6.7 Kritiken und Einsichten im Rückblick

6.7 Kritiken und Einsichten im Rückblick Yusuf Kuhn

In der zweiten Auflage von After Virtue, die 1984, also drei Jahre nach der ersten Auflage, erschienen ist, hat MacIntyre ein Postskript angefügt. Darin geht er auf verschiedene Kritiken ein, die in den zahlreichen Rezensionen und Artikeln, die zwischenzeitlich erschienen waren, vorgebracht worden sind. Manche Kritiken erfordern »eine Reihe langfristiger Projekte« (351), die MacIntyre in späteren Werken in Angriff nehmen sollte.

Im Postskript wählt er eine kleine Zahl von Kritiken, für die er »eine adäquatere Neuformulierung von Positionen« (352) als dringlich und hilfreich erachtet, zur Behandlung aus und unterteilt sie in drei Kategorien: 1. Die Beziehung der Philosophie zur Geschichte; 2. Die Tugenden und die Frage des Relativismus; 3. Die Beziehung der Moralphilosophie zur Theologie. Der erste und der dritte Punkt sind für den Schwerpunkt unseres Interesses, nämlich die negative Seite von MacIntyres Kritik an der Moralphilosophie von großer Bedeutung. Der zweite Punkt hingegen betrifft vor allem seine Darstellung der Tugenden, die wir hintangestellt haben, und kann daher relativ knapp gehalten werden.

6.7.1 Philosophie und Geschichte

6.7.1 Philosophie und Geschichte Yusuf Kuhn

Zum ersten Punkt, nämlich Die Beziehung der Philosophie zur Geschichte, wird der Einwand des analytischen Philosophen William K. Frankena angeführt, dass MacIntyre nicht zwischen Geschichte und Philosophie unterscheidet und eine philosophische Behauptung mit einer historischen Untersuchung begründen zu können vermeint.Siehe William K. Frankena, MacIntyre and Modern Morality, in: Ethics 93, April 1983, S. 579-587, hier S. 580.

MacIntyre stellt in seiner Erwiderung eben den Sinn dieser Unterscheidung in Frage. Philosophisches Denken vollzieht sich in der Geschichte, in der Zeit und ließe sich nur dann von der geschichtlichen Zeit trennen, wenn es zeitlose Wahrheiten zu entdecken gäbe. Während Frankena Philosophie eben als Suche nach solchen Wahrheiten begreift, sieht MacIntyre Philosophie als historische Tradition, die ins gesellschaftliche Leben eingebettet ist und nach der besten, aber stets fehlbaren Annäherung an die Wahrheit sucht. Für Frankena können daher philosophische Behauptungen nur durch Argumente der analytischen Philosophie und nicht durch eine Art von Geschichtsschreibung begründet werden.

MacIntyre hält dem entgegen:

Gegen diese Ansicht muß ich anführen, daß Argumente der Art, wie sie von der analytischen Philosophie bevorzugt werden, zwar eine unentbehrliche Kraft besitzen, daß aber solche Argumente nur im Kontext einer bestimmten Form von historischer Untersuchung den Typ von Behauptung über Wahrheit und Rationalität stützen können, den zu rechtfertigen Philosophen bezeichnenderweise anstreben. (353)

Dies gilt allemal für die Gegenstände der Moralphilosophie, die nur »in ihrer Verkörperung im historischen Leben bestimmter sozialer Gruppen« und im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis »in ihrer Verkörperung im historischen Leben bestimmter sozialer Gruppen« (353) zu finden sind. Eine von jeglichem gesellschaftlichen Kontext isolierte Moral an sich findet sich hingegen nirgendwo.

Kant meinte freilich, mittels seiner Transzendentalphilosophie eine solche Moral an sich in der Natur der Vernunft entdeckt zu haben, die daher nicht nur für menschliche, sondern für alle vernünftigen Wesen gültig ist. Doch Kants vermeintliche universelle Prinzipien der Vernunft und Moral erwiesen sich – wie bei allen anderen Versuchen dieser Art bis hin zur analytischen Moralphilosophie – als lediglich spezifische Prinzipien einer besonderen historischen Konfiguration menschlichen Handelns.

