Angleichung Gottes an erschaffene Dinge (taschbīh) führen müssten oder im Widerspruch zu den rationalen Argumenten stünden, die zum Beweis der Existenz Gottes vorgebracht wurden. Als Abhilfe für dieses Problem wurde die Leugnung oder Reinterpretation der entsprechenden Eigenschaften oder Attribute angeboten. Die sowohl der Lösung wie auch der Stellung des Problems zugrunde liegende Ansicht beruht auf der Annahme, dass es einen grundlegenden Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung gibt oder zumindest geben kann, die gleichwohl als zuverlässige und unersetzliche Quellen des Wissens über Mensch, Welt und Gott gelten.

Die Frage, wie nun mit solchen rationalen Einwendungen gegen den deutlichen Sinn der Offenbarung verfahren werden sollte, führte schließlich zur Entwicklung des qānūn kullī (universelle Regel), die Ibn Taymiyya auf der ersten Seite des Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql in der Fassung des aschʿaritischen Gelehrten Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī anführt.

Der qānūn kullī besagt demzufolge im Kern: Wenn es zu einem Konflikt zwischen Offenbarung und Vernunft kommt, muss den Forderungen der Vernunft Vorrang eingeräumt und die Offenbarung mittels taʾwīl allegorisch reinterpretiert werden.

Als Begründung wird angeführt: Die Vernunft begründet die Wahrheit der Offenbarung; wenn daher zugelassen würde, dass die Offenbarung im Falle eines Konflikts von Vernunft und Offenbarung die Vernunft aufhebt, käme dies einer Bezweifelung und Infragestellung der Vernunft insgesamt gleich; und damit würde die rationale Grundlage, auf der das Wissen von der Echtheit und Wahrheit der Offenbarung basiert, untergraben.

Ibn Taymiyya setzt sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql die Widerlegung des qānūn kullī ausdrücklich zur vorrangigen Aufgabe. Dafür entwickelt er in einem ersten Schritt etwa vierzig verschiedene Argumente gegen die logische Kohärenz dieser Regel und die Voraussetzungen und Annahmen, auf denen sie basiert. In einem zweiten Schritt nimmt er sich dann praktisch alle Fälle eines vermeintlichen Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung vor, die von Philosophen und Mutakallimun (Gelehrten des kalām) im islamischen Denken vorgebracht wurden. In diesem Zusammenhang entwickelt er seine charakteristische Philosophie und Methodologie, mittels derer er den so lange schwärenden Konflikt endgültig aufzulösen trachtet.

Seine Kritik richtet sich dabei auf den von Philosophen und Mutakallimun verwandten Begriff der Vernunft selbst, um damit allen Argumenten die rationale Grundlage zu entziehen, die dem widersprechen, was die Offenbarung beispielsweise über die besonderen Attribute und Handlungen Gottes oder die zeitliche Entstehung der Welt mitteilt. Die Grundlage dieser Kritik wiederum bildet ein Begriff der Vernunft, der von allen Verfehlungen und zweifelhaften Voraussetzungen befreit ist: die reine, klare, eingeborene, unverfälschte Vernunft, die Ibn Taymiyya als ʿaql sarīh bezeichnet.

Mit der Frage, worin genau diese reine und klare Vernunft besteht und in welchem Verhältnis sie zur Offenbarung steht, befasst Ibn Taymiyya sich im abschließenden Teil des Darʾ. Um der überbordenden Allegorisierung, die sich aus der rationalistischen Auslegung der Offenbarung durch die Philosophen ergibt, zu wehren, entfaltet er eine Hermeneutik, die sich auf den natürlichen kontextuellen Gebrauch der Sprache stützt. Sodann wendet er sich einer Rekonstruktion der Vernunft selbst zu, indem er die vielfältigen Weisen untersucht, in der das menschliche Denken zu Wissen gelangt. Diese reformierte Epistemologie wiederum stellt die von den Philosophen vorausgesetzte Ontologie grundsätzlich in Frage, insbesondere deren realistische Theorie der Universalien, die zu einer chronischen Konfusion zwischen dem, was logisch im Geist existiert, und dem, was ontologisch in der äußeren Wirklichkeit existiert, geführt hat. Durch eine deutliche Unterscheidung zwischen mentaler und äußerer Existenz ersetzt Ibn Taymiyya die von den Philosophen vorgenommene Intellektualisierung der Wirklichkeit durch eine strikt auf Erfahrung basierende Epistemologie, welche die gültigen Quellen des Wissens über die Wirklichkeit auf Wahrnehmung (hiss) und »Bericht« (khabar) beschränkt. Gleichwohl sind die abstrakten und universalisierenden Funktionen des Geistes wie auch die darin eingebetteten apriorischen logischen Prinzipien von entscheidender Bedeutung für das Verstehen der verborgenen Wirklichkeiten, von denen die Offenbarung berichtet, insbesondere die Attribute Gottes.

El-Tobgui beschließt diesen Abschnitt folgendermaßen:

Ibn Taymiyyas gesamtes epistemisches System stützt sich auf einen erweiterten Begriff der fitra oder »ursprünglichen normativen Veranlagung« und wird letztlich von einem universalisierten Begriff des tawātur garantiert, der aus den muslimischen textlichen und rechtlichen Traditionen übernommen ist, aber als letztlicher Garant aller menschlichen Erkenntnis breit angewandt wird. Die getrennten Elemente von Ibn Taymiyyas Theorie der Sprache, seiner Ontologie und seiner Epistemologie fließen schließlich in eine Synthese zusammen, die dazu bestimmt ist, einen robusten und rational vertretbaren Affirmationismus hinsichtlich der Attribute Gottes aufzunehmen und zugleich einen »Assimilationismus« oder taschbīh zu vermeiden, von dem die spätere Tradition so oft angenommen hat, dass er dadurch impliziert wird. (S. xviii-xix)2

3.2.2 Struktur der Abhandlung

Die Abhandlung besteht aus zwei Teilen. In Teil 1 wird der Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung verhandelt: »Vernunft vs. Offenbarung?« In Teil 2 wird Ibn Taymiyyas Philosophie und Methodologie im Darʾ vorgestellt: »Ibn Taymiyyas Reform der Sprache, Ontologie und Epistemologie«.

Kapitel 1 gibt einen groben Überblick über die historische Entwicklung dieses Konflikts im islamischen Denken bis zur Zeit Ibn Taymiyyas. In Kapitel 2 wird das Leben und die Zeit von Ibn Taymiyya vorgestellt. Darauf folgt eine Darstellung, wie Ibn Taymiyya selbst diese historische Entwicklung aufgefasst hat. Dies ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, nicht nur seine Motivationen zu verstehen, sondern auch seine Strategie und umfassende Methodologie zur Auflösung des Problems. Dem schließt sich eine kurze Erörterung der Lösungsversuche von al-Ghazālī (gest. 505/1111) und Ibn Ruschd (gest. 595/1198) an, die zugleich das Verhältnis von Ibn Taymiyyas Projekt im Darʾ zu ihnen beleuchtet. In Kapitel 3 werden die wichtigsten theoretischen Einwendungen gegen die universelle Regel (qānūn kullī) vorgestellt.

Kapitel 4 eröffnet den zweiten Teil mit einer Untersuchung des Begriffs der »authentischen Offenbarung« (naql sahīh) und der hermeneutischen Prinzipien zu ihrer Interpretation. In Kapitel 5 wird der Begriff der »reinen Vernunft« (ʿaql sarīh) erkundet wie auch die damit einhergehende Ontologie. Damit sollen die wichtigsten Elemente von Ibn Taymiyyas Philosophie – Linguistik, Ontologie und Epistemologie – samt der Prinzipien und Methoden, die zur Auflösung des Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung eingesetzt werden, in ihrem Kerngehalt präsentiert werden.

Im Schlusskapitel wird sodann aufgezeigt, wie Ibn Taymiyya diese verschiedenen Elemente zu systematischer Anwendung auf die Frage der Attribute Gottes bringt. Dem folgen abschließend etwas allgemeinere Überlegungen zu den weiteren Implikationen seines Werkes.

El-Tobgui stellt dazu fest:

Das breitere Interesse – und die Genialität – von Ibn Taymiyyas Projekt, das es in künftiger Forschung zu erkunden gilt, liegt vor allem in seiner breit angelegten Auffassung von Wissen, in der er die Begriffe der »Vernunft« und des »rationalen Beweises« dergestalt erweitert, dass sie einen wesentlich größeren Bereich von Quellen und Argumenten einschließen als in der obskuren und seiner Ansicht nach willkürlich eingeschränkten Syllogistik der Philosophen erlaubt. Darüber hinaus beschränkt Ibn Taymiyya sich nicht auf die Argumentation, dass Vernunft und Offenbarung nicht in Konflikt zueinander stehen. Er besteht vielmehr darauf, dass die Offenbarung selbst das rechte Funktionieren und den authentischen Gebrauch reiner Vernunft (ʿaql sarīh) unterstützt und aufzeigt. Auf diesen Grundsätzen aufbauend behauptet Ibn Taymiyya letztlich, dass wir echtes Wissen (und nicht bloß »Glauben«) von den grundlegenden Wahrheiten der Religion besitzen – insbesondere von der Existenz und den fundamentalen Attributen Gottes – auf der Basis ebenderselben Art von Axiomen, Intuitionen und anderen Elementen, die allem menschlichen Wissen zugrunde liegen und dafür konstitutiv sind. In der Tat kommt die große Mehrheit, vielleicht sogar alles, von dem, wofür wir ständig und mit Recht für uns Wissen beanspruchen, auf unterschiedliche Weise und oftmals durch eine sich gegenseitig bestätigende Kombination von ebendenselben Arten von Faktoren und Überlegungen zustande, auf deren Grundlage, so behauptet Ibn Taymiyya, das am meisten solide, stabile und beweiskräftige Argument für die Existenz Gottes und die grundlegenden Wahrheiten der Religion gemacht werden kann. (S. xx-xxi)

3.2.3 Warum der Darʾ at-taʿārudh?

Ibn Taymiyyas Darʾ at-taʿārudh zeugt von einem erstaunlichen Reichtum an Gelehrsamkeit und einer gewaltigen Bandbreite an Themen und Lehren, die darin verhandelt werden. Gewiss kann Ibn Taymiyya als einer der bedeutendsten Leser der falāsifa gelten, der deren Werke nicht nur genauestens kannte und analysierte, sondern selbst bedeutende Beiträge zum philosophischen Denken leistete.

Angesichts des reichen und vielversprechenden Gehalts des Darʾ ist es umso erstaunlicher, dass es auch nach mehr als dreißig Jahren seit dem Erscheinen der ersten vollständigen Ausgabe noch keine umfassende Behandlung durch einen westlichen Wissenschaftler gibt. Abgesehen von einigen kleineren und vorläufigen Studien von Y. Michot, B. Abrahamov und N. Heer, wurde dieses Werk von der westlichen Wissenschaft mit völliger Missachtung gestraft.

Dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen. Ibn Taymiyya pflegte einen außergewöhnlichen Schreibstil, der es dem Leser nicht immer leicht macht, seine Gedanken zu einem bestimmten Thema zu verfolgen, die oftmals auf viele Stellen in mehreren Werken verteilt und zudem von vielen Exkursen durchsetzt sind. Die vorliegende Abhandlung möchte daher einen Überblick über dieses Werk als Ganzes liefern, das weiteren Forschungen als »Landkarte des Darʾ« dienen mag.

Ein zweiter Grund mag die Stellung des Autors in der Geschichte sein. Ibn Taymiyya folgte auf die sogenannte »klassische Periode« der islamischen Zivilisation, der als deren vermeintlicher Höhepunkt die meiste Aufmerksamkeit der geistesgeschichtlichen Erforschung zufiel, während die folgende Periode dem orientalistischen Vorurteil als Zeit des Verfalls galt, die keine Beachtung verdiente. Zur Korrektur dieses Bildes, die mittlerweile eingesetzt hat, mag auch diese Abhandlung einen Beitrag leisten.

Ein dritter Grund mag in der überkommenen Vorstellung von Ibn Taymiyya als intellektueller Figur zu finden sein, die kaum je in Bücher über islamisches Denken, islamische Philosophie oder sogar islamische Theologie aufgenommen wurde. Er galt nicht als Denker, sondern bloß als simpler »Apologet der Theologie«, von dem schon gar nichts auf dem Gebiet der Philosophie zu erwarten war. Demgegenüber schickt sich diese Abhandlung an, den philosophischen Gehalt, der den gesamten Darʾ in mannigfaltigen Ideen und Argumenten durchzieht, zu untersuchen und herauszuarbeiten.

Darüber hinaus erschließt sich die eigentliche Bedeutung des Darʾ allererst durch die Einsicht in die Aktualität des darin behandelten Problems des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung, das als das zentrale Thema in der islamischen Moderne gelten kann. Hinter vielen aktuellen Debatten lauern die gleichen Themen, mit denen Ibn Taymiyya sich so intensiv befasst hat, als er die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung für seine Zeit zu klären versuchte.


1Taqī al-Dīn Ahmad Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, aw muwāfaqat sahīh al-manqūl as-sarīh al-maʿqūl, Hg. Muhammad Rashad Salim, 11 Bände, Riyadh, 1399/1979.

2Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Carl Sharif El-Tobgui, Reason, Revelation & the Reconstitution of Rationality: Taqi al-Din Ibn Taymiyya‘s (d. 728/1328) Dar’ Ta'arud al-'Aql wa-l-Naql or »The Refutation of the Contradiction of Reason and Revelation«. A Thesis submitted to the Faculty of Graduate Studies and Research in partial fulfillment of the requirements for the degree of Doctor of Philosophy; Institute of Islamic Studies, McGill University, Montreal; Final Submission April 12, 2013.

TEIL 1: VERNUNFT VERSUS OFFENBARUNG?

TEIL 1: VERNUNFT VERSUS OFFENBARUNG? Yusuf Kuhn

3.3 Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken vor Ibn Taymiyya

3.3 Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken vor Ibn Taymiyya Yusuf Kuhn

Ibn Taymiyyas Bemühungen ging eine jahrhundertelange intensive Debatte im islamischen Denken über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung voraus. Diese Debatte geht nicht allein auf den Einfluss der griechischen Philosophie zurück, sondern zeigt sich in Keimform bereits seit den frühesten Tagen der islamischen Gemeinschaft und entfaltet sich in einer vielschichtigen Entwicklung und Interaktion zwischen Vernunft und Offenbarung im Koran und den entstehenden islamischen Wissenschaften.

3.3.1 Vernunft und Offenbarung, Vernunft in Offenbarung

Der Koran legt größten Wert auf Wissen und fordert immer wieder dazu auf, den Verstand zu gebrauchen und nachzudenken, insbesondere über die Schöpfung einschließlich des Menschen als Zeichen Gottes. Zudem setzt der Koran an vielen Stellen Argumente ein, um von der Wahrheit seiner Lehren zu überzeugen. So entsteht vom Anbeginn der Offenbarung selbst an ein integriertes Paradigma von Vernunft und Offenbarung. Der Koran ist keineswegs scheu gegenüber der fragenden menschlichen Vernunft, sondern fordert diese vielmehr heraus, beispielsweise durch den Aufruf, nach Widersprüchen in ihm zu suchen.

Den Ort oder das Organ des vernünftigen Denkens bezeichnet der Koran verschiedentlich u.a. als ʿaql, qalb, lubb oder fuʾād. Er verwendet häufig Ausdrücke, die mit Erkenntnis und Reflexion verbunden sind, unterscheidet deutlich zwischen »denjenigen, die wissen, und denjenigen, die nicht wissen« (Koran 39:9) und besteht wiederholt darauf, dass der Glaube an Gott und die Anerkennung der Offenbarung als Wahrheit das natürliche Ergebnis eines gesunden, richtig gebrauchten Verstandes sind.

Dabei verdient Beachtung, dass der Koran »Wissen« (ʿilm) nie »Glauben« (imān) entgegensetzt, sondern nur »Unwissen« (dschahl). Wissen und Glauben stützen und ergänzen sich in ihrem Zusammenspiel vielmehr gegenseitig. Der Gegensatz von Wissen und Glauben ist dem Koran fremd.

Allerdings wird herausgestellt, dass die menschliche Vernunft als Vermögen eines begrenzten und endlichen Wesens nicht grenzenlos ist, denn »euch ist sehr wenig Wissen gewährt worden« (Koran 17:85) und, noch deutlicher, »Gott weiß, während ihr nicht wisst« (Koran 2:216). Die Offenbarung spornt den Menschen zum Nachdenken und Reflektieren an, da der rechte Gebrauch der Vernunft ihn unausweichlich zu Gott und der Einsicht in die Wahrheit der Offenbarung führen wird, wozu auch die Erkenntnis gehört, dass letztlich Gott allein absolut und schrankenlos ist, während alles andere, die menschliche Vernunft eingeschlossen, relativ und begrenzt ist.

Der Koran beschreibt sich selbst als »Beweis« (burhān) (4:174), als »Maßstab, mit dem das Wahre vom Falschen zu unterscheiden ist« (furqān) (2:185) und sogar als »den endgültigen Beweis« oder »das eindeutige Argument« (al-hudschdscha al-bāligha) (6:149). Der Koran gründet seine Lehren also nicht nur in bloßer Behauptung, sondern ebenso in Argumentation und Überzeugung. Dadurch wird der Weg bereitet für ein komplementäres und harmonisches Paradigma der Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung in der Offenbarung und durch die Worte der Offenbarung selbst.

Weitere Belege für den argumentativen Charakter der Offenbarung finden sich in den klassischen Quellen von Hadith und Sira (Prophetenbiographie). Der Prophet wurde von seinen Gefährten bei vielen Gelegenheiten befragt über das Jenseits, Gott, die Engel und viele andere Dinge, die die Glaubenslehre betreffen. Wie der Koran spornte auch der Prophet zum Nachdenken und Vernunftgebrauch an.

Der Prophet warnte aber zuweilen auch vor bestimmten Gedankengängen, die sich als nutzlos oder gar schädlich erweisen mussten, wie etwa in dem Hadith, in dem es heißt: »Satan wird zu euch kommen und sagen: ›Wer hat dies erschaffen?‹ und ›Wer hat jenes erschaffen?‹, bis er sagt: ›Wer hat euren Herrn erschaffen?‹, wenn also einer von euch an diesen Punkt kommen sollte, soll er Zuflucht bei Gott suchen und ablassen.« Das lässt sich so verstehen, als wollte er seine Gefährten warnen, dass das Argument des unendlichen Regresses der rationalen Rechtfertigung ermangelt, um auf Gott ausgedehnt werden zu können.

Ein weiteres Beispiel: Als der Prophet hörte, dass eine Gruppe von Gefährten über die göttliche Fügung oder Vorherbestimmung (qadar) diskutierte, mahnte er sie, über solche Dinge Schweigen zu wahren, »die nur Gott weiß«.1

El-Tobgui stellt zusammenfassend fest:

Die wichtigste Lehre, die aus diesen Vorkommnissen zu ziehen ist, scheint zu sein, dass rationales Folgern in manchen Bereichen zuverlässig und legitim ist, dass rationales Folgern ungültig ist, wenn es auf absurden Prämissen basiert, und schließlich dass bestimmte Themen ihrem Wesen nach gänzlich jenseits der Reichweite der rationalen Erfassung liegen. Darin scheint also impliziert zu sein, dass man (1) Vernunft in vollem Maße in Bereichen gebrauchen sollte, die rationaler Nachforschung zugänglich sind; (2) sicher sein sollte, über solche Themen auf richtige und gültige Weise nachzudenken; und (3) anerkennen sollte, dass manche Themen aufgrund ihrer eigenen Natur und derjenigen der Vernunft selbst für das rationale Begreifen einfach nicht geeignet sind, so dass der Versuch, sie zu »rationalisieren«, nur und unvermeidlich zu ihrer Entstellung führen kann. Der Koran und die prophetische Sunna scheinen uns daher dazu anzuspornen, unsere Verstandeskräfte innerhalb ihres angemessenen Rahmens und Bereichs einzusetzen, aber wir werden stets daran erinnert, dass, so groß diese Kräfte auch sein mögen, im weiteren Rahmen der Wirklichkeit und aus der Perspektive der Allwissenheit uns in der Tat »sehr wenig Wissen gewährt worden ist«. (S. 5-6)

3.3.2 Frühe politische und theologische Kontroversen

Die ersten Kontroversen, die in der frühen muslimischen Gemeinschaft ausbrachen, wurden zwar in »theologischen« Begriffen ausgedrückt, waren aber in erster Linie politischer Natur. So ging es um die Frage der Nachfolge des Propheten in der moralischen und politischen Führerschaft, die letztlich zur Entstehung der beiden konkurrierenden Gruppen von Schiiten und Sunniten führte.

Zudem entwickelten sich im Anschluss an diese Spannungen Debatten um die Frage, welche Bedeutung Glauben und Taten für das Muslimsein zukommt und ob beispielsweise das Begehen von schweren Sünden zu einem Abfall vom Islam führt. Auch hier standen politische Fragen im Vordergrund, da es auch um den Status der herrschenden umayyadischen Kalifen ging. Die Gruppe der Khāridschiten betrachtete die ummayadischen Kalifen als schwere Sünder, die nicht mehr als Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft gelten konnten und daher abgesetzt werden mussten. Demgegenüber vertraten die Murdschiʿiten eine eher gemäßigte Haltung, indem sie dafür plädierten, ein solches Urteil zurückzustellen. Sie scheinen dabei von dem Wunsch motiviert gewesen zu sein, die Einheit der muslimischen Gemeinschaft zu wahren. Sie betrachteten einen Muslim, der Vergehen begangen hat, lediglich als sündigen oder irregeleiteten Gläubigen, nicht als kāfir (Nicht-Muslim). Die Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft wurde für sie also durch den erklärten Glauben an die Lehren des Islam und nicht durch Taten bestimmt. Wer schwere Sünden beging, blieb in ihren Augen Muslim.

Aus den verschiedenen Fraktionen, die Fragen hinsichtlich der Auslegung des Koran, des Rechts und der Glaubenslehre diskutierten, gingen allmählich Gruppen hervor, die als Vorläufer der späteren Sunniten betrachtet werden können. Sie kümmerten sich besonders um die Bewahrung und Vermittlung von Kenntnissen über die frühe Gemeinschaft und ihre Praktiken. Diese lebhaften politischen und sozialen Debatten führten schließlich zur Herausbildung mehr theoretischer Ansätze in Gestalt verschiedener Herangehensweisen an die Frage des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung.

3.3.3 Die aufkommende Entwicklung der islamischen Wissenschaften: Koranauslegung, Grammatik, Recht und Hadith

Allmählich entstanden in dieser geistigen Atmosphäre verschiedene Disziplinen, die sich systematischer um das Verstehen der Sprache und der Bedeutungen des Koran bemühten, wie Koranauslegung (tafsīr) und Grammatik, und daraus rechtliche und ethische Normen ableiteten, wie der fiqh (Recht/Moral). Die Sammlung des Hadith wiederum war von großer Bedeutung für den tafsīr und mehr noch den fiqh.

El-Tobgui erläutert:

Diese Disziplinen repräsentieren vollständig einheimische islamische Wissenschaften, die (ursprünglich) mit den Instrumenten und Methoden des vernünftigen Denkens und der Analyse verfolgt wurden, die den frühesten Generationen der Muslime auf ganz intuitive Weise zuwuchsen. Diese Methoden und Instrumente, deren Natur wir unten genauer untersuchen werden, sind von Bedeutung, da sie einen direkten Einfluss auf die ersten systematischen theologischen Reflexionen hatten, die im Gefolge der oben beschriebenen Epoche entstanden. (S. 9-10)

3.3.3.1 Koranauslegung (tafsīr) und früher »Textualismus« vs. »Rationalismus«

Wenig erstaunlich ist, dass die Auslegung des Koran eines der ersten Anliegen der entstehenden muslimischen Gemeinschaft war. Ihr war freilich daran gelegen, die Botschaft Gottes so genau und vollständig wie möglich zu verstehen und ihre Lehren und Regeln im täglichen Leben zur Anwendung zu bringen. So beschäftigten sich die frühesten Exegeten (mufassirūn) beispielsweise damit, die Bedeutung von ungewöhnlichen Wörtern und dunkle Anspielungen im Text aufzuklären. Außerdem erwies sich, dass die Kenntnis der historischen Umstände, unter denen die Offenbarungen jeweils erfolgten, für die Interpretation erforderlich war, so dass die Suche nach den »Umständen der Offenbarung« (asbāb an-nuzūl) zu einem wichtigen Bestandteil der Koranauslegung wurde.

Diese Aktivitäten sind für unser Thema in zweierlei Hinsicht von Belang. Erstens: Die Bruchlinien in den frühesten theo-politischen Debatten stehen oftmals in engem Zusammenhang mit Fragen im Grunde exegetischer Natur. Zweitens: Es lassen sich schon unter den frühen mufassirūn die Keime zweier entgegengesetzter methodologischer Ansätze erkennen, ein mehr rationalistischer und ein mehr textualistischer Ansatz. Damit wird ein Muster vorweggenommen, das in der folgenden Entwicklung und Herausbildung der islamischen Wissenschaften beständig hervortreten wird und im Zentrum der vermeintlichen Spannung zwischen Vernunft und Offenbarung steht, deren Auflösung Ibn Taymiyya so nachdrücklich zu seinem Anliegen machen wird.

Unter einem textualistischen Ansatz ist eine Auslegung (at-tafsīr bi al-manqūl) zu verstehen, die das Verstehen des Textes so weit wie möglich in dem gründet, was aus den autoritativen frühen Quellen überliefert (manqūl) wurde. Eine solche Interpretation stützt sich folglich möglichst auf andere Verse des Koran, Hadithe, bekannte Meinungen der Prophetengefährten, die Umstände der Offenbarung (asbāb an-nuzūl) und die Übereinstimmung mit den sprachlichen Konventionen Arabiens im siebten Jahrhundert.

Eine rationalistische Methode der Auslegung erlaubt im Unterschied dazu einem kundigen Exegeten, diese Quellen mit seiner wohlüberlegten Meinung (raʾy, idschtihād, idschtihād ar-raʾy) zu ergänzen. Der Textualist erkennt zwar die Meinungen der frühen mufassirūn unter den Prophetengefährten und den Nachfolgern (tābiʿūn), nämlich den salaf, als gültige Interpretationen an, bestreitet aber späteren Exegeten das Recht, in der gleichen Weise zu urteilen. Der Rationalist hingegen erkennt im idschtihād der frühen Gemeinschaft eine Einladung für spätere Exegeten, es ihnen nachzutun.

3.3.3.2 Grammatik

Die frühe systematische Erforschung der arabischen Grammatik übte ebenfalls eine tiefe Wirkung auf die Entwicklung des islamischen Denkens aus. Es entstanden um die Mitte des 2./8. Jahrhunderts zwei rivalisierende Schulen, die eine in Basra und die andere in Kufa. Die Schule von Basra suchte eher nach allgemein anwendbaren grammatischen Regeln und tendierte dazu, alle Ausnahmen, die sich diesen Regeln nicht fügten, als inkorrekten Gebrauch auszuschließen. Die Schule von Kufa hingegen erlaubte eine beträchtliche Großzügigkeit bei der Anerkennung vielfältiger Regeln, so dass mitunter sogar seltene Beispiele eines Gebrauchs als Grundlage für die Aufstellung neuer Regeln herangezogen wurden.

Es lässt sich also auch auf dem Gebiet der Grammatik schon früh ein deutlicher Kontrast in der Methodologie erkennen: einerseits die rationalistische, deduktive und präskriptive Methode der Schule von Basra und andererseits die mehr empirische, induktive und beschreibende Methode der Schule von Kufa. Die Grammatik übte nicht nur einen großen Einfluss auf die Koranauslegung aus, sondern auch auf die entstehende Disziplin des kalām, in den ihre Kategorien und Begriffe Eingang fanden.

3.3.3.3 Sunna, Hadith und raʾy

Der Koran beschreibt den Propheten Muhammad als »gutes Beispiel« (Koran 33:21) und gebietet den Gläubigen in vielen Versen seinem Vorbild zu folgen und ihm Gehorsam zu leisten (siehe z.B. 4:80, 3:132). So entstand das Konzept der prophetischen Sunna unmittelbar nach dem Tod des Propheten. Der Sunna des Propheten zu folgen, wurde zu einem bestimmenden Gebot für die ersten Generationen der Muslime, die sich fortan anschickten, alle Kenntnisse und Berichte über die Worte und Taten des Propheten zu sammeln und zu überliefern. Diese Anstrengung gipfelte schließlich im größten wissenschaftlichen Unterfangen der ersten drei bis vier Jahrhunderte der islamischen Geschichte: der Prüfung, Überlieferung und Sammlung des prophetischen Hadith. Das Wort ʿilm (Wissen) wurde dabei oftmals sogar einfach als Synonym für hadīth gebraucht.

Und ʿilm im Sinne des Wissens der textlichen Quellen des Islam, vor allem der Sunna des Propheten in Gestalt der hadīth-Berichte, wurde der Begriff des raʾy entgegengesetzt, der mit dem Aufkommen der hadīth-Bewegung im letzten Viertel des 1./7. Jahrhunderts anstelle der ursprünglich positiven Konnotation einer »wohlüberlegten Meinung« eine zunehmend negative Konnotation im Gegensatz zu ʿilm erhielt. Mit dem Aufstieg der Sunna verliert der Begriff des raʾy an Bedeutung, so dass er schließlich zu Beginn des 3./9. Jahrhunderts seine Stellung als technischer Term und Methode des freien Urteilens im Rechtsdiskurs nahezu einbüßt.

Je mehr Materialien der Offenbarung erhältlich und zugänglich sind, desto beschränkter wird der Bereich des raʾy. Darin manifestiert sich ein Trend, der sich nicht nur im Fiqh, sondern auch im Kalam bemerkbar macht, was nicht weiter verwunderlich ist, da dem Fiqh die Stellung einer zentralen und grundlegenden Wissenschaft zukommt, deren textliche Quellen, Methoden, Begriffe, Werte und Haltungen die gesamte geistige Atmosphäre prägen. Aus all diesen Entwicklungen erwuchs eine Verschärfung der Spannung zwischen den ahl al-hadīth (Leuten des Hadith) und den ahl ar-raʾy (Leuten der wohlüberlegten Meinung), die sich in keinem anderen Bereich so deutlich und folgenreich manifestierte wie auf dem Gebiet des Fiqh und dessen Methodologie.

3.3.3.4 Fiqh und Fiqh-Methodologie

Die Rechtswissenschaften stützen sich auf die Texte der Offenbarung, Koran und Sunna, als Quellen rechtlicher und moralischer Regeln und Normen für die muslimische Gemeinschaft. Dadurch stehen sie von vornherein auf der Seite der Offenbarung im Gegensatz zur abstrakten, spekulativen Vernunft, die in Kalam und Philosophie in Anspruch genommen wird.

Allerdings müssen die offenbarten Texte verstanden und interpretiert werden, um ihre Relevanz und Anwendbarkeit für eine bestimmte Situation feststellen zu können. Es ist bezeichnend, dass diese Wissenschaft mit dem Titel fiqh (wörtlich: Verstehen) benannt wurde.

Wie bei der Entstehung der Wissenschaften des tafsīr und der Grammatik ergab sich auch hier ein methodologischer Zwist aus der Frage, welchen Anteil beim Verstehen der Offenbarung dem idschtihād ar-raʾy, also der auf selbständiger Überlegung und rationalen Erwägungen basierenden Urteilsfindung zukommen sollte, die von denjenigen mit Misstrauen bedacht wurde, die Fiqh-Fragen möglichst ausschließlich auf der textlichen Grundlage von Koran und Sunna lösen wollten. Die einen setzten auf striktes Festhalten am Hadith mit möglichst geringer Interpretation (ahl al-hadīth; Leute des Hadith), während die anderen der wohlüberlegten Meinung einen größeren Spielraum einräumen wollten (ahl ar-raʾy; Leute der wohlüberlegten Meinung). Die divergierenden methodologischen Tendenzen der ahl ar-raʾy und ahl al-hadīth führten zu einer Spannung, die nicht vor dem 3./9. Jahrhundert aufgelöst werden sollte.

Muhammad ibn Idrīs asch-Schāfiʿī (gest. 204/820) schuf einen Ansatz, der schließlich eine Versöhnung dieser Tendenzen befördern sollte. In seinem berühmten Werk ar-Risāla sprach er sich dafür aus, den Begriff der sunna ausschließlich auf die Sunna des Propheten zu beschränken und zugleich zu deren inhaltlicher Bestimmung nur angemessen geprüfte und als zuverlässig erwiesene hadīth-Berichte zuzulassen. Zudem entwickelte er eine Theorie der Fiqh-Methodologie, die zwar einerseits die Arten von verwendbaren rationalen Argumenten reduzierte, aber andererseits eben die zulässigen Arten von rationalen Argumenten, vor allem den qiyās (Analogieschluss), bestätigte und konsolidierte, so dass sie zu einem festen Bestandteil des islamischen Rechtsdenkens werden konnten.

Da das Werk von asch-Schāfiʿī zunächst keine große Wirkung entfaltete, sollte es allerdings noch hundert Jahre dauern, bis eine echte Synthese entstand, die zwischen den beiden entgegengesetzten Positionen tatsächlich wirksam vermittelte. Sie war vor allem das Werk des schafiʿitischen Gelehrten Abū al-ʿAbbās Ibn Suraydsch (gest. 306/918) und wurde fortan als die universelle Norm des usūl al-fiqh (Theorie des Fiqh) in allen Fiqh-Schulen übernommen.

Asch-Schāfiʿīs These darf keineswegs als einseitiger Triumph der »Textualisten« über die »Rationalisten« missverstanden werden. Bei allem Gewicht, das er den textlichen Quellen des Fiqh, insbesondere der Sunna des Propheten in Gestalt des Hadith, beimisst, nimmt er doch auch rationale Verfahren wie den qiyās in die Fiqh-Theorie auf. Damit eröffnet er einen Mittelweg zwischen Textualismus und Rationalismus, der schließlich in eine Synthese mündet, die zur Grundlage der gesamten islamischen Fiqh-Theorie wurde. Die Spannung zwischen rationalen Denkweisen und den offenbarten Texten, die dadurch aufgelöst werden sollte, spiegelt auf der Ebene des Fiqh eine viel breitere und allgemeinere Spannung wider, die das islamische Denken überhaupt durchzog und auch auf der Ebene des Kalam nach einer Lösung verlangte.

3.3.4 Frühe theologische Reflexion und Kontroverse

Die Methodologie der frühen theologischen Reflexion folgte zunächst den Mustern, die sich in den einheimischen islamischen Wissenschaften herausbildeten. Dieser Prozess vollzog sich freilich nicht in Isolation, sondern unter zahlreichen äußeren Einflüssen, die mit der raschen Ausdehnung des islamischen Reiches ständig zunahmen und zu denen neben vielen anderen persische, indische und griechische Denkweisen und Philosophien gehörten.

Die dominante geistige Strömung war dabei der Hellenismus. Die frühesten Einflüsse griechischen Denkens ergaben sich durch die Berührung mit einer hellenistischen Tradition, die in den unter den Sassaniden errichteten christlichen Schulen in Irak und Persien noch lebendig war.

Diese Strömungen waren mitunter mit dem Islam kaum oder gar nicht vereinbar. Durch Kontakte mit gebildeten Vertretern nicht-muslimischer Kulturen, insbesondere Christen, stießen die Muslime auf polemische Argumente gegen islamische Lehren, die bei ihnen das Bedürfnis nach Instrumenten weckten, um die zugrunde liegende Vernünftigkeit und Plausibilität der islamischen Lehren in mehr universell annehmbaren Begriffen zu verteidigen.

Dies gilt ganz besonders für die Christen, die in einigen Gebieten nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung stellten, sondern zudem einen Monotheismus vertraten, der mit ähnlichen universalistischen Ansprüchen zum Islam in Konkurrenz stand und dessen theologisches Denken in eine ausgefeilte intellektuelle Ausdrucksform gefasst war, die aus einer jahrhundertelangen Durchdringung mit der griechischen Philosophie, insbesondere in Gestalt des Neoplatonismus, hervorgegangen war.

Die frühen Muslime waren auf eine solche Debatte durchaus vorbereitet durch die Denk- und Argumentationsweisen, die sie durch das Vorbild des Koran und des Propheten gelernt und die bereits zur Ausbildung der islamischen Wissenschaften beigetragen hatten. Dieses Denken wurde durch die vielfältigen Begegnungen nun aber in ein neues kulturelles und intellektuelles Umfeld versetzt, was rasch zur Übernahme bestimmter Begriffe und Methoden durch muslimische Theologen führte, die ihnen notwendig erschienen, um ihren Rivalen Antworten bieten und den Islam in einer Weise darstellen zu können, die einem vermeintlich universell geteilten rationalen Diskurs entsprach.

Dabei boten sich besonders griechische Begriffe und Methoden der Argumentation als wirkungsvolle Werkzeuge an, die in diesen geistigen Auseinandersetzungen zur Verteidigung des Islam eingesetzt werden konnten. Da die Muslime zu einem erheblichen Maße zur Anpassung an die Kategorien ihrer Diskussionspartner gezwungen waren, ergab sich daraus, dass die sich im 2./8. Jahrhundert entwickelnde muslimische Theologie (kalām) sowohl in ihren Methoden wie auch in ihrem Inhalt und ihren Fragestellungen stark davon geprägt wurde.

Vor diesem intellektuellen Hintergrund fanden die ersten im eigentlichen Sinn spekulativ-theologischen Debatten im islamischen Denken statt. Die erste Diskussion, abgesehen von der bereits erwähnten Debatte um die schwere Sünde, drehte sich um die Frage von Willensfreiheit und Determinismus und prägte in erheblichem Maße, wie zukünftig andere Fragen der Glaubenslehre betrachtet und erörtert werden sollten.

Die eine Seite, die sogenannten Qadariten, betonten die menschliche Handlungsfreiheit und moralische Verantwortung. Manche nahmen dabei an, dass die moralische Verantwortung nicht nur davon abhängt, dass die Menschen ihre Handlungen wählen und ausführen (faʿala), sondern auch »erschaffen« (khalaqa). Diese Ansicht stieß auf Kritik, da sie die Stellung Gottes als einzigen Schöpfer (khāliq) und Urheber zu beeinträchtigen schien. Die Gegenseite, die sogenannten Dschabriten, hingen eher einem strikten Determinismus und einer Leugnung der menschlichen Willensfreiheit an.

Die zweite große Debatte erhob sich um die Frage des Verhältnisses von Gott zum Koran als Seinem Wort, insbesondere darum, ob der Koran als Gottes Rede als ein Attribut des göttlichen Wesens und daher als ewig (qadīm) erachtet werden sollte oder als getrennt von Gottes Wesen und daher als kontingent und zeitlich hervorgebracht (muhdath) oder, wie es schließlich hieß, als erschaffen (makhlūq). Diese Debatte über das Wesen des Koran wurde zum wichtigsten und zugleich strittigsten Thema im frühen Kalam, das mit seinem ganzen entzweienden Potential den Weg zum großen Schlagabtausch zwischen Rationalisten und Textualisten in der Mitte des 3./9. Jahrhunderts bereitete. Diese Frage ist darüber hinaus von großer Bedeutung, da sie mit dem Thema der Attribute Gottes verknüpft ist, das nicht nur den zentralen Gehalt des Kalam bildet, sondern auch im Mittelpunkt von Ibn Taymiyyas Interesse im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql steht.

In diesen Debatten zeichnet sich eine Zunahme an Abstraktion, Formalisierung, philosophischer Terminologie und ausdrücklicher Inanspruchnahme der Vernunft als Schiedsrichter auf dem Feld wettstreitender theologischer Auffassungen ab. In der Debatte über Willensfreiheit und Vorherbestimmung ging es um einen entscheidenden Aspekt des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott sowie um die Offenbarung, insofern verschiedene Weisen, Aussagen über Gott zu treffen, und damit das Wesen Gottes selbst und die darin angelegten Implikationen erörtert wurden.

Die Qadariten als Anhänger der Handlungs- und Willensfreiheit argumentierten so: Da Gott gerecht ist, muss es so sein, dass der Mensch frei handelt als Urheber und Schöpfer seiner eigenen Taten, um Lohn oder Strafe im Jenseits gerechterweise zu verdienen.

Die Dschabriten als Anhänger des Determinismus brachten dagegen vor: Wenn Gott allmächtig ist, muss es so sein, dass Seine Macht, wie es im Koran so deutlich heißt, sich auf alle Dinge erstreckt, einschließlich der Handlungen des Menschen.

Die Debatte über Willensfreiheit erweist sich somit als von grundsätzlicher Bedeutung für den begrifflichen Rahmen des Kalam. An ihr lässt sich ablesen, wie die frühe theologische Debatte aus unterschiedlichen Interpretationen des Koran erwuchs, als Fragen gestellt wurden, die zur Zeit des Propheten nicht gestellt oder von der Offenbarung nicht ausdrücklich behandelt worden waren, so dass für die neu auftretenden Probleme nach Antworten in der Interpretation der Offenbarung gesucht werden musste, um sie schließlich in moralphilosophische Begriffe zu kleiden. Zudem kam die aufkeimende Spaltung zwischen rationalistischer und textualistischer Herangehensweise, die sich bereits auf anderen Gebieten gezeigt hatte, nun auch auf der theologischen Ebene zum Vorschein.

In der Debatte über den Koran als Gottes Wort ging es hingegen um Überlegungen mehr metaphysischen und ontologischen Charakters. Denn erörtert wurde nicht die Frage, ob Gott den Koran gesprochen hat und welche Folgen dies für das moralische Leben des Menschen bergen mag, sondern die Frage nach Gottes Wesen selbst, Seiner Beziehung zu Seinem Wort und die schwierigen ontologischen Fragen hinsichtlich Gottes Wesen und Seiner Attribute.

Die Begriffe, in denen diese Debatte geführt, und der begriffliche Rahmen, in dem das Problem selbst definiert und erörtert wurde, – wie beispielsweise »Wesen«, »Attribut« usw. – sind ein direktes Ergebnis des Einflusses der griechischen Philosophie und der Diskussionen mit hellenisierten christlichen Theologen. In solchen Diskussionen beriefen sich rationalistisch gestimmte Theologen direkt und ausdrücklich auf die »Vernunft« (ʿaql) im Streben nach einem methodologischen Rationalismus, der nicht nur dem hermeneutischen Zweck der Interpretation von Offenbarungstexten über das Wesen Gottes dienen sollte, sondern darüber hinaus das philosophische Ziel verfolgte, eine Konzeption von Gottes Wesen in gänzlich rationalen Begriffen und unabhängig von den »Einschränkungen« der Offenbarung zu entwerfen.

El-Tobgui bemerkt dazu:

Die Debatte über den Koran führt also zum ersten Mal in die Diskussion ein Maß an spekulativer Abstraktion, die aus äußeren Quellen gespeist wird, ein – zum Beispiel die philosophische Unterscheidung zwischen Wesen und Attributen -, die nun eine besondere rationale Optik erzeugt, durch welche die Offenbarung fortan gebrochen werden muss. Mit der Debatte über den Status des Koran stehen wir mithin nicht länger vor einem intertextuellen, rein hermeneutischen Unternehmen, das gänzlich innerhalb der Texte bleibt, sondern vielmehr zum ersten Mal vor einem echten spekulativen theologischen Vorstoß, der Ansprüche eigenen Rechts und unabhängig von der Offenbarung darüber erhebt, wie das Wesen Gottes »sein muss« gemäß der Diktate der »Vernunft« als Teil eines systematischen Versuchs, das Verstehen der Offenbarung nach den Konturen eines rationalen Bezugsrahmens zu modeln, der hinfort kraft eigener Vollmacht die wesentlichen Begriffe der Analyse vorschreibt. (S. 27-28)

3.3.4.1 Übersetzungsbewegung & Einfluss der griechischen Philosophie

Der Einfluss griechischer Ideen auf das muslimische Denken wurde durch die arabischen Übersetzungen von Werken der griechischen Philosophie seit dem 2./8. Jahrhundert massiv verstärkt. Das groß angelegte Übersetzungsprojekt kam mit der Konsolidierung der abbasidischen Herrschaft in vollen Schwung.

Durch die abbasidische Revolution kam es zu weitreichenden Veränderungen auch auf geistigem Gebiet, so dass von einer neuen Ära für den Kalam gesprochen werden kann. Dank der Unterstützung durch die abbasidischen Autoritäten kam es zu einer regelrechten Blüte des Kalam, in der Denker aus verschiedenen Regionen und mit vielfältigen intellektuellen Neigungen im Zuge eines immer weiter ausgefeilten Diskurses eine Art neue Theologie ausbildeten.

Im Kontext dieser Entwicklungen kann wohl die Übersetzungsbewegung als der wichtigste Anstoß für den Aufstieg der ersten Kalam-Schule im eigentlichen Sinne in der ersten Hälfte des 3./9. Jahrhunderts betrachtet werden, nämlich der Muʿtazila.

3.3.5 Muʿtazila

Die erste Schule des Kalam war die Muʿtazila, deren Ursprünge auf Wāsil ibn ʿAtāʾ (gest. 131/748) zurückgeführt werden, der sich vom Kreis um al-Hasan al-Basrī aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Status des schweren Sünders lossagte. Sie hatte einige Generationen Bestand und ging Anfang des 3./9. Jahrhunderts unter. Im Zuge der Reaktion auf die griechische Philosophie übernahm der muʿtazilitische Kalam von seinen Gegnern allerlei Begriffe und Argumentationsmethoden.

Die muʿtazilitischen Denker vertraten zwar recht unterschiedliche Auffassungen, waren sich aber in den sogenannten »fünf Prinzipien« einig: 1. Gottes Einheit (tawhīd): dies wurde so verstanden, dass Gott keine von Seinem Wesen unterschiedenen Attribute besitzen kann; 2. Gottes Gerechtigkeit (ʿadl): dies impliziert freien Willen als Voraussetzung für gerechte Vergeltung der Taten durch Gott; 3. Versprechen und Drohung (al-waʿd wa al-waʿīd): Gott ist moralisch verpflichtet, die Gerechten zu belohnen und die Frevler zu bestrafen, wodurch Vergebung der Strafe durch göttliche Gnade implizit ausgeschlossen ist; 4. Zwischenstatus (al-manzila bayn al-manzilatayn) des schwer sündigen Muslim: ein Zwischenstatus zwischen Gläubigem und Nicht-Gläubigem; 5. individuelle und kollektive Pflicht der Muslime, Gutes zu gebieten und Übel zu verwehren (al-amr bi al-maʿrūf wa an-nahy ʿan al-munkar) (siehe z.B. Koran 3:104).

In unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist das erste Prinzip, da es über den Begriff des tawhīd direkt die Frage der Attribute Gottes berührt. Zum muʿtazilitischen Verständnis des Begriffs des tawhīd gehören vor allem folgende drei Aspekte: a) Bestreitung des hypostatischen Charakters der wesentlichen Attribute Gottes wie etwa Wissen, Macht und Rede; b) Bestreitung der Unerschaffenheit oder Ewigkeit des Koran; c) Bestreitung jeglicher Ähnlichkeit zwischen Gott und irgendeinem Erschaffenen (tanzīh). Die Muʿtaziliten widersetzten sich mit besonderer Schärfe den Lehren der Prädestination und des Anthropomorphismus oder taschbīh (Verähnlichung Gottes mit Erschaffenem), wobei sie letzteren mittels der Methode der figurativen Interpretation (taʾwīl) zu neutralisieren suchten.

Die Muʿtaziliten entwickelten ein apologetisches Programm zur Verteidigung der Lehren des Islam gegenüber den Anhängern anderer Religionen wie auch gegenüber anderen Muslimen, die in ihren Augen Gottes einzigartiges Wesen beeinträchtigt hatten, indem sie durch eine allzu wörtliche Interpretation zu einem anthropomorphistischen Verständnis der Offenbarung gelangt waren. Demgegenüber vertraten sie eine Interpretationsmethode, die sich auf die möglichst strenge Anwendung ihres Verständnisses der Vernunft auf theologische Fragen stützte, auch wenn die daraus resultierenden Schlussfolgerungen im Widerspruch zur offensichtlichen Bedeutung des koranischen Textes standen.

Die Muʿtaziliten waren allerdings keine reinen Rationalisten, sondern nahmen den Koran zum Ausgangspunkt und verteidigten theologische Auffassungen mit rationalen Begriffen und Methoden, wobei die Vernunft bei der Interpretation der Offenbarung als höchster Schiedsrichter waltete. Sie bestritten daher die ontologische Eigenart der göttlichen Attribute aufgrund des rein rationalen Urteils, dass ihre Behauptung Vielheit im Wesen Gottes implizieren und daher das theologische Prinzip des tawhīd verletzen würde.

Die Muʿtaziliten haben dabei eine Vielzahl von Begriffen und Methoden der griechischen Philosophie übernommen. Dadurch ist natürlich auch ihr Verständnis von Vernunft und Rationalität zutiefst geprägt, das sie wiederum ihrem Verständnis der islamischen Lehren zugrunde legten. Im Ergebnis entwarfen sie durch diesen Prozess eine rationale oder philosophische Theologie, die starken Einfluss auf das islamische Denken gewann. Und so fanden viele ihrer Ideen und Begriffe auch Aufnahme in den sunnitischen Kalam.

El-Tobgui erläutert:

Da die Muʿtaziliten jedoch im allgemeinen als Häretiker betrachtet wurden, konnten ihre Lehren und Thesen vom mehrheitlichen Denken nicht einfach in der gleichen Form, wie die Muʿtaziliten sie präsentierten, übernommen werden. Daraus ergab sich, dass solche Ideen oftmals einen nur indirekten Einfluss ausübten – eine Tatsache, die, wie wir entdecken werden, Ibn Taymiyya sehr klar erkannte und die er in der Tat für einen Großteil dessen verantwortlich macht, was in der späteren islamischen Theologie »falsch lief«. Obgleich der Muʿtazilismus als Schule schließlich besiegt wurde, sollte er daher, wie wir sehen werden, die Form und die Probleme, die in allem späteren Kalam behandelt wurden, auf Dauer, wenn auch auf dem Weg der Reaktion, prägen. (S. 33)

3.3.6 Nicht-spekulative Theologie und das Vermächtnis von Ahmad ibn Hanbal

Unter »Theologe« versteht El-Tobgui hier nicht nur einen rationalistischen Theologen im Sinne der Muʿtazila, sondern jeden Denker, der theologische Auffassungen zu den wichtigsten Themen vertritt, unabhängig von der verwandten Methodologie und Denkweise. Und diejenigen, die sich dabei nicht des rationalistischen Bezugsrahmens der entstehenden Wissenschaft des Kalam bedienen oder sich diesem widersetzen, nennt er »nicht-spekulative Theologen«. Die nicht-spekulative Theologie, die schließlich vor allem mit dem sogenannten Hanbalismus in Verbindung gebracht wurde, ist allerdings, insbesondere vor dem Aufstieg der aschʿaritischen Variante des Kalam seit dem 5./11. Jahrhundert, von einer großen Zahl von Gelehrten aller bedeutenden Fiqh-Schulen vertreten worden.

Die nicht-spekulative Theologie war also ein wesentlicher Bestandteil der Szenerie des islamischen Denkens im 3./9. Jahrhundert. Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie die Methoden und Ergebnisse des muʿtazilitischen Kalam eindeutig ablehnte, aber gleichwohl explizite Lehren zu theologischen Fragen aufstellte. Ihre Vertreter wurden zumeist einer Gruppe zugerechnet, die als ahl al-hadīth (Leute des Hadith) bezeichnet wurde. Und ihr einflussreichster Vertreter war Ahmad ibn Hanbal (gest. 241/855), der Gründer einer der vier großen sunnitischen Fiqh-Schulen. El-Tobgui führt die Namen einer ganzen Reihe von prominenten Hanbaliten an, um damit zu zeigen, dass es auch schon vor der Zeit von al-Aschʿarī (gest. 324/936) etliche nicht-spekulative sunnitische Theologen gegeben hat.

3.3.7 Die Mihna und ihre Folgen

Die Auseinandersetzungen zwischen der muʿtazilitischen rationalistischen Theologie und der nicht-spekulativen Theologie gipfelten in der ersten Hälfte des 3./9. Jahrhunderts in der berüchtigten sogenannten mihna (Untersuchung, Inquisition), in der es vor allem um die umstrittene Frage der Erschaffenheit des Koran ging. Was im Gewand der theologischen Debatte auftrat, hatte in Wirklichkeit einen politischen Hintergrund im Kampf um Legitimität und religiöse Autorität zwischen dem abbasidischen Kalifenamt und den ʿulamāʾ (Religionsgelehrten). Alle Religionsgelehrten, Richter und andere Notable, insbesondere in Bagdad und Umgebung, wurden dazu gezwungen, sich öffentlich zur muʿtazilitischen Lehre zu bekennen, dass der Koran erschaffen (makhlūq) und nicht ewig (qadīm) sei.

Wer sich weigerte, wurde ins Gefängnis geworfen, geschlagen und in manchen Fällen sogar getötet. Nur wenige der ʿulamāʾ konnten diesem Druck standhalten und die von der frühen Gemeinschaft (salaf) und den autoritativen Gelehrten (aʾimma) vertretenen Auffassung aufrechterhalten, die El-Tobgui folgendermaßen wiedergibt:

Der Koran war das unerschaffene und ewige Wort Gottes, ein intrinsischer und untrennbarer Bestandteil Seines Wesens und nicht ein bloßes Ding, das dem göttlichem Wesen äußerlich und wie das erschaffene Universum und alles, was es enthält, in der Zeit hervorgebracht ist. (S. 37)

Zu den wenigen Gelehrten, die sich der Mihna widersetzten, gehörte Ahmad ibn Hanbal, der dadurch zu besonderem Ansehen gelangte.

Im Jahr 232/847 wandte sich jedoch das Blatt plötzlich gegen die Muʿtazila, als al-Mutawakkil das Kalifenamt übernahm und die Muʿtaziliten ihrer Posten enthob. Dieser Schlag stürzte die Muʿtazila in den Niedergang, von dem sie sich nie mehr erholen und der sie auf Dauer in die Marginalisierung führen sollte. Die Beendigung der Mihna bedeutete auch die Niederlage der Lehre vom erschaffenen Koran und den Sieg der traditionellen Auffassung.

El-Tobgui stellt des weiteren fest:

Doch die Mihna ist noch aus einem zweiten Grund von Bedeutung, denn es ergab sich durch diese bittere Erfahrung – in der die neue Waffe der griechisch-inspirierten rationalen Argumentation mit dem zwangsgewaltigen Arm des Staates eine Verbindung einging, um eine Lehre durchzusetzen, die zutiefst als Verletzung des eigentlichen Wesens des Koran als Gottes Wort empfunden wurde -, dass viele nicht-spekulative Hadith- und Rechtsgelehrte widerstrebend zu der Ansicht gelangten, trotz des bis zum Äußersten gehenden Widerstands von Ahmad ibn Hanbal, dass es unvermeidlich geworden war, sich zumindest auf eine gewisse Form des rationalen kalām einzulassen, wenn die orthodoxen Positionen der autoritativen frühen Generationen (salaf) in der öffentlichen Arena überzeugend verteidigt werden sollten, deren intellektuelles Idiom von den Kategorien und Begriffen des muʿtazilitischen kalām nun so gründlich durchsetzt war. (S. 38)

Im Gefolge dieser Entwicklungen trat eine Reihe von Gelehrten in Erscheinung, deren Auffassungen denen von Ibn Hanbal relativ nahestanden, wie beispielsweise al-Muhāsibī, Ibn Kullāb und al-Qalānisī, und die in ihrem Bestreben, traditionelle Lehren mit den neuen Methoden des Kalam zu verteidigen, als Vorläufer von al-Aschʿarī angesehen werden können.

3.3.8 Al-Aschʿarī und der »Alte Kalam«

3.3.8.1 Al-Aschʿarī

Abū al-Hasan al-Aschʿarī (gest. 324/935-6) widmete sich den islamischen Wissenschaften und zeichnete sich insbesondere im Kalam aus. Er hing der schafiʿitischen Fiqh-Schule an. Schließlich wurde er zu dem herausragenden Schüler der führenden muʿtazilitischen Autorität seiner Zeit, Abū ʿAlī Muhammad al-Dschubbāʾī (gest. 303/916).

Um das Alter von vierzig Jahren herum erfuhr er allerdings einen plötzlichen Seelenwandel. Er erzählte, dass ihm der Prophet im Traum erschienen sei und ihn dazu aufgefordert habe, das von ihm Überlieferte, nämlich die durch den Hadith überlieferte Sunna, zu verteidigen. Al-Aschʿarī sagte sich daraufhin öffentlich vom Muʿtazilismus los, ließ den Kalam völlig fallen und widmete sich ausschließlich dem Studium von Koran und Hadith. In einem weiteren Traum tadelte der Prophet ihn jedoch und stellte klar, ihm zwar die Verteidigung der von ihm überlieferten Lehren aufgetragen zu haben, aber nicht, die rationalen Methoden der Argumentation aufzugeben. Daher schickte al-Aschʿarī sich nun an, eine Methodologie zu entwickeln, die der Verteidigung der offenbarten Lehren auf der Grundlage rationaler Argumentation dienen sollte.

Al-Aschʿarī übernahm ausdrücklich Positionen, die denen von Ahmad Ibn Hanbal nahestanden, und versuchte diese mittels der Vernunft, also insbesondere der von den Muʿtaziliten verwandten Methoden zu rechtfertigen, wobei er weit über alles bisher Bekannte hinausging. Er versuchte sogar, die Legitimität dieser Herangehensweise durch die Behauptung zu begründen, der Koran enthalte schon die Keimform einiger dieser rationalen Methoden. Dafür wurde er von der Mehrheit der Hanbaliten kritisiert, da sie den Gebrauch des formalisierten Kalam selbst schon für eine gefährliche Kapitulation gegenüber Methoden und Annahmen ansahen, die an sich ungültig und ohne Grundlage waren.

In der Lehre selbst unterschied er sich von den Hanbaliten darin, dass er die Frage der Attribute Gottes, die von den Muʿtaziliten aufgeworfen worden war, aufgriff und dazu ausdrücklich Stellung bezog – im Gegensatz zur hanbalitischen Position, die sich auf einen strikten Amodalismus (bi lā kayf) beschränkte. Al-Aschʿarīs Auffassung der Attribute erlaubt ein gewisses Maß an Analogie zwischen den Attributen Gottes und menschlichen Attributen, die mit demselben Wort oder Namen bezeichnet werden. Dabei stützte er sich auf eine abgeschwächte Version des muʿtazilitischen Prinzips des qiyās al-ghāʾib ʿalā asch-schāhid, nämlich einer analogischen Schlussfolgerung von der sichtbaren Welt (schāhid) unserer Erfahrung auf die unsichtbare Welt (ghāʾib) der verborgenen Wirklichkeiten jenseits unserer Wahrnehmung.

Durch eine vorsichtige Anwendung dieses Prinzips wollte al-Aschʿarī einen Mittelweg zwischen den radikalen Ansichten der Muʿtaziliten einerseits und der Hanbaliten andererseits beschreiten. Wenn im Koran von den Attributen Gottes gesprochen wird, so ist zwar damit etwas gemeint, was sich ausschließlich auf die Wirklichkeit Gottes bezieht, aber auch einen vergleichbaren Bezugspunkt in der menschlichen Erfahrung hat. Diese Attribute dürfen nicht in rein menschlichen Begriffen verstanden werden, besitzen aber eine darauf beziehbare Wirklichkeit, deren wahre Natur dem Menschen aber letztlich verborgen bleibt.

Das besagte muʿtazilitische Prinzip, das in den frühen Phasen des Rationalismus so populär war, verfiel jedoch der Kritik des zeitgenössischen hanafitischen Gelehrten Abū Mansūr al-Māturīdī (gest. 333/944), so dass es auch für al-Aschʿarī nicht länger haltbar blieb.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Lehre von al-Aschʿarī ist der Okkasionalismus, der die Existenz des Kausalverhältnisses bestreitet, indem alle vermeintlichen Beziehungen von Ursache und Wirkung lediglich als Zusammenfall der Ereignisse erscheinen, die letztlich von Gott willkürlich gemäß Seiner Gewohnheit (ʿāda) in jedem Augenblick erneut herbeigeführt werden, ohne dass eine wirksame Kausalverbindung zwischen ihnen bestünde. Der Okkasionalismus ist eines der Hauptprinzipien des aschʿaritischen Kalam bis heute geblieben.

3.3.8.2 Al-Bāqillānī

Abū Bakr Muhammad ibn at-Tayyib al-Bāqillānī (gest. 402/1013) wird als wichtigstem Nachfolger von al-Aschʿarī zugeschrieben, die frühe Methodologie der aschʿaritischen Schule vervollkommnet zu haben. Er spielte zudem eine herausragende Rolle bei der Herausarbeitung der metaphysischen Grundlagen des Aschʿarismus. Vom Werk al-Bāqillānīs kann gesagt werden, dass darin der frühe Aschʿarismus der sogenannten mutaqaddimūn (Früheren) zur Reife kam.

Al-Bāqillānī übernahm den Okkasionalismus und entwickelte ihn weiter, indem er im Aschʿarismus ein atomistisches Verständnis von Zeit und Materie fest verankerte, das zuerst vom muʿtazilitischen Theologen Abū al-Hudhayl (gest. 226/841) vertreten worden war. Demzufolge besteht die gesamte Wirklichkeit außer Gott aus diskreten Atomen und Akzidenzien, die völlig unverbunden miteinander sind und unmittelbar von Gott abhängen, von Dem sie nicht nur erschaffen, sondern auch von jedem Zeitatom zum nächsten erhalten oder wiedererschaffen werden. Die Theorie des Atomismus repräsentierte die Gegenthese zu einer Konzeption der Welt, wie beispielsweise in der aristotelischen Philosophie, die aus einer kontinuierlichen Zeit und Materie bestand und von unwandelbaren Naturgesetzen deterministisch bestimmt wurde. Im Gegensatz dazu konnte der Okkasionalismus als die perfekte Naturphilosophie erscheinen, um die Allmacht Gottes zu wahren, die somit keinerlei Einschränkung durch das Kausalprinzip unterlag.

El-Tobgui erläutert weiter:

Al-Bāqillānī kann also als der größte Systematisierer der »alten Schule« des Aschʿarismus (diejenige der mutaqaddimūn) betrachtet werden, und in einem gewissem Sinne als der letzte, da beginnend mit al-Dschuwaynī (gest. 478/1085) in der nächsten Generation grundlegende Änderungen zu erscheinen beginnen, die den Weg bereiten für einen »neuen kalām« (denjenigen der mutaʾakhkhi­rūn [Späteren]), der eine Reihe von begrifflichen Neuformulierungen und methodischen Erneuerungen der früheren aschʿaritischen Lehre umfasst. Um gebührend zu verstehen, was genau geschehen ist und warum, müssen wir unsere Aufmerksamkeit allerdings für einige Augenblicke auf den Aufstieg und die Entwicklung eines gänzlich getrennten Diskurses richten – den der Philosophie oder falsafa -, der schließlich eine starke Wirkung auf den aschʿaritischen kalām ausüben sollte, nämlich mit Beginn des 5./11. Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Tode seines größten Verfechters, Abū ʿAlī ibn Sīnā (gest. 427/1037). (S. 47)

3.3.9 Philosophiefalsafa

Philosophische Reflexion im islamischen Denken setzte schon recht früh ein. Griechische Philosophie und Logik waren schon seit Jahrhunderten in die christliche Theologie aufgenommen worden, mit der sich Muslime alsbald auseinandersetzen mussten. Aber erst das große Unternehmen von Übersetzungen griechischer Werke ins Arabische vom 2./8. bis 4./10. Jahrhundert führte zum Aufstieg der rationalistischen Theologie des Muʿtazilismus und vor allem zur Entwicklung einer eigenständigen Tradition der philosophischen Reflexion unter der arabischen Bezeichnung falsafa (Philosophie), deren formative und klassische Phasen sich vom frühen 3./9. bis zum späten 6./12. Jahrhundert erstrecken.

Zu den wichtigsten übersetzten Werken gehören die des Aristoteles, der durch eine neoplatonische Brille gesehen wurde, seiner hellenistischen Kommentatoren, die zumeist Neoplatoniker waren, und des Neoplatonismus selbst. Es war also neben dem Aristotelismus vornehmlich der Neoplatonismus, der die muslimische philosophische Tradition besonders stark prägte.

Die herausragendsten Gestalten der falsafa waren al-Kindī (gest. 256/873), al-Fārābī (gest. 339/950) und der alle überragende Ibn Sīnā (gest. 427/1037). Ibn Sīnā hat viele Themen aus dem Kalam aufgegriffen und mit philosophischen Mitteln bearbeitet. Dies führte dazu, dass einerseits die falsafa fortan verstärkt nach philosophischen Lösungen für durch den Kalam aufgeworfene Probleme suchte und andererseits der Kalam einem gewaltigen Einfluss durch Ibn Sīnās Denken ausgesetzt wurde, so dass dessen Ideen und Begriffe den Werken aller späteren Mutakallimun nachhaltig ihren Stempel aufdrückten.

Die Philosophie selbst wie auch ihr tiefreichender Einfluss innerhalb des Kalam stellte eine große Herausforderung nicht nur für den Kalam, sondern darüber hinaus auch für das islamische Denken überhaupt dar. Vor diesem Hintergrund erschließt sich allererst die Bedeutung des von al-Ghazālī um die Wende des 6./12. Jahrhunderts unternommenen Versuchs einer kritischen Synthese und letztlich auch des Wesens der intellektuellen Tradition, die Ibn Taymiyya zweihundert Jahre später ererbte und auf die er so kraftvoll reagierte.

3.3.9.1 Al-Kindī

Al-Kindī (geb. 185/805) erfreute sich der Patronage der abbasidischen Kalifen, die die mihna (Untersuchung, Inquisition) betrieben. Er wollte die Philosophie für seine Mitmuslime durch eine Politik der Versöhnung mit der Religion annehmbar machen. Dafür bezeichnete er die Philosophie mit dem koranischen Ausdruck hikma (Weisheit) und versuchte deren Übereinstimmung mit dem wahren Glauben, insbesondere mit der Konzeption des tawhīd, nachzuweisen: Philosophie und Religion können sich nicht wirklich widersprechen, da beide dem gleichen Zweck dienen, die Erkenntnis Gottes, des Wahren Einen (al-haqq) zugänglich zu machen.

In vielen Positionen zu theologischen Fragen stand er der Muʿtazila nahe, indem er sich ihnen in der Verteidigung islamischer Lehren gegenüber diversen Gegnern wie Materialisten, Manichäern und rivalisierenden Philosophen anschloss. Dabei vertrat er Auffassungen, die im Gegensatz zu Aristoteles und den Neoplatonikern standen, - eine große Ausnahme unter den falāsifa (Anhänger der falsafa, Philosophen) – wie beispielsweise zu solchen Themen wie der Erschaffung der Welt ex nihilo, der leiblichen Auferstehung, der Möglichkeit von Wundern und prophetischer Offenbarung.

In einem zentralen Punkt blieb er allerdings der philosophischen Tradition gänzlich treu. Den Begriff der Einheit stützt er auf die radikale These, dass nichts, von dem etwas prädiziert werden kann, als wahrhaft »eins« (wāhid) gelten kann: Da seiner Auffassung zufolge Gott der wahrhaft Eine ist und da die Zuschreibung eines Prädikats zu einer Wesenheit notwendig deren Vielheit impliziert, folgt, dass von Gott nichts prädiziert werden kann. Die sich daraus ergebende negative Theologie, die diesem Begriff der Einheit entspringt, der die Leugnung der Attribute Gottes in sich schließt, übte einen starken Einfluss nicht nur auf alle spätere falsafa aus, sondern auch auf den Kalam weit über seine muʿtazilitische Gestalt hinaus. Gegen diese Konzeption wird sich die Kritik Ibn Taymiyyas mit besonderer Schärfe richten.

3.3.9.2 Al-Fārābī

Al-Fārābī (geb. 260/874) wurde verehrt als Meister der Logik und führender Erklärer von Platon und Aristoteles, was ihm den Ehrentitel »der zweite Lehrer« (al-muʿallim ath-thānī) einbrachte – direkt nach »dem ersten Lehrer« Aristoteles. Er ist auch berühmt für seine Schriften zur politischen Philosophie, insbesondere Ārāʾ ahl al-madīna al-fādhila (Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt), worin er das angemessene Verhältnis von Philosophie und Religion im Idealstaat in enger Anlehnung an das platonische Vorbild schildert.

Viele Werke al-Fārābīs befassen sich mit Logik und Sprachphilosophie, besonders mit der Beziehung zwischen abstrakter Logik und philosophischer Begrifflichkeit einerseits und normaler Sprache und Grammatik andererseits – ein Thema, das seinen berühmtesten Niederschlag etwas später in der Debatte zwischen dem Logiker Mattā ibn Yūnus und dem Rechtsgelehrten, Grammatiker und Philologen Abū Saʿīd as-Sīrāfī fand. Diese Thematik, die von zentraler Bedeutung für das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung ist, wird bei Ibn Taymiyyas Kritik an der abstrakten philosophischen Reflexion und seinem Versuch der Wiederherstellung eines mehr intuitiven und natürlichen Vernunftbegriffs eine wesentliche Rolle spielen.

Von nicht geringerer Relevanz in diesem Zusammenhang ist al-Fārābīs Fassung des Verhältnisses von Philosophie und Religion. Für ihn gilt die Sprache der Offenbarung als ein volkstümlicher Ausdruck philosophischer Wahrheiten mittels rhetorischer und poetischer Ausdrucksweisen, die dem gemeinen Volk, dem die Wahrheit in ihrer eigentlichen Gestalt rationaler Begriffe nicht zugänglich ist, anstelle dessen eine bildliche Darstellung bietet, die der Einbildungskraft entspricht. Der Vernunft hingegen und damit als Methode der Philosophie einzig angemessen ist die aristotelische, syllogistische Logik, da sie allein kraft apodiktischer Beweise zu Gewissheit und sicherem Wissen gelangen kann. Da ist es nur folgerichtig, wenn al-Fārābī ausdrücklich dazu aufruft, die Offenbarung im Falle eines Konflikts mit der Vernunft figurativ oder allegorisch zu reinterpretieren. Auch damit wird Ibn Taymiyya sich eingehend befassen.

Al-Fārābī wird zugeschrieben, die erste systematische Darstellung des Neoplatonismus in arabischer Sprache geliefert zu haben. Er hielt dabei an der neoplatonischen Theorie der Emanation fest und räumte dem Begriff des reinen Seins in seiner Metaphysik eine zentrale Stellung ein. Dies kommt in seiner Theologie dadurch zum Ausdruck, dass er Gott begrifflich als das Prinzip des absoluten Seins (al-wudschūd al-mutlaq) fasst. Diese Auffassung wurde für alle spätere falsafa samt spekulativem Sufismus und weiten Teilen des Kalam maßgebend und wiederum zur Zielscheibe der Kritik von Ibn Taymiyya.

3.3.9.3 Ibn Sīnā

Ibn Sīnā (geb. 370/980) ist zweifellos die zentrale Gestalt in der falsafa. Er hat falsafa und kalām aus zwei getrennten Strängen zu einer Verbindung zusammengeführt, so dass der Kalam nach ihm als Synthese zwischen seiner Metaphysik und der islamisch-theologischen Lehre betrachtet werden kann. Seine metaphysischen Thesen wurden von den Mutakallimun aufgegriffen und bis in die Moderne hinein erörtert und vertreten.

Ibn Sīnās Einfluss war besonders groß in Logik und Metaphysik. Hier soll es nur um einige Aspekte seines Denkens gehen, die in den Kalam aufgenommen worden sind. Zu diesen Ideen gehört einerseits die Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz sowie andererseits die Unterscheidung zwischen dem, was notwendig kraft seiner selbst ist (al-wādschib bi-dhātihi), – nämlich Gott – und dem, was notwendig kraft eines anderen ist (al-wādschib bi-ghayrihi) – nämlich alles außer Gott –, das zwar ebenfalls notwendig existiert, aber nicht kraft seiner selbst, sondern kraft eines anderen und letztlich Gottes, der als Spitze der langen Kette des Seins mittelbar allem anderen Seienden notwendiges Dasein verleiht. Diese beiden Thesen hatten einen gewaltigen Einfluss auf das gesamte islamische Denken.

Die Beziehung zwischen Gott und Welt wird nach dem Muster des neoplatonischen Begriffs der Emanation gefasst: Aus dem notwendig Existierenden in seiner Überfülle emanieren (überfließen, hervorgehen) die übrigen Dinge mit Notwendigkeit. Dieser objektivistische und deterministische Begriff von Gott und Sein schließt jegliche intentionale Beziehung zur Welt aus, wie sie etwa von einem Verständnis vorausgesetzt wird, das Gott als völlig freien und willentlichen Schöpfer und fürsorglichen Erhalter der Welt begreift.

Diese Auffassungen stießen daher freilich auf scharfe Kritik, und zwar insbesondere folgende Thesen: der Begriff von Gott und Seiner Beziehung zur Welt; Gottes Unwissenheit hinsichtlich der Partikularien oder Einzeldinge; die Ewigkeit der Welt; das rein geistige, nicht-körperliche Leben nach dem Tode. So widmete etwa der große Gelehrte al-Ghazālī der Widerlegung dieser und weiterer Thesen der falsafa ein umfangreiches Werk mit dem bezeichnenden Titel Tahāfut al-falāsifa (Die Inkohärenz der Philosophen). Dabei kennzeichnete al-Ghazālī die letzten drei genannten Thesen als grundsätzlich unvereinbar mit den Lehren des Islam.

Diese Kritiken konnten allerdings nicht verhindern, dass Ibn Sīnās philosophisches Denken nicht nur die falsafa in ihrer weiteren Entwicklung formte, was nicht weiter erstaunt, sondern auch den Kalam bis in seinen begrifflichen Kern hinein durchdrang, was zu einer Unterscheidung zwischen dem frühen Kalam (demjenigen der mutaqaddimūn) und dem späten Kalam (demjenigen der mutaʾakhkhirūn) führte, der so unübersehbar den Stempel von Ibn Sīnās Philosophie trug. Selbst al-Ghazālī konnte sich trotz seiner hellsichtigen Kritik diesem durchdringenden Einfluss Ibn Sīnās nicht völlig entziehen.

3.3.10 Der neue Kalam und nachfolgende Entwicklungen

3.3.10.1 Die Misere der Theologie im 5./11. Jahrhundert

Der Kalam durchlief im 5./11. Jahrhundert einen grundsätzlichen Wandel unter dem mächtigen Eindruck der Philosophie Ibn Sīnās. Der Aufstieg des neuen Kalam manifestierte sich zunächst im Denken al-Dschuwaynīs und insbesondere seines Schülers al-Ghazālī. Der Anstoß dafür dürfte nicht nur in der Herausforderung der Philosophie selbst liegen, sondern auch in dem Eindruck, dass der ursprünglich von al-Aschʿarī als Antwort auf den Muʿtazilismus entwickelte Kalam schlecht gerüstet war, um der falsafa und ihren Ansprüchen auf rationale Gewissheit und sicheres Wissen (yaqīn) auch auf dem Gebiet theologischer Fragen zu begegnen.

3.3.10.2 Imām al-Haramayn al-Dschuwaynī

Der erste bedeutende aschʿaritische Gelehrte, der vermittelt über Ibn Sīnā unter den direkten Einfluss der falsafa kam, war Abū al-Maʿālī »Imām al-Haramayn« al-Dschuwaynī (gest. 478/1085). Er schickte sich an, die in Erscheinung getretenen Unzulänglichkeiten des Kalam gegenüber der falsafa wettzumachen, und zwar durch die Übernahme gewisser Aspekte ebendieser falsafa, die ihm mit dem Kalam vereinbar und zu dessen Stützung erforderlich erschienen. So stufte er die rationalen Wissenschaften in der Hierarchie der islamischen Disziplinen wesentlich höher ein, nämlich sogar so hoch, dass er die spekulative Suche nach rationaler Gewissheit (nadhar) hinsichtlich der Grundsätze der Glaubenslehre für jeden Muslim als Voraussetzung für die Gültigkeit seines Glaubens zur Pflicht erhob.

Al-Dschuwaynī ließ den Schluss vom Sichtbaren auf das Verborgene (qiyās al-ghāʾib ʿalā asch-schāhid) fallen und ersetzte verschiedene Schlussverfahren durch Elemente der neuen Logik, die durch das Werk Ibn Sīnās wachsende Verbreitung fand. Er gab zudem die älteren Methoden zum Beweis der Existenz Gottes, die sich auf die Erschaffenheit der Welt, insbesondere das Argument von der zeitlichen Entstehung der Körper (hudūth al-adschsām) stützten, auf und setzte an ihre Stelle Ibn Sīnās Beweis, der auf der Unterscheidung von ontologischer Notwendigkeit (wudschūb) und Kontingenz (imkān) basierte.

Diese Änderung des Gottesbeweises zusammen mit der zunehmenden Aufnahme der Logik bildete im allgemeinen das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung des alten Kalam der mutaqaddimūn vom neuen Kalam der mutakhkhirūn. Darüber hinaus hat al-Dschuwaynī den Atomismus samt dem Argument der Kontingenz zum Beweis der Existenz Gottes, Seiner Attribute und der zeitlichen Entstehung (hudūth) der Welt in den aschʿaritischen Kalam erstmals systematisch integriert.

Al-Dschuwaynī setzte sich vom aschʿaritischen Verständnis der Attribute Gottes im Sinne des Amodalismus (bi lā kayf) ab, indem er diese Attribute in wesentliche (nafsī) und qualitative (maʿnawī) untergliederte, was als eine gewisse Entfernung vom ursprünglichen koranischen Sinn verstanden werden kann. Im Zuge dessen war er der erste aschʿaritische Theologe, der die Reinterpretation mittels taʾwīl auf die sogenannten offenbarten Attribute (as-sifāt al-khabariyya) wie etwa Gottes »Hand« (yad) oder »Gesicht« (wadschh) anwandte, die nicht aus der unabhängigen Vernunft abgeleitet werden können und von Ausdrücken bezeichnet werden, die Körperlichkeit implizieren könnten.

Al-Dschuwaynī hat auch erstmals eine Rechtsmethodologie auf der Grundlage der Prinzipien des neuen Kalam entwickelt. Seine umfassende theologische Abhandlung Asch-schāmil fī usūl ad-dīn (Die vollständige Abhandlung über die Grundlagen der Religion) sowie die von ihm selbst erstellte Kurzfassung dieses Werkes Kitāb al-irschād ilā qawātiʿ al-adilla fī al-iʿtiqād (Das Buch der Leitung zum entscheidenden Beweis in Glaubensdingen) wurden zu Klassikern und zum Modell für spätere Werke des Kalam. Als wichtigste Neuerung mag vielleicht die Ablösung der bis dahin gebräuchlichen Logik, die auf der Analogie basierte und vor allem dem fiqh entnommen war, durch die aristotelische syllogistische Logik gelten.

El-Tobgui bemerkt:

Ironischerweise soll al-Dschuwaynī Berichten zufolge trotz der entscheidenden Rolle, die er bei der Weiterentwicklung der Wissenschaft des kalām und der Übernahme gewisser fundamentaler Methoden und Begriffe aus der Philosophie gespielt hat, gegen Ende seines Lebens das Vertrauen in die rationalen Wissenschaften verloren und sich stattdessen wieder dem Studium der Rechtswissenschaft zugewandt haben, da er eingesehen hatte, dass »der Triumph der Metaphysik nicht die rationale Gewissheit des Glaubens wie erhofft nach sich zog« (Tilman Nagel , The History of Islamic Theology from Muhammad to the Present, Princeton, 2000, S. 167). (S. 63)

3.3.10.3 Al-Ghazālī

Der »Beweis des Islam« (hudschdschat al-islām) Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des islamischen Denkens, die er hinfort durch seine neuartige Synthese von Rechtswissenschaft, Theologie, Philosophie und Sufismus zutiefst prägen sollte. Er setzte sich intensiv und kenntnisreich mit der falsafa auseinander und schickte sich an, deren Thesen aus rein philosophischen Gründen zu widerlegen. Er brachte den bereits eingeleiteten Übergang vom Weg der Alten (tarīq al-mutaqaddimīn) zum Weg der Späteren (tarīq al-mutaʾakhkhirīn) zum Abschluss.

Al-Ghazālī studierte bei al-Dschuwaynī und lehrte später vier Jahre lang an der berühmten Nizamiyya-Madrasa in Bagdad. Er verfasste zahlreiche Werke wie den Tahāfut al-falāsifa (Inkohärenz der Philosophen) zur Widerlegung der Thesen der falsafa, dem er eine Darstellung der Logik als Anhang beifügte: Miʿyār al-ʿilm (Standard des Wissens), sowie eine bedeutende Darlegung des aschʿaritischen Kalam mit dem Titel al-Iqtisād fī al-iʿtiqād (Das rechte Maß im Glauben). Sein berühmtestes Werk, Ihyāʾ ʿulūm ad-dīn (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften), verfasste er nach einer langen Zeit des Rückzugs, in der er sich auf den Weg des Sufismus begeben hatte. Später nahm er die Lehre wieder auf und verfasste u.a. ein großes Werk über usūl al-fiqh (Rechtsmethodologie), eine intellektuelle Autobiographie mit dem Titel al-Munqidh min ad-dhalāl (Der Erlöser aus dem Irrtum) und kurz vor seinem Tod eine kleine Abhandlung, in der er für die einfachen Menschen eine Warnung vor der Befassung mit dem Kalam ausspricht.

Im Tahāfut al-falāsifa übt al-Ghazālī eine vernichtende Kritik an der falsafa insbesondere in der Gestalt von Ibn Sīnās Metaphysik und rationaler Psychologie, indem er zwanzig Thesen der Philosophen widerlegt. Drei davon erachtet er als gänzlich unvereinbar mit den Lehren des Islam. Diese Thesen sind: (1) die Ewigkeit der Welt; (2) die Vorstellung, dass Gott nur über das Wissen von allgemeinen Begriffen, nicht aber von Einzeldingen verfügt; (3) die Unmöglichkeit einer körperlichen Auferstehung nach dem Tod. Diese Thesen wurden allerdings von praktisch allen falāsifa mit Ausnahme von al-Kindī vertreten. Auf al-Ghazālīs Kritik stößt zudem Ibn Sīnās Konzeption Gottes als einer ewigen wesensmäßigen Ursache, aus der alles, was existiert, lediglich emaniert (entströmt), da dadurch jeglicher Begriff von Gottes Willen und Fürsorge im Sinne eines Eingriffs in den Weltlauf ausgeschlossen wird.

Al-Ghazālī kritisierte zwar die Philosophie mit ihren eigenen Mitteln, mit philosophischen Argumenten, um ihre Thesen zu widerlegen, statt sie bloß als fremde Wissenschaft oder aufgrund von lediglich auf der Offenbarung basierenden Argumenten zu verurteilen. Dabei übernahm er aber von seinem geistigen Gegner eine ganze Reihe von Begriffen, Ideen und Methoden. Dies gilt beispielsweise für die aristotelische Logik mit ihren Definitions- und Schlussverfahren, die er als neutrales Instrument, als vertrauenswürdige Waage zur Unterscheidung von wahren und falschen Argumenten erachtete. So konnte diese Logik auch Eingang in den Kalam und die Rechtsmethodologie (usūl al-fiqh) finden. Er wollte sogar nachweisen, dass die Schlussweisen der aristotelischen Logik schon im Koran angelegt waren. Da al-Ghazālī gleichwohl an den wichtigsten aschʿaritischen Positionen wie etwa der Negation der Wirksamkeit von sekundären Ursachen und dem göttlichen Voluntarismus festgehalten hat, beschränkt sich seine Neuerung weitgehend auf Methode, Darstellungsform und Argumentationsweise.

Was die allegorische Interpretation von Texten der Offenbarung betrifft, so lässt al-Ghazālī in manchen Fällen die Reinterpretation (taʾwīl) zu, beispielsweise bei offensichtlich anthropomorphistischen Interpretationen von Attributen Gottes, wobei er stets darum bemüht ist, den äußeren Sinn zu wahren. So hat er einerseits extreme esoterische Interpretationen wie die der Batiniten bekämpft und andererseits selbst höchst symbolische Formen der Interpretation entwickelt, wie sich insbesondere in seinem Werk Mischkāt al-anwār (Die Nische der Lichter) zeigt.

Al-Ghazālīs Haltung gegenüber dem Kalam war ebenfalls von gegensätzlichen Tendenzen geprägt. Den Ansprüchen des Kalam auf Gewissheit und sicheres Wissen begegnete er ablehnend, maß ihm aber gleichwohl einen beschränkten Nutzen bei etwa in Fällen, in denen Muslime, die durch unzulässige Neuerungen in der Lehre verunsichert oder irregeführt worden sind, mit den für sie geeigneten Mitteln der rationalen Überzeugung von ihren Zweifeln geheilt werden können.

El-Tobgui erläutert:

Al-Ghazālīs vorsichtig beifällige Einschätzung des kalām in einigen seiner Schriften sollte allerdings nicht hinwegtäuschen über seine beständige Betonung des unrettbar beschränkten Wesens alles rein diskursiven Denkens und verwandten rationalen Diskurses, wovon auch derjenige des kalām nicht ausgenommen ist. Wahre Gewissheit (yaqīn) kann hingegen für al-Ghazālī letztlich nur erlangt werden durch die »Erfassung der Wirklichkeiten« (muschāhada oder muschāhadāt al-haqāʾiq) kraft mystischer Enthüllung (kaschf). (S. 69)

Al-Ghazālī hinterließ mit seiner originellen Synthese aus Philosophie, Rechtstheorie, Kalam und Sufismus ein reiches und höchst komplexes Vermächtnis, das die wichtigsten Ideen und Begriffe vieler Werke der nachfolgenden Generationen in all ihrer Vielfalt bereits in Grundzügen enthielt und so äußerst breite Wirkung entfalten konnte.

3.3.11 Kalam und falsafa im Gefolge von al-Ghazālī

3.3.11.1 Aschʿarismus und der Kampf um Orthodoxie

Der neue Aschʿarismus fand im 6./12. Jahrhundert Anhänger wie Gegner. Die hanbalitische Strömung begegnete der weiteren Annäherung des Kalam an die Philosophie mit einer grundsätzlichen Ablehnung jeglicher philosophischen Theologie. Die Konflikte zwischen Aschʿariten, Hanbaliten und Muʿtaziliten um die Vorherrschaft beschränkten sich nicht auf das intellektuelle Gebiet, sondern wurden gelegentlich auch gewalttätig ausgetragen. Erst durch das Auftreten des berühmten seldschukischen Wezirs Nidhām al-Mulk in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wurden die Machtverhältnisse zugunsten des Aschʿarismus geklärt, der fortan in den neu gegründeten Medressen des Reichs gelehrt wurde.

Zur Zeit Ibn Taymiyyas etwa zweihundert Jahre später gab es kaum noch eine Opposition gegen den vorherrschenden aschʿaritischen Kalam, der von den mamlukischen Herrschern über Syrien und Ägypten weiter gefördert wurde.

3.3.11.2 Philosophische Theologie und das Schicksal der falsafa

Al-Ghazālīs Kritik der falsafa hatte keineswegs der Philosophie in der muslimischen Welt den Todesstoß versetzt, sondern höchstens dazu beigetragen, dass es keine Fortführung einer unabhängigen philosophischen Tradition nach aristotelischem Vorbild gab – freilich mit der Ausnahme von Ibn Ruschd (gest. 595/1198), der allerdings lediglich einen stark begrenzten Einfluss auf die muslimische Welt ausübte. Es entstanden hingegen andere philosophische Schulen wie die illuminationistische (ischrāqī) mit ihren großen Vertretern Schihāb ad-Dīn as-Suhrawardī (gest. 587/1191) und Mullā Sadrā (gest. 1050/1640), die im Iran als lebendige Tradition bis heute fortlebt. Auf der anderen Seite allerdings überlebte die Philosophie im Kalam selbst, der sie in sich aufnahm und in gewissem Maße seinen eigenen Zwecken dienstbar machte.

Über das komplexe Zusammenspiel von Philosophie und Kalam in dieser eigentümlichen Verbindung gibt es in der modernen Forschung sehr unterschiedliche Auffassungen, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Wir beschränken uns daher darauf, das Resümee von El-Tobgui wiederzugeben:

Wie dem auch sei, kalām blieb im Kern entschieden kalām in seiner allgemeinen Einstellung, Inspiration und Mission. Während andererseits die Philosophie gewissermaßen durch den kalām weiterlebte, indem sie letzteren sowohl mit einer verfeinerten Terminologie wie auch mit verbesserten Methoden der rationalen Argumentation bereicherte, operierten ihre verschiedenen Prämissen und Verfahren im Habitat des kalām nicht länger auf eine Weise, welche die falāsifa vermutlich als authentisch »philosophisch« anerkannt hätten. Was daraus resultiert, ist mithin weder reine Philosophie noch eine reine offenbarungsbasierte, nicht-spekulative Theologie, sondern vielmehr ein singuläres intellektuelles Unternehmen – eine einzigartige »philosophische Theologie« – die nach ihren eigenen Regeln und Begriffen operiert und die Elemente, mit denen sie in Kontakt kommt, übernimmt, verwirft, inkorporiert, sich aneignet und reinterpretiert, um ihren eigenen Zwecken angepasst und in den Dienst ihrer eigenen autonomen Ziele gestellt zu werden. (S. 75-76)

Der bedeutendste Architekt dieser philosophischen Theologie war der schafiʿitische Rechtsgelehrte, aschʿaritische Theologe und darüber hinaus vielseitig gebildete Gelehrte Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 606/1209). Neben al-Ghazālī hat er den größten Beitrag zur Aufnahme des neuen philosophischen Ansatzes in den Kalam geleistet. Er schrieb ein bedeutendes Werk über Metaphysik mit dem Titel al-Mabāhith al-maschriqiyya (Orientalische Untersuchungen), in dem sich deutlich der Einfluss von Ibn Sīnā widerspiegelt, auch wenn er einige Aspekte von dessen System wie etwa die Theorie der Emanation ablehnte.

El-Tobgui erläutert des weiteren:

Ar-Rāzīs bedeutendstes Werk über Theologie, der Muhassal afkār al-mutaqaddimīn wa al-mutaʾakhkhirīn (Die Ernte des Denkens der Alten und der Modernen), das mit einer ausführlichen Abhandlung über Metaphysik, Epistemologie und Logik beginnt, zeigt deutlich den wachsenden Einfluss der Begriffe und Kategorien der falsafa im Diskurs des kalām; und ar-Rāzīs Aufnahme einer metaphysischen Präambel in den Muhassal wird Standard in den nachfolgenden Werken des aschʿaritischen kalām. Von gleicher Bedeutung ist jedoch die Tatsache, dass ar-Rāzī, obgleich er in seinem Gebrauch der Philosophie liberaler als al-Ghazālī war, nichtsdestoweniger »in Fragen des Dogmas konservativer und der freien Spekulation weniger zugetan war«2. Diese Verbindung von philosophischem Intellektualismus und theologischem Konservatismus, die für die vom späteren kalām eingeschlagene Richtung charakteristisch war, legt beredtes Zeugnis ab für die zuvor gemachten Bemerkungen zur Funktion des kalām als einem vorrangig defensiven und prophylaktischen Unternehmen, das dem programmatischen Gebrauch der Vernunft mit dem Ziel verpflichtet ist, die offenbarten Wahrheiten zu verteidigen und darzulegen, und für die einzigartige Gestalt der »philosophischen Theologie«, zu der sich der kalām in seinen reifen Stadien entwickelte. (S. 76-77)


1El-Tobgui verweist in diesem Zusammenhang für eine breitere Erörterung auf: M. Abdel Haleem, Early kalām, in: Seyyed Hossein Nasr / Oliver Leaman (Hg.), History of Islamic Philosophy, Band 1, London & New York: Routledge, 1996, S. 71-88.

2Siehe Montgomery W. Watt, Islamic Philosophy and Theology, Edinburgh, 1985, S. 95.

3.4 Leben, Zeit und intellektuelles Profil des Ibn Taymiyya

3.4 Leben, Zeit und intellektuelles Profil des Ibn Taymiyya Yusuf Kuhn

3.4.1 Leben und Zeit des Ibn Taymiyya

Ibn Taymiyya wurde 661/1263 in Harran (in der heutigen Türkei nahe der syrischen Grenze) geboren. Er verstarb 728/1328 in Damaskus.1

Taqī ad-Dīn Ahmad Ibn Taymiyya wurde 1263 in eine hanbalitisch geprägte Gelehrtenfamilie geboren. Seine Geburtsstadt Harrān liegt im Südosten der heutigen Türkei und gehörte damals zum Mamlukenreich (1250–1517). Wegen der mongolischen Invasionen war seine Familie 1269 zur Flucht gezwungen. Sie ließ sich in Damaskus nieder, das eines der geistigen Zentren der damaligen muslimischen Welt war. Ibn Taymiyya wuchs in Damaskus auf und studierte dort. Sein Vater starb früh, und Ibn Taymiyya übernahm im Alter von 18 oder 19 Jahren von seinem Vater den Lehrstuhl in der größten hanbalitischen Moschee in Damaskus. Ibn Taymiyya war vielseitig gebildet und meisterte alle Wissenschaften des Islam.

Ibn Taymiyya unterscheidet sich in entscheidender Hinsicht von allen früheren hanbalitischen Gelehrten. Denn er tat, was diese nie getan haben: Er las die Werke seiner Gegner. Er studierte jede Philosophie und Ideologie, die es damals gab: kalām (Theologie), tasawwuf (Sufismus), falsafa (Philosophie), griechische Logik, Werke des Aristoteles usw. Dadurch erwarb er einen einmaligen Geist und Stil, den es bis dahin nicht gegeben hat. Und darauf gründete er sein originelles Denken mit seinem ganzen Reichtum und seiner tief verwobenen Vielschichtigkeit, das sich zugleich immer wieder auf die wahren Grundlagen des Islam – Koran und Sunna – besann. Von da aus unterzog er alle Denkweisen und Philosophien einer strengen, oftmals als polemisch empfundenen, aber meist argumentativen Kritik, die sich keineswegs Vernunft und Rationalität entzog oder widersetzte. Ganz im Gegenteil, denn es war ihm dabei stets und mit unermüdlicher Leidenschaft darum zu tun, den Einklang von Vernunft und Offenbarung im islamischen Denken aufzuzeigen. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die falāsifa (Philosophen) wie Ibn Sīnā und die philosophierenden mutasawwifa (Sufis) wie Ibn al-ʿArabī, sparte aber keineswegs den aschʿaritischen kalām aus, denen er allesamt ein ungenügendes Verständnis der harmonischen Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung vorhielt, das zur einseitigen und mitunter extremen Betonung des einen oder anderen Pols führte.

Ibn Taymiyya war stets ein entschiedener Unterstützer des mamlukischen Sultanats in Ägypten und Syrien, insbesondere im Widerstand gegen die wiederholten Einfälle der Mongolen nach Syrien in den Jahren 1299-1303. Doch sein unabhängiges Denken und Wirken brachte indes zuweilen die etablierte Gemeinschaft der Gelehrten und die politischen Herrscher gegen ihn auf. Dies trug ihm mehrere öffentliche Prozesse, Gefängnisstrafen und ein siebenjähriges Exil in Ägypten (1306-1313) ein. Auch nach seiner Rückkehr nach Damaskus kam es aufgrund seiner Ansichten zu Fragen der Scheidung und der Heiligenverehrung wiederholt zu Konflikten mit den herrschenden Autoritäten. Infolgedessen wurde er 1326 in der Zitadelle von Damaskus in Haft genommen. Der Aufenthalt im Gefängnis hatte ihn nicht davon abgehalten, seiner Schreibtätigkeit unablässig nachzugehen. Doch nun verstarb er 1328 in der Zitadelle von Damaskus, nachdem man ihn, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte, seine Gedanken auf Abertausenden von Seiten zu Papier zu bringen, seiner Feder und anderer Schreibwerkzeuge beraubt hatte.

Ibn Taymiyya war einer der größten, scharfsinnigsten und produktivsten muslimischen Gelehrten in der Geschichte des islamischen Denkens. Seine Wirkung in all ihren Verästelungen ist so umfangreich und gewaltig, dass sie schier unermesslich erscheint und kaum zu überschätzen ist. Daran und an seiner unabgegoltenen Bedeutung und Aktualität ist nicht zu zweifeln. Bei allem Streit um Ibn Taymiyya sind sich darin wohl alle einig.2

3.4.2 Intellektuelles Profil

Ibn Taymiyya verfügte über außergewöhnlich breite und tiefe Kenntnisse sowohl der schriftbasierten Wissenschaften wie fiqh, hadīth, tafsīr (Koranauslegung) und sīra (Prophetenbiographie) als auch der rationalen Wissenschaften wie kalām und falsafa. Zudem las er viele Werke des tasawwuf (Sufismus), dem er keineswegs mit genereller Ablehnung begegnete. Während er manchen Sufis wie ʿAbd al-Qādir al-Dschīlānī (gest. 561/1166) mit großer Wertschätzung begegnete, stießen andere, wie etwa Ibn al-ʿArabī (gest. 638/1240) mit seiner Lehre des wahdat al-wudschūd (Einheit des Seins), auf scharfe Kritik. Vieles spricht dafür, dass Ibn Taymiyya selbst dem Sufiorden der Qādirīya angehörte. Jedenfalls richtet sich seine Kritik am Sufismus nicht gegen diesen selbst in seiner Gesamtheit, sondern gegen bestimmte Ideen und Praktiken, die sich in seinem Rahmen herausgebildet haben.

El-Tobgui führt im Anschluss an Henri Laoust fünf Hauptthemen im Denken Ibn Taymiyyas an.

Erstens: Ibn Taymiyya strebt danach, seine Auffassungen und Lehren auf eine möglichst objektive Grundlage zu stützen. Die Hauptquellen des religiösen Wissens sind Koran und Sunna, gefolgt vom Konsens, wobei der Konsens der salaf (die Alten; die ersten drei Generationen der muslimischen Gemeinschaft) einzig mit Gewissheit ausgezeichnet ist, da die Gemeinschaft sich nach den ersten drei Generationen aufspaltete. Ibn Taymiyya vertrat die Auffassung, dass die »Leute der Sunna und der Gemeinschaft« (ahl as-sunna wa al-dschmāʿa) immer eine mittlere Position zwischen den entgegengesetzten Extremen einnehmen, wie auch der Islam insgesamt eine mittlere Stellung im Vergleich zu den verschiedenen Extremen und Übertreibungen anderer Religionen, Philosophien und Weltanschauungen bezieht. Hinsichtlich der Attribute Gottes war er der Ansicht, dass die Salaf das perfekte Gleichgewicht zwischen Negationismus (nafy) und Assimilationismus (taschbīh) verkörperten.

Zweitens: Für angemessen qualifizierte Gelehrte ist es notwendig, weiterhin idschtihād bei der Interpretation und Anwendung des Fiqh unter Rückgriff auf die ursprünglichen Quellen auszuüben.

Drittens: Ibn Taymiyya bestätigt die Wirklichkeit und Gegenwart von awliyāʾ (Freunden Gottes oder »Heiligen«) sowie Wundern (karāmāt) und Brüchen in der natürlichen Ordnung (khawāriq), die Gott durch sie herbeiführt. Andererseits wendet er sich gegen den sogenannten »Heiligenkult« insbesondere beim Besuch von Gräbern im Streben nach Fürsprache (tawassul).

Viertens: Auf der politischen Ebene ist Ibn Taymiyya der Auffassung, dass die engsten awliyāʾ Gottes nach dem Propheten Muhammad die vier rechtgeleiteten Kalifen waren. Er hält die Legitimität der Dynastien der Umayyaden und Abbasiden aufrecht, verwirft aber die Vorstellung, dass die gesamte islamische Gemeinschaft (umma) unter der Führung eines einzigen Kalifen stehen müsse. Vielmehr sollten in jeder lokalen politischen Ordnung die Herrscher anerkannt werden, wenn sie gerecht sind und im Einklang mit der Scharia unter Aufsicht der Fiqh-Gelehrten regieren.

Fünftens: Die gottesdienstlichen Handlungen sind auf das zu beschränken, was von Gott und dem Propheten geboten wurde. Umgekehrt unterliegen weltliche Transaktionen zwischen Menschen (muʿāmalāt) dem Prinzip des ursprünglichen Erlaubtseins, außer wenn sie von Gott durch Offenbarung ausdrücklich verboten wurden.

Ibn Taymiyya war ein Anhänger des Hanbalismus sowohl auf dem Gebiet des Fiqh wie auch des Kalam, auch wenn er in einzelnen Punkte abweichende Meinungen vertrat. Er bevorzugte eindeutig die Methodologie der ahl al-hadīth gegenüber derjenigen der ahl ar-raʾy. Die hanbalitische Schule ist seiner Ansicht nach durch eine große Treue gegenüber Koran und Sunna sowie der Meinungen der frühen Salaf ausgezeichnet und weist vergleichsweise wenige Meinungsverschiedenheiten (ikhtilāf) auf.

Sowohl auf dem Gebiet des Fiqh wie auch des Kalam gilt, dass ein authentischer Text der Offenbarung niemals in Konflikt geraten kann mit einer gültigen rationalen Analogie (qiyās), die auf einem richtig ausgeübten idschtihād beruht. Es kann, kurz gesagt, keinen Widerspruch zwischen Offenbarung und Vernunft geben. Daher muss jeder scheinbare Widerspruch zurückgeführt werden können auf eine unzutreffende Analogie, die Verwendung eines nicht authentischen Textes oder die Fehldeutung oder falsche Anwendung eines authentischen Textes.

Hinsichtlich der Glaubenslehre galten Ibn Taymiyya die ersten drei Generationen, die Salaf, als der überragende Maßstab für Inhalt wie Methode. Er verurteilte den Kalam im Sinne einer disziplinierten Reflexion über theologische Fragen nicht schlechthin, sondern unterschied zwischen einem der Sunna treuen Kalam (kalām sunnī) und einem mit unzulässigen Neuerungen durchsetzten Kalam (kalām bidʿī).

Ein wichtiger Beweggrund für seine kritische Haltung gegenüber dem Kalam ist dessen Tendenz zu Spaltungen und Streitigkeiten, da die rivalisierenden Schulen oftmals in heftigen Zwist über bestimmte Lehren gerieten, und zwar bezeichnenderweise aufgrund ihres unterschiedlichen Verständnisses dessen, was die Vernunft eigentlich ausmachen sollte, wie auch aufgrund der divergierenden Grundsätze und Axiome, die sich aus dem zugrunde liegenden philosophischen Bezugsrahmen der jeweiligen Schule ergaben.

Ibn Taymiyya trachtete vor dem Hintergrund der bitteren Erfahrungen mit den heftigen Konflikten der sich gegenseitig bekämpfenden und sich nur allzu oft wechselseitig aus dem Islam ausschließenden Richtungen des Kalam hingegen danach, die Schulstreitigkeiten zu überwinden und auf der Grundlage eines erneuerten islamischen Denkens die muslimische Gemeinschaft wieder zu einen.

Ibn Taymiyya befasste sich zudem eingehend mit den Lehren der falsafa, um deren Ursprünge und Grundlagen zu verstehen und nötigenfalls zu widerlegen. Dazu gehört beispielsweise seine tiefgründige und scharfe Kritik der aristotelischen Logik, mit der die traditionelle Philosophie in ihren Grundfesten erschüttert wird, in seinem Werk ar-Radd ʿalā al-mantiqiyyīn (Erwiderung auf die Logiker / Widerlegung der Logiker).

Gegen die Aufnahme des aristotelischen Syllogismus in den »neuen« Kalam setzte er sich für das aus dem fiqh stammende analogische Denken (qiyās) ein. Und gegenüber der Methode der Definition durch Gattungsbegriff und Artunterschied der aristotelischen Logik befürwortete er die wiederum dem fiqh entstammende Methode der Definition durch Beschreibung. Ibn Taymiyya hing schließlich einem strengen Nominalismus an, der Allgemeinbegriffen oder abstrakten Ideen jegliche Wirklichkeit außerhalb des Geistes absprach.

Ibn Taymiyyas eigene Position zu theologischen Fragen lässt sich als »koranische rationale Theologie« (Özervarli) beschreiben. Gegenüber dem Aufstieg und der Verbreitung einer rationalistischen Theologie, die immer stärker mit philosophischen Begriffen und Ideen durchsetzt wurde, machte er es sich zur Aufgabe, die traditionellen Lehren zu verteidigen, indem er sie in einem alternativen rationalistischen Bezugsrahmen reformulierte. Die damit einhergehende intensive Auseinandersetzung mit der Philosophie und die daraus resultierende selbst philosophische Kritik der Philosophie unterschied ihn von älteren traditionalistischen Gelehrten, die ihre Ablehnung auf einen strengen Textualismus gründeten, ohne sich überhaupt auf eine inhaltliche Befassung mit der philosophischen Tradition ernstlich einzulassen.

El-Tobgui erläutert:

Zugleich war Ibn Taymiyya ein entschiedener Vertreter des Gedankens, dass Offenbarung (in der Gestalt von Koran und Sunna) umfassendes Wissen liefert nicht nur der Prinzipien (usūl), sondern auch der Details (furūʿ) der theologischen Postulate, auf denen die Religion beruht, und dass sie dies tut, indem sie die Prämissen wie auch die rationalen Methoden ausdrücklich aufzeigt – gestützt auf die am meisten schlüssigen und gewissen rationalen Argumente und Beweise -, auf deren Basis weitere Details aus diesen Prinzipien zu entfalten sind. In der Tat ist die vielleicht herausragendste und genialste Eigenschaft von Ibn Taymiyyas Denken und Methodologie sein Versuch, nicht die Vernunft zugunsten eines nicht-spekulativen Traditionalismus zu verbannen, sondern vielmehr die Vernunft zu rehabilitieren, wobei zugleich die offenkundige Bedeutung der Texte der Offenbarung bewahrt wird, indem versucht wird aufzuzeigen, dass gesunde Vernunft und authentische Offenbarung nie in tatsächlichen Konflikt geraten, da die Offenbarung, »allumfassend und makellos, in sich selbst die vollkommenen und völlig rationalen Grundlagen birgt«3. (S. 96-97)

Diese Einsicht liegt Ibn Taymiyyas Vorhaben zugrunde, eine philosophische Interpretation und Verteidigung des islamischen Denkens zu entwickeln, die als »philosophischer Traditionalismus«4 bezeichnet zu werden verdient.

3.4.3 Charakter und zeitgenössische Rezeption

Ibn Taymiyya war stets eine hoch umstrittene Persönlichkeit. Einerseits wurde er von seinen Zeitgenossen, Freunden wie Feinden, als Person von hoher Integrität und Moral wie auch aufgrund seines überragenden Wissens auf vielen Gebieten anerkannt, andererseits stieß er aufgrund seines hitzigen Temperaments, seines schroffen Charakters und seiner Selbstgewissheit vielfach auf Ablehnung.

Während er bei der Bevölkerung sowie etlichen Gelehrten und Autoritäten durchaus beliebt war, wurde er nicht einmal von der Mehrheit der Gelehrten seiner eigenen, nämlich der hanbalitischen Schule mit offenen Armen aufgenommen. Manche Traditionalisten warfen ihm vor, der Vernunft bei der Interpretation der Offenbarung einen zu großen Stellenwert einzuräumen, andere tadelten ihn wegen seiner eigenwilligen Meinungen im Fiqh. Seine Schüler zählten nicht mehr als etwa zwölf und gehörten auffallenderweise verschiedenen Fiqh-Schulen an, was auf eine gewisse Anziehungskraft hindeutet, die seiner Herangehensweise entsprang, die darauf abzielte, die Gräben zwischen den verschiedenen Schulen des Fiqh und des Kalam durch den Versuch zu überwinden, die verlorene Einheit der frühen Gemeinschaft (salaf) samt deren einheitlichem Verständnis wiederzubeleben.

El-Tobgui stellt dazu fest:

Ibn Taymiyyas Ansatz beruht auf den miteinander verwobenen Prämissen, dass ein solches einheitliches und eindeutiges Verständnis (1) existierte, (2) identifizierbar und mithin wiederzugewinnen ist und (3) dass dieses Verständnis als eine objektiv wahre Auffassung der Position der Salaf öffentlich festgestellt werden kann durch die Befolgung der Methoden, die Ibn Taymiyya allein zu dessen Identifizierung und Aufdeckung für geeignet und fähig hält. (S. 99-100)

3.4.4 Die Werke des Ibn Taymiyya

Ibn Taymiyya war ein sehr produktiver Schriftsteller. Er hat mehrere hundert Werke geschrieben, die Hunderte von Bänden umfassen. Sein persönlicher Schreiber Ibn Ruschayyiq hat ein Werk mit dem Titel Asmāʾ muʾallafāt Ibn Taymiyya verfasst, in dem er eine große Zahl der Werke Ibn Taymiyyas auf verschiedenen Gebieten des Wissens und zu einer ungeheuren Bandbreite von Themen aufgelistet hat. Darin werden die Schriften nach ihrem Format wie zum Beispiel Abhandlung (risāla), Buch (kitāb) oder Antwort (dschawāb) identifiziert und nach Themengebieten wie etwa Koranauslegung (tafsīr), Prinzipien der Religion (usūl ad-dīn), Recht (fiqh), Rechtstheorie (usūl al-fiqh) und persönliche Briefe (rasāʾil) geordnet.

3.4.5 Ibn Taymiyyas Einschätzung des ihm vermachten intellektuellen Erbes

Wie sieht Ibn Taymiyya selbst die geschichtliche Entwicklung des islamischen Denkens? Wie versteht er den folgenschweren Kampf zwischen Vernunft und Offenbarung? Was hofft er mit seinem Projekt der Versöhnung von Vernunft und Offenbarung, das im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql Ausdruck findet, erreichen zu können?

Den Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Fragen bildet Ibn Taymiyyas Verständnis der Stellung der autoritativen frühen Gemeinschaft (salaf) hinsichtlich der Attribute Gottes. Die Salaf waren sich einig in der Affirmation und Bestätigung aller Attribute, die Gott in der Offenbarung zugeschrieben wurden, im Sinne der offenkundigen Bedeutung der Texte, d.h. ohne Anwendung von taʾwīl oder tafwīdh. Sie waren also uneingeschränkte Affirmationisten (muthbitūn). Sie verurteilten alle negationistischen Positionen. Und sie vertraten ihren Standpunkt neben der Verwendung von Belegen aus den offenbarten Texten mittels rationaler Argumentation. Da die Negationisten einen rationalen Einwand gegen den äußeren Sinn der Schrift erheben, kann dem nur mit rationalen Argumenten angemessen begegnet werden, die wiederum den rationalen Einwand widerlegen und die Vernünftigkeit des äußeren Sinnes des fraglichen Textes aufzeigen.

El-Tobgui erläutert:

Ibn Taymiyya war sehr an dem Nachweis gelegen, dass die frühen Salaf, deren Positionen und Methoden ihrer Ableitung er als einzigartig normativ erachtet, sowohl über ein treffliches – in der Tat des richtigsten – Verständnis der offenbarten Texte als auch über robuste und beweiskräftige – in der Tat die robustesten und beweiskräftigsten – Methoden der rationalen Argumentation zur Verteidigung dieses Verständnisses verfügten. Sie standen daher ganz oben an der Spitze der taymiyyanischen Pyramide, in vollkommener und harmonischer Übereinstimmung mit authentischer Offenbarung wie auch gesunder Vernunft. (S. 111-112)

Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass spätere Denker wie etwa ar-Rāzī die frühen Generationen derart mit politischen Aufgaben wie dem Aufbau von Institutionen und Grenzen beschäftigt sahen, dass ihnen gar keine Zeit zur rationalen Reflexion der Offenbarungstexte blieb und ihre Aufgabe also nur in der Überlieferung dieser Texte bestehen konnte, während die späteren Denker sich damit befassen konnten, die wahren Bedeutungen der Texte zu ermitteln und ihre Auslegung auf die angemessenen rationalen Grundlagen zu stellen.

Welcher Weg führte nun vom Verständnis der Salaf bis hin zum qanūn kullī (universelle Regel), den ar-Rāzī sechshundert Jahre später aufstellte?

Wie viele moderne Historiker stützt auch Ibn Taymiyya sich weithin auf asch-Schahrastānīs Kitāb al-milal wa an-nihal und al-Aschʿarīs Maqālāt al-islāmiyyīn, die das Aufkommen der ersten negationistischen (dschahmī) Positionen auf die Zeit nach dem ersten Jahrhundert H. datieren. Die Vorläufer der Muʿtazila, wie etwa Dschaʿd ibn Dirham und Dschahm ibn Safwān, vertraten die Auffassung, dass weder Akzidenzien (aʿrādh) noch zeitlich entstehende Ereignisse (hawādith) in Gott auftreten (tahullu bihi), was Ibn Taymiyya so interpretiert, dass in Ihm (taqūmu bihi) weder ein Attribut (sifa) wie »Wissen« oder »Macht« noch eine Handlung (fiʿl) oder ein Zustand (hāl) wie »Erschaffen« oder »Setzen« subsistieren kann. Diese negationistische Auffassung führte zur muʿtazilitischen These von der Erschaffenheit des Koran, da die Annahme der Subsistenz des Koran als Attribut in Gottes Wesen im Widerspruch dazu stand. Die frühe Gemeinschaft samt ihren autoritativen Gelehrten (as-salaf wa al-aʾimma) hingegen widersetzte sich von Anfang an einhellig diesem Negationismus.

Während alle Gegner der Muʿtazila die Subsistenz der Attribute wie auch der Handlungen und der Rede, die von Seinem Willen abhingen, in Gott aufrechterhielten, führten Ibn Kullāb (gest. 240-a/853-5) und seine Anhänger eine Unterscheidung ein zwischen »wesentlichen Attributen« wie »Leben« und »Wissen«, die dem Wesen Gottes innewohnen, und »willentlichen Attributen«, die von Gottes Willen und Macht abhängen, wobei letztere in Ihm nicht »subsistieren« können, da dies innerhalb des Wesens Gottes ein Auftreten einer Abfolge von zeitlich entstehenden Ereignissen implizieren würde, was Ibn Kullābs Gottesbegriff zufolge unmöglich ist. Dem widersprachen Ibn Karrām (gest. 255/869) sowie die Mehrheit der Muslime, die der Auffassung waren, dass zeitlich entstehende Ereignisse in Gott subsistieren können. Manche von ihnen nahmen sogar ausdrücklich an, dass Gott sich bewegen kann und von Ewigkeit her spricht, wenn Er will.

In der nächsten Generation trat al-Aschʿarī (gest. 324/936) auf, der von Ibn Taymiyya fast ausschließlich gelobt wird, insbesondere für seine Anstrengung, die überkommene Lehre der frühen Gemeinschaft in rationalen Begriffen zu verteidigen. Er weist gleichwohl auf Unzulänglichkeiten hin, die zwar in al-Aschʿarīs Lehre selbst kaum zu bemerken sind, aber den Weg für das Aufkommen großer Probleme in der Folgezeit bereiteten. Denn al-Aschʿarī hatte sich so sehr auf den Kalam konzentriert, dass seine Kenntnisse der Einzelheiten von Hadith und Sunna für ein angemessenes Verständnis der Position der Salaf nicht immer hinreichten. Außerdem hatte er sich so tief in den Muʿtazilismus begeben, dass bei seinem Bemühen, ihm zu entkommen, doch einige Überbleibsel der Prinzipien der Muʿtazila haften blieben. Dazu gehören die Anerkennung der Gültigkeit der Beweise für die Existenz Gottes aus den Akzidenzien (tarīqa al-aʿrādh) und aus der Zusammensetzung der Körper (tarīqa at-tarkīb). Dies führte dazu, dass in den folgenden Generationen mit dem Bemühen, die Konsequenzen und Implikationen aus al-Aschʿarīs Position systematischer herauszuarbeiten, der ursprüngliche muʿtazilitische Negationismus immer stärker zum Vorschein kam.

Während al-Aschʿarī und seine unmittelbaren Nachfolger sogar die theoretische Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung ausschlossen, räumten spätere Aschʿariten wie ar-Rāzī und al-ʿĀmidī, die sich verstärkt dem Muʿtazilismus, dem Negationismus und der Philosophie zuwandten, sogar das tatsächliche Vorkommen von wirklichen Widersprüchen zwischen Vernunft und Offenbarung ein, was schließlich zur Aufstellung der universellen Regel als Behelfsmittel Anlass gab.

Ibn Taymiyya schreibt al-Aschʿarī und seinem unmittelbaren Nachfolger al-Bāqillānī zu, die offenbarten Attribute Gottes in ihrer Gesamtheit bestätigt zu haben. Aber schon zwei Generationen später negierte al-Dschuwaynī diese Attribute, wobei er zunächst für taʾwīl und später für tafwīdh plädierte, den er im Gegensatz zu Ibn Taymiyya auch den Salaf unterstellte.

Al-Ghazālī im 5./11. Jahrhundert vertrat unterschiedliche Positionen. Zuweilen bestätigte er die »rationalen Attribute« im aschʿaritischen Sinne, zuweilen negierte er sie oder reduzierte sie auf das alleinige Attribut des Wissens im Einklang mit der Lehre der Philosophen. Seine letzte Position war die Suspension des Urteils (waqf), woraufhin er der Sunna als dem sichersten Pfad anhing.

Die wichtigsten aschʿaritischen Autoritäten ar-Rāzī und al-Āmidī im 6./12. und 7./13. Jahrhundert befiel schließlich ein so starker Agnostizismus hinsichtlich der Wirklichkeit und Erkennbarkeit der offenbarten Attribute Gottes und ein Verlust des Vertrauens in die Fähigkeit der Offenbarung, als Grundlage für sicheres (yaqīn) Wissen selbst in theologischen Fragen zu dienen, dass sie zu dem Eingeständnis gelangten, überhaupt keinen Beweis, weder rational noch textuell, für die Affirmation oder Negation der Attribute zu besitzen. So endeten sie, wie Ibn Taymiyya sagt, in einer der wichtigsten und grundlegendsten Fragen der Religion in großer Verwirrung, Ungewissheit und Zweifel.

Was nun die Philosophen betrifft, so lastet Ibn Taymiyya ihnen eine extreme Form des Negationismus an, den er letztlich auch für Ibn al-ʿArabīs Begriff der Einheit des Seins (wahdat al-wudschūd) verantwortlich macht. Den extremsten Negationismus weisen allerdings die Bātiniten (d.h. Ismaʿiliten) auf, die schließlich davon Abstand nehmen, überhaupt irgendetwas von Gott zu prädizieren. Dieser negativen Theologie zufolge ist es aus Furcht, irgendeiner Art von taschbīh (Verähnlichung mit Erschaffenem) zu verfallen, nicht einmal erlaubt zu behaupten, dass Gott existiert (mawdschūd) oder nicht existiert (ghayr mawdschūd).

Ibn Taymiyya erwähnt auch die »materialistischen Philosophierenden« (al-mutafalsifa ad-dahriyya) wie etwa al-Fārābī und Ibn Sīnā, denen zufolge die Vernunft eine leibliche Auferstehung verneint, woraus sich die Forderung ergibt, die vermeintlich von einer leiblichen Auferstehung sprechenden Text der Offenbarung gemäß der Diktate der Vernunft zu reinterpretieren.

El-Tobgui resümiert:

Dies ist also die chronologische Entwicklung, wie Ibn Taymiyya sie sieht, von dem, was ihm zufolge der bewusste und uneingeschränkte Affirmationismus der frühen Salaf auf der Grundlage beweiskräftiger rationaler Argumente und daher in voller Übereinstimmung mit der reinen Vernunft (ʿaql sarīh) war, hin zur völligen Negation aller göttlichen Namen, Attribute und Handlungen, die aus einer unzulänglich durchdachten Antwort auf die vermeintlichen »rationalen Argumente« hervorging – einem Negationismus, den Ibn Taymiyya nicht nur verwirft, weil er in vollkommenem Gegensatz zu jeder plausiblen Lektüre der Texte der Schrift steht, sondern auch, und höchst bedeutsam, weil er in flagrantem Gegensatz zu den elementarsten und universellsten Prinzipien der Vernunft selbst steht. (S. 119)

Demgegenüber gab es immer eine Gruppe unter den Gelehrten wie auch der Mehrheit der einfachen Leute, die das der umma von ihren frühesten Generationen überlieferte Verständnis der Offenbarung hartnäckig aufrechterhielt und mit rationalen Mitteln verteidigte. Dazu gehören nach Ibn Taymiyya die Mehrheit der Hadithgelehrten, die Mehrheit der Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) in der Frühzeit und ein Großteil von ihnen bis in seine Zeit sowie die Mehrheit der frühen Asketen und Sufis. Manche verweigerten sich völlig der Auseinandersetzung, aber etliche ließen sich auf eine theologische Debatte ein, um das überlieferte normative Verständnis der Salaf auf vernünftige Weise zu verteidigen.

Aus dieser Gruppe ragt zweifellos Ahmad ibn Hanbal (gest. 241/855) heraus, der laut Ibn Taymiyya auf dem Gebiet der Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) eine größere Zahl von definitiven Beweisen (adilla qatʿiyya), die auf Offenbarung wie auch Vernunft basieren, beigebracht hat als alle anderen großen Autoritäten. Ibn Taymiyya führt eine Reihe von Aussagen von Ibn Hanbal an, in denen er sich einerseits für rationale Argumentation auf der Grundlage der reinen Vernunft (ʿaql sarīh) ausspricht und andererseits selbst rationale Argumente zur Widerlegung negationistischer Thesen verwendet. So führt er mehrfach im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql folgende Passage an, die sich Ibn Taymiyya zufolge in Ibn Hanbals Werk ar-Radd ʿala az-zanādiqa wa al-dschahmiyya findet:

Preis sei Gott, Der in jeder nicht-pophetischen Ära (fī kull zamān fatra min ar-rusul) Reste der Leute des Wissens (ahl al-ʿilm) ernannt hat, die diejenigen, die irregegangen sind, zur Rechtleitung rufen und nachsichtig sind angesichts des Schadens (den sie von denen, die sie rufen, erfahren mögen); die durch das Buch Gottes diejenigen, die (spirituell) tot sind, wiederbeleben und durch Gottes Licht denjenigen, die blind sind, Sicht gewähren. Wie viele tote Opfer des Satans haben sie zum Leben gebracht! Wie viele von jenen, die im Irrtum wandelten, haben sie rechtgeleitet! Wie schön ist die Wirkung, die sie auf Leute haben, und wie hässlich die Wirkung der Leute auf sie! Sie entbinden das Buch Gottes von den Entstellungen der extremistischen Sektierer (al-ghālīn), den falschen Darstellungen (intihāl) derjenigen, die die Religion verfälschen, (al-mubtilīn) und den (unbegründeten) Interpretationen (taʾwīl) der Unwissenden, die das Banner der Erneuerung (bidʿa) gehisst und die Zügel der Zwietracht (fitna) gelöst haben. So sind diejenigen, die sich dem Buch widersetzen und über es uneins sind, geeint nur in ihrer Verwerfung des Buches. Sie disputieren über Gott und das Buch Gottes ohne Wissen und sprechen in vagen und ambigen Worten (yatakallamūna bi al-mutaschābih min al-kalām), wodurch sie die Unwissenden unter den Menschen täuschen. Wir suchen daher Zuflucht bei Gott vor den Versuchungen derer, die irreführen (fitan al-mudhillīn). (S. 121)

Ibn Taymiyya möchte zweifellos in die Fußstapfen seines verehrten Ahnen treten und sich in die Reihen der »Reste der Leute des Wissens« einfügen, indem er in seinem Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql eine Lösung für diesen scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung, der sich in den Jahrhunderten vor seiner Zeit herausgebildet hat, liefert.

3.4.6 Frühere Versuche zur Lösung des Rätsels von Vernunft und Offenbarung

Die zwei bedeutendsten Versuche vor Ibn Taymiyya, den Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung aufzulösen, stammen einerseits von dem überragenden Fiqh-Gelehrten, Mutakallim, Philosophen und Mystiker al-Ghazālī (gest. 505/1111) und andererseits von dem Philosophen, Aristoteles-Kommentator und Fiqh-Gelehrten Ibn Ruschd (gest. 595/1198).

Ibn Taymiyya führt im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql mehrere längere Zitate von Ibn Ruschd als führendem Philosophen an, in denen dieser sich gegen jeglichen Negationismus durch den Gebrauch von taʾwīl ausspricht, wie es meist die Mutakallimun taten. Nach Ibn Ruschd sind die Argumente der Mutakallimun bloß dialektischer Natur im Sinne einer Widerlegung vorgegebener Annahmen, die von einer bestimmten Person oder Gruppe vertreten werden, und liefern somit keine allgemeingültigen rationalen Beweise. Zudem führt die Reinterpretation (taʾwīl) der Offenbarung zur Verwirrung der gemeinen Leute, da deren Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der Offenbarung dadurch untergraben wird. Ibn Taymiyya zitiert zustimmend Ibn Ruschds Forderung, dass Offenbarung nie, will sagen zumindest nicht öffentlich, interpretiert werden sollte, sowie auch seine Kritik an al-Ghazālī, dem er zum Vorwurf macht, Interpretationen, die nur für die philosophische Elite bestimmt sind, einem gefährlich breiten Publikum zugänglich gemacht zu haben.

El-Tobgui merkt dazu an:

Ibn Taymiyya zitiert in der Tat Ibn Ruschd Seite auf Seite mit einer solch offenkundigen Zustimmung, dass man sich zu fragen beginnt, ob er wirklich erfasst hat, worin Ibn Ruschds eigentliche Position zum Status der Offenbarung als Übermittler von Wissen wirklich bestand (obgleich aus anderen Passagen, die über das ganze Werk verteilt sind, ganz klar hervorgeht, dass die allgemeine Position des eingefleischten Aristotelikers ihm natürlich nicht entgangen war). (S. 123-124)

Demgegenüber wird al-Ghazālī, der vielleicht mehr als Mutakallim denn als Philosoph betrachtet werden kann und als solcher seinen Tahāfut al-falāsifa der Widerlegung eben der Philosophie gewidmet hat, die in Ibn Ruschd ihren Kulminationspunkt fand, bei allem Respekt für seine Gelehrsamkeit eher kühl und abweisend behandelt. Ibn Taymiyya lobt al-Ghazālīs Bemühungen, die Lehren des Islam zu verteidigen, kritisiert ihn aber zugleich wegen der Übernahme zu vieler philosophischer Thesen wie auch einer ausschließlich destruktiven Kritik an den Philosophen. So erlag al-Ghazālī letztlich der Verzweiflung an der Fähigkeit der Vernunft, auf diesem Gebiet zu verlässlichen Ergebnissen zu gelangen, und zog sich daher statt dessen auf mystisches Enthüllen (kaschf) und subjektive spirituelle Erfahrung (dhawq) als sicherstem Weg zur Wahrheit zurück.

In den scharfen Konturen und Kontrasten dieser drei Auffassungen spiegeln sich unterschiedliche Begriffe von Wissen und Erkenntnis.

Für Ibn Ruschd ist die Vernunft der höchste Richter über Wahrheit und Wirklichkeit, wobei Vernunft im Kern mit ihrem aristotelischen Begriff gleichgesetzt wird. Sicheres Wissen ist einzig das, was die Philosophen durch rationalen Beweis (burhān), d.h. mittels der syllogistischen Logik erkennen. Diese Erkenntnis ist lediglich der intellektuellen Elite zugänglich und muss davor geschützt werden, in die Hände des gemeinen Volkes zu fallen, das nicht über die intellektuellen Fähigkeiten zur Beherrschung der Logik verfügt und dadurch nur verwirrt, wenn nicht irregeführt werden kann. Entschädigung für die geistig Minderbemittelten bietet allerdings die Offenbarung, die zwar keine metaphysischen Wahrheiten in ihrer wahrhaften, nämlich philosophischen Gestalt zu bieten hat, diese aber durch Bilder zu symbolisieren vermag. Diese bildlichen Darstellungen entsprechen zwar nicht der objektiven Wirklichkeit, haben aber den nützlichen Vorteil, vom gemeinen Menschenverstand aufgefasst werden und zu moralischem Handeln anspornen zu können, das wiederum letztlichen Erfolg im Jenseits verspricht.

Mit al-Ghazālī teilt Ibn Taymiyya eine gewisse Skepsis gegenüber dem aristotelischen Modell der Rationalität, zu dessen radikaler Dekonstruktion und Widerlegung er sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql anschickt, die weit über die Kritik al-Ghazālīs hinausgeht, dem er allerdings zugleich vorwirft, das Vertrauen in jeglichen Begriff einer öffentlich geteilten, verlässlichen Vernunft verloren zu haben.

Und gegen den so verstandenen al-Ghazālī teilt Ibn Taymiyya mit Ibn Ruschd das Vertrauen in die Fähigkeit der Vernunft zu objektiver, wahrer und sicherer Erkenntnis vieler grundlegenden Wahrheiten über Gott, Mensch und Welt. Freilich lehnt Ibn Taymiyya die Beschränkung der Offenbarung auf bloße Bildlichkeit und sozial-moralische Nützlichkeit ganz entschieden ab. Denn er sieht indes in der Offenbarung eine Quelle des vernünftigen Wissens unter gleichzeitiger Anerkennung ihres großen Wertes als praktischer moralischer Rechtleitung.

Eine der wichtigsten Motivationen Ibn Taymiyyas für die Kritik und Widerlegung des Negationismus liegt gerade darin, dass der von den Philosophen propagierte abstrakte Begriff einer unerreichbar fernen Gottheit es nahezu unmöglich macht, eine persönliche Beziehung zu Gott herzustellen sowie einen Sinn für die Liebe zu und Ehrfurcht vor Ihm zu entwickeln, was doch unerlässlich ist, um Ihn sinnvoll verehren und anbeten sowie um die Einhaltung Seiner Gebote sich mühen zu können.

El-Tobgui beschreibt darüber hinaus das von Ibn Taymiyya in Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql verfolgte Projekt folgendermaßen:

Dieses Unternehmen […] verfolgt nicht nur die Absicht, eine mehr grundsätzliche Widerlegung als die al-Ghazālīs zu liefern (da Ibn Taymiyya noch mehr verwirft als al-Ghazālī, einschließlich der aristotelischen Logik selbst, auf der das gesamte philosophische Gebäude errichtet war), sondern schließt auch – und auf höchst bedeutsame Weise – ein bewusst konstruktives oder vielmehr re-konstruktives Projekt ein, das darauf abzielt: (1) aufzuweisen, dass es tatsächlich so etwas gibt wie reine gesunde Vernunft (ʿaql sarīh), und in positiven Begriffen festzustellen, was dies genau ist; und (2) zu zeigen, dass diese reine Vernunft nicht nur beweist, dass die Lehren der Philosophen falsch, inkohärent und erweisbar irrational sind, sondern auch, dass das, was Offenbarung offenbart, in diametralem Gegensatz dazu, wahr (natürlich), aber auch kohärent und erweisbar rational ist. Ibn Taymiyya [...] beharrt darauf, dass die bloße »Widerlegung von Falschheit mit Falschheit« lehrreich sein mag, insofern sie aufzeigt, wie Philosophen und Theologen schließlich dahin gelangen, kollektiv ihre jeweiligen Argumente gegenseitig zu widerlegen, doch dies reicht nur dazu hin, zu beweisen, dass alle diese Gruppen irren. Es ist gewiss nicht genug, betont Ibn Taymiyya, um in rationalen Begriffen festzustellen, was wirklich wahr und richtig ist, was nur getan werden kann, indem »das Ungültige mit dem Gültigen und das Falsche mit dem Wahren konfrontiert wird, das sowohl authentischer Offenbarung (sahīh al-manqūl) als auch reiner Vernunft (sarīh al-maʿqūl) entspricht«5. (S. 129-130; Hervorhebungen im Original)

Und El-Tobgui setzt des weiteren hinzu:

Die Bedingungen, unter denen Ibn Taymiyya sich anschickt, den jahrhundertealten Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung im Islam aufzulösen, sind enorm anspruchsvoll. Während frühere Versuche, diese Spannung zu entschärfen, stereotypisch verlangten, dass Offenbarung sich den Beschlüssen einer Rationalität zu fügen hatte, die weithin nach griechischen Vorgaben gefasst und letztlich auf der Hauptstütze der aristotelischen Logik gegründet war, - eine Konzeption der Rationalität, die seit Jahrhunderten vor ihm (selbst von den mehr textuell konservativen Theologen) mit völliger Selbstverständlichkeit als konstitutiv für Vernunft an sich betrachtet wurde -, entscheidet Ibn Taymiyya sich dafür, einen deutlich unterschiedenen Weg einzuschlagen. Offenbarung einfach zu reinterpretieren oder zu suspendieren, ist für ihn nicht nur eine allzu leichte Lösung für das Problem, sondern auch eine, die er als in hohem Maße unredlich betrachtet, denn die grundlegende Konsequenz der universellen Regel besteht seiner Ansicht nach darin, dass letztlich Vernunft allein das Recht zum Schiedsspruch gewährt wird, selbst in Belangen, die außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegen. Mit jedem neuen Fall von figurativer Interpretation (taʾwīl) oder Suspension der Bedeutung (tafwīdh) wird die Integrität der Offenbarung als einer Quelle des Wissens weiter untergraben, bis ihre epistemische Funktion als eines Übermittlers der Wahrheit weitgehend, wenn nicht gänzlich, durch eine »Vernunft« ausgeschaltet wird, deren eigene tiefsitzende Ungereimtheiten dazu beitragen, sie ebenfalls von der Erlangung jeglichen echten Wissens insbesondere von Gott und verwandten theologischen Gegenständen abzuschneiden. Auf den Boden der taymiyyanischen Pyramide abgesunken, gefangen zwischen einer entkräfteten Offenbarung, die ihres Vorrechts auf Übermittlung der Wahrheit beraubt wurde, und einer verfallenen Vernunft, die in den Winden unaufhörlicher Schismata zerstreut und durch unheilbare Zweifel gelähmt wurde, schrie die muslimische intellektuelle Landschaft des frühen 8./14. Jahrhunderts in Ibn Taymiyyas Verständnis nach einer Lösung. Doch die Verschreibung unseres Autors besteht nicht einfach darin, der Vernunft den Rücken zu kehren und sie zum Schweigen zu verdammen, wann immer und wo immer Offenbarung gesprochen hat. Die intrinsische intellektuelle Unzufriedenheit mit einer solchen »Lösung« würde sie nicht nur dauerhaft instabil machen, sondern sie würde auch, für Ibn Taymiyya, das Gebot der Offenbarung selbst mit ihrem wiederkehrenden Aufruf, »nachzudenken«, »nachzusinnen«, »zu überlegen« und »zu bedenken«, verletzen, ganz zu schweigen von ihrer eigenen Verwendung rationaler Argumentation, um die Plausibilität ihrer Lehre einem ursprünglich skeptischen Publikum anzuempfehlen. Ibn Taymiyya sucht die Lösung vielmehr andernorts; nämlich in der Ausarbeitung einer (re)integrierten Epistemologie, in der der Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung nicht lediglich im Rahmen einer Waffenruhe stillgestellt wird, bei der jede Partei die Vorherrschaft in einem getrennten Bereich exklusiven Magisteriums genießt, noch auch einer, bei der die historische Spannung zwischen den beiden künstlich entschärft wird, indem die eine den vermeintlichen Bedingungen der anderen unterworfen wird, noch auch selbst einer, bei der die beiden (bloß) »Seite an Seite« in seliger Harmonie koexistieren. Ibn Taymiyyas Ziel ist vielmehr nichts Geringeres als die volle (Re)Integration von Vernunft und Offenbarung in eine kohärente Epistemologie, in der eine rehabilitierte intuitive Vernunft und ein natürliches, klares Verständnis der Schrift, wie aus einer gemeinsamen Quelle fließend, sich gegenseitig vollkommen bestätigen und wechselseitig bestärken. (S. 130-131)


1Der folgende Abschnitt über das Leben Ibn Taymiyyas ist übernommen aus: Ibn Taymiyya, Islam – Weg der Mitte. Texte von Ibn Taymiyya, Zweite Auflage, Hamburg, 2019.

2Ibn Taymiyya, Islam – Weg der Mitte. Texte von Ibn Taymiyya, Aus dem Arabischen übertragen, eingeführt und kommentiert von Yahya Michot. Aus dem Französischen und Englischen übertragen von Yusuf Kuhn, Zweite Auflage, Hamburg, 2019, S. 18-20.

3Siehe die Einführung von Yossef Rapoport und Ahmed Shahab in: Yossef Rapoport / Ahmed Shahab (Hg.), Ibn Taymiyya and His Times, Oxford, 2010, S. 4-20, hier S. 8.

4Ebenda, S. 12.

5El-Tobgui verweist dazu beispielhaft auf Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, VII, 165.

3.5 Über die Inkohärenz der universellen Regel & die theoretische Unmöglichkeit eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung

3.5 Über die Inkohärenz der universellen Regel & die theoretische Unmöglichkeit eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung Yusuf Kuhn

3.5.1 Ibn Taymiyya über die universelle Regel

und die Wirklichkeit der metaphorischen Interpretation (taʾwīl)

Der große aschʿaritische Theologe Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 606/1209) stellte in seiner einflussreichen theologischen Abhandlung Asās at-taqdīs eine »universelle Regel« (qānūn kullī) auf, die den fortwährenden Kampf zwischen Offenbarung und Vernunft schlichten sollte. Diese Regel fand die Zustimmung der Mehrheit der aschʿaritischen Gelehrten, deren rationalistische Version der islamischen Theologie immer mehr zur vorherrschenden Schule in vielen Bereichen des islamischen Denkens wurde.

Die universelle Regel in der Fassung von ar-Rāzī wird von Ibn Taymiyya folgendermaßen wiedergegeben:

Wenn skripturale und rationale Belege oder Offenbarung und Vernunft oder die offenkundige äußere Bedeutung der offenbarten Texte und die definitiven Schlüsse des rationalen Denkens – oder andere Weisen, dies zu formulieren – in Konflikt stehen, dann entweder: (1) sie müssen beide anerkannt werden, was unmöglich ist, da dies das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch verletzen würde [indem sowohl p als auch -p behauptet wird]; (2) sie müssen beide verworfen werden, was ebenfalls unmöglich ist, da dies das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten verletzt [indem weder p noch -p behauptet wird]; (3) Vorrang muss der Offenbarung gegeben werden, was unmöglich ist, da Offenbarung auf Vernunft gegründet ist, so dass, wenn wir der ersteren Priorität vor der letzteren geben würden [d.h. Offenbarung vor Vernunft], dies gleichkommen würde einer Verwerfung sowohl der Vernunft als auch [folglich] dessen, was durch Vernunft gegründet ist [nämlich Offenbarung]. Man muss daher (4) Vernunft vor Offenbarung Vorrang geben, dann entweder eine figurative Interpretation der Schrift (taʾwīl) vornehmen [um Übereinstimmung mit der Vernunft herzustellen] oder die äußere Bedeutung der Schrift negieren, aber die Zuschreibung einer bestimmten, partikularen metaphorischen Bedeutung unterlassen (tafwīdh). (S. 132-133; zit. nach Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. I, S. 4; Hinzufügungen in eckigen Klammern und Hervorhebungen von El-Tobgui)

Ibn Taymiyya zitiert noch eine andere Formulierung von ar-Rāzī aus Nihāyat al-ʿuqūl fī dirāyat al-usūl, die folgenden bedeutsamen Zusatz enthält:

(Die Wahrheit der) Offenbarung kann nur durch rationale Mittel festgestellt werden, denn nur durch Vernunft können wir die Existenz des Schöpfers feststellen und (die Authentizität der) Offenbarung erkennen. (S. 133; zit. n. Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. V, S. 330-331; Hervorhebungen von El-Tobgui)

Ibn Taymiyya beklagt, dass ar-Rāzī und seine Nachfolger daraus eine universelle Regel für die Interpretation der Offenbarungsschrift bezüglich der Attribute Gottes und anderer Fragen gemacht haben, wenn ihnen die Aussage der Offenbarung im Widerspruch zur Vernunft zu stehen scheint. Manche von ihnen fügen noch hinzu, dass skripturale Belege oder Beweise (adilla samʿiyya) ihrem Wesen nach nicht zur Erzeugung von Gewissheit und daher nicht als verlässliche Grundlage für religiöses Wissen geeignet sind. Ibn Taymiyya weist darauf hin, dass andere vor ihnen, wie beispielsweise al-Ghazālī in seiner Schrift Qānūn at-taʾwīl, diese universelle Regel in unterschiedlichen Versionen aufgestellt haben, wobei jede Schule das, was sie jeweils als Erkenntnis ihrer Vernunft erachteten, als wahres und objektives Wissen angenommen hat, dem die Offenbarung mittels entsprechender Reinterpretation zu unterwerfen ist.