MacIntyre zieht hier eine Parallele zwischen Kants Moralphilosophie in der Kritik der praktischen Vernunft und seiner Naturphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft, die auf die Grundlegung der newtonschen Physik ausgerichtet war, die jedoch durch den Siegeszug der Relativitätstheorie vom Thron der Universalität gestoßen und auf einen marginalen Platz verwiesen wurde.

Dazu stellt MacIntyre fest:

Ebenso erwies sich das, was Kant für die Prinzipien und Voraussetzungen von Naturwissenschaft an sich hielt, schließlich als Prinzipien und Voraussetzungen, die spezifisch für die Physik Newtons waren; und was Kant für die Prinzipien und Voraussetzungen der Moral an sich hielt, erwies sich als Prinzipien und Voraussetzungen einer ganz speziellen Moral, einer verweltlichten Version des Protestantismus, die dem modernen liberalen Individualismus zu einem seiner Grundgesetze verhalf. Damit stürzte der Anspruch auf Allgemeingültigkeit in sich zusammen. (354)

Darüber hinaus hat gerade die Entwicklung der analytischen Philosophie dem transzendentalen Projekt und allen damit verwandten Gestalten wie dem logischen Empirismus den Boden entzogen, indem so zentrale Begriffe wie etwa der Begriff der Notwendigkeit und des Apriori einer vernichtenden Kritik unterzogen wurden. Der Fortschritt der analytischen Philosophie selbst führte zur Erkenntnis, dass es außerhalb rein formaler Untersuchungen »keine Gründe für den Glauben an allgemeingültige, notwendige Prinzipien gibt« (354; Hervorhebung im Original). Die analytische Philosophie kann daher bestenfalls den Status einer Disziplin beanspruchen, »deren Zuständigkeit auf die Untersuchung von Schlußfolgerungen begrenzt worden ist.« (354) Da sie lediglich formale Eigenschaften von Theorien zu beurteilen, aber keinen inhaltlichen Standpunkt zu begründen vermag, verkommt eine so verstandene Philosophie zu einer Sache der bloßen Meinung. Die formale Beurteilung kann durch den Ausschluss besonders inkohärenter und inkonsistenter Positionen nur negative Ergebnisse bringen.

MacIntyre führt aus:

Aber sie kann niemals die rationale Annehmbarkeit einer bestimmten Position in Fällen begründen, in denen jede der alternativen, rivalisierenden Positionen, die verfügbar sind, über ausreichende Reichweite und ausreichenden Geltungsbereich verfügt, und die Anhänger jeder einzelnen bereit sind, den Preis zu zahlen, der zur Absicherung von Kohärenz und Konsistenz nötig ist. (355)

Analytische Philosophen, die weiterhin Begriffe und Argumente in Isolation von den sozialen Kontexten der menschlichen Tätigkeit betrachten, laufen Gefahr, die Fehler und Irrtümer von ihren kantianischen Vorgängern zu übernehmen. Denn die Frage, ob eine Position gerechtfertigt ist, lässt sich nur mit Blick darauf beantworten, wie diese Position im Wettstreit mit rivalisierenden Positionen abgeschnitten hat. Die Geschichte der Naturwissenschaft liefert dafür hervorragendes Anschauungsmaterial.