Solche Reinterpretationen konnten auf zwei Weisen erfolgen: durch figurative Interpretation (taʾwīl), indem einem offenbarten Text in Übereinstimmung mit einem durch Vernunft erlangten Schluss eine andere Bedeutung als seine äußere oder offenkundige (dhāhir) Bedeutung zugeschrieben wird, oder durch Suspension der Bedeutung (tafwīdh), indem die offenkundige Bedeutung als ungültig erklärt, aber unterlassen wird, eine spezifische alternative Interpretation beizubringen, wobei die wahre Bedeutung Gott überlassen wird.

Was versteht Ibn Taymiyya nun genau unter taʾwīl und tafwīdh? Und warum befasst er sich so eingehend damit?

3.5.1.1 Zwei Methoden des tabdīl (Abänderung der Bedeutung)

Die erste der beiden Methoden der Abänderung der Bedeutung nennt Ibn Taymiyya al-wahm wa at-takhyīl (Täuschung und Einbildung). Sie setzt voraus, dass Offenbarung vor allem aus Bildern und Metaphern besteht, die absichtsvoll nicht der Wirklichkeit der metaphysischen Gegenstände wie dem Wesen Gottes, der Engel oder der eschatologischen Wirklichkeit von Paradies und Hölle entsprechen. Die Offenbarung ruft demnach vielmehr falsche Vorstellungen – wie etwa von Gott als einem riesigen Körper oder von der leiblichen Auferstehung – hervor, weil es im moralischen Interesse und Nutzen (maslaha) der gemeinen Leute liegt, diese Dinge als wahr anzunehmen, da dies der einzige Weg ist, sie zur Religion zu rufen und ihnen damit den Erfolg im Jenseits zu bescheren. Obwohl diese Bilder also falsch sind, da sie der wahren Wirklichkeit nicht entsprechen, werden sie durch Nützlichkeitserwägungen gerechtfertigt. Ibn Taymiyya wirft z.B. Ibn Sīnā die Befürwortung dieser Methode vor.

Die zweite Methode der Abänderung der Bedeutung nennt Ibn Taymiyya at-tahrīf wa at-taʾwīl (Veränderung und Reinterpretation). Sie geht davon aus, dass die Propheten intendierten, dass ihre Zuhörerschaft nichts anderes glaubt als das Wahre an sich, wobei dieses Wahre mit der Erkenntnis durch die Vernunft gleichgesetzt wird, was bei Unstimmigkeiten mit der äußeren Bedeutung des Textes figurative Interpretationen erforderlich macht. Dabei werden typischerweise die Worte anders verstanden als in ihrem konventionell anerkannten Sinn (ikhrādsch al-lughāt ʿan tarīqatihā al-maʿrūfa) und weit hergeholte Metaphern und unwahrscheinliche figurative Verwendungen (gharāʾib al-madschāzāt wa al-istiʿārāt) eingesetzt.

Für viele ist ein verbreitetes Motiv für die Verwendung von taʾwīl die Beseitigung eines vermeintlichen Widerspruchs. Dabei interpretieren sie ein bestimmtes Wort im Sinne dessen, was ein Sprecher damit in abstrakter Weise meinen könnte, aber streben nicht danach, die Bedeutung festzustellen, die vom tatsächlichen Sprecher – in diesem Falle Gott –, der in diesem besonderen Fall gesprochen hat, intendiert wurde, oder die Worte des Sprechers im Lichte der relevanten kontextuellen Evidenz (mā yunāsibu hālahu) zu interpretieren. Daher beanspruchen sie nicht absolute Gewissheit für ihre Interpretation, sondern können nur feststellen, dass das betreffende Wort in Isolation von jeglichem Kontext eine solche Bedeutung tragen kann.

Ibn Taymiyya behauptet hingegen, dass die von ihnen gewählte Interpretation meist nicht der intendierten Bedeutung bei einem bestimmten Auftreten dieses Wortes in einem Text entspricht, da sich üblicherweise aufgrund des Kontextes und des Zustands des Sprechers definitiv bestimmen lässt, dass es in der Tat für diesen Sprecher nicht möglich ist, diese besondere Bedeutung mit diesem besonderen Ausdruck in diesem besonderen Kontext gemeint zu haben.

Die Methode des at-tahrīf wa at-taʾwīl wurde, so Ibn Taymiyya, von einer großen Zahl von Mutakallimun übernommen, und auf ihrer Grundlage haben alle Theologen, die sich der äußeren Bedeutung mancher Texte widersetzen, ihre verschiedenen Denkschulen aufgebaut.

Die beiden Methoden des tabdīl wurden nach Ibn Taymiyya von der Mehrheit der Philosophen (falāsifa) übernommen.

3.5.1.2 Die Position des tadschhīl (unterstelltes Unwissen)

Ibn Taymiyya stellt vor seine Beschreibung der zweiten Methode eine kurze Erörterung des Wortes taʾwīl, das drei unterschiedliche Bedeutungen angenommen hat: (1) das, worauf etwas hinausläuft, das letztliche Ergebnis einer Sache; (2) die Erklärung eines Wortes, auch wenn die Bedeutung nicht von der äußeren Bedeutung eines Textes abweicht; dies ist der technische Sinn, in dem der Ausdruck taʾwīl von den frühen Gelehrten des tafsīr (Koranauslegung) gebraucht wurde; (3) die Ablenkung eines Wortes von seiner ursprünglichen, äußeren zu einer sekundären, allegorischen Bedeutung aufgrund einer relevanten textuellen Evidenz. Die Partikularisierung und Einschränkung des Wortes taʾwīl auf diese dritte Bedeutung findet sich nur bei den späteren Gelehrten, nicht bei den frühen Generationen (salaf).

Spätere Gelehrte, die taʾwīl in dieser technischen Bedeutung zur Interpretation des Koranverses 3:7 verwendeten und seine Satzstruktur so gliederten, dass sie lasen »und niemand kennt ihr [bestimmter Verse] taʾwīl außer Gott«, waren zu der Annahme gezwungen, dass solche Verse andere Bedeutungen besaßen als die auf natürliche Weise aus ihnen verstandenen (tukhālifu madlūlahā al-mafhūm minhā), was wiederum zu dem unausweichlichen Schluss führte, dass die tatsächliche intendierte Bedeutung nur Gott kennt und also selbst dem Propheten nicht bekannt ist – folglich auch den Prophetengefährten sowie allen späteren Generationen.

Ibn Taymiyya nennt diese Gruppe von Gelehrten ahl at-tadhlīl wa at-tadschhīl, nämlich Leute, die mangelnde Rechtleitung und Unwissen unterstellen, deren Position also impliziert, dass die Propheten selbst ohne Rechtleitung hinsichtlich der wahren Bedeutung der Offenbarung gelassen wurden und nicht wussten, was Gott mit bestimmten Ausdrücken meinte, in denen Er Sich in Seiner Offenbarung beschrieb.

Einige in dieser Gruppe nehmen an, dass das mit diesen Ausdrücken Gemeinte nicht der äußeren Bedeutung entspricht und niemandem außer Gott, nicht einmal den Propheten, bekannt ist. Andere hingegen sind der Ansicht, dass diese Ausdrücke gemäß ihrer äußeren Bedeutung stehengelassen werden sollten, wobei allerdings eingeräumt wird, dass diese Bedeutung nicht die »wahre« Bedeutung ist, da diese allein Gott kennt. Darin erkennt Ibn Taymiyya einen Widerspruch, da sie zugleich vertreten, dass diese Ausdrücke eine figurative Bedeutung (taʾwīl) im Unterschied zu ihrer äußeren Bedeutung besitzen und doch gemäß ihrer äußeren, nicht-intendierten Bedeutung stehengelassen werden sollen.

Zudem werden von den jeweiligen Gruppen je nach ihren vorgegebenen Lehren unterschiedliche Kategorien von Versen für mehrdeutig oder problematisch (mutaschābih) erklärt.

El-Tobgui resümiert:

Jede Fraktion erklärt Verse, die ihren eigenen Positionen zuwiderlaufen, für »problematisch« und fährt dann mit der Feststellung fort, dass der Prophet es unterließ, die Bedeutungen solcher »ambigen« Passagen zu klären. Manche dieser Gruppen […] sehen den Grund dafür darin, dass sogar der Prophet selbst die wahren Bedeutungen solcher Verse nicht kennt (dieses Prinzip bezeichnet Ibn Taymiyya als tadschhīl), während andere meinen, dass er sie kannte, aber absichtsvoll davon Abstand nahm, sie der Gemeinschaft zu erklären (dieses Verfahren nennt Ibn Taymiyya tadhlīl). Der Prophet übertrug, dieser Ansicht zufolge, vielmehr die Mitteilung der wahren Bedeutung solcher Verse auf spätere Gelehrte, um sie auf der Grundlage rationaler Beweise zu erklären, die aus ihren Anstrengungen (idschtihād) in der Wissenschaft der Interpretation (taʾwīl) hervorgehen. (S. 139-140)

3.5.2 Das Endergebnis der allegorischen Interpretation

(Der folgende Abschnitt basiert auf den Argumenten 30 und 32 im Darʾ.)

Der vermeintliche Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung bezieht sich meist auf das Wesen Gottes, indem behauptet wird, dass die in ihrem äußeren Sinn verstandene Offenbarung Gott bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben scheint, die Ihm nach dem Urteil der Vernunft nicht zugeschrieben werden können; denn dies führt entweder (1) zur Verletzung einer Prämisse eines rationalen Arguments, das dem Beweis der Existenz Gottes und/oder der Authentizität der Offenbarung dient, oder (2) zu einer Angleichung (taschbīh) Gottes an Erschaffenes, wodurch Seine einzigartige Göttlichkeit beeinträchtigt wird. Der qānūn kullī (universelle Regel) bestimmt nun, dass jeder solche Konflikt zugunsten der Vernunft aufzulösen und die Offenbarung entsprechend zu reinterpretieren ist, da das Wissen von der Authentizität der Offenbarung in der Vernunft gegründet ist.

Worum geht es dabei aus Ibn Taymiyyas Sicht genau? Und warum setzt er so große Mühe daran, diese universelle Regel auf Tausenden von Seiten zu widerlegen?

3.5.2.1 Widerspruch zu Gottesbeweis

Die obige Argumentation beruht auf der Annahme, dass ein rationaler Beweis (dalīl), auf dem die Erkenntnis Gottes und der Wahrheit der Offenbarung gründet, der äußeren Bedeutung einiger Aussagen der Offenbarung widerspricht. Dies lässt sich ein wenig formalisiert etwa so darstellen:

Eine Gruppe G hat einen Beweis B für die Existenz Gottes aufgestellt. Beweis B basiert auf den Prämissen x, y und z, aus denen folgt, dass Gott existiert. Doch die Prämisse y impliziert die Negation eines von der Offenbarung behaupteten Attributs Gottes A. Da der Beweis von der Prämisse y, die -A impliziert, abhängt, steht die Behauptung von A im Widerspruch zu y, wodurch das ganze Argument hinfällig würde. Um den Gottesbeweis zu retten, wird deshalb A fallengelassen. Dies wird »rationaler Einwand« gegen A genannt, der sodann gemäß des qānūn kullī (universelle Regel) zur Anwendung der Reinterpretation des Textes, der A behauptet, (taʾwīl) oder zur Suspension des Urteils hinsichtlich der wahren Bedeutung dieses Textes (tafwīdh) führt.

Gegen diese Argumentation erheben sich allerdings Zweifel, wenn man bedenkt, dass das Attribut A nicht nur durch authentische Texte der Offenbarung bestätigt wird, sondern von der autoritativen frühen Gemeinschaft und ihren von allen Gruppen von Muslimen anerkannten Gelehrten bewusst und einmütig aufrechterhalten und erst in späteren Generationen negiert oder reinterpretiert wurde. Ibn Taymiyya empfindet ganz deutlich, dass hier etwas im Argen liegt. Denn die Offenbarung begründet ohne jeden Zweifel das Wissen von der Wirklichkeit und tatsächlichen Existenz (thubūt) von Attribut A. Und da echtes Wissen nicht in Widerspruch zueinander stehen kann, muss das auf dem Beweis B gegründete Wissen bloß vermeintliches Wissen sein. Da die Offenbarung mit Gewissheit A behauptet und B -A impliziert, muss mit B etwas nicht stimmen. Was genau ist an dem Beweis B falsch? Hier setzt Ibn Taymiyyas minutiöse Suche nach einer Antwort ein.

Ibn Taymiyya führt zur Klärung ein Beispiel an, in dem es um einen Beweis der Existenz Gottes geht, der zugleich die Negation der Attribute Gottes (sifāt) in einem kleineren oder größeren Umfang impliziert. Es wird dabei behauptet, dass das Wissen von der Authentizität der Offenbarung von göttlichen Wundern abhängt, die den Anspruch des Propheten auf Wahrhaftigkeit verbürgen. Dies hängt wiederum davon ab, dass Gott keine Lügner mit göttlichen Wundern unterstützt, da dies moralisch verwerflich (qabīh) wäre und Gott keine moralisch verwerflichen Handlungen ausführt. Unser Wissen, dass Gott dies nicht tut, ist daraus abgeleitet, dass Er dieser Handlungen nicht bedarf und um ihre Verwerflichkeit weiß, in Verbindung mit der Prämisse, dass jemand, der um die Verwerflichkeit einer Handlung weiß und ihrer nicht bedarf, diese tatsächlich nicht ausführt. Sodann folgt Gottes Freiheit vom Bedürfnis, sie auszuführen, daraus, dass Er kein Körper ist. Die Negation Seiner Körperlichkeit erfordert wiederum die Negation Seiner Attribute und Handlungen, denn jede Entität, von der Attribute und Handlungen prädiziert werden können, besteht notwendig aus einem Körper. Und das Wissen, dass Gott nicht körperlich ist, beruht auf dem Beweis, dass Körper zeitlich entstanden sind (dalīl hudūth al-adschsām), während Gott anfangslos ewig ist.

Das Ergebnis dieser Verkettung von Prämissen ist nun, dass der Ausfall eines Arguments, beispielsweise für die zeitliche Entstehung der Körper, eine dramatische Kettenreaktion auslöst, die den gesamten Argumentationsgang zunichte macht und uns ohne schlüssigen Beweis für die Wahrhaftigkeit des Propheten zurücklässt.

Zudem ist das Argument für die zeitliche Entstehung der Körper eine Prämisse für den Beweis, dass die Welt nicht ewig (qadīm), sondern in der Zeit entstanden (hādith) ist und folglich einen zeitlosen, notwendig existierenden Urheber oder Hervorbringer (muhdith), nämlich Gott, haben muss. Dabei wird vorausgesetzt, dass alles, in dem Attribute oder zeitlich aufeinander folgende Handlungen subsistieren, gleichfalls zeitlich entstanden ist.

Wenn dies nun der einzige schlüssige Beweis für die Existenz des göttlichen Urhebers ist, wie viele Gruppen behaupten, so untergräbt jeder Bruch eines Glieds in der Schlusskette das Argument als Ganzes, so dass überhaupt kein rationaler Beweis für die Existenz Gottes bleibt, was doch als die wichtigste Aufgabe der Theologie angesehen wird.

Aus all dem wird sodann der Schluss gezogen, dass das Wissen von der Existenz Gottes und der Authentizität der Offenbarung von der Negation der Attribute und Handlungen Gottes abhängig ist. Denn deren Anerkennung, wie sie in der Offenbarung zu finden sind, würde den ganzen Beweis für die Existenz Gottes und die Authentizität der Offenbarung untergraben. Die Überzeugung, dass der Islam nur auf diesem Wege verteidigt und philosophische Einwände widerlegt werden können, führte zur Negation der Subsistenz von Attributen und Handlungen im Wesen Gottes.

Als weitere Konsequenz ergibt sich daraus, dass es nie die ursprüngliche Absicht der Offenbarung gewesen sein kann, Gottes Attribute und Handlungen im Sinne tatsächlicher Wirklichkeit zu behaupten. Eine solche Behauptung ist vielmehr durch die Vernunft als rational unmöglich erwiesen. Und da die Offenbarung nicht behaupten kann, was die Vernunft als unmöglich erkennt, muss der Schluss gezogen werden, dass die Texte der Offenbarung, die scheinbar die Wirklichkeit solcher Attribute und Handlungen aussagen, nicht in ihrem äußeren Sinn genommen werden dürfen, sondern vielmehr eine wahre innere Bedeutung verbergen. Das Argument mündet also in die Folgerung, dass es keine Alternative zur Interpretation solcher Texte mittels taʾwīl oder tafwīdh gibt.

3.5.2.2 taschbīh

Ein weiteres Motiv für die Negation von Attributen Gottes ist die Vermeidung von taschbīh, Angleichung oder Assimilation Gottes an Erschaffenes. Die oftmals verwendete Übersetzung von taschbīh mit Anthropomorphismus greift zu kurz, da es sich dabei nur um eine Angleichung an menschliche Wesen handelt. Typisch dafür ist, so Ibn Taymiyya, das Argument, das im späten 4./10. Jahrhundert der ismaʿilitische (bātinī) Missionar und neoplatonische Philosoph Abū Yaʿqūb as-Sidschistānī (gest. ca. 331/970) in seinem Werk al-ʿAqālīd al-malakūtiyya vorbrachte und das sogleich vorgestellt werden wird. Mit genau dieser Art von Argument gelingt es den extremen Negationisten (nufāh), alle mehr oder weniger negationistisch gestimmten Gruppen angefangen von den Aschʿariten über die Muʿtaziliten bis hin zu den Philosophen letztlich auf ihre Linie zu bringen. Möglich wird dies dadurch, dass alle diese Gruppen mit den extremen Negationisten in der prinzipiellen Legitimität der figurativen Interpretation offenbarter Texte übereinstimmen, indem sie die Notwendigkeit der Negation jeglicher Art von taschbīh zugestehen.

El-Tobgui gibt das Argument des Negationisten folgendermaßen wieder:

Der Negationist, erklärt Ibn Taymiyya, behauptet, dass die Klasse der »lebenden Dinge« und die Klasse der »existierenden Dinge« jeweils eine logische Unterscheidung in das, was anfangslos ewig (qadīm) ist, und das, was in der Zeit entstanden (muhdath) ist, zulässt. Die Tatsache, dass die Grundlage dieser Unterscheidung (mawrid at-taqsīm) von den beiden Kategorien geteilt wird, impliziert Zusammensetzung (tarkīb), was für den Negationisten eine besonders schädliche Form der Assimilation darstellt, nämlich die des Korporealismus (tadschsīm). Sie impliziert, dem Argument zufolge, weiterhin Assimilationismus in einem allgemeineren Sinn: wenn sowohl das, was ewig ist, (Gott) als auch das, was zeitlich entstanden ist, (das Universum) als »existierend« bezeichnet wird, dann sind sie einander gleich (ischtabahā), insofern sie unter das subsumiert werden, was mit dem Ausdruck »Existenz« konnotiert wird (ischtarakā fī musammā al-wudschūd), ein Umstand, der unausweichlich auf Assimilationismus hinausläuft. Und wenn darüber hinaus etwa angenommen wird, dass eine von zwei existierenden Entitäten (nämlich Gott) weiter charakterisiert wird durch die Tatsache, notwendig existierend durch sich selbst (wādschib bi-nafsihi) zu sein, dann teilt diese Entität mit der anderen, nicht-notwendigen Entität all das, was mit dem Ausdruck »Existenz« konnotiert wird (musammā al-wudschūd), ist aber zugleich von ihm unterschieden unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit, und dieser Aspekt, in dem sie der nicht-notwendigen Entität ähnelt, (nämlich Existenz) ist unterschieden von jenem Aspekt, in dem es sich von dieser Entität unterscheidet, (nämlich ihre Notwendigkeit). Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass das notwendig durch sich selbst Existierende (al-wādschib bi-nafsihi) »zusammengesetzt« ist aus dem, was es mit der anderen Entität teilt, (Existenz) und dem, was es davon unterscheidet, (seine einzigartige Notwendigkeit); und was immer in irgendeiner Form zusammengesetzt (murakkab) ist, ist dem Urteil der Vernunft zufolge, so sagt man uns, notwendig zeitlich entstanden (muhdath) und nicht anfangslos ewig, kontingent (mumkin) vielmehr als notwendig (wādschib). Dieses verderbliche Ergebnis, dass Gottes Wesen aus zwei Teilen, »Existenz« und »Notwendigkeit« »zusammengesetzt« ist, soll von der Tatsache herrühren, dass eine solche »zusammengesetzte« Entität abhängig (wörtl. »bedürftig«) wäre von jedem seiner Teile (muftaqir ilā dschuzʾihi), und, so das Argument weiter, da der Teil eines Dinges notwendig etwas anderes ist als das Ding selbst, folgt daraus, dass das notwendig Existierende von etwas anderem als sich selbst abhängig ist (muftaqir ilā). Doch das, was für seine Existenz von etwas anderem als sich selbst abhängig ist, kann nicht gleichzeitig für notwendig durch sich selbst existierend (wādschib bi-nafsihi), inhärenter Notwendigkeit durch nicht mehr und nicht anderes als sein eigenes Selbst sich erfreuend erachtet werden. Es folgt daher, dass Gott, wenn Er wahrlich Gott kraft Seiner selbst-notwendigen, anfangslos ewigen Existenz ist, gänzlich und völlig einfach und in keiner Weise »zusammengesetzt« sein muss, auch wenn solche »Zusammensetzung« lediglich darin besteht, dass Er eine Entität besitzt, die durch Attribute qualifiziert ist (und es verdient wiederholt zu werden, dass unter den Attributen, die durch dieses Argument negiert werden, das Attribut der Existenz selbst ist!). (S. 145-146)

Auf diese Weise gelingt es also dem extremen Negationisten jeden, der ihm sein zugrunde liegendes ungültiges Prinzip (usūl fāsida) zugesteht, zur völligen Negation der Existenz selbst des notwendig Existierenden zu bringen. Allerdings verliert der Batinit am Ende doch, da er nun eine ernsthafte Entgegnung auf sich zieht. Denn er verfällt durch seine Behauptung, dass Gott weder existent noch lebendig noch tot ist, schließlich selbst dem Assimilationismus in einer noch ungeheuerlicheren Form, indem er Gott nicht einem Existierenden angleicht, sondern dem Nichtexistierenden. Und wenn er diesem Dilemma auszuweichen versucht, indem er erklärt, dass Gott weder existierend noch nicht-existierend ist, muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er gegen das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten verstößt. Die letzte Ausflucht des Batiniten besteht sodann darin, zu erklären: »Ich vertrete keine der vorstehenden Aussagen. Ich behaupte weder ›Er ist existierend‹ noch ›Er ist nicht existierend‹ noch ›Er ist nicht-existierend‹ noch ›Er ist nicht nicht-existierend‹.« Und darin erkennt Ibn Taymiyya letztlich die Position der Atheisten (malāhida). Das Bestreben, den Assimilationismus zu vermeiden, hat schließlich dazu geführt, Gott mit dem logisch Unmöglichen und dem sogar geistig völlig Unwirklichen gleichzusetzen.

El-Tobgui fährt fort:

Die praktische Konsequenz ihrer Position, erklärt Ibn Taymiyya, ist, dass es nicht möglich ist, die gesamte Offenbarung als wahr anzuerkennen, sondern nur Teile von ihr als wahr anzuerkennen, und andere Teile von ihr als im wesentlichen falsch zu verwerfen – falsch in dem Sinn der Unterstellung, dass die Bedeutung, die sich aus dem Wortlaut der offenbarten Texte am natürlichsten ergibt, der äußeren objektiven Realität der Dinge, über die sie sprechen, nicht entspricht. Daher, so schließt Ibn Taymiyya, dienen ihre rationalen Argumente bestenfalls dazu, die Wahrheit der Offenbarung lediglich in dieser partiellen und mangelhaften Weise festzustellen, mit dem Ergebnis, dass sie fortfahren, von der Offenbarung alles zu leugnen, was immer mit ihren rationalen Schlussfolgerungen in Konflikt steht – ein Prozess, der in den Händen der extremsten Negationisten bis zu dem durchgeführt werden kann, was einer völligen Leugnung sogar der Existenz Gottes gleichkommt, des notwendig Existierenden, von dem die Existenz aller anderen existierenden Entitäten völlig und gänzlich abhängig ist.

Das ist also, was Ibn Taymiyya als das unausweichliche Ergebnis einer konsistenten und rigorosen Anwendung der universellen Regel und des taʾwīl ansieht, den sie als Mittel zur Anpassung der Offenbarung an die vermeintlich rationalen Einwände, die gegen einzelne Teile ihres objektiven Gehalts erhoben werden, verschreibt. (S. 148-149; Hervorhebung im Original)

3.5.3 Defektive Rationalität und ihre Unzufriedenen: Vernunft in einer Sackgasse

(Dieser Abschnitt basiert auf Argument 9.)

Gibt es einen anderen Ausweg? Ja, meint Ibn Taymiyya, durch einen anderen Begriff der Vernunft, an dem gemessen der Begriff der Vernunft, der in die Sackgasse geführt hat, sich als unvernünftig erweist. So lassen sich die auf dieser mangelhaften, defektiven Rationalität beruhenden »rationalen Einwände« gegen das Verständnis der Offenbarung in ihrem offenkundigen Sinn als unvernünftig erkennen. Ibn Taymiyya will zeigen, dass diese Einwände aus rein rationalen Gründen unhaltbar sind. Und was als Vernunft an sich ausgegeben worden ist, erweist sich als einem immer stärkeren Zerfall unterliegend, je größer die Entfernung von der wahren, eingeborenen reinen Vernunft (ʿaql sarīh) wird, die von der Offenbarung eingesetzt und von den Salaf beispielhaft gepflegt wurde.

Ibn Taymiyya beginnt seine Argumentation mit der Beobachtung, dass das Prinzip, das der Vernunft den Vorrang vor der Offenbarung einräumt, in Wirklichkeit gar keine universell anwendbare Regel darstellt, da sich die Mutakallimun darüber keineswegs einig sind, sondern verschiedene Auffassungen darüber vertreten, was unter »rationalem Wissen« zu verstehen ist.

Was durch rationale Notwendigkeit oder rationale Erforschung erkannt werden kann, ist unter den Mutakallimun sogar äußerst umstritten. Mitunter werden von ihnen völlig gegensätzliche Positionen vertreten, was auch vor Themen, die von der Offenbarung ausdrücklich angesprochen werden, wie Gottes Wesen und Attribute, Seine Bestimmung usw. nicht halt macht. Was Fragen betrifft, die erst in späterer Zeit aufgetreten sind, wie beispielsweise philosophische Fragen zum Status der Atome, der Identität von Körpern, der Beständigkeit von Akzidenzien usw., so können die Meinungsverschiedenheiten unter den verschiedenen Gruppen kaum aufgezählt werden, wobei allerdings jede Gruppe nichtsdestotrotz für ihre jeweilige Position in Anspruch nimmt, über schlüssige rationale Beweise zu verfügen.

Ibn Taymiyya, für den Vernunft und Offenbarung übereinstimmen, sieht darin einen Zerfallsprozess, der immer weiter wegführt sowohl von der Vernunft als auch von der Offenbarung. Je weiter das Denken einer Schule sich von der Sunna entfernt, desto größer werden auch ihre internen Streitigkeiten über das, worin die Vernunft und ihre Diktate tatsächlich bestehen. Ein solches Denken gerät damit nicht nur in immer größeren Widerspruch zur Offenbarung, wobei es dazu genötigt ist, offenbarte Texte mittels einer zunehmend ausgreifenden Verwendung von taʾwīl zu reinterpretieren oder gar wegzuerklären, sondern verfängt sich zugleich in wachsende unauflösbare rationale Unstimmigkeiten, Widersprüche, Unwahrscheinlichkeiten und Zweifel.

Dieser Prozess lässt sich mithilfe der taymiyyanischen Pyramide veranschaulichen, die bereits in der Einleitung erläutert wurde und hier noch einmal dargestellt sei:

Mit zunehmender Entfernung vom Konvergenzpunkt von gesunder Vernunft und authentischer Offenbarung an der Spitze der Pyramide nehmen die Meinungsverschiedenheiten (ikhtilāf) und Zweifel zu. Dieser Prozess schreitet über Aschʿariten und Muʿtaziliten so weit fort, bis am unteren Ende der Pyramide die Philosophen (falāsifa) in so große Uneinigkeit verfallen, dass es nahezu unmöglich ist, noch etwas zu finden, dem sie gemeinsam zustimmen können. Jeder Philosoph scheint eifersüchtig seine exklusive Meinung allen anderen entgegenzusetzen und mit dem Anspruch auf rationale Begründung und Gewissheit zu versehen. Dies gilt schon auf den Gebieten der Astronomie, Mathematik und Physik, geschweige denn der Metaphysik, in der die Schlacht widerstreitender und unversöhnlicher Ansichten aufgrund ihrer Unlösbarkeit nicht selten den Eindruck der Aussichtslosigkeit erweckt. So gestehen die führenden Philosophen selbst oftmals ein, dass es ihnen letztlich nicht gelingt, in irgendeiner Frage Gewissheit zu erlangen.

Was als sicheres rationales Wissen ausgegeben wird, wird mithin sowohl durch die Widersprüchlichkeit der rivalisierenden Positionen als auch durch das Eingeständnis mangelnder Gewissheit seitens ihrer Vertreter untergraben. Das vermeintlich rationale Wissen, das der Offenbarung widerspricht, enthält also nichts, was die Rationalisten selbst gemeinsam mit Gewissheit als gültig und rational begründet erachten.

Wenn keine Einigung darüber besteht, was als gültiges rationales Wissen gilt, lässt sich der Streit der Meinungen und Lehren nicht lösen. Einzig der Rückgriff auf die gesunde innere Natur, die eingeborene Veranlagung (fitra) und ihre treffliche Intuition, die nicht von willkürlichen und subjektiven Meinungen, Neigungen und Leidenschaften verfälscht ist, kann hier Abhilfe schaffen, indem sie den Einklang von Vernunft und Offenbarung erweist.

Um den trügerischen Charakter des rationalistischen Kalam noch deutlicher hervortreten zu lassen, führt Ibn Taymiyya eine Reihe von großen spekulativen Denkern (nudhdhār) wie etwa al-Ghazālī und ar-Rāzī als Zeugen für die Vergeblichkeit ihres lebenslangen Bemühens um Gewissheit an. Denn sie mussten am Ende ihres Lebens trotz ihrer überragenden Kenntnisse und intellektuellen Fähigkeiten die Sinnlosigkeit der rationalen Methoden von Theologie und Philosophie einsehen, da diese nur zu einer Anhäufung von Unsicherheiten und Zweifeln führten. Und sie haben sich daher letztlich auf Koran und Sunna besonnen.

Ibn Taymiyya setzt dem agnostischen Pessimismus, der in vielen Äußerungen dieser spekulativen Denker zum Ausdruck kommt, die ruhige Zuversichtlichkeit derer entgegen, die über wirkliches Wissen verfügen und entschieden am ursprünglichen, unverfälschten »offenbarten muhammadischen salafitischen sunnitischen prophetischen Weg« (at-tarīqa al-nabawiyya al-sunniyya as-salafiyya al-muhammadiyya asch-scharʿiyya) festhalten. Diese unverzagten Denker wiederum, so El-Tobgui weiter,

sind sowohl mit dieser Methode wie auch mit den Lehren völlig vertraut, die angeblich in Widerspruch zur Offenbarung stehen (wie etwa die These von der Erschaffenheit des Koran oder von der rein symbolischen Realität der Attribute Gottes), woraufhin sie die Ungültigkeit solcher Lehren unschwer erkennen können kraft der Einsichten aus der von Ibn Taymiyya so genannten »reinen natürlichen Vernunft« (al-maʿqūl as-sarīh), die sich immer als in voller Übereinstimmung mit dem erweist, was von der authentischen Offenbarung (al-manqūl as-sahīh) versichert wird. (S. 157)

3.5.4 Ibn Taymiyyas Projekt: Widerlegung der universellen Regel

Ibn Taymiyya erkannte die Widerlegung der universellen Regel (qānūn kullī), in der er die hauptsächliche Ursache für die geistige Ausweglosigkeit und Verwirrung seiner Zeit sah, als notwendige Voraussetzung, um nicht nur die Integrität der Offenbarung, sondern auch die Vernunft selbst retten zu können. Diese Aufgabe nahm er sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql vor, indem er nicht weniger als 44 Argumente (wudschūh; wörtl. Aspekte) gegen die universelle Regel vorbrachte, um den Nachweis zu führen, dass diese logisch unstimmig und daher theoretisch unhaltbar und grundlos ist.

Die 44 Argumente überschneiden sich mitunter und folgen keiner erkennbaren Ordnung, sondern werden vielmehr als getrennte Einwände gegen die universelle Regel präsentiert. El-Tobgui hat sie allerdings nach Themen sortiert und in eine ihm sinnvoll erscheinende Reihenfolge gebracht.

Die drei nachfolgenden Abschnitte behandeln verschiedene Kritikpunkte, die das Ziel einer Verschiebung des überkommenen Paradigmas von Vernunft und Offenbarung verfolgen. Darauf folgen mehr allgemeine Argumente gegen die Kohärenz und logische Gültigkeit der universellen Regel insgesamt. Im letzten Abschnitt werden rein schriftbasierte Argumente dargestellt, die der Verstärkung der primär rationalen Argumente dienen, die das Rückgrat des Darʾ taʿārudh bilden.

Einschließlich der Abschnitte 3.5.2 und 3.5.3 werden somit 38 von 44 Argumenten behandelt. Die verbleibenden sechs Aspekte erweisen sich in Wirklichkeit nicht als bloße Argumente, sondern als ausführliche Abhandlungen über komplexe philosophische und theologische Themen, die sich teils über Hunderte von Seiten erstrecken. Einige Elemente davon werden in den folgenden Kapiteln aufgegriffen, in denen bestimmte theologische und philosophische Fragestellungen erörtert werden, die Ibn Taymiyya im Darʾ taʿārudh aufwirft.

3.5.5 Über Vernunft als »Gründung« unseres Wissens der Offenbarung

(Dieser Abschnitt basiert vor allem auf den Argumenten 3, 24 und 29.)

Ibn Taymiyya macht sich daran, die Hauptprämisse der uni­versellen Regel zu widerlegen, die besagt: Wenn Offenbarung gegenüber Vernunft der Vorrang gegeben wird, bedeutet dies eine Verwerfung eben dessen, worauf sie gründet, nämlich der Vernunft, was wiederum Offenbarung selbst unterhöhlt. Mit »gründen« ist hier gemeint, dass die Vernunft die Grundlage bildet, auf der das Wissen der Wahrheit und Gültigkeit der Offenbarung ruht. Vernunft gilt mithin als Erkenntnisgrund der Offenbarung.

Ibn Taymiyya erklärt indes: »Wir geben nicht zu, dass, wenn Offenbarung Vorrang gegeben wird, dies darauf hinausläuft, eben das zu bestreiten, was Offenbarung gründet – nämlich Vernunft -, was gleichbedeutend wäre mit der Unterhöhlung der Vernunft selbst.« Denn selbst wenn durch Vernunft erworbenes Wissen den Erkenntnisgrund unseres Wissens der Offenbarung bildet, so doch nicht alles Wissen durch Vernunft. Die verschiedenen Gegenstände des Wissens, die durch Vernunft erfasst werden, sind zahllos, und das Wissen der Wahrheit der Offenbarung ist allenfalls lediglich von bestimmten Erkenntnissen abhängig, wie etwa der Beweis der Existenz Gottes oder der Wahrhaftigkeit des Propheten durch Wunder.

El-Tobgui gibt Ibn Taymiyyas Gedankengang wie folgt wieder:

Wenn nun das rationale Wissen, das angeblich der Offenbarung widerspricht, nicht Teil des rationalen Wissens ist, auf dem unser rationales Urteil beruht, dass Offenbarung authentisch ist, dann wäre seine Bestreitung in der Tat nicht gleichbedeutend mit der Bestreitung jenes Wissens, auf dem Offenbarung gründet, denn die Bestreitung einiger Objekte dessen, was als rationales Wissen (ʿaqliyyāt) kategorisiert wird, bedeutet nicht, alle von ihnen zu bestreiten, genauso wie die Bestreitung einzelner Elemente dessen, was unter die Kategorie des offenbarten Wissens (samʿiyyāt) fällt, nicht die Kategorie solchen Wissens als Ganzes untergräbt. […] Der hauptsächliche Irrtum der Verfechter der universellen Regel, erklärt Ibn Taymiyya, besteht darin, dass sie alle Formen von rational gegründetem Wissen hinsichtlich Gültigkeit und Ungültigkeit zu einer einzigen Kategorie machen, während ein positives Urteil hinsichtlich der Gültigkeit der Offenbarung [...] lediglich die Gültigkeit jenes Teils des rational gegründeten Wissens verlangt, das mit ihm einhergeht (mulāzim), nicht die Gültigkeit jenes Teils, das ihm widerspricht oder ihn negiert (yunāfī). Und da die Leute darin übereinstimmen, dass das, was »rationales Wissen« (ʿaqliyyāt) genannt wird, wahre wie auch falsche Propositionen umfasst, ist somit bewiesen, dass die Priorisierung der Offenbarung gegenüber dem, von dem gesagt wird, dass es unter die allgemeine Kategorie des rationalen Wissens fällt, nicht damit gleichbedeutend ist, alles zu untergraben, was dazu dient, unser rationales Urteil über die Authentizität der Offenbarung zu gründen. (S. 161-162; Hervorhebungen im Original)

Ibn Taymiyya geht dabei davon aus, den Nachweis erbringen zu können, dass alles rationale Wissen (maʿqūl), das der Offenbarung widerspricht, nicht zu der Menge von rationalen Schlussfolgerungen gehört, die zur Gründung des Wissens der Offenbarung dienen, so dass die Bestreitung einer dieser echten oder vermeintlichen rationalen Erkenntnisse die Grundlagen der Offenbarung nicht untergräbt. Denn die wahren Grundlagen der Offenbarung sind für Ibn Taymiyya etwa das Wissen von der Existenz Gottes und der Wahrhaftigkeit des Propheten, worin die meisten Leute übereinstimmen. So teilen viele Mutakallimun selbst, wie etwa al-Ghazālī und ar-Rāzī, die Auffassung Ibn Taymiyyas, dass beispielsweise das Wissen der Existenz Gottes ein eingeborenes, notwendiges Wissen (fitrī dharūrī) ist. Außerdem, so fährt Ibn Taymiyya fort, ist es bekannt, dass die Offenbarung selbst voller rationaler Argumente für die Existenz und Allmacht Gottes sowie die Wahrhaftigkeit des Propheten ist.

Ibn Taymiyya kehrt die universelle Regel um, um damit zu zeigen, dass das gegenteilige Prinzip, nämlich die Priorisierung der Offenbarung gegenüber der Vernunft im Konfliktfall, auf analoge Weise begründet werden kann. Und wenn mithin die Priorisierung sowohl der Vernunft als auch der Offenbarung rational inkohärent ist, dann muss die Wahrheit darin liegen, dass es keinen echten Widerspruch zwischen diesen beiden Quellen des Wissens geben kann.

Die umgekehrte Regel würde folgendes besagen, wie Ibn Taymiyya darlegt:

Wenn Vernunft und Offenbarung einander widersprechen, dann muss der Offenbarung gegenüber der Vernunft Vorrang gegeben werden, da die Vernunft geurteilt hat, dass Offenbarung in allem, was sie beinhaltet, wahrheitsgemäß ist, wohingegen die Offenbarung nicht geurteilt hat, dass die Vernunft in allen unterschiedlichen Folgerungen, zu denen sie gelangen mag, richtig ist, und unser Wissen der Authentizität der Offenbarung ist auch nicht abhängig (mawqūf ʿalā) von all den verschiedenen Folgerungen, zu denen die Vernunft gelangt sein mag. (S. 164; Hervorhebung im Original; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. I, S. 138, Z. 1-3)

Diese Position ist für Ibn Taymiyya sogar vorzuziehen, da die Vernunft die Wahrheit der Offenbarung in einem allgemeinen und unbeschränkten Sinn aufzeigt (dalāla ʿāmma mutlaqa).

Zur weiteren Bestärkung und Veranschaulichung seines Gedankengangs führt Ibn Taymiyya eine Reihe von Beispielen an, wie etwa des einfachen Muslim, der einem anderen zu einem Mufti rät, oder des Zeugen vor Gericht, wobei der Zeuge für die Vernunft als Gründendes und das Bezeugte für die Offenbarung als Begründetes stehen.

Die allgemeine Struktur der beispielhaften Argumentation sieht grob folgendermaßen aus: Wie die Gültigkeit der Zeugenschaft des Zeugen nicht durch ein einmaliges Irren völlig annulliert wird, so wird auch die Gültigkeit der Zeugenschaft der Vernunft durch ein falsches Urteil in einem bestimmten Fall nicht insgesamt außer Kraft gesetzt. Die von Ibn Taymiyya angeführten Beispiele lassen ganz besonders deutlich erkennen, wie tief sein Denken von Methoden und Begriffen der Hadithwissenschaft und des Fiqh geprägt ist. Seine ganze Denkweise samt allen Begriffe, einschließlich des zentralen Begriffs der Vernunft, ist davon zutiefst eingefärbt.

El-Tobgui resümiert:

Ibn Taymiyya entgegnet der Konzeption der Philosophen und Theologen dessen, was es für unser Wissen der Offenbarung bedeutet, auf Vernunft »gegründet« zu sein, indem er im Kern argumentiert, dass das, was wir »Vernunft« nennen, nicht, wie viele meinen, eine undifferenzierte Kategorie bildet, so dass die Bestreitung von irgendeiner der verschiedenen Folgerungen, zu denen die Vernunft vermeintlich gelangt ist, bedeutet, alle von ihnen zu untergraben. […] Die Negation bestimmter anderer Folgerungen der Vernunft (wie etwa jene, die bestimmten Behauptungen der Offenbarung widersprechen) kompromittiert daher, wie die meisten Theologen und Philosophen glauben, nicht automatisch das eigentliche Vermögen der Vernunft selbst und jede ihrer verschiedenen Folgerungen, zu denen nicht zuletzt die rationale Basis gehört, kraft derer wir auf die Authentizität der Offenbarung schließen. (S. 170; Hervorhebungen im Original)

3.5.6 Wissen vs. Vermutung: Was zählt, ist definitive Gewissheit

(Dieser Abschnitt basiert vor allem auf den Argumenten 1, 2, 4 und 5.)

Die Widerlegung der universellen Regel verfolgt Ibn Taymiyya, indem er die Falschheit ihrer Prämissen aufzeigt. Die Begründung der universellen Regel basiert auf drei Prämissen. Daran sei noch einmal erinnert:

1. Tatsächliches Vorkommen (thubūt) eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung;

2. Begrenzung der theoretisch möglichen Optionen bei der Behandlung des vermeintlichen Widerspruchs auf vier: a) Annahme der beiden widersprüchlichen Aussagen zur gleichen Zeit; b) Verwerfung beider zur gleichen Zeit; c) Priorisierung der Offenbarung gegenüber der Vernunft als Regel; d) Priorisierung der Vernunft gegenüber der Offenbarung als Regel;

3. Ungültigkeit der ersten drei Alternativen in Prämisse 2;

Schluss: Notwendigkeit der vierten Option, also Priorisierung der Vernunft gegenüber der Offenbarung als Regel und entsprechende Reinterpretation der Offenbarung.

Hier geht es Ibn Taymiyya um die Widerlegung von Prämisse 2, indem er die Unterteilung in vier Optionen verwirft, die darauf basiert, dass Vernunft und Offenbarung einander jeweils als Ganzes, als einheitlicher Block entgegengesetzt werden. Es kann nach Ibn Taymiyya hingegen durchaus sein, dass dem rationalen Beweis in manchen Fällen der Vorrang gegenüber dem textuellen Beleg gegeben werden muss, während in anderen Fällen umgekehrt dem textuellen Beleg der Vorrang gebührt. Und welchem Beweis der Vorrang gegeben werden muss, sollte nicht von seiner Erkenntnisquelle, also Vernunft oder Offenbarung, abhängig gemacht werden, sondern von seiner Erkenntnisgüte.

Ein Beweis oder Beleg (dalīl) ist entweder schlüssig und definitiv gewiss (qatʿī) oder nicht schlüssig und präsumtiv (dhannī). Im Falle eines Widerspruchs zwischen einem definitiv gewissen und einem präsumtiven Beweis muss nach dem Konsens aller vernünftigen Personen (ʿuqalāʾ) dem definitiv gewissen Beweis unabhängig von seiner Erkenntnisquelle der Vorrang gegeben werden, da bloße Präsumtion oder Vermutung definitive Gewissheit nicht aufheben kann. Wenn beide Belege präsumtiv sind, muss untersucht werden, welcher Beleg stärkere Beweiskraft besitzt und daher vorzuziehen (rādschih) ist, wiederum unabhängig davon, woher die Erkenntnis stammt. Einen echten Widerspruch zwischen definitiv gewissen Beweisen kann es nicht geben, da das dadurch Bewiesene notwendig wahr ist und ein Widerspruch daher logisch unmöglich ist. Wird also ein Widerspruch zwischen zwei definitiv gewissen Beweisen angeführt, so muss es sich um einen bloß vermeintlichen Widerspruch handeln und bei näherer Untersuchung sich herausstellen entweder, dass sich die beiden Aussagen gar nicht widersprechen, oder, dass mindestens eine der beiden Aussagen in Wirklichkeit nicht definitiv gewiss ist.