MacIntyre illustriert dies folgendermaßen:

Die Newtonsche Physik war deshalb ihren galileischen und aristotelischen Vorgängern und ihren kartesianischen Konkurrenten rational überlegen, weil sie deren Grenzen überschreiten konnte, indem sie Probleme in Bereichen löste, in denen diese Vorgänger und Konkurrenten aufgrund ihrer eigenen Maßstäbe für wissenschaftlichen Fortschritt keinen Fortschritt machen konnten. So können wir gar nicht beschreiben, worin die rationale Überlegenheit der Newtonschen Physik bestand, es sei denn historisch im Sinne ihrer Beziehung zu den Vorgängern und Konkurrenten, die sie herausforderte und ersetzte. (356)

Ohne die Bezugnahme auf den historischen Kontext kann die Frage der rationalen Überlegenheit einer Position über ihre Rivalen nicht entschieden werden. Dadurch erscheinen die Positionen vielmehr als inkommensurabel, was zu unlösbaren Problemen führt. Und wie die Philosophie der Naturwissenschaft von der Geschichte der Naturwissenschaft abhängt, so auch die Moralphilosophie von der Geschichte der Moral. Die Moralphilosophie selbst ist stets Ausdruck einer bestimmten sozialen und kulturellen Praxis. Und die Moral schließt immer, mehr oder weniger ausdrücklich und bewusst, eine philosophische Positionierung ein.

MacIntyre bemerkt daher:

Moralphilosophien sind vor allem anderen explizite Artikulationen der Ansprüche spezieller moralischer Ansichten auf rationale Treue. Und deshalb sind die Geschichte der Moral und die Geschichte der Moralphilosophie eine einzige Geschichte. (357)

Wie kann dann aber die rationale Überlegenheit einer Theorie gegenüber anderen begründet werden? Bedarf es dafür nicht neutraler Maßstäbe, die allen rivalisierenden Theorien extern sind? MacIntyre bezieht sich wieder auf das Beispiel der Geschichte der Naturwissenschaft. Wie in dieser gibt es auch in der Moralphilosophie keine allgemeinen zeitlosen Maßstäbe. Die rationale Überlegenheit einer Moral und einer Moralphilosophie als Ausdruck der Ansprüche einer bestimmten Moral erweist sich vielmehr daran, dass sie die Probleme und Beschränkungen eines Rivalen, die nach dessen eigenen Maßstäben als solche gelten, zu erkennen, zu erklären und zu überschreiten vermag.

Dagegen könnte der Einwand erhoben werden, dass die Maßstäbe zur Beurteilung der rationalen Überlegenheit einer Theorie gegenüber einer anderen selbst einer rationalen Rechtfertigung bedürfen, die von einer Geschichte nicht geliefert werden können, die allererst auf der Grundlage dieser Maßstäbe geschrieben werden kann. Dieser Vorstellung liegt jedoch die Idee einer perfekten Theorie zugrunde, der alle vernünftigen Wesen zustimmen müssten. Wie im Falle der wissenschaftlichen Theorie kann es auch in der Moralphilosophie, da die Überlegenheit immer im jeweiligen historischen Kontext ermittelt werden muss, nur um die Suche nach der besten Theorie, die es in der Geschichte bisher gegeben hat, gehen.

Das Schreiben dieser Art von philosophischer Geschichte kann daher nie zur Vollendung gebracht werden und ist allemal fehlbar, da stets eine neue Herausforderung für die bestehende Theorie aufkommen kann, die diese schließlich ablöst.

MacIntyre legt deshalb dar:

Diese Art des Historismus enthält also, anders als bei Hegel, eine Form von Fallibilismus; es ist eine Art des Historismus, die alle Ansprüche auf absolute Erkenntnis ausschließt. Wenn dennoch ein bestimmtes Moralsystem erfolgreich die Beschränkungen seiner Vorgänger überschritten und dabei die bis dahin besten Mittel geliefert hat, die es gibt, um diese Vorgänger zu verstehen, und dann mehreren Herausforderungen durch eine Reihe rivalisierender Standpunkte gegenübergestanden hat, in jedem Fall aber in der Lage war, sich auf die Art zu verändern, die nötig ist, um die Stärken jener Standpunkte aufzunehmen und gleichzeitig ihre Schwächen und Beschränkungen zu vermeiden, und die bis dahin beste Erklärung jener Schwächen und Beschränkungen geliefert hat, dann haben wir den bestmöglichen Grund, darauf zu vertrauen, daß auch zukünftigen Herausforderungen erfolgreich begegnet wird und daß die Prinzipien, die den Kern eines Moralsystems definieren, dauerhafte Prinzipien sind. Und genau das ist die Leistung, die ich dem fundamentalen Moralsystem von Aristoteles im vorliegenden Buch zuschreibe. (359; Hervorhebungen im Original)