Es ist mithin falsch, wie in Prämisse 2 angenommen, im Falle eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung einer Kategorie von Beweis (z. B. Vernunft) gegenüber einer anderen (z. B. Offenbarung) automatisch und im Ganzen den Vorrang zu geben. Vielmehr muss man die beiden spezifischen Belege, die in einer bestimmten Frage als widersprüchlich erachtet werden, auf ihre Erkenntnisqualität hin untersuchen und demjenigen, der sich als definitiv gewiss (qatʿī) erweist, oder, wenn beide nicht definitiv gewiss sind, demjenigen, der sich als beweiskräftiger oder wahrscheinlicher (rādschih) erweist, den Vorrang geben unabhängig davon, ob die Erkenntnisquelle die Vernunft oder die Offenbarung ist.

Ibn Taymiyya weist auf einen entscheidenden Punkt hin: Der einzig mögliche Einwand gegen diese Argumentation ist die Behauptung, dass ein textueller Beleg oder ein auf Offenbarung beruhender Beweis niemals definitiv gewiss sein kann. Er scheint dabei anzunehmen, dass ein Beweis für diese Behauptung unmöglich ist. Leider setzt er sich im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql damit nicht weiter auseinander.

Diese Frage ist allerdings von entscheidender Bedeutung für die gesamte Argumentation und Widerlegung der universellen Regel, da sich sagen ließe, dass es hier um eine weitere versteckte Prämisse von deren Begründung handelt, die besagt: Nur auf Vernunft gegründetes Wissen ist echtes, definitiv gewisses, notwendiges Wissen, während alles Wissen aus einer anderen Erkenntnisquelle, wie etwa Offenbarung, diesen epistemischen Rang nicht erreichen kann und demgegenüber immer defizitär, also bloß wahrscheinlich und letztlich zweifelhaft bleiben muss; und daher ist im Falle eines Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung immer der Vernunft der Vorrang zu geben.

Diese Auffassung wird wohl in der Tat von den meisten falāsifa und mutakallimūn vertreten, so auch von ar-Rāzī, dessen Position von El-Tobgui in einer Fußnote erwähnt wird. Es ist nämlich nach ar-Rāzī unmöglich, die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) durch textliche Belege auf definitiv gewisse Weise (qatʿī) zu begründen, da die Ableitung aus offenbarten Texten von präsumtiven (dhannī) Faktoren wie der Übermittlung von Lexikon, Syntax und Morphologie der Sprache wie auch in den Methoden der Auslegung abhängig ist.

Ibn Taymiyya bemerkt, dass er ein Werk, das eben diese Thesen widerlegt, vor etwa dreißig Jahren geschrieben und einen Teil dieser Widerlegung auch in einem Buch mit dem Titel Scharh awwal al-muhassal erwähnt hat, in dem er ar-Rāzīs Muhassal erörtert. Leider scheint dieses Buch verloren zu sein. Ibn Taymiyya stellt dazu fest, dass er im Scharh awwal al-muhassal gegen ar-Rāzīs Behauptung, dass aus der Offenbarung abgeleitete Argumente niemals definitiv gewiss sein können, argumentiert hatte, dass solche Argumente sehr wohl zu Gewissheit führen können.

Indem Ibn Taymiyya sich dafür ausspricht, demjenigen Beweis mit der höheren epistemischen Qualität den Vorrang zu geben, also beispielsweise Wissen gegenüber Vermutung vorzuziehen, weil es sich eben um Wissen handelt und nicht weil es auf Vernunft oder Offenbarung basiert, strebt er danach, an die Stelle des Gegensatzes von Vernunft und Offenbarung den Gegensatz von Wissen und Vermutung treten zu lassen.

El-Tobgui stellt zusammenfassend fest:

Wenn Ibn Taymiyya erst einmal die beiden Quellen – Vernunft und Offenbarung – im wesentlichen epistemisch gleichgesetzt hat, während er zugleich jedes einzelne Element beider Kategorien einer gemeinsamen Prüfung der Beweiskraft unterwirft, vervollständigt er dieses zweite Manöver gegen die universelle Regel, indem er erklärt, dass der Streitpunkt nicht, wie alle angenommen zu haben scheinen, Vernunft vs. Offenbarung ist, sondern vielmehr Wissen vs. Vermutung, Gewissheit vs. Ungewissheit, stärkere vs. schwächere Beweise der Wahrheit. (S. 178-179; Hervorhebung im Original)

3.5.7 Nicht »Vernunft vs. Offenbarung« sondern »skriptural validiert vs. skriptural nicht-validiert«

(Dieser Abschnitt basiert weitgehend auf Argument 15.)

Ibn Taymiyya arbeitet an einer weiteren Verschiebung des begrifflichen Bezugsrahmens, indem er an die Stelle der üblicherweise vorgenommenen Kategorisierung der Beweise und Methoden in »skriptural« vs. »rational« (scharʿī - ʿaqlī) die Unterscheidung »skriptural validiert« vs. »skriptural nicht-validiert« (scharʿī - bidʿī) setzt. Skriptural validierte Beweise umfassen wiederum sowohl offenbarte (samʿī) als auch rationale (ʿaqlī) Belege. Diese Verschiebung wird damit begründet, dass die Unterscheidung zwischen »skriptural« und »rational« lediglich die Erkenntnisquelle betrifft, nicht aber die Gültigkeit der Erkenntnis.

In der Reklassifikation ist der Gegensatz zu einem skripturalen (scharʿī) Beleg nicht ein rationaler, sondern ein innovierter (bidʿī), dem die skripturale Gültigkeit fehlt, da er als unzulässige Innovation (bidʿa) im Gegensatz zur wahren Offenbarung (scharīʿa) steht und daher notwendig ungültig und falsch ist. Ein skriptural validierter Beleg kann entweder aus einem offenbarten Text oder aus einer durch die Vernunft erreichten Schlussfolgerung bestehen. Denn die skripturale Gültigkeit eines Beweises kann sowohl ausdrückliche Bestätigung als auch Billigung bedeuten, wobei Bestätigung heißt, dass die Offenbarung ihn bestätigt und ausdrücklich belegt hat, und Billigung, dass die Offenbarung ihn erlaubt und als gültig und zulässig erklärt hat.

Wenn »skriptural« (scharʿī) im Sinne von Bestätigung verwendet wird, kann ein skripturaler Beweis auch durch die Vernunft erkannt werden, wobei die Rolle der Offenbarung darin besteht, auf ihn hinzuweisen und auf ihn aufmerksam zu machen. In diesem Fall wird der Beleg klassifiziert als »skriptural validierter rationaler Beleg« (scharʿī-ʿaqlī). Als Beispiele dafür nennt Ibn Taymiyya die verschiedenen im Koran erwähnten Parabeln (amthāl) und andere Argumente für die Einheit Gottes und die Authentizität des Propheten, die Affirmation der Attribute Gottes usw. Denn all dies sind Beweise, deren Wahrheit durch die Vernunft erkannt wird, da sie aus rationalen Demonstrationen und Schlussfolgerungen bestehen (barāhīn wa maqāyīs ʿaqliŷya), und die auch als skriptural validiert klassifiziert werden, da sie von der Offenbarung erwähnt und ausdrücklich bestätigt werden. Ein skriptural validierter Beleg hingegen, der ausschließlich durch offenbarte Texte erkannt wird, wird klassifiziert als »skriptural validierter offenbarter Beleg« (scharʿī-samʿī). Somit werden gültige skripturale Belege kategorisiert entweder als »skriptural-rational« (scharʿī-ʿaqlī) oder »skriptural-offenbart« (scharʿī-samʿī).

Wenn hingegen »skriptural« (scharʿī) im Sinne von Billigung verwendet wird, umfasst diese Kategorie verschiedene Unterkategorien, nämlich die authentische prophetische Sunna, das, worauf der Koran aufmerksam gemacht und durch rationale Beweise und Argumente hingewiesen hat, und das, was auf der Grundlage empirischer Beobachtung von existierenden Dingen abgeleitet werden kann.

Viele Mutakallimun, so Ibn Taymiyya, haben die fehlerhafte Annahme gemacht, die Kategorie der skripturalen Belege ausschließlich auf die skriptural-offenbarten zu beschränken und die skriptural-rationalen auszuschließen, so dass der Offenbarung lediglich die Funktion als Beleg in dem Sinne zukommt, dass sie über etwas informiert, das auf andere Weise nicht erkannt werden könnte. Daher trennen sie die Grundlagen der Religion (usūl ad-dīn) in die beiden Kategorien »rational« und »skriptural«, die sich gegenseitig ausschließen.

Doch das ist falsch, da der Koran selbst auch rationale Belege und Hinweise verwendet. Dazu gehören auch rationale Belege, die durch die Vernunft aus empirischer Beobachtung abgeleitet werden können, worauf der Koran in Versen wie dem folgenden hinweist:

Beizeiten werden Wir sie Unsere Botschaften voll verstehen lassen (durch das, was sie wahrnehmen) an den äußersten Horizonten (des Universums) und in sich selbst, so daß es ihnen klar werden wird, daß diese (Offenbarung) fürwahr die Wahrheit ist. (Dennoch,) genügt es nicht (ihnen zu wissen), daß dein Erhalter über alles Zeuge ist? (Koran 41:53; Ü.: Asad)

El-Tobgui erläutert:

Ibn Taymiyya vervollständigt sein Bestreben, die Begriffe der Debatte über Vernunft und Offenbarung anders zu fassen, indem er nun eine dritte begriffliche Verschiebung vorschlägt: nämlich, dass Beweise nicht in einem diametralen Gegensatz von »skriptural« (scharʿī) versus »rational« (ʿaqlī) stehen, sondern vielmehr von »skriptural validiert« (scharʿī) versus »skriptural nicht-validiert« (bidʿī). Die Kategorie der skriptural validierten (scharʿī) Beweise, so argumentiert Ibn Taymiyya, umfasst sowohl die authentischen Texte der Offenbarung im rechten Verständnis als auch gültige rationale Argumente auf der Basis richtiger Prämissen. Ibn Taymiyya versucht mithin, das, was als »Vernunft« erachtet wird, in zwei Kategorien zu unterscheiden – gültig/wahr und ungültig/falsch – und den ersteren Teil, d.h. das Gültige, in die umfassendere Kategorie der »skriptural validierten« (scharʿī) Beweise aufzunehmen. Durch seine strenge Betonung der epistemischen Qualität eines Beweises unter Ausschluss aller anderen Aspekte – einschließlich dessen, ob der Beweis Offenbarung oder Vernunft entspringt – versucht Ibn Taymiyya die starren Kategorien von »Vernunft« als Ganzes und »Offenbarung« als Ganzes zu umgehen, indem er stattdessen jedes einzelne Element beider Kategorien einer gemeinsamen Prüfung der epistemischen Rechtfertigung unterzieht, wobei vorausgesetzt wird, dass Offenbarung alles, was wahr und gewiss ist, billigt und legitimiert, und alles, was falsch und grundlos ist, verwirft – ungeachtet dessen, ob es der Vernunft entspringt oder als göttliche Offenbarung behauptet wird. (S. 183; Hervorhebung im Original)

3.5.8 Weitere Argumente hinsichtlich der rationalen Widersprüchlichkeit der universellen Regel

(Dieser Abschnitt basiert weitgehend auf den Argumenten 8, 10, 11, 13, 14, 21, 29.)

Im folgenden Abschnitt wird eine Reihe von unterschiedlichen Argumenten dargestellt, die zusammen genommen eine gute Vorstellung von etwa der Hälfte der 44 Argumente gegen die universelle Regel vermitteln.

3.5.8.1 Argument 8

Die Mehrzahl der Fragen, in denen ein Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung behauptet wird, betreffen schwierige und vieldeutige Themen – wie etwa Gottes Namen, Attribute und Handlungen, Lohn und Strafe nach dem Tod sowie anderes, was den Bereich des Verborgenen anbelangt –, die viele spekulative Denker selbst verwirren, da sie nicht in der Lage sind, mittels rationaler Reflexion darüber zu sicherem Wissen zu gelangen. Daher begeben sich viele auf dieses Gebiet auf der Grundlage bloßer Meinung, was entweder zu Streit und Unstimmigkeit oder zu Verzweiflung und Verwirrung führt.

Außerdem erweisen die meisten dieser Denker den großen Gestalten ihrer jeweiligen Schule unbeschränkte Verehrung, so dass sie deren Ansichten sogar dann übernehmen, wenn sie selbst zu anderen Schlussfolgerungen kommen. Dies gilt auch für die Anhänger des Aristoteles wie überhaupt für die Philosophen und ebenfalls für die Anhänger aller großen Schulen unter den Muslimen. Deren Lehren widersprechen daher oftmals nicht nur dem Koran, der Sunna und dem Konsens der Gemeinschaft (idschmāʿ), sondern ebenso der Vernunft selbst.

El-Tobgui legt weiterhin dar:

Bei sorgfältiger Untersuchung, so merkt Ibn Taymiyya an, erweist sich, dass den authentischen Texten der Offenbarung nicht von klaren und eindeutigen Schlüssen der Vernunft widersprochen wird, sondern vielmehr lediglich von dem, was viel Ambiguität und Konfusion beinhaltet, und dem, was als wahr erkannt ist, kann legitimerweise nicht von dem widersprochen werden, was ambig und konfus und daher im Gegensatz dazu nicht als wahr erkannt ist. (S. 187)

3.5.8.2 Argument 11

Vieles von dem, was als Beweis, sei es rational oder skriptural, ausgegeben wird, ist in Wirklichkeit kein Beweis. Alle Parteien stimmen darin überein, was die Texte der Offenbarung in ihrem offensichtlichen äußeren Sinn bedeuten, während es unter den spekulativen Denkern große Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, was gültiges rationales Wissen bildet. Der Offenbarung, deren Bedeutung übereinstimmend bekannt ist, kann legitimerweise nicht durch etwas widersprochen werden, über deren Bedeutung es kein Wissen und keine Einigkeit gibt, sondern vielmehr Streit und Ungewissheit.

Dabei geht es nicht um rationale Beweise insgesamt, sondern lediglich um diejenigen, die angeblich der Offenbarung widersprechen. Und hier erhebt Ibn Taymiyya den Anspruch, dass kein einziger von ihnen wirklich einen intrinsisch gültigen Beweis darstellt, oder auch einen von der Mehrheit der spekulativen Denker akzeptierten Beweis oder wiederum einen Beweis, der nicht von der Vernunft selbst untergraben und widerlegt worden ist.

3.5.8.3 Argument 12

Von allen auf Vernunft gründenden Behauptungen, die vermeintlich der Offenbarung widersprechen, kann durch die Vernunft selbst gezeigt werden, dass sie ungültig sind. Ibn Taymiyya stellt in Aussicht, dass er dies bei der Behandlung der spezifischen Argumente im Einzelnen nachweisen wird.

3.5.8.4 Argument 13

Von den Aspekten der Offenbarung, die angeblich der Vernunft widersprechen, wie etwa die Attribute Gottes, weiß man mit Notwendigkeit, dass sie Teil der Religion sind. Die Authentizität der Offenbarung vorausgesetzt, ergibt sich also, dass die Behauptung, dass der Prophet diese Lehren nicht als Teil der Offenbarung übermittelt hat, notwendig falsch ist.

3.5.8.5 Argument 14

Die Absichten und Intentionen des Propheten sind wohlbekannt und durch vielfache Überlieferung (tawātur) von seinen Gefährten und deren Nachfolgern weitergegeben worden. Dies gilt mithin nicht nur für den Text, sondern auch für die Bedeutung der Offenbarung.

El-Tobgui referiert sodann:

Nun ist es bekannt, so fährt Ibn Taymiyya fort, dass vielfache Überlieferung der mutawātir-Art gewisses Wissen liefert, unabhängig davon, ob das, was vielfach überliefert wurde, der Wortlaut (lafdh) eines Textes oder seine Bedeutung (maʿnā) ist. Beispiele von Dingen, von denen wir kraft unserer Erkenntnis durch vielfache Überlieferung mit Gewissheit wissen, dass sie wahr sind, sind: die Tapferkeit von Khālid ibn al-Walīd; […] die verschiedenen militärischen Expeditionen des Propheten; Galens herausragende Kenntnis der Medizin; Sībawayhis meisterliche Beherrschung der arabischen Grammatik, usw. Wenn nun jemand auf dem Gebiet der Medizin oder Grammatik eine Behauptung erheben würde, die im Widerspruch zu dem steht, wovon die spezialisierten Gelehrten dieser Gebiete aus den Werken von beispielsweise Galen oder Sībawayhi wissen, dass es wahr ist, würde man wissen, dass seine Behauptung ungültig ist. (S. 189)

Und dies gilt ebenso für eine Behauptung über den Inhalt der Offenbarung, die dem widerspricht, wovon die besten Gelehrten wissen, dass es wahr ist. Diese Behauptung wäre sogar noch offensichtlicher ungültig, da sie nicht nur dem widerspricht, was große Wissenschaftler erkannt haben, sondern dem, was der Gesandte Gottes gebracht hat.

3.5.8.6 Argument 21

Wer der Offenbarung lediglich auf der Basis seiner eigenen Meinungen und Wünsche widerspricht, macht sich des regelrechten Abfalls vom Glauben (ilhād) schuldig. Dies gilt beispielsweise auch für viele Philosophen, die für sich Zugang zu einer höheren Wahrheit in Anspruch nehmen als derjenigen, die von den Propheten gebracht wurde. Wenn Offenbarung wahr ist, sind alle Argumente, auf denen ein auf bloße Meinung gegründeter Widerspruch zur Offenbarung basiert, falsch und nichtig.

3.5.9 Über die Inkohärenz der universellen Regel mit der Epistemologie des islamischen Glaubens

Während die große Mehrheit der 44 Argumente gegen die universelle Regel rationale Kritiken von deren Kohärenz und logischen Implikationen darstellen, werden die folgenden Überlegungen aus der Perspektive der Offenbarung und des weiteren Kontextes des islamischen Glaubens vorgenommen.

3.5.9.1 Aus Argument 3

Wer mit der Botschaft des Islam auch nur in geringem Maße vertraut ist, weiß, dass der Prophet nicht zum Glauben gerufen hat, indem er Argumente über Akzidenzien, die Negation von Attributen, die Negation von »Körperlichkeit« im philosophischen Sinn oder die Unmöglichkeit einer Unendlichkeit von vergangenen oder künftigen Ereignissen anführte. Dies ist für die Gelehrten, die über genaue Kenntnis der offenbarten Texte verfügen, notwendiges Wissen. Rationale Methoden der Argumentation und Positionen, die im Widerspruch dazu stehen, wie etwa die Negation der Attribute Gottes, sind mithin notwendig falsch.

3.5.9.2 Aus Argument 15

Die Verwendung von Argumenten, die falsch sind, ist ebenso verboten wie Falschheit und Lügen im allgemeinen (siehe z. B. Koran 7:169). Gott hat auch den Gebrauch von Argumenten für denjenigen verboten, der dies ohne Wissen tut (siehe z. B. Koran 17:36) oder um des bloßen Streitens willen (siehe z. B. Koran 18:56).

Ibn Taymiyya geht offensichtlich davon aus, dass diese ursprünglich an die götzendienerischen Mekkaner gerichteten Verse auf die späteren Philosophen und Theologen übertragbar sind, deren Prämissen und Argumente ihm gefährlich und schädlich erscheinen, da sie auf der Basis nichtiger Argumente ohne Wissen über Gott sprechen und über die Wahrheit streiten, nachdem sie durch Koran und Sunna offenkundig gemacht worden ist.

3.5.9.3 Aus Argument 21

Die vermeintlich rationalen Ansichten von Menschen, die in Wirklichkeit bloß auf Meinungen, Vorurteilen und Wünschen beruhen, über die Offenbarung zu stellen, ist gleichbedeutend damit, die Propheten der Lüge zu bezichtigen, und öffnet die Tür zur Leugnung des Glaubens.

3.5.9.4 Argument 22

Gott verbietet, die Menschen dazu aufzurufen, von Seinem Weg abzuweichen und den Propheten nicht zu glauben oder zu gehorchen. Dies gilt auch für jemanden, der dazu auffordert, nicht zu glauben, was den Propheten offenbart wurde, indem er als Begründung vorbringt, dass seine eigenen rationalen Überlegungen dazu in Widerspruch stehen und diesen der Vorrang zu geben ist.

3.5.9.5 Argument 23

Ibn Taymiyya zitiert viele Koranverse darüber, dass der Prophet geschickt worden ist, um eine klare Erklärung (balāgh mubīn) der Wahrheit vorzubringen, und stellt fest, dass er diese Aufgabe nicht erfüllt hätte, wenn die offensichtliche Bedeutung dessen, was er gebracht hat, tatsächlich im Widerspruch zur Vernunft stünde. Wenn der Negationismus richtig wäre, so wäre offenkundig, dass die Offenbarung diesen Negationismus nicht in einer Weise darstellt, die dazu geeignet ist, die Menschen in einer klaren und eindeutigen Weise rechtzuleiten.

Die Offenbarung zeigt hingegen vielmehr einen klaren und eindeutigen Affirmationismus, so dass sogar die meisten Negationisten selbst zugeben, dass dies die offensichtliche Bedeutung der offenbarten Texte ist. Die Annahme, dass der Negationismus wahr ist, läuft daher darauf hinaus, dem Propheten zu unterstellen, die Wahrheit wissentlich unterdrückt und ihr genaues Gegenteil erklärt zu haben. Solch eine Position steht in offenem Widerspruch zu den Lehren der Offenbarung, zu Elementen, deren Zugehörigkeit zur Religion des Islam notwendiges Wissen ist.

TEIL 2: IBN TAYMIYYAS REFORM DER SPRACHE, ONTOLOGIE UND EPISTEMOLOGIE

TEIL 2: IBN TAYMIYYAS REFORM DER SPRACHE, ONTOLOGIE UND EPISTEMOLOGIE Yusuf Kuhn

3.6 Sahīh al-manqūl oder Was ist Offenbarung?

3.6 Sahīh al-manqūl oder Was ist Offenbarung? Yusuf Kuhn

3.6 Sahīh al-manqūl oder Was ist Offenbarung?

Und niemals haben Wir einen Gesandten anders als (mit einer Botschaft) in der Sprache seines eigenen Volkes entsandt, auf daß er ihnen (die Wahrheit) klar machen möge. (Koran 14:4; Ü.: Asad)

3.6.1 Einführung

Zur Aufklärung des vermeintlichen Widerspruchs zwischen »Vernunft« und »Offenbarung« ist eine genaue Bestimmung dessen erforderlich, worin deren jeweilige Bedeutung besteht wie auch in welchen Punkten sie sich widersprechen. Meist ist damit gemeint, dass es absolut zuverlässige Folgerungen der Vernunft gibt, die sich als unvereinbar mit dem »wörtlichen« (haqīqa) oder »äußeren« (dhāhir) Sinn des offenbarten Textes erweisen, insbesondere hinsichtlich des Wesens und der Attribute Gottes. Dabei wird der Vernunft und ihren Ergebnissen Vorrang eingeräumt, so dass die Offenbarung entsprechend reinterpretiert werden muss.

Die Bedeutung der Offenbarung wird für diesen Ansatz vertretende Philosophen und rationalistische Mutakallimun also durch dem Text selbst äußerliche und vorgängige, vermeintlich gewisse Vernunftschlüsse festgelegt. Diese widersprechen oftmals dem klaren Sinn der Offenbarung, dem folglich eine verborgene »wahre« Bedeutung zugeschrieben werden muss, die wenig überraschend mit der durch die Vernunft ermittelten Bedeutung übereinstimmt.

Diese Methode führt, wie bei den falāsifa und etwas weniger extrem bei der Muʿtazila und rationalistischen Vertretern des Aschʿarismus wie ar-Rāzī, der Tendenz nach dazu, dass die Offenbarung auf eine rein bildliche Darstellung zum Zwecke der moralischen Kontrolle der Massen reduziert wird, während die eigentliche Wahrheit auf metaphysischer, ontologischer und sogar theologischer Ebene einzig der Vernunfterkenntnis vorbehalten bleibt, zu der lediglich eine kleine Elite von Auserwählten befähigt ist.

Ibn Taymiyya vertritt im Gegensatz dazu die Auffassung, dass die wahre Bedeutung der offenbarten Texte auf die eine oder andere Weise in der Sprache dieser Texte selbst vollständig enthalten ist. Es geht ihm dabei um die Verteidigung des Verstehens der Offenbarung in deren offenkundigem Sinn und insbesondere der eindeutigen Affirmation der offenbarten Attribute Gottes gegen jegliche Negation (nafy) oder Neutralisierung (taʿtīl) ebendieser Attribute durch die Rationalisten.

Denn dies entspricht dem konsensuellen Verständnis der Salaf, was wiederum deren autoritative Geltung über den Wandel der Zeiten hinweg verbürgt. Aber wie gelingt es ihm hierbei, sich nicht in den Fallstricken von »Angleichung« (tamthil) oder »Assimilation« (taschbīh) Gottes an erschaffene Wesen zu verheddern? Wie kann er die Interpretation der Offenbarung ausschließlich auf textliche und sprachliche Faktoren gründen, ohne einem törichten und uneinsichtigen »Literalismus« zu verfallen? Wie kann er die hermeneutische Unabhängigkeit der Texte von den Folgerungen der abstrakten Vernunft begründen, ohne zugleich sein weiter gefasstes Projekt zu unterminieren, das ja gerade nicht auf einen Ausschluss der Vernunft, sondern auf deren Rettung und den Aufweis ihrer Übereinstimmung mit der Offenbarung abzielt?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es in einem ersten Schritt erforderlich, die Prinzipien von Ibn Taymiyyas Hermeneutik der Offenbarung aufzuweisen, um sodann zu untersuchen, ob die Offenbarung etwas behauptet, das der Vernunft widerstreitet.

Die Grundzüge von Ibn Taymiyyas Theorie der Bedeutung der Offenbarung umreißt El-Tobgui folgendermaßen:

Ibn Taymiyyas Ansatz der Interpretation der Offenbarung – und in der Tat auch der Sprache im allgemeinen – kann, kurz gesagt, beschrieben werden als auf den Zwillingspfeilern von Kontext (siyāq, qarāʾin) und Konvention (ʿurf) beruhend, die von den einzelnen interpretativen Äußerungen der Salaf untermauert werden und auf der überragenden Klarheit und Freiheit von Ambiguität gründen, die in der wiederholten Beschreibung der Offenbarung durch sich selbst als »klar« und »offenkundig« (mubīn) implizit enthalten ist. (S. 200)

Unter mubīn versteht Ibn Taymiyya: vollständig selbst-erklärend, ohne eines Rückgriffes auf außertextliche Quellen wie etwa die abstrakte Vernunft zu bedürfen.

In den folgenden Abschnitten wird es sich also darum handeln, Ibn Taymiyyas Begriff der kontextuellen Interpretation der Sprache zu untersuchen, der in seiner Hermeneutik von größter Wichtigkeit ist. Es wird dabei einleitend zu erörtern sein, ob Sprache Metapher (madschāz) beinhaltet, deren vermeintliche Leugnung Ibn Taymiyya schon frühzeitig den Vorwurf des einfältigen Literalismus von mit seinem Denken und Werk unzureichend vertrauten Gegnern eingetragen hat.

Wie kann Ibn Taymiyya also madschāz im traditionellen Sinne aufgeben und zugleich einen plumpen Literalismus vermeiden? Und wie steht es im Falle einer kritischen Verwerfung des Begriffes der Metapher sowie des damit eng verbundenen des taʾwīl mit der Interpretation des berühmten Koranverses 3:7, in dem eine Unterscheidung der Verse in muhkam (angeblich »klar«) und mutaschābih (angeblich »mehrdeutig, ambig«) vorgenommen wird und der als Bestätigung von taʾwīl beziehungsweise tafwīdh angeführt wird?

Darauf folgt alsdann eine Untersuchung einiger Beispiele zur Veranschaulichung dieser kontextuellen Hermeneutik an als »problematisch« geltenden Textstellen des Koran, die oftmals ohne Rückgriff auf taʾwīl als unrettbar erachtet werden.

Dem schließt sich wiederum eine Behandlung des zweiten Hauptpfeilers der Theorie des Verstehens an, nämlich der Bevorzugung der sprachlichen Konvention (ʿurf) gegenüber der rationalen Spekulation, deren theoretische Gründe zunächst erkundet werden. Sodann richtet sich der Blick auf die verschiedenen Weisen, in denen sprachliche Konventionen im Laufe der Zeit und auf unterschiedlichen Gebieten sich wandeln, wodurch »vage und mehrdeutige Ausdrücke« (alfādh mudschmala muschtabiha) hervorgebracht werden, in denen Ibn Taymiyya die Ursache für viele schwerwiegende Verzerrungen im Verstehen der Offenbarung erkennt, wie er feststellt:

Die Mehrzahl der Meinungsverschiedenheiten unter rationalen Denkern kann auf eine Frage der vagen und mehrdeutigen Terminologie zurückgeführt werden. (S. 201; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. I, S. 233, 299)

Demzufolge genügt eine treffende Klärung und Analyse der Ausdrücke, um eine große Zahl von theologischen und philosophischen Unstimmigkeiten zu beheben. Auf die Erörterung der Methode zur Disambiguierung solcher Ausdrücke folgt eine Illustrierung dieser Methode anhand der Schlüsselbegriffe wāhid (eins), tawhīd (Einheit Gottes) und tarkīb (Zusammensetzung), die in den theologischen und philosophischen Debatten so heiß umstritten sind.

3.6.2 taʾwīl und die Bedeutung von Koranvers 3:7

Zur Bestimmung der Bedeutung der Offenbarung ist es nicht erforderlich, auf taʾwīl im Sinne der Philosophen und Mutakallimun zurückzugreifen. Dies findet Bestätigung durch die Verwendung von taʾwīl im Koran, das darin nur zwei Bedeutungen besitzt, zu denen die technische Bedeutung des Übergangs vom äußeren Sinn zu einem nicht-äußeren oder metaphorischen Sinn nicht gehört.

Zudem zeigt ein Überblick über die Aussagen der Salaf, dass sie weder taʾwīl noch tafwīdh gebrauchten, sondern am offenkundigen Sinn der Texte festhielten, wobei sie allerdings einräumten, dass die Modalität oder das »Wie« (kayfiyya) bestimmter verborgener Wirklichkeiten, insbesondere der Attribute Gottes, das menschliche Verstandesvermögen übersteigen.

3.6.2.1 Die Bedeutung von taʾwīl

Die meisten muslimischen wie auch orientalistischen Studien gehen davon aus, dass der Koran seiner eigenen Feststellung zufolge vor allem aus zwei Arten von Versen besteht, nämlich einerseits »klaren, eindeutigen« und andererseits »mehrdeutigen«, wobei letztere im Gegensatz zu ihrer äußeren Bedeutung eine metaphorische oder allegorische Interpretation erfordern, um ihren wahren Sinn hervorzubringen. Diese Auffassung wird meist durch Verweis auf den Koranvers 3:7 gestützt, in dem »ayāt muhkamāt« (klare, eindeutige Verse) von »anderen, die mutaschābihāt sind« (mehrdeutig) unterschieden werden. Dieser Koranvers lautet in der deutschen Übertragung von Bubenheim/Elyas:

Er ist es, Der das Buch (als Offenbarung) auf dich herabgesandt hat. Dazu gehören eindeutige Verse [ayāt muhkamāt] - sie sind der Kern des Buches - und andere, mehrdeutige [mutaschābihāt]. Was aber diejenigen angeht, in deren Herzen (Neigung zum) Abschweifen ist, so folgen sie dem, was davon mehrdeutig ist, im Trachten nach Irreführung und im Trachten nach ihrer Mißdeutung [taʾwīl]. Aber niemand weiß ihre Deutung [taʾwīl] außer Allah. Und diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind, sagen: »Wir glauben daran; alles ist von unserem Herrn.« Aber nur diejenigen bedenken, die Verstand besitzen. (Koran 3:7, Ü.: Bubenheim/Elyas)

Denjenigen, die aufgrund ihrer Neigung zum Abschweifen den mutaschābihāt folgen, wird vorgeworfen, nach Irreführung und irriger Auslegung zu trachten. Der darauf folgende Satz kann nun auf zweierlei Weisen gelesen werden, indem an der einen oder der anderen Stelle eine Pause eingelegt wird, was Anlass zu vielfältigen Debatten gegeben hat. Folgt die Pause direkt auf »Allāh«, wird ausgesagt, dass Allah allein die Deutung dieser Verse weiß, wie in obiger Übersetzung angenommen (Punkt nach »außer Allah«). Wird die Pause aber erst nach »ar-rāsikhūna fī al-ʿilm« (in obiger Übertragung: diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind) eingelegt, ergibt sich eine andere Aussage, wie beispielhaft in folgender Übertragung von Amir Zaidan zu sehen ist:

»[…] Jedoch ihre genaue Auslegung kennt nur ALLAAH und die im Wissen fest Verankerten, sie sagen […]« (Koran 3:7, Ü.: Zaidan)

Die späteren Gelehrten haben zumeist folgende Schlüsse gezogen: Wenn der Vers so gelesen wird, dass Allah allein die Deutung (taʾwīl) weiß, so ist angesichts der mutaschābihāt das richtige Verfahren tafwīdh, also Verzicht auf Interpretation; wenn hingegen auch »ar-rāsikhūna fī al-ʿilm« (die im Wissen fest Verankerten) die Deutung wissen, wird dies als Einladung an Religionsgelehrte verstanden, mögliche metaphorische oder allegorische Bedeutungen des betreffenden Verses vorzubringen, unter der Voraussetzung, dass sie den Konventionen der arabischen Sprache entsprechen und der interpretierende Gelehrte mit Bedacht auf den Anspruch verzichtet, über sicheres Wissen zu verfügen, und seine Interpretation als die möglicherweise Intendierte versteht, da die von Gott intendierte wahre Bedeutung Ihm allein mit Gewissheit bekannt ist.

Wie aber können die vermeintlich eindeutigen (muhkam) von den vermeintlich mehrdeutigen (mutaschābih) Versen unterschieden werden? Der Koran selbst gibt darüber keine genaue Auskunft. In der späteren Tradition der Auslegung bildete sich allerdings die Übereinstimmung mit der Vernunft als Kriterium heraus. Als die mutmaßlich »mehrdeutigen« Verse galten daher diejenigen, deren äußere Bedeutung (dhāhir) auf der Grundlage eines »rationalen Einwandes« (muʿāridh ʿaqlī) als unmöglich erwiesen wurde, was wiederum den Gebrauch von taʾwīl oder tafwīdh erforderlich machte.

Die Frage, welche Verse nun genau darunter fielen, wurde freilich zum Gegenstand zahlloser Debatten, da ihre Beantwortung von den unterschiedlichen Lehren der konkurrierenden Schulen abhing, die sich keineswegs darin einig waren, wie das Wesen und die Diktate der Vernunft zu verstehen waren und wie weit ihr Vorrecht zum Urteil über die Bedeutung der offenbarten Texte reichte.

Ibn Taymiyya hingegen verwirft rundheraus diese Definition von taʾwīl und das damit verbundene Verfahren der allegorischen Interpretation mit der Begründung, dass sie einen technischen Gebrauch darstellen, der erst durch Konventionen der späteren Philosophen und Mutakallimun geschaffen wurde und daher den Salaf und frühen Gelehrten des tafsīr unbekannt war, in deren Sprache jedoch der Koran offenbart wurde, der somit im Lichte von deren Konventionen zu verstehen ist. Der spätere technische Sinn von taʾwīl kann also nicht die Bedeutung sein, die vom Sprecher der Offenbarung selbst intendiert und von ihren ursprünglichen Hörern verstanden wurde. Es verbietet sich daher, diese Bedeutung auf den Koran rückzuübertragen. Aber was bedeutet taʾwīl dann?

Ibn Taymiyya weist auf der Grundlage vielfältiger Belege nach, dass das Wort taʾwīl im Gebrauch der Einwohner des Hidschāz im 7. Jahrhundert lediglich zwei mögliche Bedeutungen besaß: einerseits »Erklärung« (tafsīr) und »Klärung« (bayān) im Sinne einer einfachen Erklärung des offenkundigen Sinnes der Offenbarung (z. B. bei at-Tabarī) und andererseits die »letzte Wirklichkeit dessen, worauf sich die Rede bezieht« oder »die Wirklichkeit eines Dinges, wie sein ›Wie‹ (Modalität), das nur Gott bekannt ist«.

In diesem letzteren Sinne repräsentiert der taʾwīl der Verse, die sich auf Gott und die verborgenen Wirklichkeiten, insbesondere des Letzten Tages, beziehen, deren wahre, ontologische Wirklichkeit (nafs al-haqīqa). In Hinsicht auf Gott bezieht dies sich auf die reine Wirklichkeit Seines Wesens und Seiner Attribute (kunh dhātihi wa sifātihi), die Ihm allein bekannt ist.

Ibn Taymiyya stützt sich bei der Bestimmung der doppelten Bedeutung von taʾwīl vor allem auf die Aussagen von Prophetengefährten und frühen mufassirūn (Koranerklärer) wie einerseits Mudschāhid, Ibn ʿAbbās und Ibn Qutayba, welche die Pause im Vers 3:7 nach »ar-rāsikhūna fī al-ʿilm« setzten und annahmen, dass die im Wissen fest Verankerten den taʾwīl der mutaschābihāt im Sinne von deren Erklärung (tafsīr) kannten, und andererseits Ibn ʿAbbās (der diese Position ebenfalls vertrat), Ubayy ibn Kaʿb, Ibn Masʿūd u. a., welche die Pause nach »Allāh« setzten und den taʾwīl, von dem Gott allein Wissen hat, als Wissen der ontologischen Wirklichkeit (haqīqa) und der Modalität (kayfiyya) des Verborgenen verstanden.

El-Tobgui erläutert näherhin:

Diese zwischen zwei Deutungen abwechselnde Interpretation des Ausdrucks »taʾwīl«, so Ibn Taymiyya, wurde durch nichts anderes als das geteilte Verständnis der Prophetengefährten der »konventionellen Sprache, die unter ihnen bekannt war,« bestimmt und auferlegt, die lediglich die zwei zuvor erwähnten Bedeutungen, wie aus ihren eigenen Aussagen und jener der frühen mufassirūn hervorgeht, zulässt, unter Ausschluss der »spezialisierten technischen Bedeutung von taʾwīl«, wie von den späteren Philosophen und Theologen entwickelt und eingesetzt. Für Ibn Taymiyya ist dies also nicht eine Frage von haqīqa (»wörtlich«) versus madschāz (»metaphorisch«) wie für die spätere Tradition, sondern vielmehr »haqīqa« (im Sinne der ontologischen Wirklichkeit und Modalität der äußeren Existenz eines Dinges) versus »maʿnā« (im Sinne der klaren lexikalischen Bedeutung). Im Gegensatz zur Unterscheidung zwischen haqīqa und madschāz besteht das Paar aus haqīqa und maʿnā nicht aus sich gegenseitig ausschließenden Gegensätzen, sondern vielmehr aus zwei verschiedenen und komplementären Aspekten einer gegebenen Wirklichkeit – der eine semantisch und begrifflich, der andere existential und ontologisch. (S. 207)

Ibn Taymiyya führt dazu weiter aus: Wäre die lexikalische Bedeutung eines Verses, verstanden im Sinne der sprachlichen Konventionen der Salaf, uns nicht bekannt, so hätte der Vers für uns schlicht keine bestimmbare Bedeutung, was durch das Wesen der Offenbarung, die durch Klarheit (bayān) und Freiheit von Mehrdeutigkeit ausgezeichnet ist, ausgeschlossen ist. In diesem Sinne beruft er sich auf Ibn Hanbal und andere Salaf, die zu sagen pflegten: »Wir wissen nicht das ›Wie‹ (kayfiyya) dessen, was Gott über Sich Selbst gesagt hat, auch wenn wir seine Erklärung (tafsīrahu) und seine Bedeutung (maʿnāhu) wissen.«

3.6.3 Die Zentralität des Kontextes und Ibn Taymiyyas »kontextueller taʾwīl«

Gibt es für Ibn Taymiyya also überhaupt keinen metaphorischen Gebrauch und keine Entsprechung zum taʾwīl im Sinne der späteren Tradition?

Die Beantwortung dieser Frage verlangt eine genaue Untersuchung seiner Ansichten zur Zentralität des Kontextes bei der Bestimmung der Bedeutung von Rede und Texten, wobei sprachlichen Faktoren stets die entscheidende Rolle zukommt. Er argumentiert dafür zweigleisig, im Hinblick einerseits auf den Gebrauch von Sprache an sich und andererseits auf den besonderen Fall der Sprache der Offenbarung.

Ibn Taymiyya argumentiert nun allerdings nicht – wie es ihm gleichwohl vielfach unterstellt wird -, dass es keine Metapher (madschāz) gibt oder Wörter nur eine Bedeutung haben oder immer im »wörtlichen« Sinn (haqīqa, dhāhir, rādschih) genommen werden müssen, sondern seine Kritik an den sprachphilosophischen Voraussetzungen der vorherrschenden Theorien der Interpretation ist viel grundsätzlicher. Denn sie richtet sich gegen die Unterscheidung zwischen »wörtlicher« und »nicht-wörtlicher« Bedeutung selbst, die eine gänzlich künstliche Konstruktion ist, fern des wirklichen Sprachgebrauchs. Es wird also keineswegs bestritten, dass Wörter mehrere Bedeutungen besitzen können. Verworfen wird vielmehr die Auffassung, dass Wörter gänzlich unabhängig vom Kontext eine »wörtliche« oder »wirkliche« oder »primäre« Bedeutung besitzen, die sodann unter bestimmten Umständen, meist aufgrund rationaler Überlegungen und Einwände, aufgegeben werden müsste zugunsten einer »nicht-wörtlichen« oder »metaphorischen« oder »sekundären« Bedeutung.

Wörter haben in Isolation von jeglichem Kontext keine Bedeutung, sondern die Bedeutung wird vielmehr in jedem Fall von Sprachgebrauch durch den Kontext bestimmt, der seinerseits gemäß der bekannten, gemeinschaftlichen Konventionen der Sprache zu beurteilen ist. In jedem Fall, in dem ein Wort gebraucht wird, wird es in einem besonderen Kontext und vor dem Hintergrund einer besonderen sprachlichen Konvention verwendet. Was der Sprecher mit diesem Wort in einer bestimmten Äußerung meint, kann in jedem Fall nur durch die Berücksichtigung dieses Kontextes und dieser Konvention ermittelt werden.

Das Wort »Hand« beispielsweise kann verschiedene Bedeutungen tragen, zum Beispiel »Hand« im Sinne des Körperteils oder auch »Hilfe«, wie etwa in der Bitte, eine Hand zu reichen. Wird es nun in einer Äußerung in einem bestimmten Kontext im Sinne von »Hilfe« gebraucht, so kann diese Bedeutung als die »äußere« oder »wörtliche« Bedeutung in diesem besonderen Fall betrachtet werden.

Was für den Sprachgebrauch im allgemeinen gilt, trifft auch auf die Offenbarung zu, die einen sprachlichen Ausdruck von Bedeutung darstellt, der in arabischer Sprache an die Menschen gerichtet ist. Die Texte von Koran und Sunna vermitteln wie jede andere Art von Kommunikation in menschlicher Sprache ihre intendierten Bedeutungen durch Wörter oder Äußerungen (alfādh), deren Bedeutung in jedem Fall durch den unmittelbaren Kontext (qarāʾin, siyāq al-kalām) vor dem Hintergrund einer geteilten sprachlichen Konvention (ʿurf) ihres ursprünglichen Zielpublikums, nämlich des Propheten Muhammad und seiner Gefährten, bestimmt werden muss.

Ibn Taymiyya legt großen Wert auf die Tatsache, dass die Offenbarung, wie sie selbst feststellt, überaus klar (mubīn) und frei von Mehrdeutigkeit ist, die ihre Botschaft undeutlich machen oder ihre Mitteilung an die intendierten Empfänger behindern würde.

El-Tobgui erläutert:

Im Lichte seiner Bedeutungstheorie und der herausragenden Rolle, die der Kontext darin spielt, vertritt Ibn Taymiyya die Auffassung, dass die durchsichtige Klarheit der Offenbarung auf einem weiteren Prinzip beruht: nämlich dass die Texte der Offenbarung zusammen genommen immer explizite Indikationen der durch »mehrdeutige« Passagen intendierten Bedeutung in sich enthalten. Wir können dieses Prinzip mit dem (zugegebenermaßen sperrigen) Ausdruck »semantisch explizite selbstgenügsame Intertextualität« bezeichnen, aufgrund derer die offenbarten Texte sowohl ihre charakteristische Klarheit erlangen als auch, in einem großen Schachzug Ibn Taymiyyas gegen die Rationalisten, ihre völlige Unabhängigkeit von jeglichem externen Faktor – insbesondere den Ausflüssen der abstrakten rationalen Spekulation – bei der Übermittlung der durch sie intendierten Bedeutungen. (S. 213)

3.6.3.1 Ibn Taymiyyas kontextueller taʾwīl in der Praxis

Zur Veranschaulichung dieses Prinzips wird dessen praktische Anwendung auf einen Hadith herangezogen, in dem es unter anderem heißt: »Der Schwarze Stein ist Gottes rechte Hand auf Erden.« Ibn Taymiyya kommt in seiner Analyse der Bedeutung dieser Aussage, auf deren Einzelheiten näher einzugehen hier nicht der Ort ist, zu dem Ergebnis, dass der Hadith selbst ausdrücklich besagt, dass der Schwarze Stein eben tatsächlich nicht Gottes Hand ist, worauf schon die Einschränkung »auf Erden« verweist, die den Hörer sogleich darauf aufmerksam macht, dass die Zuschreibung nicht »wörtlich« zu verstehen ist. Der Hadith verlangt keinen taʾwīl oder Reinterpretation im Gegensatz zu seinem äußeren Sinn, sondern der Text selbst macht klar, dass die ungültige (bātil) Bedeutung nicht die intendierte ist. Dafür ist kein Rückgriff auf externe Belege wie etwa Vernunftschlüsse erforderlich, da die richtige intendierte Bedeutung aus der Offenbarung selbst hervorgeht.

Es verdient nachdrücklich betont zu werden, dass Ibn Taymiyya, wenn er auf dem Festhalten am lafdh, dem ausdrücklichen Wortlaut eines Textes oder einer Äußerung, besteht, keineswegs etwas befürwortet, das als strikter »Literalismus« beschrieben werden könnte.

El-Tobgui legt dar:

Für Ibn Taymiyya wird der lafdh nie als ein nacktes Wort begriffen, dem ursprünglich die Bezeichnung einer spezifischen, isolierten »primären« Bedeutung zugewiesen ist. Was Ibn Taymiyya vielmehr als lafdh bezeichnet, ist immer […] der lafdh (1) wie er in einem gegebenen Kontext erscheint, (2) wie er gemäß der sprachlichen Konventionen der Salaf verstanden wird und (3) wie er im Lichte anderer relevanter Texte interpretiert wird. Es gibt einfach kein solches Ding wie ein lafdh in Isolation, denn für Ibn Taymiyya besitzt kein lafdh außerhalb eines besonderen, kontextualisierten Falles von Gebrauch irgendeine bestimmbare Bedeutung. […] Während Ibn Taymiyya für sich gewiss in Anspruch nimmt, ein strikter Textualist zu sein, so ist er keinesfalls ein strikter Literalist in der Weise, in der dieser Ausdruck normalerweise verstanden wird. (S. 215-216)

3.6.3.2 taʾwīl auf der Basis der Intertextualität

Die Bedeutung der Intertextualität erweist sich besonders deutlich an einer Auslegung von Ibn Hanbal, die als paradigmatisches Beispiel gelten kann. Es geht dabei, ohne in die Einzelheiten zu gehen, um einen Koranvers, der von der Dschahmiyya zur Begründung ihrer Ansicht herangezogen wurde, dass Gott nicht von der Welt getrennt, sondern vielmehr in ihr sei. Es heißt darin: »Er ist Allah in den Himmeln und auf der Erde« (Koran 6:3).

Ibn Hanbal kommt nun durch Berücksichtigung einer Vielzahl von Texten aus der Offenbarung selbst zu folgender Auslegung: Er ist der Gott derjenigen in den Himmeln und derjenigen auf der Erde, während Er Selbst über dem Thron ist und mit Seinem Wissen alles unter dem Thron umfasst. In der gegenseitigen Beeinflussung, Erhellung und Wechselwirkung verschiedener Texte, wie sich an diesem Beispiel ablesen lässt, besteht das Prinzip der Intertextualität.

El-Tobgui beschreibt es näherhin so:

Der entscheidende Punkt für Ibn Taymiyya ist letztlich, dass alle Texte der Offenbarung, zusammen genommen und im wechselseitigen Licht betrachtet, immer völlig selbständig und selbstgenügsam sind, indem sie die Bedeutungen, die mit ihnen intendiert sind, - ausdrücklich – übermitteln. Diese letztere Prämisse erklärt, warum wir Ibn Taymiyyas Prinzip der Intertextualität bezeichnet haben sowohl als semantisch explizit – da alle Bedeutungen in einer expliziten (sarīh) Weise angezeigt werden, wenn die Offenbarung als ein Ganzes betrachtet wird – als auch als selbstgenügsam – da die Gesamtheit der offenbarten Texte keiner unabhängigen Quelle wie etwa der spekulativen Vernunft bedarf, um irgendeine der (explizit angezeigten) Bedeutungen, die darin enthalten sind, zu bestätigen, zu qualifizieren oder zu modifizieren. (S. 218)

3.6.3.3 taʾwīl auf der Basis der Positionen der Salaf

Neben dem Kontext und dem Prinzip der Intertextualität bei der Auslegung der Offenbarung erkennt Ibn Taymiyya als dritten autoritativen Bestimmungsfaktor der Bedeutung die überlieferten Aussagen (aqwāl) der Gefährten und frühen Salaf an, insbesondere, wenn sie einen Konsens (idschmāʿ) bilden.

So wird die Interpretation eines Verses gelegentlich mit dem Verweis darauf gerechtfertigt, dass sie unter den aqwāl oder den übereinstimmenden Auffassungen der Salaf zu finden ist. Wenn ein bestimmtes Verständnis der Offenbarung von den Salaf überliefert worden ist (maʾthūr ʿan as-salaf), dann wird ihre Meinung zu einem bindenden und autoritativen Faktor bei der Bestimmung der Bedeutung eines Textes.

3.6.4 Die Salaf und die Autorität ihrer sprachlichen Konvention (ʿurf)

Damit eine sprachliche Äußerung von denjenigen, an die sie gerichtet ist, verstanden werden kann, muss sie den sprachlichen Gewohnheiten und Konventionen (ʿurf) der betreffenden Sprachgemeinschaft entsprechen. Dies gilt auch für die Worte der göttlichen Offenbarung. Dabei stammt zwar die Äußerung von Gott, Der jedoch Seine Offenbarung an Menschen richtet und sie daher in eine bestimmte menschliche Sprache kleidet, die in einer lebendigen Sprachgemeinschaft auf der Grundlage bestehender Konventionen gebraucht wird, die der Offenbarung in dieser Sprache vorausgehen.

Die Offenbarung kam also zum Propheten und seinen Gefährten in ihrer eigenen Sprache. Und wenn sie verstanden werden sollte, wenn sie für sie klar (mubīn) sein sollte, wie der Koran mehrfach betont, dann konnte sie nur in Übereinstimmung mit den Mustern, Regeln, Begriffen und Konventionen ihres Sprachgebrauchs herabgesandt werden. Daher wird dem Verstehen der Offenbarung gemäß der bekannten sprachlichen Konventionen (ʿurf) der Salaf eine so große Bedeutung beigemessen.

Allerdings kommt es in manchen Fällen auch vor, dass die Offenbarung gegen die bestehenden Konventionen und Begriffe verstößt und sie modifiziert, indem die Bedeutungen und Implikationen von Ausdrücken verschoben, ihr moralischer Gehalt verändert, ihre moralische Bewertung verlagert, ihre Bedeutung völlig neu bestimmt oder gar neue Ausdrücke und Verwendungen aufgenommen werden, die entsprechend den neuartigen Vorstellungen und Konzeptionen neue Konventionen in die Sprache einführen. Daher muss neben dem weiteren Kontext der bestehenden Konvention als Hintergrund der Offenbarung auch die umfassende Weltsicht, Auffassung Wirklichkeitsauffassung (Ontologie) und Grundkonzeption der Offenbarung berücksichtigt werden.

Dies ändert gleichwohl nichts daran, dass die Bedeutung der Offenbarung in selbstbezüglicher und unabhängiger Weise ermittelt werden kann, nämlich auf der Grundlage der Texte selbst, die sowohl im Lichte des weiteren sprachlichen Kontextes als auch der von der Offenbarung selbst eingeführten terminologischen und begrifflichen Erneuerungen interpretiert werden.

3.6.4.1 Die Autorität der Salaf im Wissen und das Verstehen der Offenbarung

Von zentraler Bedeutung für Ibn Taymiyya ist die Auffassung, dass die Salaf (salaf) nicht nur die am meisten gottesbewussten muslimischen Generationen waren, sondern auch über das tiefste Wissen und das beste Verstehen des Glaubens verfügten, den sie zudem auf exemplarische Weise praktizierten. Die Reinheit des Herzens sowie die Klarheit und Tiefe des Verstandes als ihre herausragenden Eigenschaften fanden bei Ibn Taymiyya besondere Wertschätzung, weshalb er daraus »den Eckstein seines gesamten epistemischen Systems machte« (El-Tobgui). Und diese ersten drei Generationen, von den sahāba (Gefährten) bis zu den tābiʿu at-tābiʿīn (Nachfolgern der Nachfolger), sind für Ibn Taymiyya die Salaf, deren sprachliche Konvention und Verstehen der Offenbarung für alle späteren Generationen eine einzigartige Autorität besitzen.

Spätere Gelehrte (al-khalaf) haben hingegen behauptet, dass die Salaf sich auf den Glauben an und die Wahrung des Wortlautes der Offenbarung beschränkten, ohne sich um ein tieferes Verstehen ihrer Bedeutungen zu bemühen. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die späteren Gelehrten mit ihren spezifischen Methoden der Interpretation zu größerem Wissen und tieferem Verständnis der offenbarten Texte gelangten, während die Salaf mit ihrem gedankenlosen Affirmationismus schlicht den »sichereren« Weg gewählt hatten, indem sie am Wortlaut festhielten und auf jede nähere Interpretation ihrer Bedeutung verzichteten. Ibn Taymiyya führt diese Behauptungen auf die Überzeugung der späteren Gelehrten zurück, dass zum Verstehen der Offenbarung die ausgedehnte Anwendung der rationalistischen Reinterpretation (taʾwīl) unerlässlich sei.

El-Tobgui führt dazu aus:

Ibn Taymiyya liegt viel daran, sie von diesem Vorwurf zu entlasten, indem er nachweist, dass die Salaf und frühen Autoritäten (as-salaf wa al-aʾimma): (1) die in den Texten spezifizierten göttlichen Attribute in eindeutiger Weise affirmierten; (2) die volle Bedeutung dieser Texte in tiefer Weise bedachten und verstanden; und (3) die Ansichten und Methoden der »Negationisten« (nufāh) aktiv widerlegten, als diese in Erscheinung zu treten begannen, indem sie aufzeigten, dass sie im Gegensatz zu sowohl den Texten der Offenbarung, wie sie von den frühesten Generationen authentisch verstanden wurden, als auch den Geboten der heilen Vernunft standen. Somit war die Vorgehensweise der Salaf für Ibn Taymiyya gleichzeitig sowohl die sicherste (aslam) als auch die intellektuell strengste (aʿlam wa ahkam). (S. 224)

Ibn Taymiyya stützt sich dabei auf frühe Werke des tafsīr (Koranerklärung) und Sammlungen von Aussagen (āthār) des Propheten, der Gefährten und der Nachfolger (al-kutub al-musannafa fī as-sunna), woraus eindeutig der durchgängige Affirmationismus (ithbāt) der Salaf im Hinblick auf die Attribute Gottes hervorgeht.

3.6.5 Analyse von Begriffen zur Erkennung und Korrektur von semantischer Verschiebung

Ibn Taymiyyas Kritik an den Philosophen und Mutakallimun richtet sich großteils gegen deren Gebrauch der Sprache, der sich in seinen Augen als Missbrauch erweist. In dieser Sprachkritik sieht er al-Ghazālī als Vorläufer. Im Gebrauch vager und mehrdeutiger Ausdrücke, deren unterschiedliche Bedeutungen und Implikationen nicht ganz verstanden, nicht klar voneinander geschieden und nicht deutlich begrifflich erfasst sind, erkennt Ibn Taymiyya eine entscheidende Ursache für die meisten Unstimmigkeiten zwischen rationalistischen Denkern wie auch für verwerfliche Neuerungen (bidʿa) in der Religion und für den vermeintlichen Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung. Solche Ausdrücke samt ihren impliziten Bedeutungen und Annahmen werden aufgrund der in ihnen enthaltenen Wahrheit als Ganzes übernommen, ohne dass ihre vielschichtige Mehrdeutigkeit untersucht und durchschaut wird, so dass sie schließlich aufgrund der Falschheit, die sie ebenfalls enthalten, zum Ausgangspunkt für einen Widerspruch mit der Offenbarung werden.

Diese terminologische Verwirrung hat freilich weitreichende Auswirkungen sowohl auf das Verständnis der Offenbarung wie auch auf den philosophischen und theologischen Diskurs, da beide in erster Linie Phänomene der Sprache sind. Die Konfusion dient dabei oftmals dazu, der Offenbarung eine Interpretation zu verleihen, die mit vermeintlich rationalen Folgerungen in Einklang steht. Diesem Missbrauch kann begegnet werden durch eine sorgfältige und methodische Analyse einerseits der in der Offenbarung verwendeten Ausdrücke wie auch andererseits der Ausdrücke in den rationalen Argumenten, die angeblich im Widerspruch zur Offenbarung stehen. Dadurch kann die Konfusion (schubha), die in einer bestimmten Frage herrscht, aufgeklärt und der vermeintliche Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung als bloße Schimäre enthüllt werden.

Diese Verwirrung durch den Missbrauch ungeklärter Mehrdeutigkeit kann verschiedene Ursprünge haben. Meist handelt es sich jedoch darum, dass gewöhnlichen Wörtern, die in der Offenbarung und im alltäglichen Sprachgebrauch Verwendung finden, von Philosophen und Mutakallimun in einem spezifischen Diskurs eine veränderte technische Bedeutung verliehen wird, die zu Ambiguität und Konfusion führt. Dies gilt ganz besonders, wenn philosophische Auffassungen, die mit den betreffenden Ausdrücken formuliert sind, mit dem direkten Verweis auf die Offenbarung gestützt werden.

Zur beispielhaften Veranschaulichung kann das Wort dschism (Körper) angeführt werden, das in der Offenbarung gemäß der normalen sprachlichen Konvention gebraucht wird, wie wenn etwa vom Körper eines Menschen oder Tieres die Rede ist. Das Wort wird aber nicht mit Bezug auf Gott gebraucht, weder affirmativ noch negativ. Wenn die Philosophen es nun auf Gott anwenden, tun sie dies nicht in Übereinstimmung mit der gemeinhin anerkannten konventionellen Bedeutung, sondern auf der Grundlage ihrer besonderen Konvention (ʿurf khāss), derzufolge dschism (Körper) als eine Entität definiert wird, der distinkte Attribute zugeschrieben werden können. Wenn nun in diesem Sinne gesagt wird, dass Gott kein dschism ist, ergeben sich daraus ganz neue und andere Implikationen, die durchaus zu einem Widerspruch mit der Offenbarung führen können, da damit sehr viel mehr negiert wird, als was das Wort in seinem koranischen und allgemein konventionellen Gebrauch bedeutet.

Als zweites Beispiel für eine analoge semantische Verschiebung lässt sich der höchst bedeutsame und zentrale Ausdruck wāhid (eins) nennen, der in einer eigenen Fallstudie alsbald näher untersucht werden wird.

Eine andere Kategorie besteht aus Wörtern, die in der Alltagssprache der Araber, aber nicht in der Offenbarung vorkommen und deren allgemeinen konventionellen Bedeutungen weit von den technischen Definitionen, die ihnen in falsafa und kalām gegeben werden, abweichen. Dazu gehören beispielsweise Wörter wie tarkīb (Zusammensetzung), dschuzʾ (Teil), iftiqār (Abhängigkeit) und sūra (Bild, Form) wie auch ein Großteil des grundlegenden Vokabulars des philosophischen Diskurses wie dschawhar (Substanz, Atom), ʿaradh (Akzidens), dhāt (Essenz, Wesen), sifa (Attribut), ʿilla (Ursache), maʿlūl (Wirkung), wudschūb (Notwendigkeit), imkān (Kontingenz), qidām (Ewigkeit), hudūth (Zeitlichkeit) usw.

Ein weiterer Ursprung von Konfusion liegt in der Missdeutung der Grammatik, die sich vor allem durch die Missachtung des tatsächlichen konventionellen Sprachgebrauchs ergibt. So interpretieren beispielsweise viele spekulativen Denker (nudhdhār) die Verwendung bestimmter Formen des Partizips Perfekt im Arabischen derart, dass sie aus einem passivischen Partizip allein aufgrund seiner morphologischen Form und im Gegensatz zum tatsächlichen Gebrauch in einem rein intransitiven Sinn ableiten, dass es einen Handelnden oder Täter geben müsse. Daraus können sich vielerlei Probleme ergeben, insbesondere wenn diese Ausdrücke auf Gott bezogen werden. In diese Kategorie fallen so bedeutende Ausdrücke wie mawdschūd (existent, existierend), makhsūs (partikularisiert, gekennzeichnet durch), muʾallaf (hergestellt aus, gebildet aus), murakkab (zusammengesetzt aus) und muhaqqaq (realisiert, wirklich, tatsächlich).

El-Tobgui erläutert:

Ibn Taymiyya sieht darin ein weiteres Beispiel dafür, dass die spekulativen Denker (ahl an-nadhar) Sprache in ihre eigene intellektuelle Form pressen und damit ihre rationalen Spekulationen der vorbestehenden sprachlichen Konvention aufpfropfen. Ibn Taymiyya ist hinwiederum der Ansicht, dass eine angemessene Berücksichtigung der Konvention dazu geeignet ist, die zu untersuchende Frage aufzuklären und typischerweise die Lehren und Annahmen zu untergraben, die durch die Spekulationen der nudhdhār mit ihnen in Verbindung gebracht wurden. (S. 230)

3.6.6 Eine Fallstudie: Die Ausdrücke wāhid, tawhīd und tarkīb

Ibn Taymiyya erörtert ausführlich das Beispiel solcher höchst bedeutsamen und entscheidenden Wörter wie wāhid (eins), tawhīd (Einheit Gottes) und tarkīb (Zusammensetzung), indem er ihren Gebrauch in alltäglicher Sprache und Offenbarung mit ihrer spezifisch philosophischen Verwendung vergleicht. Schon die frühe Muʿtazila hat unter dem Einfluss der aristotelischen Unterscheidung zwischen Essenz und Attribut den Begriff der Einheit, insbesondere die Einheit Gottes, als vollkommene Einfachheit verstanden. Diesem technischen philosophischen Gebrauch (istilāh) zufolge ist nur das wahrhaft »eines« (wāhid), dessen Essenz vollkommen einfach und völlig undifferenziert, also von jeglichen Attributen, die von seiner Essenz unterschieden sind, vollständig frei ist.

Würde Gott daher Attribute besitzen, selbst diejenigen, die Ihm in der Offenbarung eindeutig zugeschrieben werden, wäre Er in diesem Sinne nicht länger »eines«, sondern aus Seiner Essenz und Seinen Attributen zusammengesetzt. Das stünde freilich im Widerspruch zu dem ebenfalls von der Offenbarung vertretenen noch grundlegenderen Prinzips, dass Gott Einer (wāhid) ist. Wenn also die Offenbarung mit sich selbst und der Vernunft konsistent sein soll, müssen die vermeintlichen »Attribute« allegorisch interpretiert werden. Diese Argumentation der Muʿtazila und der späteren Philosophen beraubt die in der Offenbarung erwähnten »Attribute« Gottes also jeglicher Wirklichkeit und macht aus ihnen bloße Namen, die keine realen Eigenschaften des göttlichen Wesens bezeichnen.

Die inhaltliche Tragfähigkeit dieser Position wird im nächsten Kapitel untersucht, in dem Ibn Taymiyyas Kritik der philosophischen Ontologie behandelt wird. Hier geht es vorläufig um den rein sprachlichen Gesichtspunkt, also um die Frage, was das Wort wāhid gemäß der sprachlichen Konvention des Propheten und seiner Gefährten bedeutet hat und wie sie auf deren Grundlage die Behauptung von Gottes tawhīd in der Offenbarung verstanden haben. Diese beiden Aspekte müssen stets im Zusammenhang betrachtet werden, da sich das Verstehen der Offenbarung aus einem Zusammenspiel der vorgängigen sprachlichen Konvention mit der koranischen Theologie und Ontologie ergibt, die diese Konvention aufgreift, aber auch modifiziert.

Wird die sprachliche Bedeutung von wāhid gemäß des tatsächlichen Gebrauchs in der arabischen Sprache ermittelt, so zeigt sich, dass das Wort wāhid stets zur Bezeichnung einer einzelnen Entität im Gegensatz zu einer Vielzahl von Entitäten verwendet wird, wie zum Beispiel entsprechend im Deutschen, wenn der Sprecher von »einem Menschen« oder »einem Tier« im Gegensatz zu »zwei oder mehr« Menschen beziehungsweise Tieren spricht. Es wird also die Einheit einer bestimmten ganzen Entität bezeichnet, die allemal durch Attribute der einen oder anderen Art qualifiziert ist. Was damit zum Ausdruck gebracht wird, ist also das Fehlen der Vielheit und nicht das Fehlen von Attributen.

Dies gilt auch für die Verwendung von wāhid im Koran. Es lässt sich darin kein einziger Fall finden, in dem der Ausdruck wāhid in dem spezifisch technischen Sinn der Philosophen gebraucht wurde, was auch nicht weiter verwunderlich ist, da die Unterscheidung von Essenz und Attribut den damaligen Sprechern des Arabischen unbekannt und ihrem Denken fremd war. Und Gott sprach ja in ihrer Sprache und auf eine Weise zu ihnen, die sie in ihrem Bezugsrahmen verstehen konnten.

El-Tobgui stellt fest:

Ibn Taymiyya schließt, dass das Rückprojizieren der späteren technischen philosophischen Bedeutung des Wortes »eins« auf Ausdrücke wie »wāhid« oder »ahad«, wie sie in der Offenbarung gebraucht werden, nicht nur eine Verfälschung von (firya ʿalā) den offenbarten Texten darstellt, sondern auch eine Verzerrung und Sprengung der Weise, in der Sprache selbst als ein Werkzeug für die Kommunikation von Bedeutung unter ihren Sprechern auf der Grundlage eines notwendigerweise transparenten und gemeinsam geteilten sprachlichen Habitus funktioniert. In der Tat, so lesen wir im Koran selbst, hat Gott nie einen Gesandten geschickt, außer mit einer Botschaft in der Sprache seines Volkes, damit er sie ihnen klarmacht (siehe Koran 14:4). (S. 235)

Was den Gebrauch von wāhid durch die Offenbarung besonders mit Bezug auf Gott betrifft, so weist Ibn Taymiyya darauf hin, dass die Einheit Gottes (tawhīd), wie sie von der Offenbarung ausgesagt wird, nicht nur die Behauptung beinhaltet, dass Gott numerisch singulär ist, es also nur einen Gott und keine anderen Götter gibt, sondern auch, dass Gott die ausschließliche Göttlichkeit (ilāhiyya) zukommt, so dass Ihm allein Verehrung und Gottesdienst gebührt. Diesen wesentlichen Aspekt des tawhīd versäumen die späteren Mutakallimun in ihren Begriff des tawhīd aufzunehmen, während sie zugleich allerlei andere Bedeutungen auf der Grundlage der technischen Verwendung der Philosophen einschmuggeln, die durch die Negation der Attribute Gottes einen Widerspruch mit dem klaren und offenkundigen Sinn der Offenbarung implizieren.

Was das Wort tarkīb (Zusammensetzung), das im Koran nicht vorkommt, anlangt, so führt Ibn Taymiyyas Untersuchung seiner umgangssprachlichen Bedeutungen zu dem Ergebnis, dass Gott in keinem dieser üblichen Sinne »zusammengesetzt« ist. Die Philosophen, besonders Ibn Sīnā, haben das Wort tarkīb allerdings als technischen Begriff übernommen und ihm einige zusätzliche Bedeutungen verliehen, so dass auch die Relation von Essenz (dhāt) und Attributen (sifāt) als Zusammensetzung verstanden wird. Daraus ergibt sich freilich, dass Gott, um nicht aus Wesen und Attributen zusammengesetzt zu sein, von allen Attributen frei und somit reines Wesen sein muss.

Während die Philosophen damit die Einheit des göttlichen Wesens zu bewahren meinten, negierten sie Gottes ontologische Wirklichkeit (haqīqa) und Attribute (sifāt). Die Unterscheidung zwischen Wesen und Attributen ist jedoch, so Ibn Taymiyya, rein mental. Die verschiedenen Attribute einer bestimmten Entität können lediglich durch das Denken herausgelöst werden, aber nie als solche, getrennt von der Essenz, in der äußeren Wirklichkeit existieren. In der nicht-mentalen Realität kann das Wesen eines Dinges nur so bestehen, dass es durch seine verschiedenen Attribute und Eigenschaften qualifiziert ist. Das Denken kann zwar eine logische Unterscheidung zwischen Essenz und Attributen vornehmen, aber die ontologische Wirklichkeit jeder existierenden Entität umschließt notwendigerweise ihr Wesen samt ihren zugehörigen Attributen in einem untrennbaren Ganzen. Der Fehler im philosophischen Denken, so ließe sich sagen, liegt hier also im Übergang von einer bloß gedanklichen, logischen Unterscheidung zu deren vermeintlicher ontologischer Wirklichkeit.

Die durch die Einschleusung einer neuen Begrifflichkeit bewirkte semantische Verschiebung führt dazu, dass das neue konzeptuelle und sprachliche Schema in die Offenbarung nachträglich hineingelesen wird. Einer so unstrittigen Aussage wie »Gott ist einer und nicht-zusammengesetzt«, die, wenn sie gemäß der ursprünglichen Konvention verstanden wird, die durch die Offenbarung bestätigte und mit der Vernunft übereinstimmende Bedeutung trägt, dass es nur eine einzige Wesenheit gibt, die Gott ist und der allein Anbetung gebührt, die weder zusammengesetzt ist noch zerlegt werden kann, - also einer so unstrittigen Aussage wird dadurch die durch die Offenbarung nicht zu rechtfertigende und rational inkohärente Bedeutung verliehen, dass »Gott, der vollkommen einfach ist, reines, absolutes Sein (wudschūd mutlaq) ist, das keinerlei Attribute besitzt«.

El-Tobgui legt weiterhin dar:

Dass ein solcher Begriff von »Gott« mit der offenkundigen Bedeutung der Offenbarung – verstanden entsprechend der sprachlichen Konvention ihrer ursprünglichen Empfänger – grundsätzlich unvereinbar ist, steht außer Frage, da die Ausdrücke wāhid (eins), murakkab (zusammengesetzt) und verwandte Ausdrücke zur Zeit der Offenbarung keine der hoch spezialisierten Bedeutungen trugen, die ihnen von späteren Philosophen in dem Bestreben verliehen wurden, die Annahmen und Implikationen einer fremden Weltsicht in der arabischen Sprache auszudrücken. Doch Ibn Taymiyya geht über die bloße Behauptung einer Unvereinbarkeit eines solchen Begriffes von »Gott« mit der Offenbarung hinaus, indem er argumentiert, dass er auch rational nicht zu rechtfertigen ist, da »reines Sein« und ein »reines Wesen« ohne alle Qualifikation durch Attribute und dergleichen, wie er nachdrücklich betont, bloße logische Konstrukte sind, die nur im Denken existieren können. Daher kann eine solche Aussage wie »Gott ist einer und nicht-zusammengesetzt« legitimerweise kategorisch weder affirmiert noch negiert werden, bis alle Ausdrücke, aus denen sie gebildet ist, sorgfältig analysiert worden sind, woraufhin man sodann dazu schreiten sollte, die dadurch identifizierten individuellen Bedeutungen zu bestätigen und zu bestreiten, ungeachtet der Ausdrücke, die gebraucht wurden, um sie auszudrücken, denn »zu beachten sind die Wirklichkeiten (haqāʾiq) und Bedeutungen (maʿānī), nicht die bloßen Worte [durch die sie ausgedrückt werden]«. (S. 240; Hervorhebungen im Original; siehe Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, Bd. I, S. 281, Z. 2-3; sowie ähnlich I, 282, 296, 299; III, 237; IX, 291)

3.6.7 Konklusion

Ibn Taymiyyas gesamte Sprachphilosophie und Hermeneutik kann als Kommentar zu dem eingangs dieses Kapitels zitierten Koranvers aufgefasst werden:

Und niemals haben Wir einen Gesandten anders als (mit einer Botschaft) in der Sprache seines eigenen Volkes entsandt, auf daß er ihnen (die Wahrheit) klar machen möge. (Koran 14:4; Ü.: Asad)

Die Offenbarung ist eine Mitteilung von Gott an Seine menschlichen Geschöpfe auf Erden, deren Botschaft für das menschliche Wohlergehen in Diesseits und Jenseits von größter Bedeutung ist. Da die Menschen für ihr Verständnis dieser Botschaft und ihre entsprechenden Taten moralisch zur Rechenschaft gezogen werden, konnte Gott es nicht unterlassen, sie mit größter Klarheit und Bestimmtheit mitzuteilen. Wirksame Kommunikation lässt den Hörer den Inhalt der Mitteilung und die Intentionen des Sprechers zweifelsfrei verstehen.

Auf dieser Grundlage entwickelt Ibn Taymiyya eine sprachbasierte Hermeneutik, welche die Gesamtheit der offenbarten Texte als unabhängige und selbstgenügsame Quelle einer einheitlichen, kohärenten und umfassenden Weltsicht, Ontologie und Theologie begreift. Die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung wird durch Kontext und Konvention bestimmt. Da die äußere Bedeutung (dhāhir) jeder Äußerung durch den Kontext bestimmt wird, erübrigt sich die traditionelle Unterscheidung zwischen haqīqa (wörtlich) und madschāz (allegorisch). Der taʾwīl im Sinne einer Reinterpretation entfällt zugunsten eines kontextuellen taʾwīl.

Die Bedeutung lässt sich darüber hinaus nur durch Kenntnis der sprachlichen Konventionen der Sprachgemeinschaft ermitteln, durch welche bestimmt wird, welche Bedeutung ein Wort in einem bestimmten Kontext trägt. Der Koran wurde dem Propheten Muhammad und seinen Gefährten in der ihnen vertrauten arabischen Sprache offenbart. Daher müssen ihre sprachlichen Konventionen berücksichtigt werden, wenn die Offenbarung angemessen verstanden werden soll.

El-Tobgui setzt pointiert hinzu:

Was Offenbarung für sie bedeutete, ist, für Ibn Taymiyya, was Offenbarung bedeutet – Punkt. Die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass Offenbarung eine »wirkliche Bedeutung« im Widerspruch zum Verständnis der Salaf haben könnte, die nur Generationen später durch die idiosynkratischen Konventionen einer fremden Gesellschaft aufzudecken wäre, deren Vokabular, Annahmen und intellektuelle Gewohnheiten andere sind als jene, die vom Koran vorausgesetzt werden, würde, für Ibn Taymiyya, nicht nur auf einen fatalen Widerspruch mit der »Klarheit«, die der Koran für sich selbst behauptet, hinauslaufen, sondern die kategorische Negation des eigentlichen Wesens von Sprache sowie der Rahmenbedingungen und des Funktionierens von sprachlicher Kommunikation, sei es göttliche oder andere, in sich schließen. (S. 242-243; Hervorhebung im Original)

Zudem macht El-Tobgui auf einen wichtigen Aspekt dieser Auffassung aufmerksam:

Es sei abermals betont: Dies sollte nicht so verstanden werden, dass Ibn Taymiyya zwangsläufig das Vorrecht späterer Generationen verwirft, ihre eigenen persönlichen oder kollektiven Einsichten hinsichtlich der Texte zu hegen, solange diese Einsichten komplementär zu – und niemals in Widerspruch mit – den Bedeutungen sind, die wir als solche bestimmen können, die von den Salaf verstanden worden sind. (S. 243, Anm. 103)

Und El-Tobgui beschließt dieses Kapitel mit folgenden Bemerkungen:

Aus der in diesem Kapitel durchgeführten Untersuchung geht klar hervor, dass Ibn Taymiyya danach strebt, eine Abkehr von einer Herangehensweise an die offenbarten Texte zu veranlassen, die der abstrakten Spekulation Vorrang gewährt und alles daran setzt, die Offenbarung in die Form einer vorgegebenen Weltanschauung einzupassen, die angeblich auf der »reinen Vernunft« gründet, zugunsten einer Herangehensweise, die durchgängig in Sprache begründet ist und in der die offenbarten Texte völlig selbstgenügsam für die Übermittlung von theologischen und anderen Wahrheiten an die Menschheit sind. Im folgenden Kapitel richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf, wie Ibn Taymiyya sich anschickt, die grundlegenden Annahmen der falsafa zu dekonstruieren, um die Verbindung – und die Harmonie – zwischen der authentischen Offenbarung (naql sahīh) und seinem rekonstruierten Begriff der reinen Vernunft (ʿaql sarīh) wiederherzustellen. (S. 243)

3.7 Sarīh al-maʿqūl oder Was ist Vernunft?

3.7 Sarīh al-maʿqūl oder Was ist Vernunft? Yusuf Kuhn

Sollen wir, wann immer ein Mann streitlustiger als ein anderer zu uns kommt, aufgeben, was Gabriel Muhammad (Gottes Segen und Frieden seien auf ihm) gebracht hat, aufgrund des Streits eines solchen Mannes? (Mālik ibn Anas)

3.7.1 Einführung

In diesem Kapitel werden Ibn Taymiyyas Ontologie und Epistemologie untersucht. Beide sind von zentraler Bedeutung für den Nachweis der Möglichkeit, den offenkundigen Sinn der Offenbarung aufrechtzuerhalten, ohne in Widersprüche oder Assimilationismus (taschbīh) zu verfallen, und um somit den so lange schwärenden Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung aufzulösen, worauf im Schlusskapitel näher eingegangen wird.

Zunächst wird es um die Ontologie gehen, also um die Frage, was »draußen«, extramental existiert, und dann um die Epistemologie, also um die Frage, wie wir erkennen, was existiert. Es wird der Versuch unternommen, Ibn Taymiyyas epistemologisches System zu umreißen, das aus drei grundlegenden Quellen des Wissens gespeist wird: Sinneswahrnehmung (hiss), Vernunft (ʿaql) und Bericht oder Überlieferung (khabar), zu der auch die Texte der Offenbarung gehören. Darauf folgt eine Untersuchung der gemeinsamen Prinzipien, die den verschiedenen Erkenntnisquellen gleichermaßen zugrunde liegen, nämlich fitra (ursprüngliche normative Veranlagung) und tawātur (vielfache Überlieferung).

Ibn Taymiyyas Kritik der Ontologie und Epistemologie des philosophischen Denkens ist für sein Projekt im Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql von größter Wichtigkeit, da die Dekonstruktion und Rekonstruktion der Vernunft im recht verstandenen Sinne darauf beruht. Seine Kritik richtet sich sowohl gegen die Missdeutung der Vernunft durch die Philosophen, als auch gegen ihre Annahmen über das Wesen der Wirklichkeit selbst, auf die sie die Vernunft zur Anwendung zu bringen vorgeben. Die Notwendigkeit dieser Kritik gründet in der Überzeugung, dass die Philosophen einer massiven Konfusion zwischen dem, was »draußen«, extramental existiert, und dem, was lediglich im Denken existiert, zum Opfer gefallen sind. Die Aufklärung dieses Zusammenhanges ist unerlässlich für eine Auflösung des vermeintlichen Gegensatzes zwischen Vernunft und Offenbarung, insbesondere hinsichtlich der göttlichen Attribute, im Sinne ihrer Rekonstruktion und Harmonisierung.

3.7.2 »Was existiert?« Ibn Taymiyyas Auffassung der Wirklichkeit

Ibn Taymiyya betont immer wieder die Notwendigkeit, eine scharfe Unterscheidung zu treffen zwischen dem, was rein mental, im Denken (fī al-adhhān) existiert, und dem, was »draußen«, in der äußeren Wirklichkeit (fī al-khāridsch) als Entitäten (fī al-aʿyān) existiert. Die im Denken existierenden Begriffe werden als maʿqūl (mental, begrifflich, logisch) bezeichnet, die Entitäten in der extramentalen Welt hingegen als mahsūs (empirisch, wahrnehmbar). Alles, was existiert, ist dabei entweder maʿqūl oder mahsūs.

3.7.2.1 Der Bereich von aʿyān: Sichtbares und Unsichtbares

Die im Bereich der empirischen Wirklichkeit (mahsūs) existierenden Entitäten (aʿyān) werden hinsichtlich unseres empirischen Zugangs zu ihnen in zwei getrennte Bereiche aufgeteilt, den Bereich des Sichtbaren (ʿālam asch-schahāda) und den Bereich des Unsichtbaren (ʿālam al-ghayb). Der Bereich des schahāda, ein koranischer Ausdruck, umfasst die Entitäten, die gegenwärtig sind und durch unsere äußeren Sinne (hiss dhāhir) wahrnehmbar sind. Der Ausdruck ghayb, ebenfalls koranisch, bezieht sich auf alles, was existiert, aber durch unsere äußeren Sinne nicht wahrnehmbar ist.

Manche wahrnehmbaren Entitäten besitzen sowohl einen äußeren Aspekt (dhāhir) als auch einen inneren Aspekt (bātin). Der äußere Aspekt wie zum Beispiel der Körper eines Menschen wird durch die äußeren Sinne (hiss dhāhir) wahrgenommen. Die inneren Aspekte beim Menschen wie etwa seine eigenen subjektiven Erfahrungen und psychischen Empfindungen sind wahrnehmbar durch den inneren Sinn (hiss bātin).

Der Bereich des ghayb besteht größtenteils aus selbständigen Entitäten (aʿyān qāʾima bi-anfusihā), die an sich wahrnehmbar (mahsūs) sind, wenn auch normalerweise nicht für uns durch unsere äußeren Sinne. Allerdings können wir durch eine Art von innerem Sinn (hiss bātin) die Existenz unserer Seele wie auch Gottes durchaus wahrnehmen. Für alle anderen Entitäten und Ereignisse im ghayb, wie beispielsweise Engel und Dschinn sowie eschatologische Geschehnisse wie Auferstehung und Gericht, Paradies und Hölle usw., gilt, dass wir über sie nur durch die Erkenntnisquelle des Berichts (khabar) Wissen erlangen können. Dass die Entitäten im ghayb nicht durch unsere äußeren Sinne wahrgenommen werden können, mindert nicht im geringsten deren wirkliche Existenz als selbständige Wesenheiten. Es ist sogar umgekehrt so, dass dem Bereich des ghayb eine grundsätzlich größere Wirklichkeit zukommt.

Die Bereiche des ghayb und schahāda sind keineswegs gegeneinander abgeschlossen, sondern auf verschiedenerlei Weisen durchlässig. So haben die den ghayb bevölkernden intelligenten Wesen wie Engel und Dschinn vollen Zugang zu unserem Bereich des schahāda, was umgekehrt nicht gilt. Und Propheten können empirischen Zugang zu bestimmten Bereichen der unsichtbaren Welt erhalten. Wesenheiten aus dem ghayb können in unserer Erfahrungswelt in Erscheinung treten, wie beispielsweise der Engel Dschibrīl (Gabriel) dem Propheten Muhammad erschienen ist.

Die Seele (rūh) schließlich, die eine selbständige Entität ist, die im ghayb existiert, aber während unseres irdischen Lebens mit unserem Körper verbunden ist, ist fähig, Dinge wahrzunehmen, die der körperlichen Wahrnehmung verschlossen sind. Und nach dem Tod wird sie vom Körper getrennt und dadurch dazu befähigt, noch mehr des vormals Verborgenen wahrzunehmen und zu sehen (tuhiss wa tarā).

Wie die Seele den äußeren Sinnen verborgene Dinge und wie manche Menschen Dinge, die anderen verschlossen bleiben, wahrnehmen können, so gilt darüber hinaus, dass die Arten und Weisen der Wahrnehmung (turuq al-hiss) vielfältig und nicht auf die übliche menschliche Wahrnehmung mittels der äußeren Sinne im Bereich des schahāda beschränkt sind. Die wahrnehmbare Wirklichkeit ist für Ibn Taymiyya viel weiter, denn jede selbständige Entität ist in der einen oder anderen Weise wahrnehmbar (yumkin al-ihsās bihi).

Die Unterscheidung zwischen den Bereichen des schahāda und des ghayb erweist sich also nicht als eine absolute ontologische Kluft, sondern lediglich als relativ auf die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit. Alle Entitäten in diesen beiden Bereichen sind grundsätzlich wahrnehmbar (mahsūs), während für uns in der gegenwärtigen Welt (ad-dunyā) lediglich manche von ihnen wahrnehmbar sind. Aus ontologischer Sicht sind beide Bereiche gleichermaßen wirklich, draußen (fī al-khāridsch) und von selbständigen Entitäten bevölkert. Die wirklich grundlegende ontologische Unterscheidung, wie sich noch zeigen wird, ist die zwischen einerseits Gott und andererseits allem anderen als Gott, zu dem die Bereiche sowohl des ghayb als auch des schahāda gehören.

Darüber hinaus gibt es einen zeitlichen und räumlichen Aspekt des Unterschiedes zwischen ghayb und schahāda, insofern in den ghayb fällt, was für uns in der gegenwärtigen Welt nicht wahrnehmbar ist. In zeitlicher Hinsicht umfasst der ghayb also alle Ereignisse, die im Bereich des schahāda in der Vergangenheit geschehen sind und in der Zukunft geschehen werden. Und in räumlicher Hinsicht umfasst der ghayb alle Orte, Personen und Ereignisse, die gegenwärtig in der Welt existieren, von denen ich aber jetzt keine direkte empirische Erfahrung durch äußere Sinne habe.

El-Tobgui führt aus:

Mit der Zerstörung der gegenwärtigen Ordnung des Daseins (ad-dunyā) und der Erschaffung einer neuen (khalq dschadīd) am Ende der Zeit wird die Unterscheidung zwischen dem schahāda und dem ghayb aufgehoben, der Schleier, der letzteren vor dem ersteren verbirgt, gelüftet und alle vormals verborgenen (ghāʾib) Entitäten – Gott eingeschlossen – werden direkt wahrnehmbar (maschhūd) und unmittelbar durch hiss dhāhir erfahren werden. Zu diesem Zeitpunkt, so bekräftigt Ibn Taymiyya, wird das, was wir lediglich mit Gewissheit zu wissen pflegten (ʿilm al-yaqīn), auf dramatische Weise direkt erlebt und erfahren werden (ʿayn al-yaqīn). [siehe Koran 102:5-7] (S. 251-252)

Und El-Tobgui stellt abschließend fest:

Die Unterscheidung zwischen schahāda und ghayb umfasst mithin eine ontologische, eine zeitliche und eine räumliche Dimension und ist letztlich eine relative Unterscheidung im Hinblick darauf, ob ein wahrnehmendes Subjekt über einen empirischen Zugang darauf verfügt oder nicht. Was ich jetzt durch meine äußeren Sinne wahrnehme ist schāhid (für mich). Alles andere ist aus dieser Perspektive ghayb.

Die ontologische Affirmation eines unsichtbaren Bereiches, der seinem Wesen nach und unwiderruflich jenseits unserer gegenwärtigen Sinneswahrnehmung liegt, wirft eine bedeutsame epistemologische Frage auf: Wie können wir die Existenz eines solchen Bereiches und die wirklichen Entitäten, von denen er bevölkert ist, erkennen? Und wie kommt es denn dazu, dass wir überhaupt irgend etwas erkennen? (S. 253)

3.7.3 »Wie erkennen wir, was existiert?« Die primären Quellen des Wissens: hiss und khabar

Die falāsifa (Philosophen) interpretieren die Unterscheidung zwischen ghayb und schahāda auf ihre ganz eigentümliche Weise, indem sie ghayb mit maʿqūl und schahāda mit mahsūs gleichsetzen. Ibn Taymiyya betont demgegenüber, dass die Offenbarung damit keineswegs eine Unterscheidung zwischen dem Mentalen und dem Empirischen getroffen hat. Denn alle Entitäten in beiden Bereichen sind ja grundsätzlich wahrnehmbar. Der mentale Bereich dessen, was maʿqūl ist, fällt in eine ganz andere Kategorie als das, was die Offenbarung als ghayb bezeichnet. Vor der näheren Untersuchung des mentalen Bereiches folgt zunächst eine Erörterung der Erkenntnisquellen hiss und khabar.

3.7.3.1 Die erste Quelle der Erkenntnis: hiss (Wahrnehmung)

Ibn Taymiyya wurde oft als Empirist bezeichnet, und tatsächlich bestimmt er als die primäre und grundlegende Quelle menschlichen Wissens die Wahrnehmung (hiss). Durch die äußere Wahrnehmung (hiss dhāhir) kann, wie oben bereits dargelegt, die empirische Welt erkannt werden, durch den inneren Sinn (hiss bātin) die je eigene psychische Realität sowie die Existenz von Gott und unserer eigenen Seele. Unsere Seelen wiederum können durch hiss bātin gewisse verborgene Entitäten erkennen. Davon abgesehen haben wir zum Bereich des ghayb keinen Zugang durch Wahrnehmung. Von allem anderen, das im ghayb existiert, können wir nur durch die zweite, ganz entscheidende Erkenntnisquelle des Berichts (khabar) Wissen erlangen.

3.7.3.2 Die zweite Quelle der Erkenntnis: khabar (Bericht)

Sinneswahrnehmung ist für Ibn Taymiyya die am meisten unmittelbare, notwendige und unbestreitbare Quelle der Erkenntnis. Sie ist letztlich die Quelle unseres gesamten Wissens über die empirische Welt. Aber so grundlegend sie auch immer sein mag, so ist sie doch sehr begrenzt, da sie nur umfasst, was jeder von uns persönlich wahrgenommen hat.

Und offensichtlich geht unser Wissen über unsere Welt weit darüber hinaus und stammt aus einer Reihe von anderen Quellen, die unter dem Ausdruck khabar (Bericht) zusammengefasst werden können. Nahezu alles, was wir über die Welt jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmung in Zeit und Raum sowie über den eigentlichen Bereich des ghayb wissen, basiert letztlich auf einer Art von Berichterstattung oder Überlieferung. Diese wird daher von Ibn Taymiyya als allgemeiner und umfassender beschrieben im Unterschied zur Sinneswahrnehmung, die wiederum vollständiger und vollkommener ist.

Durch khabar gelangt unsere Erkenntnis also über den engen Kreis des schāhid, also dessen, was für uns im gegenwärtigen Augenblick wahrnehmbar ist, hinaus. Was wir durch khabar erkennen, fällt daher in den Bereich des ghayb. Dennoch gründet khabar letztlich in Sinneswahrnehmung (hiss), da das Berichtete ja zunächst von jemandem wahrgenommen worden sein muss; und zudem erfolgt die Übermittlung von Berichten durch unsere Sinne, wobei die Aufnahme für Ibn Taymiyya in erster Linie durch den Sinn des Hörens (samʿ) geschieht.

Auf dem Weg des samʿ empfangen wir auch eine ganz besondere Art von Bericht, nämlich die Offenbarung, die darin besteht, was die Propheten uns über den Bereich des ghayb berichten. Dazu gehören Berichte (akhbār) über Engel, Dschinn, Paradies, Hölle, die Erschaffung des Menschen und die Geschehnisse des Letzten Tages usw. sowie insbesondere auch über Gott selbst, Seine Eigenschaften und Attribute.

Freilich gibt es so allerlei Berichte; und daher stellt sich die Frage, wie authentische oder wahre Berichte (khabar sādiq) von zweifelhaften oder falschen zu unterscheiden sind. Was offenbarte Texte, die Wissen des ghayb vermitteln, nämlich Koran und Hadith, betrifft, so bewegen sich Ibn Taymiyyas Auffassungen ganz im Rahmen der klassischen Hadithwissenschaft. Jeder Hadith, der nach deren Regeln als sahīh (authentisch) gilt, ist für Ibn Taymiyya ein khabar sādiq und somit ein verlässlicher Indikator der Wahrheit über die Wirklichkeit. Absolute Gewissheit der Wahrhaftigkeit des Inhalts eines Berichtes ist allerdings auf jene Texte beschränkt, die uns über den Prozess des tawātur erreicht haben, bei dem ein Bericht von seinem Ursprung an eine ununterbrochene Kette von massenhafter Überlieferung durchlaufen haben muss, so dass die Möglichkeit einer Fälschung durch Absprache oder andere Manipulationen ausgeschlossen werden kann. Als durch tawātur überliefert (mutawātir) gilt der gesamte Text des Koran und eine Vielzahl von Hadithen. Der Begriff des tawātur kann sich sowohl auf den genauen Wortlaut eines Textes beziehen (tawātur lafdhī) wie auch auf dessen Bedeutung (tawātur maʿnawī).