Die konkrete Anwendung dieser Art von philosophischer Geschichtsschreibung auf die Darstellung der Geschichte der Moralphilosophie in After Virtue fasst MacIntyre im Rückblick nun folgendermaßen zusammen:

[…] ich habe nicht nur von dem von mir so genannten Projekt der Aufklärung behauptet, daß es an seinen eigenen Maßstäben gescheitert ist, weil es seinen Protagonisten nie gelungen war, eine einheitlich zu rechtfertigende Reihe von Moralprinzipien zu spezifizieren, denen zuzustimmen sich kein vollkommen rational Handelnder entziehen konnte, oder von Nietzsches Moralphilosophie, daß auch sie an ihren eigenen Maßstäben scheiterte; ich habe vielmehr auch behauptet, daß die Gründe zum Verständnis dieses Scheiterns nur aus den Quellen geliefert werden konnten, die eine aristotelische Darstellung der Tugenden bot, die sich auf genau die Art, die ich beschrieben habe, in ihren spezifischen historischen Gegenüberstellungen als die bisher beste Theorie herausstellt. Aber man beachte, daß ich in diesem Buch nicht erklärt habe, ich hätte diesen Anspruch bisher gerechtfertigt,Eigene Übersetzung; die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch hier wieder ungenau, denn sie lautet: »[…] ich hätte diesen Anspruch bis jetzt aufrechterhalten, [...]« (360) Im englischen Original heißt es hingegen: »But note that I did not assert in After Virtue that I had as yet sustained that claim, nor do I claim that now.« (After Virtue, S. 271) noch behaupte ich das jetzt. (360)

MacIntyre geht anschließend kurz auf den Einwand ein, er habe Hume und Kant nicht angemessen, sondern selektiv und verkürzt dargestellt. Er zeigt Verständnis für diese Kritik und erkennt die Aufgabe an, die Moralphilosophien Humes und Kants insbesondere in ihrem Verhältnis zur aristotelischen Tradition genauer darstellen zu müssen. Denn sonst »ist die zentrale Behauptung dieses Buches nicht in der Art und Weise begründet, wie es die historistische Erkenntnistheorie erfordert, die von der argumentativen Erzählung dieses Buches vorausgesetzt wird.« (360)

Abschließend entgegnet MacIntyre auf den Einwand, dass seine Art von Sozialgeschichte der Geschichte der Philosophie einen viel zu großen kausalen Einfluss einräume, dass »theoretische und philosophische Vorhaben, ihre Erfolge und Mißerfolge in der Geschichte weit einflußreicher [sind], als akademische Historiker im allgemeinen annahmen.« (361) Und er fügt hinzu, dass »die Erzählungen der akademischen Sozialgeschichte meistens in einer Weise geschrieben [sind], die gerade die Art logischer Unterscheidungen zwischen Fragen nach Tatsachen und Fragen nach Werten voraussetzt, die zu leugnen mich die Darstellung der Erzählung im vorliegenden Buch zwingt.« (361)

Direkt im Anschluss daran macht MacIntyre folgende aufschlussreiche Bemerkung:

Und die philosophische Geschichte, die die zentrale Erzählung dieses Buches selbst ausmacht, ist vom Standpunkt der Schlußfolgerung aus geschrieben, zu der sie selbst kommt und die sie aufrechterhält [besser: rechtfertigen, erweisen] oder vielmehr aufrechterhalten [besser: rechtfertigen, erweisen] würde, wenn ihre Erzählung so erweitert wäre, wie ich sie in der Fortsetzung dieses Buches zu erweitern hoffe. Damit ist die Erzählung dieses Buches nicht durch Zufall oder Nachlässigkeit eine parteiische Erzählung mit der ihr eigenen bewußten Einseitigkeit. (361)

6.7.2 Tugenden und Relativismus

6.7.2 Tugenden und Relativismus Yusuf Kuhn

Im zweiten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Tugenden und die Frage des Relativismus setzt MacIntyre sich mit dem Einwand auseinander, dass seine Konzeption der Tugenden einen Relativismus impliziert, wobei er zugesteht, dass seine Darstellung Anlass zu Missverständnissen geben konnte. Irrig wäre insbesondere die Annahme, dass es ausreicht, aus einer Praktik Tugenden abzuleiten, also nur das erste Stadium, statt aller drei Stadien, der Bestimmung von Tugenden zu durchlaufen, um zu einer angemessenen Vorstellung einer Tugend zu kommen. MacIntyre gibt zu, diesen Eindruck zwar befördert, in Wirklichkeit aber immer die Auffassung vertreten zu haben, »daß keine menschliche Eigenschaft als Tugend bezeichnet werden sollte, bevor sie nicht die in jedem der drei Stadien spezifizierten Bedingungen erfüllt.« (365)

Zur Erinnerung sei kurz erwähnt: Die erste Stufe der Bestimmung von Tugenden bezieht sich auf eine Praktik, die zweite auf die narrative Einheit des Lebens und die dritte auf die Integration in eine soziale Tradition. Damit eine menschliche Eigenschaft in den Rang einer Tugend erhoben werden kann, muss sie auf allen drei Stufen die Bedingung erfüllen, zur jeweiligen Art von Gütern beizutragen. Die dritte Stufe ist dadurch ausgezeichnet, dass sie die Suche nach dem Guten und dem Besten betrifft.

MacIntyre räumt überdies ein, dass er mit seiner Beschreibung der dritten Stufe Gründe für den Vorwurf des Relativismus liefert, nämlich für die Annahme, dass seine »Darstellung kompatibel mit der Anerkennung der Existenz gesonderter, unvereinbarer und rivalisierender Traditionen der Tugenden sei.« (366) MacIntyre widerspricht dem allerdings nicht. Denn zwei moralische Traditionen, die rivalisierende Behauptungen über wichtige Fragen aufstellen, müssen eben daher einiges gemeinsam haben, und ihren Anhängern wird es mithin zumindest manchmal möglich sein, mit ihren jeweiligen Maßstäben sich gegenseitig zu verstehen und zu beurteilen. Aus solchen Begegnungen können sich Berichtigungen, Lernprozesse und Einsichten in die Vorzüge und Mängel der vertretenen Traditionen ergeben, wobei die Maßstäbe selbst Veränderungen erfahren können. Gelingt es einer Tradition solche Herausforderungen zu bestehen, »dann werden die Anhänger dieser Tradition rational Anspruch auf ein großes Maß an Vertrauen darauf haben, daß die Tradition, in der sie leben und der sie das Wesen ihres moralischen Lebens verdanken, die Mittel finden wird, zukünftigen Herausforderungen mit Erfolg zu begegnen.« (367) Diese Tradition beziehungsweise die in sie eingebettete Theorie der Moral hat sich somit als »die bisher beste Theorie erwiesen« (368; Hervorhebung im Original) und bewährt.

Dies heißt freilich nicht, dass es nicht eine Situation geben kann, in der es keine rationale Auflösung der Konflikte zwischen rivalisierenden Traditionen gibt. Einem daraus möglicherweise abgeleiteten Relativismus zu widersprechen, macht für MacIntyre keinen Sinn. Diese Auffassung begründet er folgendermaßen:

Denn meine Position bringt mit sich, daß es keine erfolgreichen Argumente a priori gibt, die im voraus garantieren, daß eine solche Situation nicht doch eintreten könnte. In der Tat könnte uns nichts eine solche Garantie geben, was nicht die erfolgreiche Wiederbelebung des transzendentalen Projekts von Kant enthielte.

Es muß eigentlich kaum wiederholt werden, daß es die zentrale These meines Buches ist, daß die aristotelische moralische Tradition das beste Beispiel für eine Tradition ist, deren Anhänger rational Anspruch auf ein hohes Maß an Vertrauen in ihre epistemologischen und moralischen Mittel haben. (368)

Den Nachweis, dass das Unterfangen einer historistischen Verteidigung der aristotelischen Tradition kein Paradoxon darstellte, betrachtet MacIntyre als eine weitere notwendige Aufgabe, die er im nächsten Buch in Angriff zu nehmen gedenkt; gemeint ist wohl wieder: Whose Justice? Which Rationality?.

6.7.3 Moralphilosophie und Theologie

6.7.3 Moralphilosophie und Theologie Yusuf Kuhn

Im dritten und letzten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Beziehung der Moralphilosophie zur Theologie geht es um die Kritik, dass MacIntyres Erzählung einer angemessenen Behandlung des Verhältnisses zwischen der aristotelischen Tradition der Tugenden und der christlichen Tradition ermangelt. MacIntyre gesteht diesen Mangel ein, der freilich von großer Tragweite ist.

Die Einsicht in die Bedeutung und die Folgen dieses Mangels dürften maßgeblich mit dazu beigetragen haben, dass MacIntyre in der Folgezeit im Geiste der Versöhnung von Aristotelismus und Christentum seine Position in Richtung eines thomistischen Aristotelismus weiterentwickelt hat. Den Kern der problematischen Beziehung zwischen aristotelischer Tugendethik und christlicher Gebotsethik beschreibt MacIntyre folgendermaßen:

Von dem Augenblick an, als die biblische Religion und der Aristotelismus einander gegenübergestellt wurden, verlangte die Frage der Beziehung von Behauptungen über die menschlichen Tugenden zu Behauptungen über das göttliche Gesetz und die göttlichen Gebote eine Antwort. Jede Versöhnung von biblischer Theologie und Aristotelismus müßte die These verteidigen, daß nur ein Leben, das im wesentlichen durch Gehorsam gegenüber dem Gesetz konstituiert wird, so sein könnte, daß es vollständig jene Tugenden zeigt, ohne die menschliche Wesen ihr Telos nicht erreichen können. Jede gerechtfertigte Zurückweisung einer solchen Versöhnung müßte Gründe für die Ablehnung dieser These anführen. Die klassische Darlegung und Verteidigung dieser These stammt selbstverständlich von Thomas von Aquin […]. (369)

Im Lichte der thomistischen Versöhnung von christlicher Theologie und aristotelischer Philosophie erkennt MacIntyre manche Teile seiner philosophischen Geschichte als unzulänglich oder gar fehlerhaft. Er nennt insbesondere das komplexe und wechselhafte Wesen der protestantischen und jansenistischen Reaktion auf die aristotelische Tradition sowie Kants Versuch einer Gründung der Moral auf Vernunft, die impliziert, dass der Aristotelismus nicht nur verworfen wird, sondern auch als eine Hauptquelle moralischen Irrtums identifiziert wird. Daraus ergibt sich das Erfordernis weiterer Zusätze und Berichtigungen zu seiner philosophischen Erzählung, wenn die daraus abgeleiteten Thesen ihren Anspruch auf rationale Rechtfertigung wahren sollen.

MacIntyre beschließt das Postskript mit dem trefflichen Hinweis darauf, dass After Virtue in dieser und mancher anderer Hinsicht als ein Werk, das noch in der Entwicklung ist, (a work still in progress) gelesen werden sollte.