El-Tobgui beschreibt näherhin einen für Ibn Taymiyya besonders wichtigen Aspekt dieser Art von Überlieferung:

Neben der Überlieferung von Texten gibt es auch einen Sinn, in dem das Prinzip des tawātur auf der Ebene einer spezifischen Disziplin operiert, um die Authentizität des Wissens zu garantieren, das auf einem bestimmten Untersuchungsgebiet entwickelt wird – besonders auf Gebieten, in denen epistemische Authentizität direkt verknüpft ist mit der getreuen Überlieferung einer frühen normativen Lehre, wie es in der Mehrzahl der islamischen religiösen Wissenschaften der Fall ist. Autoritativer tawātur in solchen Fällen muss beurteilt werden durch – und existiert oftmals nur im Hinblick auf – diejenigen, die sich auf einem bestimmten Gebiet am gründlichsten und besten auskennen. In dieser Weise können gewisse Meinungen von Sībawayhi (gest. ca. 180/796) für den Grammatiker vom Fach mutawātir sein, wenn auch nicht für das nicht spezialisierte Publikum. Eine ähnliche Lage besteht auf Gebieten wie der Medizin sowie in den verschiedenen islamischen religiösen Disziplinen. In diesem Zusammenhang – und im Lichte seiner umfassenden theologischen Bestrebungen im Darʾ at-taʿārudh – ergreift Ibn Taymiyya die Gelegenheit zu der Bemerkung, dass die verschiedenen Berichte (akhbār), die wir von den Gefährten über theologische Fragen (usūl ad-dīn) haben, in der Tat weit stärker und zahlreicher sind als viele der rechtlichen Fragen (fiqh), die ebenfalls mutawātir sind und die jeder anstandslos akzeptiert. Mit anderen Worten, wir haben hier eine besonders wichtige Teilmenge von mutawātir-Berichten, welche die Menge der akhbār, die Koran und Sunna bilden, ergänzen, nämlich die mutawātir-Überlieferung von Positionen und Auffassungen – sowohl in rechtlichen Belangen als auch insbesondere in der Glaubenslehre – der frühen autoritativen Generationen der Muslime, der salaf as-sālih. Diese Unterkategorie von tawātur steht übrigens in Beziehung zu der von uns in Kapitel 4 vorgenommenen Erörterung der sprachlichen Konvention – und der spezifischen bekannten Interpretationen (aqwāl) – der Salaf, denen Ibn Taymiyya in seiner Hermeneutik der Offenbarung und zudem in seiner umfassenden Theorie von Sprache und Bedeutung einen solchen Vorrang beimisst. Wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, betrachtet Ibn Taymiyya die sprachlichen Konventionen der Salaf und zudem die arabische Sprache selbst als in der Weise des mutawātir überliefert genau wie jedes andere Untersuchungsgebiet zumindest im Hinblick auf diejenigen, die über spezialisiertes Fachwissen zu diesem Thema verfügen, indem sie sich genaueste Kenntnisse über die sprachliche Konvention der Gefährten und das umgebende sprachliche Substrat erworben haben (zum Beispiel durch das Studium der Poesie und dergleichen). Tatsächlich spricht Ibn Taymiyya von dem, was »hinsichtlich der arabischen Sprache notwendigerweise bekannt« ist (al-maʿlūm bi-l-idhtirār min lughat al-ʿarab), eine Notwendigkeit, die sich durch nichts anderes ergibt als die mutawātir-Überlieferung der Sprache durch Zeit und Raum. (S. 257-259)

Ibn Taymiyya weist darauf hin, wie wichtig es für die Wahrhaftigkeit eines Berichts ist, dass die Massenüberlieferung bereits am Ursprung des betreffenden Berichtes einsetzt. Ist dies nicht der Fall, so ist es jederzeit möglich und kommt sogar sehr häufig vor, dass gewisse Meinungen mit anfänglich dunklem Ursprung in der Folge in einer Bevölkerungsgruppe verbreitet und immer weiter propagiert und überliefert werden, so dass sie in der Folge und lediglich in der Folge die Eigenschaften der mutawātir-Überlieferung annehmen. Für Ibn Taymiyya sind viele und vielleicht die meisten Überzeugungen (iʿtiqādāt), welche die Leute in dieser Weise besitzen, einfach solche Fälle von falschem tawātur. Diese Überzeugungen werden oftmals von einer Minderheit oder Elite in der Gesellschaft geprägt und sodann propagiert, bis sie allgemeine Anerkennung finden, was Ibn Taymiyya als »Popularisierung einer Position durch Nachahmung« (ischtihār al-qawl ʿan at-taqlīd) bezeichnet.

3.7.4 Der Bereich des Mentalen: Was existiert fī al-adhhān?

3.7.4.1 Universalien

Ibn Taymiyya trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Bereich der aʿyān (äußere Existenz; khāridschī) und der adhhān (mentale Existenz; dhihnī). Darauf gründet er eine Kritik des Universalienbegriffs der Philosophen, die von zentraler Bedeutung für sein Projekt der Dekonstruktion der falsafa sowie der Rekonstruktion der heilen Vernunft (ʿaql sarīh) ist. Für Ibn Taymiyya gehört es zum notwendigen Wissen, dass alles Existierende entweder in die Kategorie dessen, was als selbständige Entität in der Außenwelt existiert (mawdschūd fī nafsihi), oder in die Kategorie dessen, was als Begriff im Denken existiert (mawdschūd fī adh-dhihn), fällt.

Die These, dass alle draußen, extramental existierenden Entitäten wahrnehmbar (mahsūs) sind, richtet sich dabei gegen die Auffassung der Philosophen, dass es in der Außenwelt rein mentale oder begriffliche Entitäten gibt, wie etwa Universalien oder Allgemeinbegriffen eine ontologische Existenz in der Außenwelt unabhängig von jeglichen Einzeldingen zugeschrieben wird. Demzufolge existiert beispielsweise neben den individuellen Menschen ontologisch unabhängig der »universelle Mensch« (al-insān al-kullī), etwa im Sinne platonischer Ideen. Von den Einzeldingen wird in der platonischen Ansicht angenommen, dass sie an den in einem getrennten Reich existierenden Universalien oder Ideen »teilhaben« (taschtarik). Nach der aristotelischen Auffassung hingegen wohnen die Universalien jedem Einzelding inne.

Durch die Teilhabe an der Universalie gehören die Einzeldinge derselben Art (nawʿ) an. Den Unterschied zwischen ähnlichen, aber nicht völlig identischen Individuen derselben Art erklären die Philosophen durch spezifische Attribute, die das Einzelding neben der gemeinsamen Universalie besitzt. Zwischen zwei Individuen derselben Art gibt es mithin Elemente, die sie teilen, (mā bihi al-ischtirāk), nämlich die Universalie mit all ihren einhergehenden Attributen (lawāzim), wie auch Elemente, die zu ihrer Unterscheidung dienen, (mā bihi al-ikhtilāf), nämlich die akzidentellen Attribute, die nicht zum Wesen gehören.

Für das Verständnis der Philosophen entscheidend ist, dass die Teilhabe (ischtirāk) dabei ontologisch und nicht bloß gedanklich ist. Dieser Begriff einer wirklichen, ontologischen Teilhabe hat die Philosophen dazu geführt, Gott jedes positive Attribut abzusprechen, da Teilhabe jeglicher Art eine ontologische Gemeinsamkeit zwischen den beiden Entitäten, die an einer gemeinsamen Universalie teilhaben, implizieren würde. Um Gott von jeder Ähnlichkeit (taschbīh) mit erschaffenen Entitäten zu befreien, sind die Philosophen daher gezwungen, eine radikal negationistische Theologie der Attribute anzunehmen. Doch diese Schlussfolgerung basiert nach Ibn Taymiyya lediglich auf der irrigen Auffassung der Philosophen, Allgemeinbegriffen eine objektive Existenz in der Außenwelt zuzuschreiben, die doch in Wirklichkeit nur im Denken existieren.

Dieses realistische Verständnis der Universalien entspringt dem grundlegenden Irrtum der Philosophen, die mentale mit der ontologischen Wirklichkeit zu verwirren. Die einzigen Dinge, die in der Außenwelt existieren, sind die diskreten Einzeldinge selbst. Die Allgemeinbegriffe werden lediglich durch Abstraktion von den Ähnlichkeiten zwischen den wahrgenommenen Einzeldingen gewonnen. Sie existieren daher nur im Denken. Die Einzeldinge können so unter Allgemeinbegriffe subsumiert werden, ohne aber an diesen wirklich »teilzuhaben«.

Jedes Ding, so Ibn Taymiyya, existiert kraft einer unabhängigen ontologischen Wirklichkeit (haqīqa), die mit seinem Wesen (dhāt), Selbst (nafs) und Quiddität (māhiyya) zusammenfällt und von der haqīqa jeder anderen existierenden Entität unterschieden und unabhängig ist. Es gibt freilich zwischen in der Außenwelt existierenden Dingen ein gewisses Maß an Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit, aber deren Wahrnehmung ist ein Urteil, das vom Denken gefällt wird, nachdem es die Eigenschaften des jeweiligen Einzeldinges abstrahiert, verglichen und zum Zwecke der Klassifikation untersucht hat. Der entscheidende Punkt für Ibn Taymiyya ist, dass das bloße Vorhandensein von Ähnlichkeit keine ontologische Teilhabe oder Gemeinsamkeit zwischen zwei Entitäten mit sich bringt. Denn jedes Ding ist eine ontologisch distinkte Entität, die vollständig individualisiert (muʿayyan, muschakhkhas) und unabhängig ist.

3.7.4.2 Essenz und Existenz, Essenz und Attribute

Aus Ibn Taymiyyas Auffassung der Universalien ergeben sich auch Konsequenzen für das Verhältnis von Essenz (dhāt, haqīqa) und Existenz (wudschūd) eines Dinges. Die Philosophen nehmen im allgemeinen in der Gefolgschaft des Aristoteles eine unabhängige Quiddität oder Essenz (māhiyya) an, der das Attribut der Existenz (wudschūd) hinzugefügt wird, was in der ontologischen Instantiierung des betreffenden Objektes resultiert. Aus dieser Sicht wird jedes existierende Objekt ins Dasein gebracht, indem seiner präexistierenden Essenz das Attribut der Existenz verliehen wird.

Demgegenüber vertritt Ibn Taymiyya die Auffassung, dass die derart von der Existenz getrennte Essenz eines Dinges lediglich als Begriff im Denken existiert. Was ein draußen, extramental existierendes Objekt betrifft, so sind seine Essenz (dhāt) und Wirklichkeit (haqīqa) vielmehr nichts anderes als seine Existenz (wudschūd), die alle mit ihr einhergehenden Attribute ein­schließt, ohne die sie nicht existieren würde.

Das Denken kann zwar das Wesen eines Dinges getrennt von seiner Existenz erfassen, aber das so erfasste Wesen ist bloß das Ergebnis einer gedanklichen Operation, durch die der Begriff einer Sache von den konkreten Einzeldingen durch Abstraktion abgezogen wird. Einzig den Einzeldingen kommt wirkliche Existenz zu, wobei deren Wesen (dhāt) und Wirklichkeit (haqīqa) mit ihrem individuellen Dasein in der Außenwelt samt allen Attributen zusammenfallen.

Essenz und Attribute können also nur im Denken als voneinander getrennt vorgestellt werden. Diese rein gedankliche Unterscheidung wird von den Philosophen irrigerweise in den Rang einer ontologischen Realität erhoben, was deren allgemeinem Hang zur Intellektualisierung der Wirklichkeit entspricht, die immer wieder zum Ziel von Ibn Taymiyyas Kritik wird.

Die Kritik an der Postulierung einer selbständigen äußeren Existenz intellektueller oder intelligibler Substanzen (dschawāhir maʿqūla) neben wahrnehmbaren Körpern (adschsām mahsūsa) veranschaulicht Ibn Taymiyya an der berühmten aristotelischen Unterscheidung zwischen Form und Materie, der zufolge der Form eine von der Materie unabhängige Existenz zukommt. Erst durch die Verbindung der an sich völlig unbestimmten Materie mit einer bestimmten Form kommt es zur Entstehung eines konkreten Objektes. Für Ibn Taymiyya hingegen existiert die Form unabhängig von der Materie lediglich im Denken, während wirkliche Existenz einzig dem Ding zukommt, das als ontologisch untrennbare Verbindung von Form und Materie als wirklicher Gegenstand draußen (fī al-khāridsch) existiert. Die Unterscheidung von Form und Materie ist also lediglich das Produkt abstrahierenden Denkens.

Als weiteres Beispiel mag Ibn Taymiyyas Kritik an Ibn Sīnās Gleichsetzung der Verbindung (muqārana) von Seele (rūh) und Körper mit der von Universalie und Einzelding dienen. Ibn Taymiyya verwirft diese Konfusion von Seele und Universalie mit der Begründung, dass letztere nur im Denken als abstrahierter Allgemeinbegriff existiert, während die Seele (rūh) selbst ein unabhängig existierendes und wahrnehmbares Einzelding (ʿayn muʿayyan) ist, das mit dem Körper eine Verbindung zweier Entitäten derart eingeht, dass sie voneinander getrennt werden können, wie dies etwa beim Tod des Körpers geschieht (tadschrīd ar-rūh ʿan al-badan). Ibn Sīnās Gleichsetzung erweist sich somit als Konfusion zwischen der ontologischen Trennung der Seele vom Körper als zweier selbständig existierender Entitäten und der rein gedanklichen Abstraktion des Allgemeinbegriffs von den Einzeldingen.

Die Konfusion resultiert hier daraus, dass übersehen wird, dass das gleiche Wort mit der gleichen Bedeutung – Verbindung (muqārana) bzw. Trennung (tadschrīd) -, wenn es auf zwei unterschiedliche Entitäten bezogen wird, durchaus unterschiedlich gebraucht werden kann je nach dem Wesen und der ontologischen Realität der jeweiligen Entität. Dass das gleiche Wort mit der gleichen Bedeutung auf zwei Entitäten bezogen werden kann, impliziert keineswegs eine Gleichheit des Wesens der beiden Entitäten.

3.7.5 Die Struktur der Vernunft (ʿaql)

Welche Struktur hat also die Vernunft? Und wie trägt sie zur Erkenntnis bei?

El-Tobgui legt einführend dar:

Ibn Taymiyya definiert Vernunft als einen »Instinkt im Geist/Herzen« (gharīza fī al-qalb), der im wesentlichen mit der Fähigkeit begabt ist, drei grundlegende Funktionen auszuführen: (1) die Universalisierung von Einzeldingen, die durch die Fähigkeit der Vernunft ermöglicht wird, relevante Ähnlichkeiten zwischen existierenden Einzeldingen zu erkennen und diese in Allgemeinbegriffe zu abstrahieren; (2) das Bilden von Urteilen in der Form prädikativer Aussagen (tasdīqāt / ahkām) in Bezug auf existierende Einzeldinge; und (3) das Ziehen von Schlüssen verschiedener Art, mittels derer neues Wissen abgeleitet wird (im wesentlichen durch die Übertragung eines gegebenen »Urteils« oder hukm auf einen neuen Gegenstand oder Entität). (S. 270-271)

Die erste Funktion, die Universalisierung, wurde bereits ausführlich behandelt. Es sei daher hier nur vorgreifend auf einen weiteren Punkt verwiesen. Die universalisierende Funktion des Denkens spielt für Ibn Taymiyya darüber hinaus eine entscheidende Rolle, indem sie in Verbindung mit khabar (Bericht) den Zugang zum Bereich des ghayb (Verborgenen) in dem Sinne erlaubt, dass sie dazu fähig ist, die Angaben über den ghayb, die uns über verlässliche Berichte (khabar sādiq) überliefert werden, zu verstehen und zu erfassen.

El-Tobgui führt weiterhin aus:

Zusätzlich zum Wissen von draußen existierenden Objekten, die vom Denken in der Form von Allgemeinbegriffen erfasst und klassifiziert werden, verfügt das Denken auch über gewisse logische Axiome und relationale Prinzipien, die ihm in apriorischer Weise (badīhī) eingeprägt sind. Verbunden, wenn auch nicht identisch mit dem apriorischen Wissen ist das, was Ibn Taymiyya als notwendiges (dharūrī) Wissen bezeichnet, eine Art von Wissen, das er oftmals abwechselnd mit dem Ausdruck fitrī (grob: angeboren) oder mit dem zusammengesetzten Ausdruck dharūrī-fitrī kennzeichnet. Während alles apriorische Wissen per definitionem sowohl angeboren (fitrī) als auch notwendig (dharūrī) ist, ist es nicht der Fall, dass alles notwendige Wissen a priori oder angeboren ist, da Ibn Taymiyya auch eine Reihe von anderen Quellen notwendigen Wissens anerkennt. Schließlich, und um die Dinge noch etwas komplizierter zu machen, überschneidet sich fitrī-Wissen nur teilweise mit apriorischem und dharūrī-Wissen, da es an sich eine beträchtlich weiter gefasste und subtilere Kategorie ist, wie wir noch feststellen werden. (S. 271)

3.7.5.1 Über Wissen a priori

Ibn Taymiyya erörtert auch die Regeln der Logik wie etwa den Satz vom Widerspruch, der Identität und des ausgeschlossenen Dritten. Er bezeichnet sie wiederholt als dharūrī (notwendig), aber auch, wenngleich viel seltener, als badīhī oder min al-badīhiyyāt oder min badāʾih al-ʿuqūl.

El-Tobgui stellt den Ausdruck badīhī in engen Zusammenhang mit dem Begriff des apriorischen Wissens und »folgert versuchsweise, […] dass Ibn Taymiyya in der Tat solche universellen logischen Konzepte als a priori im wahren Sinne begreift« (S. 272), das heißt als vor aller Erfahrung mit der Außenwelt im Denken vorhanden. El-Tobgui führt nun einige Beispiele an, die diese Folgerung weiter stützen sollen, ohne dass dies wirklich eindeutig und klar aus ihnen hervorginge, wie er selbst eingesteht:

In einer anderen Passage bezieht er [Ibn Taymiyya] sich auf »gewisses, notwendiges, apriorisches (?) Wissen« (ʿilm dharūrī yaqīnī awwalī), das er definiert als »nicht abhängig von theoretischer Reflexion oder Ableitung oder Beweis (burhān), sondern [solches Wissen] bildet die Prämissen und Axiome, auf denen syllogistische Beweise aufgebaut sind.« [Darʾ, III, 317, Z. 16-18] Zur Stützung dieser Interpretation können wir anführen zum Beispiel Ibn Taymiyyas Kennzeichnung des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten als »das am offenkundigsten unmögliche der Dinge fī badīhat al-ʿaql« [Darʾ, III, 362]. In einer anderen Passage beschreibt er das Wissen von der Unmöglichkeit eines infiniten Regresses von Handelnden (at-tasalsul fī al-fāʿil) als »angeboren« (fitrī) und »notwendig« (dharūrī) […] setzt dann aber hinzu, dass alle Prämissen in einem gegebenen Argument letztlich gegründet sein müssen auf »ursprüngliches apriorisches Wissen, das Gott im Herzen / Denken [einer Person] initiiert« (ʿulūm badīhiyya awwaliyya yabtadiʾuhā Allāh fī qalb [al-insān]) [Darʾ, III, 309, Z. 16]. Die Paarung des Ausdrucks badīhī mit awwalī (anfänglich, anfänglich vorhanden) scheint meines Erachtens einen unbestreitbaren Beweis dafür zu bilden, dass Ibn Taymiyya solche logischen Universalien als a priori wahr betrachtet. Diese Folgerung scheint unausweichlich insbesondere im Lichte des letzteren Teiles des Satzes, in dem er feststellt, dass Gott »yabtadiʾu« dieses Wissen im Denken ab initio (ibtidāʾan), mit anderen Worten, dass Er dieses Wissen im Denken initiiert, d.h. vorgängig zu und unabhängig von der nachfolgenden empirischen Begegnung des Denkens mit der Welt. (S. 272-273)

Doch Ibn Taymiyya scheint dieser Folgerung, dass das Denken über bestimmtes Wissen auf apriorische Weise verfügt, in einer weiteren Passage zu widersprechen, in der er feststellt, dass Urteile wie »Schwarz und Weiß sind Gegensätze« oder »Ein Körper kann nicht zur selben Zeit an zwei Orten sein« ähnlich oder verwandt sind mit »allen universellen Propositionen, die aus hiss entspringen«. (Darʾ, VI, 88-89)

An einer weiteren Stelle sagt Ibn Taymiyya über Propositionen, die noch abstrakter sind, (wie etwa »Jedes existierende Ding ist entweder notwendig oder kontingent, ewig oder zeitlich« usw.):

Wenn wir in unserem Denken ein universelles Urteil formulieren, das auf alle draußen existierenden Entitäten oder alle mentalen Notionen anwendbar ist, wie etwa [die angeführten Propositionen], ist unser Wissen von diesen universell anwendbaren Propositionen durch das vermittelt, was wir von den draußen existierenden Entitäten wissen. (S. 273-274; Ibn Taymiyya, Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql, VI, 127, Z. 1-8)

El-Tobgui kommentiert:

Auf der Grundlage dieser Aussage ergibt sich der Eindruck, dass alle universellen Notionen – auch logische – für Ibn Taymiyya letztlich von Sinnesdaten abstrahiert sind. Doch Ibn Taymiyya beharrt darauf, dass solche logischen Propositionen dharūrī, fitrī oder sogar badīhī sind, Ausdrücke, die er niemals auf »natürliche Universalien« bezieht, die den verschiedenen Arten entsprechen. (S. 274; Hervorhebung im Original)

El-Tobgui meint nun, diesen vermeintlichen Widerspruch auflösen zu können, indem er den konkreten Gehalt (wie »Schwarz« und »Weiß«) in der Formulierung der erwähnten Propositionen von der darin enthaltenen allgemeinen Regel unterscheidet, die beispielsweise in dem universellen relationalen Urteil besteht, dass zwei Gegensätze nicht koexistieren können, wobei nur das abstrakte Gesetz selbst als a priori gelten kann.

El-Tobgui hält zusammenfassend fest:

Das eingebaute, apriorische Wissen des Denkens – das Ibn Taymiyya auch als »angeboren« (fitrī) und »notwendig« (dharūrī) bezeichnet – ist das Wissen von notwendigen logischen Relationen und abstrakten Prinzipien (wie etwa das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten usw.), die für Dinge zutreffen würden für den Fall, dass sie existieren sollten. Doch unser Wissen von dem, was tatsächlich existiert, kann nie aus der Vernunft abgeleitet werden, sondern kann nur von den Sinnen (und von khabar) gewonnen werden. Die legitimen Urteile der Vernunft sind daher immer theoretisch und relational, nie existential. Die Vernunft kann nie die tatsächliche Existenz von irgend etwas begründen, aber wenn sie das Wissen von existierenden Einzeldingen entweder durch hiss oder durch khabar erhalten hat, kann sie Urteile (ahkām, tasdīqāt) über wirklich existierende Entitäten in Übereinstimmung mit den abstrakten logischen Prinzipien formulieren, die in einer apriorischen Weise in ihr eingebettet worden sind. Diese besondere Funktion des Denkens, obgleich zu offensichtlich, um Erwähnung zu verdienen, ist für Ibn Taymiyya in Wirklichkeit eine höchst wichtige Funktion insofern, als sie jeglichem Gedanken und der Konstruktion allen Wissens zugrunde liegt. Ibn Taymiyya stützt sich in der Tat ausgiebig auf die alltäglichen, offensichtlichen, angeborenen Prinzipien des Denkens im Verlauf seiner eigenen Argumentation gegen die Philosophen und Mutakallimun. So widerlegt er – oder versucht zu widerlegen – sehr häufig verschiedenerlei Positionen mit der Begründung, dass sie, wenn ihre logischen Konsequenzen vollständig entfaltet werden, letztlich in Widerspruch mit einer dieser äußerst grundlegenden, axiomatischen Regeln des Denkens geraten und daher kraft reiner Vernunft (ʿaql sarīh) als notwendigerweise ungültig (fāsid) und falsch (bātil) erkannt werden können. (S. 275-276)

3.7.5.2 Fitra: Die »ursprüngliche normative Veranlagung«

Ibn Taymiyyas Konzeption der fitra besitzt einen starken normativen Aspekt, der in der üblichen Übersetzung mit »angeborene oder natürliche Veranlagung« nicht deutlich zum Ausdruck kommt, weshalb »ursprüngliche normative Veranlagung« vorzuziehen ist. Die Normativität entspringt in erheblichem Maße ihrer Ursprünglichkeit, nämlich dem, was den Menschen zuallererst auszeichnet und somit das bestimmt, was ein Mensch ist oder sein sollte.

Dieses normative Verständnis der ursprünglichen fitra wird auch durch den berühmten Hadith gestützt, der besagt, dass »jedes Kind gemäß der fitra geboren wird« und erst später durch äußere Einflüsse von seiner ursprünglichen Veranlagung abgebracht wird. Der moralisch normative Charakter im Unterschied zu einer bloß natürlichen Veranlagung im Sinne von Trieben und Leidenschaften tritt auch deutlich aus dem Bericht hervor, in dem geschildert wird, wie der Prophet Muhammad (Gottes Segen und Frieden seien auf ihm) bei seiner Nachtreise nach al-Quds (isrāʾ) vom Engel Dschibrīl (Gabriel) Milch und Wein gereicht bekommt und aufgefordert wird, sich für ein Getränk zu entscheiden; als der Prophet instinktiv der Milch den Vorzug gibt, erwidert Dschibrīl: »Du hast die fitra gewählt, und hättest du den Wein gewählt, wäre deine Gemeinschaft (umma) irregegangen.«

Dass der Mensch die Welt ursprünglich in einem reinen und heilen Zustand betritt, wird schließlich auch im Koran bestätigt: »Wahrlich, Wir erschaffen den Menschen in bester Gestaltung« (Koran 95:4, Ü.: Asad), einen Zustand, der verlorengehen, aber auch wiedergewonnen werden kann: »und danach setzen Wir ihn herab auf das Niedrigste des Niedrigen / - ausgenommen nur solche, die Glauben erlangen und gute Werke tun: und ihrer wird eine unendliche Belohnung sein!« (Koran 95:5-6, Ü.: Asad).

Was das Verhältnis von fitra und ʿaql (Vernunft) betrifft, so beschreibt Ibn Taymiyya die heile, unversehrte fitra (al-fitra as-salīma) als das intuitive Vermögen, durch das man die Gültigkeit von Prämissen und den darauf basierenden Argumenten beurteilt (siehe Darʾ, VII, 37, Z. 17-19). Und er sagt ebenfalls, dass Gott die fitra der Menschen dafür empfänglich gemacht hat, die Wahrheit(en) wahrzunehmen und zu erkennen (idrāk al-haqāʾiq wa maʿrifatuhā) mittels eines gesunden und intakten intuitiven Vermögens. Ohne diese Fähigkeit der fitra gäbe es kein theoretisches Reflektieren (nadhar) und Schlussfolgern (istidlāl) und nicht einmal die Möglichkeit des Redens und Sprechens (khitāb wa kalām). Dabei spricht Ibn Taymiyya auch davon, dass Gott die Menschen auf eine bestimmte Weise mit Vernunft ausgestattet hat (fatara): »ʿuqūl banī Ādam allatī fatarahum Allāh ʿalayhā« (Darʾ, VII, 38). Die Nähe von fitra und Vernunft tritt hier ganz deutlich zutage.

Ibn Taymiyya vergleicht die fitra mit dem Vermögen des Körpers, Nahrung aufnehmen und verarbeiten zu können. So wie der Körper über eine angeborene Fähigkeit zur gewissermaßen intuitiven Unterscheidung zwischen gesunder und schädlicher Nahrung verfügt, gibt es entsprechend im Herzen oder Geist (fī al-qulūb) eine noch größere Fähigkeit, intuitiv und unreflektiert Wahres von Falschem zu unterscheiden.

Diese Fähigkeit kann allerdings auch durch schädliche Einflüsse beeinträchtigt werden, wie etwa durch unbegründete Vorurteile, unvernünftiges Denken, ein durch Leidenschaften und Interessen bedingtes Festhalten an der eigenen Meinung trotz gegenteiliger Belege sowie andere kognitive und moralische Schwächen und Mängel.

3.7.5.3 Dharūra (Notwendigkeit)

Über die rationale und intuitive Notwendigkeit (dharūra fitriyya ʿaqliyya) apriorischer logischer Prinzipien hinaus identifiziert Ibn Taymiyya andere Arten von notwendigem Wissen.

El-Tobgui führt dazu aus:

Ibn Taymiyya erwähnt ausdrücklich eine »empirische Notwendigkeit« (dharūra hissiyya), womit er einfach die Auffassung bekräftigen will, dass unsere äußeren Sinne (solange sie nicht beeinträchtigt sind) Wissen von den Einzeldingen, die sie wahrnehmen, in einer notwendigen Weise liefern, so dass unser sensorisches Wissen der Welt so offenkundig und unreflektiert wie unzweifelhaft ist und für Ibn Taymiyya nur um den Preis von Sophisterei geleugnet werden kann. Er erwähnt auch, was wir als »sprachliche Notwendigkeit« oder »sprachlich notwendiges Wissen« bezeichnen können, vermutlich auf der Grundlage der vollkommenen Vertrautheit eines Muttersprachlers mit den genauen sprachlichen Konventionen seiner Sprachgemeinschaft […]. Drittens erkennt Ibn Taymiyya das Ergebnis eines jeden gültigen Verfahrens des Schlussfolgerns auf der Basis notwendigerweise wahrer Prämissen als notwendiges Wissen an, denn wenn die Prämissen notwendig sind (was sie sein müssen) und die Ableitung selbst von den Prämissen zur Schlussfolgerung auf gültige Weise erfolgt, dann prägt sich das resultierende Wissen, nachdem das Denken diesen Prozess durchlaufen hat, dem Denken als notwendige und unausweichliche Schlussfolgerung auf. (S. 279)

Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Quelle notwendigen Wissens, die von größter Bedeutung ist, nämlich tawātur. Der Begriff und die epistemische Funktion des tawatūr wurde bereits im Zusammenhang mit khabar (Bericht) als Quelle von Wissen über die Welt behandelt. Dabei zeigte sich, dass all unser Wissen über den Bereich des ghayb letztlich auf khabar basiert, wobei absolute Gewissheit über die Authentizität des Berichts nur dann gewährleistet ist, wenn der Bericht durch tawātur überliefert wurde.

El-Tobgui führt zudem aus:

Die Entsprechung der Gewissheit, die uns durch tawātur in Berichten gewährt wird, ist, dass ab dem Moment, in dem solche Berichte von einem erkennenden Subjekt als mutawātir erfahren werden, der Inhalt dieser Berichte zugleich dharūrī-Wissen für diese Person wird. In der Tat wird tawātur selbst oftmals definiert als die (im allgemeinen nicht genau angebbare) Zahl von Berichten, die notwendig und hinreichend dafür ist, im Herzen/Geist des Erkennenden eine unerschütterliche Überzeugung hervorzurufen, dass der berichtete Inhalt wahr sein muss. In diesem Sinne ist tawātur für Ibn Taymiyya eine der grundlegenden Quellen von notwendigem Wissen. Darin folgt Ibn Taymiyya getreulich der Tradition der islamischen Jurisprudenz und der muslimischen Überlieferung von Texten, insbesondere des Hadith. (S. 280)

Ibn Taymiyya geht allerdings noch weit darüber hinaus, indem er den Begriff des tawātur als finalen Garanten der Authentizität für praktisch alle anderen Quellen des Wissens in Dienst nimmt.

3.7.5.4 Tawātur als finaler Garant der epistemischen Authentizität

Ibn Taymiyya übernimmt das Prinzip des tawātur aus der Hadithwissenschaft, in der es als finaler Garant der Authentizität eines überlieferten Berichtes fungiert, und erweitert es zum finalen Garanten seines gesamten epistemischen Systems. Dass das Prinzip des tawātur auch für sensorisches Wissen und axiomatische Prinzipien der Vernunft einschlägig ist, unsere Gewissheit solchen Wissens also in gewisser Weise von tawātur abhängig ist, interpretiert El-Tobgui aufgrund der Annahme, dass solches Wissen »unmittelbar ist und sich direkt selbst aufzwingt, ohne irgendwelcher Bestätigung durch korroborative Berichte zu bedürfen […] oder darauf angewiesen zu sein, durch den Rest der Menschheit für uns bestätigt zu werden«, folgendermaßen:

Ein verlassenes Kind, das auf einer menschenleeren Insel allein aufwächst, – ein Hayy ibn Yaqdhān zum Beispiel – hätte sicherlich Zugang zu sowohl empirischer als auch notwendiger rationaler Gewissheit. Ibn Taymiyyas Punkt ist vielmehr, dass für den Fall, dass solches dharūrī-Wissen irgendwie dem Zweifel zum Opfer fallen sollte, dann der tawātur der Menschheit als Ganzes in Anspruch genommen werden muss, um als Korrektiv Zeugnis zu geben. Ein derartiger Zweifel kann Ibn Taymiyya zufolge durch verschiedene Faktoren herbeigeführt werden. Dazu zählt in erster Linie die lang anhaltende Einwirkung von blendenden philosophischen oder theologischen Lehren, die auf zweifelhaften, oftmals hochgradig abstrusen Argumenten beruhen, deren Schlussfolgerungen zu einer Negation oder einem Widerspruch zu dem führen, was als notwendigerweise wahr bekannt ist. (S. 281-282)

Demzufolge beruft Ibn Taymiyya sich letztlich auf

angeborenes, axiomatisches (badīhī) und daher notwendiges Wissen auf der Grundlage, im wesentlichen, von tawātur – weit verbreitete Überlieferung eines gemeinsamen Elementes von Wissen unter Menschen unter Ausschluss der Möglichkeit von »Kollusion« oder bewusster Vereinbarung (tawātuʿ) ihrerseits. (S. 281)

Er betont beispielsweise, dass wir alle wissen, und zwar auf angeborene, unmittelbare und intuitive Weise (fitrī, badīhī), dass von zwei existierenden Entitäten notwendigerweise gelten muss, dass entweder die eine die andere durchdringt oder sie voneinander getrennt sind, da ansonsten das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten verletzt würde. Über solches Wissen verfügen alle Menschen, deren innere Natur (fitra) nicht versehrt wurde.

El-Tobgui weist bei dieser Gelegenheit beiläufig auf die sieben grundlegenden Motive hin, die zu einer Deformation der fitra führen. Sie lauten stichwortartig: (1) (nicht untersuchte) ererbte Überzeugungen; (2) Laune oder starrsinnige persönliche Meinung; (3) falsche Auffassung; (4) Zweifel; (5) Interessen oder Vorurteile; (6) bloße (unreflektierte) Gewohnheit; (7) blinde Nachahmung.

El-Tobgui fährt sodann mit der Erläuterung von Ibn Taymiyyas Begriff des tawātur fort, die ausführlich wiedergegeben sei:

Die Theorie des tawātur wird hier angewendet auf weit verbreitete Bestätigungen dessen, von dem verschiedene Individuen berichten, dass es für sie angeborenes (fitrī) und/oder notwendiges (dharūrī) Wissen ist. Ibn Taymiyya stellt ausdrücklich fest, dass wir den Anspruch erheben können auf »Wissen der tatsächlichen Wirklichkeit (thubūt) dessen, was Leute auf tawātur-Weise mit Bezug auf empirisches und notwendiges Wissen berichten« – wobei notwendig (dharūrī) hier anscheinend im Sinne dessen gebraucht wird, was angeboren (fitrī) oder a priori (badīhī) ist. Absichtliches Lügen (taʿammud al-kadhib) seitens einer großen Zahl von disparaten Individuen ohne Kollusion oder bewusste Verabredung (tawātuʿ) ist so gut wie unmöglich, wenn es im Lichte der konventionellen Funktionsweise der Welt (yamtaniʿ fī al-ʿāda) beurteilt wird. Ibn Taymiyya stellt zudem fest, dass bloßer Irrtum (khataʾ) ebenfalls unmöglich ist im Hinblick auf eine große Zahl von Fällen des empirischen und notwendigen (rationalen) Wissens, da es für alle von ihnen unmöglich wäre, zufällig in demselben Irrtum übereinzustimmen. […]

Die fitra ist anfällig für kognitive und moralische Entstellung, wobei erstere durch lang anhaltende Gewöhnung an Überzeugungen (iʿtiqād) herbeigeführt wird, die dem widersprechen, was intuitiv als wahr erkannt wird. Für den Fall, dass die fitra beeinträchtigt worden ist und eine Person darauf besteht, eine Lehre, die dharūrī-Wissen widerspricht, zu vertreten, kann appelliert werden an die mutawātir-Übereinstimmung unter Menschen ohne Kollusion oder bewusste Absprache in dem fraglichen Punkt als definitiver Beweis der fraglichen Behauptung, was somit als Korrektiv gegen die irrige Lehre, die ihr widerspricht, fungiert. Kurzum, durch diesen erweiterten Begriff des tawātur versucht Ibn Taymiyya, das, was er als allgemein gehaltene, angeborene Notionen betrachtet, gegen den zerstörerischen Zweifel abzuschirmen, der durch die trügerischen Behauptungen hervorgerufen wird, die im Namen der »Vernunft« von einer esoterischen philosophischen Elite vorgebracht werden, die gewillt ist, das, was Ibn Taymiyya zufolge notwendiges (dharūrī) Wissen ist, auf der Basis abstrakter mentaler Konstrukte ohne jegliche echte philosophische Begründung, geschweige denn ontologische Wirklichkeit, umzustürzen.

Die epistemologische Bedeutung von Ibn Taymiyyas Rechtfertigung, mittels des Mechanismus des tawātur, nicht nur der Integrität der menschlichen Sinneswahrnehmung, sondern, noch wichtiger, dessen, was als allgemein geteiltes angeborenes, intuitives, apriorisches – und folglich notwendiges – Wissen betrachtet werden kann, wird klar, wenn sie in ihren umfassenderen epistemologischen Bezugsrahmen gestellt wird. Allgemein geteilte empirische Erfahrungen und angeborene Intuitionen – garantiert letztlich durch die Berücksichtigung einer Art von gesamtmenschlichem tawātur – liefern gewisses Wissen, das vernünftigerweise nicht bezweifelt werden kann. Da sie sowohl unmittelbar als auch allgemein sind, können sie nicht durch abgeleitete rationale Folgerungen umgestürzt oder aufgehoben werden, die mittels theoretischer Reflexion (nadhar) erreicht wurden, insbesondere wenn – wie es Ibn Taymiyya zufolge normalerweise der Fall ist – die betreffenden Schlussfolgerungen wie auch die Annahmen und Prämissen, auf denen sie gründen, die Domäne einer relativ begrenzten Zahl von Denkern sind, die einer bestimmten Denkschule angehören, deren grundlegenden Axiome meistenteils auf der Grundlage von Nachahmung (taqlīd) und bewusster Absprache (tawātuʿ) angenommen und propagiert worden sind. […] Im wesentlichen besteht Ibn Taymiyya darauf, dass unmittelbares und allgemein geteiltes Wissen – gewonnen durch eine Verbindung von Sinneswahrnehmung (hiss), apriorischer Vernunft (badīha) und Intuition (fitra) – nicht durch das ausgestochen werden kann, was er als die parochialen Folgerungen betrachtet, die von den Anhängern einer voreingenommenen Denkschule spekulativ abgeleitet wurden. […]

Im Lichte dessen ist es wichtig, nochmals zu betonen, dass Ibn Taymiyya nirgends darauf besteht oder auch nur andeutet, dass die Vernunft sich in irgendeiner Weise der Offenbarung »ergeben« sollte, im Sinne der Aufgabe einer Folgerung, welche die Vernunft aus sich selbst heraus selbst nach weiterer eingehender Prüfung weiterhin für richtig erachtet, aber dann einfach fallenzulassen aufgefordert wird, um den Diktaten von hiss und khabar (insbesondere der Offenbarung) Zugeständnisse zu machen. Im Gegenteil, Ibn Taymiyya vertritt die Ansicht – und versucht über den gesamten Darʾ hinweg nachzuweisen -, dass die widersprechende Schlussfolgerung immer das Ergebnis fehlerhaften Denkens [...] ist und dass eine wiederholte sorgfältige und ordentlich begründete (sprachliche und) rationale Analyse der Frage immer aufzeigen wird, wo die ursprüngliche Folgerung falsch gelaufen ist, und feststellen wird, dass die Schlussfolgerungen der gültigen und wahren Vernunft (ʿaql sarīh) in Wirklichkeit weder mit unserem angeborenen oder empirischen Wissen einerseits noch mit dem aus der Offenbarung stammenden Wissen andererseits in Widerspruch steht. Während also die Vernunft von den anderen Quellen bestimmten Wissens auf ihre Irrtümer aufmerksam gemacht und dadurch gewissermaßen zur Selbstkorrektur veranlasst wird, wird von ihr nie gefordert oder erwartet, ihre eigenen (legitimen und gültigen) Schlussfolgerungen zu ignorieren oder ihre eigenen Erkenntnisse einfach durch »konkurrierende« Wissensquellen umstoßen zu lassen, denn wir erinnern uns daran, dass Ibn Taymiyya es als eine grundlegende Prämisse seiner Epistemologie erachtet, dass verlässliche Quellen wahren Wissens sich immer und notwendigerweise gegenseitig ergänzen und stützen und nie miteinander in Wettstreit oder Widerspruch stehen. (S. 283-288)

3.7.6 Konklusion

El-Tobgui fasst dieses der Frage nach der Vernunft gewidmete Kapitel folgendermaßen knapp zusammen:

Wir haben im Verlauf dieses Kapitels gelernt, dass die Wirklichkeit aus zwei Bereichen besteht, dem schāhid und dem ghāʾib, und dass der Geist Wissen von dem, was in der ersteren Weise existiert, durch die äußeren Sinne erwirbt, und von dem, was im letzteren existiert, primär durch khabar (wie auch hiss bātin in einem begrenzten Maße). Auf der Grundlage des empirischen Wissens, das ihm von den Sinnen geliefert wurde, abstrahiert der Geist Allgemeinbegriffe, die er als mentale Repräsentationen der äußeren Wirklichkeit erachtet. Da das Wissen des Geistes rein theoretisch (ʿilmī) ist, ist der Geist nicht fähig, die wirkliche Existenz irgendeiner draußen existierenden Entität zu erweisen […]. Die Vernunft kommt gleichwohl eingebettet mit dem angeborenen (fitrī) und notwendigen (dharūrī) Wissen bestimmter grundlegender Axiome (badīhiyyāt), auf deren Grundlage sie fähig ist, Urteile (ahkām, tasdiqāt) einer prädikativen oder relationalen Natur in Bezug auf existierende Entitäten zu bilden. Der Geist besitzt notwendiges Wissen von der ihm durch die Sinne vermittelten äußeren Wirklichkeit, seinen eigenen angeborenen logischen Prinzipien und dem, was immer ihn durch tawātur erreicht hat. Das Prinzip des tawātur garantiert darüber hinaus die Authentizität nicht nur verschiedener Arten von Berichten (khabar) – einschließlich der Offenbarung natürlich -, sondern dient auch als finaler Garant des notwendigen Wissens, das dem Geist durch die Sinne vermittelt wird, wie auch der axiomatischen Prinzipien der Vernunft und der fitra im allgemeineren Sinne für den Fall, dass irgendwelche dieser Quellen des weithin geteilten, notwendigen Wissens untergraben, angefochten oder systematischem Zweifel unterworfen worden sind. Solcher Zweifel ist typischerweise das Ergebnis von Lehren, die durch spekulative Reflexion (nadhar) abgeleitet worden sind, die auf zweifelhaften Prämissen gründet, die, so Ibn Taymiyya, unzweideutig im Widerspruch stehen zu dem notwendigen Wissen, das von einer der genannten Quellen bestätigt wird. (S. 288-289)

Wie bringt nun Ibn Taymiyya die in den letzten beiden Kapiteln dargestellten grundlegenden Elemente und Werkzeuge der angestrebten hermeneutischen, ontologischen und epistemologischen Reform zur Anwendung, um den so hartnäckigen und vermeintlich unauflösbaren Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung, insbesondere im Hinblick auf die Affirmation der göttlichen Attribute, aufzulösen?

KONKLUSION

KONKLUSION Yusuf Kuhn

3.8 Rekonstituierte Vernunft: Die göttlichen Attribute und die Frage des Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung

3.8 Rekonstituierte Vernunft: Die göttlichen Attribute und die Frage des Widerspruchs zwischen Vernunft und Offenbarung Yusuf Kuhn

3.8.1 Rationales Schlussfolgern und die Frage des Qiyās al-ghāʾib ʿalā asch-schāhid

Die Philosophen schreiben aufgrund ihrer realistischen Auffassung der Universalien, die für Ibn Taymiyya hingegen nur im Denken existieren, Notionen und Allgemeinbegriffen eine objektive ontologische Wirklichkeit zu, die sie sodann mit dem in der Offenbarung genannten Bereich des ghayb gleichsetzen. Das sinnlich Wahrnehmbare (mahsūs) wird damit zugleich auf den Bereich des schahāda beschränkt. Diese philosophische Ontologie führt zur Reduktion des ghayb auf das Mentale oder Intellektuelle (maʿqūl) und somit zur Intellektualisierung der Entitäten, von denen die Offenbarung im ghayb spricht.

So werden beispielsweise die Engel mit den Intelligenzen (etwa des Neoplatonismus) gleichgesetzt; und die Geschehnisse im jenseitigen Leben einschließlich der Freuden des Paradieses und der Qualen der Hölle in bloße anschauliche Allegorien einer in Wirklichkeit rein intellektuellen Realität verwandelt. Dies impliziert freilich die Negation der Existenz selbständiger Entitäten im ghayb, die, obgleich gegenwärtig vor unseren Sinnen verborgen, im Prinzip wahrnehmbar sind und unabhängig von menschlicher Vernunft und Denken bestehen.

Diese ontologische Konfusion hat zu einer parallelen Konfusion bei den rationalen Schlüssen geführt, welche die Philosophen über die Welt ziehen. Ibn Taymiyya fasst diese Schlüsse unter dem Ausdruck qiyās zusammen, der sowohl den kategorischen Syllogismus (qiyās asch-schumūl) als auch den Analogieschluss (qiyās at-tamthīl) einbegreift.

Klassisches Beispiel für den Syllogismus, der auf der Verwendung eines universalen Mittelbegriffs (hier: Mensch) basiert, ist: »Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.«

Klassisches Beispiel für den Analogieschluss, der auf der Assimilation von zwei besonderen Dingen aufgrund eines relevanten gemeinsamen Attributs ohne universalen Mittelbegriff beruht, ist das auf dem Koran gründende Weinverbot im islamischen Recht (fiqh): »Traubenwein (khamr) ist verboten, weil er berauscht. Dattelwein (nabīdh) berauscht ebenfalls. Also ist Dattelwein auch verboten.« Hier wird das Urteil (hukm) des Verbots von einem besonderen Gegenstand (Traubenwein) auf einen anderen besonderen Gegenstand (Dattelwein) übertragen, da beide eine relevante Eigenschaft (ʿilla), nämlich die berauschende Wirkung, besitzen.

Ibn Taymiyya ist der Ansicht, dass beide Schlussformen inhaltlich äquivalent sind und sich nur in der Form unterscheiden. Als Begründung führt er an, dass der Analogieschluss leicht in einen Syllogismus transformiert werden kann, wenn das relevante Attribut (ʿilla) richtig bestimmt wird. Angewendet auf das Beispiel des Weinverbots ergibt diese Transformation folgenden Syllogismus: »Alles Berauschende ist verboten. Traubenwein (oder Dattelwein) ist berauschend. Also ist Traubenwein (oder Dattelwein) verboten.« In beiden Fällen wird ein Urteil (hukm) übertragen: beim Syllogismus vom Allgemeinem zum Besonderen und beim Analogieschluss vom Besonderen zum Besonderen.

Die besondere Schlussform, die für die Frage der göttlichen Attribute und des ghayb im allgemeinen von Bedeutung ist, ist bekannt unter der Bezeichnung »qiyās al-ghāʾib ʿalā asch-schāhid«, Schluss auf das Verborgene auf der Grundlage des Sichtbaren (Wahrnehmbaren, Erfahrbaren), oder, anders ausgedrückt, die Übertragung eines Urteils (hukm), das auf den Bereich des schahāda anwendbar ist, auf den Bereich des ghayb. Ibn Taymiyya unterscheidet vier verschiedene Arten solcher Schlüsse, die jeweils betreffen: (1) tatsächliche Existenz (thubūt), (2) essentielle ontologische Wirklichkeit (haqīqa) oder Modalität (kayfiyya); (3) Bedeutungen und Notionen (maʿānī); (4) logische Prinzipien und axiomatische Wahrheiten der Vernunft (badīhiyyāt). In den ersten beiden Fällen ist Ibn Taymiyya zufolge der Schluss von schāhid auf ghāʾib unzulässig, während er in den letzten beiden Fällen nicht nur zulässig, sondern sogar obligatorisch ist. Warum?

Die ersten beiden Fälle betreffen die Existenz und die ontologische Wirklichkeit, worüber die Vernunft alleine, wie wir gesehen haben, nichts ausmachen kann, sondern dafür auf hiss (Wahrnehmung) oder khabar (Bericht) angewiesen ist. Daher ist die Vernunft auch nicht dazu berechtigt, ein Urteil bezüglich thubūt oder haqīqa vom Bereich des schahāda auf den Bereich des ghayb zu übertragen.

In den letzten beiden Fällen geht es hingegen um die Übertragung von Bedeutungen und Notionen und die Anwendung logischer Prinzipien; und in diesem Fall gilt, dass ein Analogieschluss von schāhid auf ghāʾib gezogen werden kann, ja sogar muss. Was nun Bedeutungen und Notionen (maʿānī) betrifft, so können wir durchaus ein notionales Verständnis von Entitäten im ghayb erlangen, über die uns die Offenbarung durch khabar mittels Namen (asmāʾ) berichtet, mit denen diese Entitäten für uns beschrieben werden, auch wenn wir keine direkte empirische Erfahrung von ihnen haben. Dies gründet letztlich darin, dass diese Namen Bedeutungen bezeichnen, die als notionale Entitäten im Denken existieren und durch Abstraktion gewonnen werden. Daher sind wir zu einem gewissen sowohl semantischen als auch notionalen Verständnis der Entitäten im ghayb fähig, die in manchen Hinsichten (min baʿdh al-wudschūh) dem gleichen, was wir in unserem empirischen Bereich durch Erfahrung wissen.

Als Veranschaulichung mag der Bericht aus der Offenbarung dienen, dass Engel, die im Bereich des ghayb existieren, sehen können. Wir wissen, was es für uns im Bereich des schahāda bedeutet, zu sehen, nämlich einen Gegenstand visuell zu erfassen. Diese geteilte Bedeutung, die auf ischtirāk maʿnawī (siehe Kapitel 4) basiert, muss auf beide Bereiche gleichermaßen angewendet werden. Wenn Engel sehen, kann dies also nur bedeuten, dass sie die Fähigkeit besitzen, einen Gegenstand visuell zu erfassen, da dies eben die Bedeutung des Wortes »sehen« ist. Ohne diese gemeinsame Bedeutung hätte die Aussage »Engel sehen« für uns keine erfassbare Bedeutung und es wäre sinnlos, dass die Offenbarung uns dies auf diese Weise mitteilt. Wir können wissen, was es für Engel bedeutet, zu sehen, aber wir können nicht genau wissen, wie sie dies tun. Denn durch die gemeinsame Anwendbarkeit der Namen oder bezeichnenden Ausdrücke und die Verständlichkeit ihrer allgemeinen Bedeutungen bleibt das Verständnis begrenzt und die grundlegende Differenz in der ontologischen Wirklichkeit (haqīqa) und Modalität (kayfiyya) gleichwohl bestehen.

Dies entspricht wiederum der Unterscheidung des taʾwīl der Entitäten des ghayb, die wir erkennen können im Sinne einer Erklärung der Bedeutung (tafsīr al-maʿnā), von dem taʾwīl, den wir nicht erkennen können im Sinne der Modalität oder ontologischen Realität (siehe Kapitel 4). Zur Stützung dieser Auffassung zitiert Ibn Taymiyya folgende Aussage von Ibn ʿAbbās: »Die einzige Gemeinsamkeit zwischen dem, was in dieser Welt existiert, und dem, was im Paradies existiert, ist die Namen [mit denen ein jedes beschrieben wird].«

El-Tobgui legt näherhin dar:

Doch einiges von dem, was im ghayb existiert, passt überhaupt nicht in unseren Begriffsrahmen, weil es keinerlei Gegenstück (nadhīr) in unserem empirischen Bereich hat. Wo verborgene Entitäten überhaupt keine bedeutungsvolle Ähnlichkeit mit irgendeinem Element unserer Erfahrung haben, können sie für uns nicht bedeutungsvoll benannt werden, da es keine Notionen (maʿanī) oder Universalien, die von unserem gegenwärtigen Bereich abstrahiert wurden, gibt, die bedeutungsvoll auf sie bezogen werden könnten. Deshalb existiert zusätzlich zu all den Freuden des Paradieses, größer als alles Übrige, »das, was kein Auge gesehen hat, kein Ohr gehört hat und keinem Herzen eines Menschen in den Sinn gekommen ist.« Wir bemerken hier nicht nur die Verneinung der analogen empirischen Erfahrung (dergleichen kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat), sondern auch die Verneinung jeglicher notionalen Ähnlichkeit. Unser Geist kann sich natürlich viele Dinge vorstellen (yatasawwar), die im empirischen Bereich nicht existieren und nicht einmal existieren können, die wir uns aber doch vorstellen können; das heißt, sie können als Notionen in unserem Geist existieren. Aber was den Bewohnern des Paradieses vorbehalten ist, hat weder irgendeine empirische noch irgendeine notionale Ähnlichkeit mit etwas, das wir kennen; es übersteigt sogar unsere (relativ ausgedehnten) Einbildungskräfte. Gleicherweise wird der Seele (rūh) kein weiterer Name oder Beschreibung gegeben, sondern sie wird einfach beschrieben als »eine Angelegenheit meines Herrn« (Koran, 17:85), die ihrer besonders einzigartigen Natur und ihrer essentiellen Ungleichheit mit jeglichem anderen, was wir kennen, zugrunde liegt. Während schließlich viele der Attribute Gottes, die uns mitgeteilt worden sind, den Attributen entsprechen, von denen wir eine gewisse Erfahrung haben (z.B. Barmherzigkeit, Zorn, Freundlichkeit, Herrlichkeit usw.), so bleibt das innerste Wesen (kunh) Gottes für uns völlig unbekannt, nicht einmal mittels Entsprechung, Ähnlichkeit oder Annäherung. Die vollständige und völlige Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der göttlichen Essenz ist vermutlich der Grund, warum vom Propheten berichtet wird, seine Anhänger angewiesen zu haben, über den »kunh« Gottes nicht nachzudenken, sondern vielmehr über Seine Handlungen nachzudenken. Der Versuch, Gottes tiefstes Wesen zu ergründen, ist in der Tat sinnlos, da wir von ihm keinerlei Verständnis haben können, aus dem einfachen Grund, dass es jeglichem, von dem wir irgendeine Erfahrung und daher irgendein Wissen haben, völlig unähnlich ist – in jeder Hinsicht (min dschamīʿ al-wudschūh). (S. 295-296; Hervorhebungen im Original)

Die zweite Art des qiyās von schāhid auf ghāʾib, die Ibn Taymiyya für zulässig und obligatorisch erklärt, bezieht sich auf die badīhiyyāt. Da diese logischen Prinzipien unabhängig von unserer Erfahrung gelten, sind sie nicht auf den empirischen Bereich beschränkt, sondern universell und ausnahmslos gültig. Aufgrund ihrer selbstevidenten logischen Notwendigkeit gelten sie nicht nur im Bereich des schahāda, sondern auch im Bereich des ghayb. Die Vernunft ist also dazu berechtigt, diese logischen Prinzipien und Axiome auf beide Bereiche zur Anwendung zu bringen. Ibn Taymiyya stützt sich auf diese Annahme vielfach bei seinen Widerlegungen theologischer Auffassungen seiner Gegner, denen er immer wieder Widersprüche und Verstöße gegen Prinzipien der Logik nachweist.

El-Tobgui erläutert weiterhin:

Ibn Taymiyya beschuldigt die Philosophen der Spekulation über den ghayb auf der Basis des schahāda auf den Gebieten […] der Existenz (thubūt) und der essentiellen ontologischen Wirklichkeit (haqīqa). Doch der Schluss von schāhid auf ghāʾib ist, wie wir gesehen haben, auf diesen Gebieten unzulässig, da die Vernunft die tatsächliche Existenz oder die existentielle Modalität einer Entität nicht unabhängig feststellen kann. Eben genau weil die Philosophen seiner Ansicht nach die ghāʾib-Entitäten als wesentlich analog mit den schāhid-Entitäten behandelt haben, insbesondere hinsichtlich der essentiellen Wirklichkeit (haqīqa), fühlen sie sich sodann zur Leugnung dessen gezwungen, was khabar über die ghāʾib-Entitäten feststellt (insbesondere die göttlichen Attribute), um dadurch die Gefahr zu vermeiden, Gott in Seiner Essenz (d.h. in Seiner haqīqa) erschaffenen Dingen anzugleichen, was auf taschbīh hinauslaufen würde. Aber die Auffassung der Philosophen, dass die Affirmation der göttlichen Attribute eine solche Assimilation einbegreifen würde, ist ein direktes Resultat ihrer falschen Annahme der Vergleichbarkeit von schāhid zu ghāʾib – mit anderen Worten, der falschen Ansicht, dass es möglich ist, in Bezug auf die Essenz, Modalität und ontologische Wirklichkeit eine Analogie (qiyās) zwischen dem verborgenen und dem sichtbaren Bereich zu machen. Sie verleugnen daher die zulässigen und obligatorischen Formen des qiyās von schāhid zu ghāʾib – nämlich die in der Affirmation einer gemeinsamen Bedeutung (maʿnā) notwendig inbegriffenen Analogie wie auch die gemeinsame Anwendung von universellen logischen Prinzipien – aufgrund der Implikationen, die sich ihrer Meinung nach aus den unzulässigen Formen des qiyās ergeben, in die sie sich ungerechtfertigterweise verwickeln, indem sie eine essentielle ontologische Ähnlichkeit zwischen schāhid- und ghāʾib-Entitäten, die einen gemeinsamen Namen tragen, annehmen. (S. 297-298)

3.8.2 Ibn Taymiyyas Reform angewandt: Die Frage der göttlichen Attribute

Die Philosophen berufen sich auf die Vernunft (ʿaql), um ihre Ansicht zu begründen, dass die göttlichen Attribute reinterpretiert werden müssen (taʾwīl), da ihre Affirmation eine Teilhabe von Gott und Erschaffenem an einem gemeinsamen Allgemeinbegriff bedeuten und somit durch die Negation von Gottes Einzigartigkeit und völliger Ungleichheit mit allem Erschaffenem der Verähnlichung (taschbīh) verfallen würde.

Für Ibn Taymiyya hingegen sind wir fähig, Gottes Attribute zu verstehen, indem wir sie mit aus unserer Erfahrungswelt bekannten Attributen unter eine gemeinsame Bedeutung oder Notion (maʿnā) subsumieren. Er benutzt dabei explizit Ausdrücke wie muschābaha (Ähnlichkeit) und mumāthala (Gleichheit), die jeweils verwandt sind mit taschbīh und mithl (Gleiches, Ähnliches), wie in dem Vers »laysa kamithlihi schayʾ« (Koran 42:11; »Nichts ist Ihm gleich«). Wie kann er diese Ausdrücke verstehen, ohne in Widerspruch zu diesem Vers zu geraten?

Ibn Taymiyya erläutert zunächst, dass ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit (qadr muschtarak) zwischen jedweden zwei existierenden Entitäten völlig unvermeidlich ist (lā budda min). Eine Verneinung dieser Prämisse führt direkt zur Verneinung von Gottes Existenz durch das Argument, dass die gemeinsame Anwendbarkeit des Prädikats »existieren« (al-ischtirāk fī ism al-wudschūd) auf Gott und uns taschbīh impliziert.

Genau aus diesem Grund haben übrigens die Batiniten von der Behauptung der Existenz Gottes Abstand genommen, während manche sufische Schulen den entgegengesetzten Schluss daraus gezogen haben, dass wir nicht existieren. Für Ibn Taymiyya sind dies absurde Auffassungen, die grundlegenden Prinzipien der Wahrnehmung und Vernunft offenkundig widersprechen.

Die Frage, wo, die Unvermeidlichkeit eines gewissen Maßes an Gemeinsamkeit vorausgesetzt, schließlich eine Linie gezogen werden muss, verweist auf den Begriff der ontologischen Wirklichkeit (haqīqa) zurück.

El-Tobgui führt dazu aus:

Diese »essentielle Natur« führt für Ibn Taymiyya letztlich zu der Frage nach dem fundamentalen ontologischen Status eines Dinges und speziell, ob sein Sein oder seine Existenz einerseits notwendig, ewig, vollkommen und unzerstörbar oder andererseits kontingent, zeitlich, mangelhaft sowie Vergehen und Nicht-Existenz unterworfen ist. Selbstverständlich gehört die erste Reihe von Eigenschaften Gott allein – und konstituiert in der Tat die grundlegenden Elemente, kraft deren Er Gott ist -, während die zweite Reihe von Attributen für alle anderen Entitäten außer Gott gilt, ob sie nun im Bereich des schahāda oder dem des ghayb existieren. Es sind diese vier fundamentalen Eigenschaften, die für Ibn Taymiyya die »essentielle ontologische Wirklichkeit« oder haqīqa jedweden existierenden Dinges bestimmen. Da nun diese fundamentale Essenz, wie wir gelernt haben, (außerhalb des Geistes) völlig untrennbar von den Attributen eines Dinges ist, folgt daraus, dass jegliche Attribute, die eine Entität besitzt, auf diese Entität in einer Weise zutreffen, die mit ihrer zugrunde liegenden ontologischen Wirklichkeit, wie sie von dieser begrenzten Reihe von entscheidenden Eigenschaften bestimmt ist, übereinstimmt. (S. 300)

Zur Veranschaulichung sei das Attribut des Wissens herangezogen. »Wissen« hat mit Bezug auf Gott und Menschen die gleiche Bedeutung, nämlich die Erfassung eines Erkennbaren. Das von Menschen ausgesagte Wissen trifft auf sie aber in einer Weise zu, die mit ihrer zugrunde liegenden essentiellen Wirklichkeit übereinstimmt. Es ist also wie ihr Wesen selbst erschaffen, kontingent, nicht-notwendig, beschränkt, unvollkommen und letztlich sogar völlig aufhebbar. Im Gegensatz dazu entspricht Gottes Attribut des Wissens der essentiellen Wirklichkeit des göttlichen Wesens und ist daher notwendig, unbegrenzt, vollkommen und unzerstörbar. So gilt also: gleiche Bedeutung bei Wahrung der grundsätzlichen ontologischen Unterscheidung zwischen der wahren Wirklichkeit des göttlichen Wissens und des menschlichen Wissens.

El-Tobgui erläutert:

Genau hier liegt der grundlegende – und für Ibn Taymiyya entscheidende – Unterschied zwischen jeglichen und allen Attributen Gottes im Vergleich zu jeglichen und allen Attributen von erschaffenen Dingen. Tatsächlich »ist Ihm nichts gleich«, da Er allein, zusammen mit allen Seinen Eigenschaften, notwendig, ewig, vollkommen usw. ist. In dieser entscheidenden Hinsicht, und nicht in irgendeiner anderen, gibt es keine Ähnlichkeit (muschābaha) oder Gleichheit (mumāthala) – in der Tat sollten wir näherhin bestimmen, keine ontologisch relevante Ähnlichkeit oder Gleichheit – zwischen Gott und irgendetwas Anderem. Es gibt nichtsdestotrotz – und zwar notwendigerweise – eine Art von Ähnlichkeit zwischen Gott und der Schöpfung auf der rein abstrakten Ebene der universellen Bedeutungen (maʿānī), ohne die wir – es sei noch einmal betont – einfach nicht fähig wären, irgendein Verständnis von etwas zu haben, das unseren Sinnen nicht gegenwärtig ist. […] Für Ibn Taymiyya machen wir gebührendes tanzīh [Vermeidung von Verähnlichung oder Angleichung] Gottes, nicht indem wir Ihm nach Belieben jegliche und alle Attribute absprechen, die wahrheitsgemäß auch von etwas Anderem prädiziert werden können, sondern vielmehr auf zwei unterschiedliche und sehr spezifische Weisen: (1) indem wir von Seiner Essenz die oben genannten vier essentiellen Eigenschaften affirmieren und ihre Gegensätze negieren, und (2) indem wir von Ihm allein das affirmieren, was Ibn Taymiyya die »Attribute der Vollkommenheit« (sifāt kamāl) nennt, wie etwa Leben, Macht, Wissen usw., und ihre Gegensätze (Tod, Schwäche, Unwissen usw.) negieren. Das erste repräsentiert einen tanzīh von Gottes Wesen, das zweite einen tanzīh von Seinen Attributen. (S. 301-302; Hervorhebungen im Original)

Durch diese Auffassung ist Gott für uns verstehbar, ohne dass Sein Wesen in einer ontologisch relevanten Weise an uns angeglichen und Seine Göttlichkeit dadurch beeinträchtigt würde. Wir können verstehen, wer Gott ist, weil wir die Bedeutung der Ausdrücke, mit denen Seine Attribute beschrieben werden, und somit ihr taʾwīl im Sinne von tafsīr al-maʿnā verstehen können, während wir die wahre ontologische Wirklichkeit (haqīqa) dieser Attribute niemals ergründen können – und noch viel weniger Sein innerstes Wesen (kunh).

3.8.3 Schlussbetrachtungen

Mit dem Darʾ taʿārudh al-ʿaql wa an-naql erstrebt Ibn Taymiyya die Überwindung des jahrhundertealten Konfliktes zwischen Vernunft und Offenbarung im muslimischen Denken. Im Zentrum dieser Debatte stand die Frage der göttlichen Attribute, die von Philosophen (falāsifa) und Mutakallimun negiert oder allegorisch reinterpretiert (taʾwīl) wurden, weil sie vermeintlich eine unzulässige Assimilation Gottes an Erschaffenes beinhalteten oder gegen die philosophisch verstandene Ein(s)heit Gottes verstießen. Ibn Taymiyya verwirft diesen rationalistischen taʾwīl mit der Begründung, dass er sowohl die Sprache der Offenbarung verletzt als auch im Gegensatz zum klaren Affirmationismus steht, der von der frühen autoritativen Gemeinschaft (as-salaf wa al-aʾimma) einhellig vertreten wurde.

Ibn Taymiyya verwirft zudem den abstrakten Gottesbegriff der Philosophen vor allem aus einerseits ontologischen und andererseits moralischen und religiösen Gründen. Da abstrakte Begriffe ontologisch lediglich im Denken existieren, verliert ein in solchen Begriffen gefasster Gott den Charakter eines existierenden persönlichen Gottes, um in ein amorphes mentales Konstrukt verwandelt zu werden. Letztlich kann der Gott der Philosophen gar nicht wirklich existieren.

Die moralischen und religiösen Konsequenzen eines solcherart abstrakten und entrückten Gottes blieben freilich Ibn Taymiyya ebenfalls nicht verborgen, sondern stehen im Mittelpunkt seines Bestrebens, philosophischen Negationismus und negative Theologie zu widerlegen. Wie soll ich zu einem Gott beten, der mein Gebet nicht hören kann? Wie soll ich mich einem Gott nähern, der von meiner individuellen Existenz nichts weiß?

Der durch die negative Theologie herbeigeführte Verlust der Verständlichkeit Gottes untergräbt unsere Fähigkeit, sich in eine bedeutungsvolle persönliche Beziehung zu diesem ausgedünnten Gott zu setzen. Damit wird letztlich der ganze Sinn und Zweck der Religion zunichte gemacht, nämlich Gott zu erkennen und sodann zu lieben, anzubeten und Ihm zu dienen. Und eben davon hängt doch auch die höchste Glückseligkeit des Menschen ab. So erweist sich der Gott der Philosophen, der ein abstraktes intellektuelles Konstrukt ist, trotz aller Beteuerungen des Gegenteils und angeblich besten Absichten als Hindernis für die Erfüllung der eigentlichen Bestimmung des Menschen.

Daher entwickelt Ibn Taymiyya eine Kritik der Philosophie, die sich nicht nur um die Widerlegung einzelner Argumente bemüht, sondern deren sprachphilosophische, ontologische und epistemologische Fundamente erschüttert und zugleich ein alternatives Verständnis von Erkenntnis und Wissen ausbildet, das auf einer reformierten Auffassung von Sprache, einer rekonstruierten Ontologie und einem wiederhergestellten Begriff der Vernunft beruht. Eine besondere Rolle kommt dabei khabar sādiq (verlässlicher Bericht), insbesondere in der Gestalt von authentischer Offenbarung (naql sahīh), als einer wesentlichen Wissensquelle zu.

El-Tobgui führt zusammenfassend aus:

Während er [Ibn Taymiyya] die realistische Universalienontologie der Philosophen schonungslos angreift, erklärt er nichtsdestotrotz die abstrahierende und universalisierende Funktion des Denkens für gültig und macht in der Tat diese Funktion zum Eckstein unseres notionalen Zugangs zum ghayb, einschließlich der Attribute Gottes. Ibn Taymiyyas Beharren auf der Unterscheidung zwischen der existentialen Kategorie der wesentlichen ontologischen Wirklichkeit (haqīqa) einerseits und den notionalen Kategorien der Allgemeinbegriffe (kulliyyāt) und Bedeutungen (maʿānī) andererseits erlauben ihm, die Integrität und Verständlichkeit der in der Offenbarung von Gott verwendeten Sprache aufrechtzuerhalten, während zugleich taschbīh vermieden wird, was interpretiert wird als Implikation irgendeiner ontologisch relevanten Ähnlichkeit zwischen dem ewigen, notwendigen und vollkommen Gott und Seinen zeitlichen, kontingenten und notwendigerweise unvollkommenen Geschöpfen. Ibn Taymiyyas Beharren auf der ontologischen Untrennbarkeit von Essenz und Existenz und insbesondere von Essenz und Attributen erlaubt ihm, eine begrenzte, ontologisch relevante Reihe von göttlichen Attributen (Notwendigkeit, Ewigkeit, Vollkommenheit, Unzerstörbarkeit) zu benennen, die, mehr als alles andere, Gottes wesentliches Sein von jedem anderen existierenden Ding radikal unterscheiden. Da diese dem Wesen zugehören, durchdringen diese Eigenschaften gewissermaßen das göttliche Sein und bestimmen die ontologische Qualität aller anderen Attribute, die sich auf Gott beziehen, indem sie von jeglicher Anklage der Mangelhaftigkeit abgeschirmt werden, derer man sie irrigerweise auf der Grundlage der notionalen Ähnlichkeit, die sie mit entsprechenden Attributen, die bei Menschen oder anderen erschaffenen Entitäten anzutreffen sind, verdächtigen könnte. Ibn Taymiyyas Beharren auf der universalen Anwendbarkeit der apriorischen logischen Prinzipien, die im Denken angesiedelt sind, erlaubt ihm, eine Reihe von »negationistischen« Thesen kurzerhand zu verwerfen, da sie mit den elementaren Prinzipien des rationalen Denkens in Konflikt geraten. Letztlich gründet Ibn Taymiyya die finale Integrität seines Systems und in der Tat alles menschlichen Wissens sowohl auf den kognitiv-moralischen Begriff der fitra oder »ursprünglichen normativen Veranlagung« als auch auf eine erweiterte Anwendung des Prinzips des tawātur, gemäß dem alle Quellen des Wissens und Arten der Kognition letztlich verifiziert werden können. (S. 304-305; Hervorhebungen im Original)

Durch die Erweiterung der Quellen der Erkenntnis ergeben sich verschiedene Wege, durch die Wissen auf je eigene persönliche, situative und individuelle Weise erlangt werden kann, wobei wahres Wissen selbst seine Objektivität im Sinne einer Entsprechung zum Wahren und Wirklichen an sich bewahrt. Typisch für Ibn Taymiyyas Denken ist, dass es keine universalen Regeln oder notwendigen Abfolgen gibt, die für alle Fälle gelten. Wissen wird auf verschiedenen Wegen gewonnen wie etwa durch Erfahrung, khabar (Bericht), rationale Folgerungen, Intuition und tawātur (vielfache Überlieferung), die sich gegenseitig stützen und von Person zu Person durchaus unterschiedlich sein können. Die Beschränkung von Wissen hingegen auf eine besondere Methode nach Art der Philosophen oder auf eine bestimmte Hierarchie nach Art der Mutakallimun oder auf bestimmte Schritte auf einem spirituellen Pfad nach Art mancher Sufis ist irreführend und unzulässig, da diese einengende Theoretisierung der Erkenntnis nicht der Weise entspricht, in der tatsächlich Wissen erlangt wird. Denn die Weisen, Bedingungen, Mittel und Abfolgen der Erkenntnis sind viel zu unterschiedlich und umfangreich, um auf einige wenige bestimmte Wege oder Methoden (turuq) reduziert zu werden.

El-Tobgui hebt darüber hinaus einen weiteren bedeutenden Aspekt hervor:

Ibn Taymiyyas empirisch gegründeter und weit aufgezogener epistemologischer Bezugsrahmen unterstreicht eine umfassendere Verpflichtung seinerseits auf ein breit gefasstes demokratisches Bild des Wissens. Ibn Taymiyya kritisiert die Philosophen dafür, dass sie der theoretischen oder spekulativen Vernunft in der epistemischen Hierarchie einen Ehrenplatz zuweisen, mitunter bis hin zur Erlaubnis, grundlegenderes empirisches oder apriorisches Wissen aufzuheben, das wiederum auf bloße »Illusion« (wahm) oder »Imagination« (takhyīl) herabgesetzt wird, um es den Ausflüssen der abstrakten Spekulation gefügig zu machen. Für Ibn Taymiyya ist dieser Zustand völlig verkehrt, da gerade die Unmittelbarkeit und schiere Selbstauferlegung dieser grundlegenden Quellen des Wissens sie rechtfertigen und ihre Autoritativität begründen. Dieses Prinzip gilt auch für Ibn Taymiyyas weiteren Begriff des ʿaql sarīh. […] Gesunde Vernunft und gültiges rationales Wissen werden durch die gleiche Unmittelbarkeit und Selbstauferlegung garantiert wie alle anderen Erkenntnisquellen […] Für Ibn Taymiyya ist es schlicht unvorstellbar, dass die Auffassungen, die von einer großen Zahl von gewöhnlichen Menschen auf eine natürliche und ungekünstelte Weise instinktiv für wahr gehalten werden, einer Falsifikation auf der Grundlage der abgründigen philosophischen Grübeleien der Wenigen unterworfen werden könnte, die sogar Mühe haben, untereinander Einigkeit über die diversen Schlussfolgerungen ihrer spekulativen Unterfangen zu erzielen. Die Intuitionen der Vielen zugunsten der Spekulationen der Wenigen aufzuheben, so argumentiert er, würde die Möglichkeit jeglichen objektiven, öffentlich geteilten rationalen Wissens jeder Art wirkungsvoll zerstören.

Die vorstehenden Überlegungen heben Ibn Taymiyyas scharfes Verständnis des »epistemologischen Egalitarismus« hervor, zumindest hinsichtlich der allgemeinen Prinzipien und grundlegenden Folgerungen. In Ibn Taymiyyas auf gleichberechtigtem Zugang basierender Epistemologie ist authentisches Wissen jedem zugänglich, dessen grundlegendes rationales Vermögen und fitra intakt sind, nicht bloß einem elitären Zirkel von Philosophen, die eine völlig andere Auffassung der Wirklichkeit pflegen als der gewöhnliche Mensch. Er gesteht freilich zu, dass bestimmte Wissenschaften, seien sie religiös oder weltlich, notwendigerweise von Spezialisten betrieben werden, die über das betreffende Thema naturgemäß besser und mehr wissen als der Nicht-Spezialist. Dies gilt für solche Gebiete wie Recht, Hadith, tafsīr und Grammatik, aber auch in nicht-religiösen Wissenschaften wie Physik, Astronomie und Medizin. Doch diese einzelnen Wissenschaften berühren nicht – oder beanspruchen nicht, Vorgaben zu machen für – ein umfassenderes epistemologisches Projekt, das auf die Bestimmung dessen abzielt, was die letzte Wahrheit und Wirklichkeit bildet, wie es die philosophischen Kerndisziplinen der Metaphysik, Ontologie und Epistemologie tun. Es ist für Ibn Taymiyya unvorstellbar, dass fundamentale Belange von so umfassender Tragweite, die zu einem erheblichen Maße für die grundsätzliche existentielle Orientierung einer Person bestimmend sind, den Grübeleien einer kleinen Gruppe von widerstreitenden Spezialisten verpflichtet sein sollten. Die grundlegenden Tatsachen über die Wirklichkeit, das Universum, Gott und Mensch sind für alle gleichermaßen zugängliche Wahrheiten, die für jeden erfassbar sind, dessen fitra und Denkfähigkeit nicht der Verderbnis zum Opfer gefallen sind. Ibn Taymiyya vertritt diese Position mit Bezug auf sowohl rationale Wahrheiten als auch theologische Wahrheiten, denn der Koran ist an die gewöhnlichen Menschen genauso wie an die Elite gerichtet und, so betont er, überbringt eine einheitliche und konsistente Lehre, die von allen und im wesentlichen in den gleichen Begriffen verstanden werden kann. Wie auf anderen Wissensgebieten mögen manche über mehr Wissen über die Details der spezialisierten religiösen Wissenschaften als andere verfügen, aber es kann keine grundsätzlich verschiedene Weise des Lesens der Texte, die für die Elite reserviert ist, geben (wie es zum Beispiel bei Ibn Ruschd der Fall ist). Wir können hier wieder eine Parallele in der Weise feststellen, in der Ibn Taymiyya rationales Wissen und offenbartes Wissen behandelt, da beide in eine organische Epistemologie integriert sind, die von einem hohen Maß an Konsistenz und Entsprechung unter ihren verschiedenen Komponenten durchdrungen ist. Im Falle des religiösen wie auch des nicht-religiösen Wissens sind die Grundprinzipien selbstevident und allen bekannt, wobei die Einzelheiten durch gelehrte Spezialisten eingebracht werden. (S. 307-309)

El-Tobgui schließt mit einigen Überlegungen zum Begriff der fitra (ursprüngliche normative Veranlagung), die aufgrund des zentralen Stellenwertes dieses Begriffs für Ibn Taymiyyas Denken ausführlich wiedergegeben seien:

Von all den verschiedenen Elementen von Ibn Taymiyyas rekonstituierter Rationalität ist das vielleicht faszinierendste, originellste und auch subtilste seine Konzeption der Natur und Funktion der fitra. Es ist zwar unmöglich, dem Verständnis der fitra unseres Autors in wenigen kurzen Absätzen gerecht zu werden, aber unsere Behandlung von Vernunft und Rationalität bei Ibn Taymiyya wäre unvollständig, würden wir nicht abschließend einige knappe Überlegungen über diesen zentralen Begriff anstellen. Wir begegneten der fitra in Kapitel 5 primär als kognitives Vermögen, das sich zu einem beträchtlichen Maß mit dem intuitiven oder apriorischen Wissen, das im Denken ab initio angesiedelt ist, überschneidet. Darüber hinaus äußert Ibn Taymiyya aber auch die Ansicht, dass die fitra das Vermögen ist, durch das wir sowohl die Richtigkeit der in einem Beweis verwendeten Prämissen als auch die Richtigkeit der auf diese Prämissen gegründeten deduktiven Argumente beurteilen. Doch die fitra ist mehr als das. Wir haben vorgeschlagen, dass eine treffende Übersetzung des Ausdrucks fitra »ursprüngliche normative Veranlagung« sein könnte, und in der Tat nötigen Ibn Taymiyyas mannigfaltigen Berufungen auf die fitra in unterschiedlichen Kontexten dazu, dass wir die fitra als ein mehr allgemeines, zugrunde liegendes Prinzip betrachten, das bedeutungsvoll und prägend ist für die verschiedenen anderen Vermögen, die wir besitzen – nicht nur kognitive, sondern auch moralisch-ethische und spirituelle. Es wäre in der Tat aus Ibn Taymiyyas Perspektive zutreffender zu sagen, dass die fitra nicht ein moralisches und kognitives Vermögen ist, sondern vielmehr ein moralisches cum kognitives Vermögen, denn die beiden können nicht definitiv getrennt werden. Vielleicht können wir uns hier Ibn Taymiyyas Gedanken am besten nähern, indem wir die folgende Anekdote betrachten.

Ibn Taymiyya erzählt. dass Fakhr ad-Dīn ar-Rāzī und ein gewisser muʿtazilitischer Theologe, mit dem er debattiert hatte, eines Tages einen Sufi-Schaykh in Transoxanien aufsuchten, der behauptete, Gewissheit im Wissen (ʿilm al-yaqīn) erlangt zu haben. Ar-Rāzī und sein Gefährte waren von der Behauptung des Sufi-Schaykhs überrascht, da sie beide seit Jahren über Theologie debattiert hatten, indem sie stets ihre jeweiligen Argumente gegenseitig widerlegten, aber nie dazu in der Lage waren, einen Durchbruch zu irgendwelchen unbestreitbar gewissen Schlussfolgerungen zu den Streitpunkten zwischen ihnen zu erzielen. Auf die Frage, wie er diese Gewissheit im Wissen erlangt habe, antwortet der Schaykh: »Göttliche Enthüllungen (oder Geschenke in der Form von Einsichten) (wāridāt), die über die Seele kommen und welche die Seele nicht zu bestreiten vermag.« Ibn Taymiyya berichtet, dass der muʿtazilitische Theologe, der geklagt hatte, dass Zweifel (schubuhāt) sein Herz verbrennen, den Weg des Schaykhs einschlug und schließlich die Stufe erreichte, wo Gott auch ihn mit ähnlichen Geschenken göttlicher Einsicht (wāridāt) segnete, woraufhin er erklärte, dass er, wenn das Aufrechterhalten des äußeren (dhāhir) Sinnes von »der Erbarmer hat sich auf dem Thron niedergelassen« (Koran 20:5) Korporealismus (tadschsīm) darstellt, dann, bei Gott, ein Korporealist sei. Ibn Taymiyya schildert, dass dieser (ehemalige) Muʿtazilit, nachdem er durch die spirituellen Einsichten (wāridāt), die direkt auf sein Herz eingegeben wurden, auf den Weg des Affirmationismus zurückgekehrt war, in der Folge zu einem der berühmtesten (Sufi-) Schaykhs seiner Zeit in den Ländern von Dschurdschān und Khwārizm wurde. Der springende Punkt dieser Geschichte und ihrer beifälligen Anführung durch Ibn Taymiyya scheint zu sein, dass gewisses Wissen (ʿilm al-yaqīn) erlangt wird, wenn das Denken/Herz (qalb) dazu gelangt ist, welches Wissen auch immer, das es besitzt, als absolut gewiss und gegenüber Zweifel oder Zurückweisung völlig immun zu erfahren. Wie bereits mit Bezug auf Wissen im allgemeineren Sinn festgestellt, muss die Erlangung dieser Gewissheit nicht notwendigerweise einem bestimmten Pfad folgen oder durch bestimmte Ausdrücke oder Arten der rationalen Folgerung oder Analyse artikulierbar sein. In diesem Fall scheint das von unserem Theologen und seinem Schaykh erlangte und erfahrene gewisse Wissen (yaqīn) direkt von der fitra zu stammen. Wenn die fitra beschädigt worden ist – z.B. durch die Einschärfung von irrigen Lehren, die notwendigem und intuitivem Wissen zuwiderlaufen, wie im Falle des »Negationismus« von ar-Rāzīs Gefährten -, dann gibt es verschiedene Wege, auf denen diese fitra wiederbelebt und in ihren ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden kann. Dieser Prozess kann erfolgen durch triftige rationale Argumentation (z. B. husn an-nadhar und nicht die rein spekulative Argumentation der Philosophen und mutakallimūn) oder durch spirituelle Läuterung (wie im Falle unseres Theologen mit dem brennenden Herzen) oder durch andere Mittel. Der entscheidende Punkt ist, dass die fitra, wenn sie ungeachtet der gewählten Mittel einmal in ihren natürlichen, gesunden Zustand zurückversetzt worden ist, oftmals einfach dazu fähig ist, die Wahrheit als solche zu erkennen, ziemlich auf die gleiche Weise, in der der Körper eine Fähigkeit (quwwa) besitzt, durch die er instinktiv bekömmliche Nahrung von schädlicher unterscheidet.

Die Tatsache, dass die fitra zugleich ein kognitives und ein moralisches Vermögen ist, führt eine bedeutende ethische und existentielle Dimension in den Prozess der Erkenntnis ein – eine Dimension, die Ibn Taymiyya zufolge immer implizit präsent ist, obgleich für gewöhnlich nicht anerkannt. Diese Konzeption der fitra führt zu einem reicheren und mehr nuancierten Verständnis des Wissens und des Erkenntnisprozesses. Aber macht diese Einführung eines ethischen und moralischen Aspektes in die kognitiven Funktionen der fitra – und des Intellekts im allgemeineren Sinne – Wissen im Grunde nicht hoffnungslos subjektiv? Die ursprüngliche fitra, mit der jedes Kind geboren wird, kann schließlich meistens nicht in ihrem ursprünglichen normativen Zustand aufrechterhalten werden. In der Praxis wird die ursprüngliche normative fitra regelmäßig durch die umgebenden Überzeugungen und Praktiken der jeweiligen Gesellschaft umgeformt – ja verdorben. In dieser Frage macht Ibn Taymiyya meines Erachtens eine für seine Zeit bemerkenswerte Beobachtung hinsichtlich der Relativität dessen, was innerhalb einer gegebenen Kultur als »Vernunft« erachtet wird. Er bemerkt, geradezu beiläufig, dass »jede Nation oder Gesellschaft (umma) hat, was sie als »rationales Wissen« (maʿqūlāt) bezeichnet« [Darʾ, V, 243]. Er sagt uns mit anderen Worten also, dass das, was zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt oder Ort als »Rationalität« erachtet wird, letztlich von den gegenwärtig vorherrschenden Präsuppositionen und mentalen Gewohnheiten einer Gemeinschaft bestimmt wird, die aufgrund ihrer annähernden Allgegenwart schließlich den Anschein und die Kraft von notwendigen Wahrheiten annehmen, die einfach gegeben sind und als völlig selbstverständlich hingenommen werden. Ibn Taymiyya erachtet zweifellos die falāsifa als (unwillkürlich) voreingenommen in einem intellektuellen System befangen, das durch eine sehr besondere – um nicht zu sagen eigentümliche – Auffassung von Vernunft und Wirklichkeit gekennzeichnet ist, einem System, das sie im wesentlichen nicht als eine Sache der reinen Rationalität und der unvoreingenommenen Überlegungen der objektiven Vernunft angenommen haben, sondern vielmehr als eine Sache der Gewöhnung an eine überlieferte Lehre, die letztlich auf dem Nachfolgen (er sagt abschätziger »der Nachahmung«, taqlīd) ihrer eigenen früheren Autoritäten basiert – ihrer eigenen »Salaf«, wie man sagen könnte. Für Ibn Taymiyya stammen die idiosynkratischen Ansichten der Philosophen hinsichtlich der intelligiblen Welt, der verschiedenen Intelligenzen usw. so klar aus den beschränkten maʿqūlāt einer einzigen besonderen umma, denen es an jeglicher Art von objektivem Beweis oder jedweder Verifizierbarkeit durch entweder hiss oder khabar ermangelt, die aber unzulässigerweise universalisiert und mit der Vernunft an sich gleichgesetzt werden. Lang anhaltende Gewöhnung an im wesentlichen unbegründete, durch reine Spekulation abgeleitete Überzeugungen über die Welt können jedoch schließlich dazu führen, die kognitive Dimension der fitra zu verderben. Nimmt man die moralische Verderblichkeit hinzu, für die alle mehr oder weniger empfänglich sind, so scheint die ursprüngliche fitra hoffnungslos und unwiederbringlich verloren zu sein. Zwischen den kulturell abgewandelten Rationalitätsbegriffen und der Launenhaftigkeit unseres eigenen Selbst scheinen wir in einem ausweglosen Sumpf aus Beschränktheit und Subjektivität versunken zu sein. Doch Ibn Taymiyya ist kein Postmodernist. Objektive Wahrheit, so insistiert er, existiert nicht nur, sondern ist feststellbar. Wir haben im letzten Kapitel ausführlich die verschiedenen uns zur Verfügung stehenden Mittel zur Gewinnung von Erkenntnis über die Welt, sowohl schāhid als auch ghāʾib, untersucht: Wahrnehmung, Bericht (insbesondere Offenbarung), richtige Schlussfolgerung usw. Wir haben auch beschrieben, wie die fitra für Ibn Taymiyya diesen anderen Quellen zugrunde liegt und dadurch deren Funktionieren formt und beeinflusst. Fitra ist für die moralisch-kognitive Dimension des Menschen, was Gesundheit für den Körper ist. Gute Gesundheit bedeutet auch das richtige Funktionieren aller unserer verschiedenen Sinnesorgane, Gliedmaßen usw. Schlechte Gesundheit beeinträchtigt sie alle gleichermaßen. Ibn Taymiyya definiert in der Tat wahres rationales Wissen (ʿaqliyyāt) als das, was intelligibel (maʿqūl) und als solches erkennbar für die gesunde fitra ist. Daher schlägt er vor, dass eine Art der Auflösung hartnäckiger Dispute über Wissen und Wahrheit (wie solche zwischen ar-Rāzī und seinem muʿtazilitischen Freund) darin besteht, Zuflucht bei denjenigen mit einer gesunden fitra (wie dem Sufi-Schaykh aus Transoxanien) zu suchen. Doch wenn die Gesamtheit unserer kognitiven und moralischen Vermögen von der Gesundheit der fitra abhängig ist und wenn die fitra selbst nicht gegen Verderben gefeit ist, worin liegt dann die letzte Grundlage und Garantie unserer Vermögen?

Die endgültige Antwort auf diese Frage bringt uns zum Ausgangspunkt zurück. Ibn Taymiyya, so haben wir bemerkt, betrachtet Vernunft und Offenbarung als letztlich ko-implikativ, sich gegenseitig einschließend (mutalāzimān). Der Vernunft zu folgen, so insistiert er, führt letztlich zu einer Untersuchung und Affirmation der Wahrheit der Offenbarung. Mit der Offenbarung zu beginnen, schärft die Vernunft, indem es uns zum Nachdenken veranlasst und den optimalen Gebrauch von Vernunft und rationalen Beweisen exemplifiziert. Doch diese Konkomitanz zwischen Vernunft und Offenbarung geht in eine viel engere Symbiose auf einer tieferen Ebene über. Offenbarung ist an eine Intelligenz gerichtet und kann in der Abwesenheit von reiner Vernunft (ʿaql sarīh) und triftiger Schlussfolgerung (nadhar hasan) nicht richtig verstanden werden, wie wir im Verlauf des vorliegenden Werkes erkundet haben. Doch noch bedeutender ist, dass die Vernunft selbst, insbesondere durch ihr Gegründetsein im moralisch-kognitiven Vermögen der fitra, nicht hoffen kann, auch nur richtig zu funktionieren und von ihrem eigenen natürlichen Potential rechten Gebrauch zu machen, ohne das leitende Licht der Offenbarung und die ethische Praxis der Religion, zu der letztere aufruft.

Hier am Ende unseres Weges rufen wir die erste Seite des Darʾ in Erinnerung, wo Ibn Taymiyya die universelle Regel und ihre Behauptung anführt, dass, sollten Vernunft und Offenbarung je in Konflikt geraten, die Offenbarung sich der Vernunft fügen muss, da letztere unsere rationale Zustimmung zur Authentizität der ersteren begründet. Für Ibn Taymiyya bleibt zwar wahr, dass unser Wissen von der Authentizität der Offenbarung in Vernunft gegründet ist (oder zumindest das Potential dazu hat), aber er besteht darauf, dass reine Vernunft (ʿaql sarīh) und authentische Offenbarung (naql sahīh) nie in Konflikt geraten können, wie wir in dieser Studie im Hinblick auf Ibn Taymiyyas Hauptanliegen im Darʾ, der Frage der göttlichen Attribute, zu zeigen versucht haben. Wenn es jedoch jenseits dieser gegenseitigen Implikation und harmonischen Konkordanz wahr ist, dass die Vernunft, in einem gewissen Maße und aus einem besonderen Gesichtswinkel, (unser Wissen von der) Offenbarung »gründet«, so ist es gleichwohl die Offenbarung, die in einer tieferen und mehr all-umfassenden Weise – eben durch die Bewahrung der moralischen und kognitiven Lebensfähigkeit der fitra – letztlich die rechten Dienste der Vernunft gründet, schützt und befördert. (S. 310-315)