6 Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition
6 Moral nach der Tugend: Vernunft und Tradition Yusuf Kuhn
Kaum ein anderer hat die Krise der modernen Moral so gründlich ausgelotet wie Alasdair MacIntyre. In seinem 1981 erschienen Buch After Virtue: A Study in Moral Theory
Ein zentraler Teil meiner These war, daß die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und daß die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist. Falls der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts ist, das der Metaphysik der Moderne ziemlich fremd ist, und falls ihr teleologischer Charakter in ähnlicher Weise der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen ist, die in der modernen Welt ebensowenig zu Hause ist, sollten wir damit rechnen, daß die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig faßbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzugänglicher werden.
Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 151.
Mit dieser Diagnose geht einher die Einsicht in die Notwendigkeit der Entwicklung eines Standpunktes, von dem aus diese Analyse überhaupt vollzogen werden kann und der wiederum eng verknüpft ist mit dem Versuch, auf die Frage nach einem Ausweg aus der Misere eine Antwort zu finden. MacIntyre schreibt:
Meine eigene Schlußfolgerung ist absolut klar. Auf der einen Seite fehlt uns trotz der Bemühungen von drei Jahrhunderten Moralphilosophie und einem Jahrhundert Soziologie noch immer jede einheitliche, rational vertretbare Darlegung eines liberalen, individualistischen Standpunktes; und andererseits kann die aristotelische Tradition auf eine Weise neu formuliert werden, die die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Haltungen und Verpflichtungen wiederherstellt.
Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 345.
6.1 MacIntyre: Ein marxistisch-aristotelischer Thomist?
6.1 MacIntyre: Ein marxistisch-aristotelischer Thomist? Yusuf KuhnMacIntyre verortet seinen Standpunkt mithin in der Tradition der aristotelischen Ethik. Er entzieht sich allerdings einer einfachen Kategorisierung. Denn der Denkweg, der ihn zu Aristoteles führt, nimmt seinen Ausgang bei Marx und führt ihn in späteren Werken weiter zu Thomas von Aquin, ohne die verbindenden Brücken abzubrechen. Dabei treibt ihn die Suche nach Lösungen für die Probleme, die sich im Rahmen des jeweiligen Ansatzes nicht lösen lassen, über diesen hinaus, indem zugleich eine gewisse Kontinuität gewahrt wird.
Im Postskript zur zweiten Auflage beschreibt er After Virtue trefflich als »work still in progress«.
Ließe MacIntyre sich daher als marxistisch-aristotelischer Thomist beschreiben? Wohl kaum, denn auch dies wäre immer noch viel zu schematisch, um seinem lebendigen, kritischen und stets suchenden Denken gerecht zu werden. Christopher Stephen Lutz skizziert in der Einleitung zu seiner Untersuchung zum Begriff der Tradition in der Ethik von MacIntyre den Denkweg, der ihn zu After Virtue führt, und verweist sodann auf mancherlei vergebliche Versuche, ihn in Schablonen einzufangen, die gleichwohl vielsagend sind:
Alasdair MacIntyre brachte die ersten zwei Jahrzehnte seiner Laufbahn mit dem Versuch zu, auf diese Krise in der gegenwärtigen Moralphilosophie von innerhalb des Standpunktes der modernen und postmodernen Moralphilosophie eine Antwort zu finden. Seine Enttäuschung mit dieser Aufgabe führte ihn dazu, einen anderen Ansatz zu versuchen, aus dem die Diagnose des Problems hervorging, das dieses Buch erkundet. MacIntyres Darlegung der Rolle von Tradition in der Ethik zeugt von den Stärken und Unzulänglichkeiten der modernen, postmodernen und klassischen philosophischen Ansätze mit der Autorität von jemandem, der alle drei studiert und allen dreien anzuhängen versucht hat. MacIntyre ist vorgestellt worden als ein marxistischer und liberaler protestantischer Religionsphilosoph, als ein atheistischer Hume-Gelehrter und Ethikhistoriker, als ein unzufriedener Aristoteliker und als ein katholischer Thomist.
Christopher Stephen Lutz, Tradition in the Ethics of Alasdair Macintyre: Relativism, Thomism, and Philosophy, Oxford, 2004, S. 2.
MacIntyres Suche nach Lösungen für Probleme, die sich aus seiner Befassung mit der Krise der modernen Moralphilosophie und des Marxismus, dessen Verfall die Frage nach den Grundlagen für die moralische Ablehnung des Stalinismus aufwarf, ergibt, bringt ihn schließlich zu der Einsicht, dass ein äußerer Standpunkt erforderlich ist, um diese Krise verstehen und Abhilfe in den Blick nehmen zu können. So schreibt er im Prolog zur dritten Ausgabe von After Virtue mit dem Titel After Virtue after a Quarter of a Century (After Virtue nach einem Vierteljahrhundert) im Jahr 2007:
[…] es ist nur möglich, die dominante moralische Kultur der fortgeschrittenen Modernität von einem Standpunkt außerhalb dieser Kultur aus angemessen zu verstehen.
Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007, S. ix.
Hallaq greift die Grundgedanken und die Konzeption von MacIntyre auf, indem er sie in seinem Sinne weiterentwickelt und modifiziert. Kein anderer Denker dürfte in seiner Auseinandersetzung mit der modernen Moralphilosophie in Impossible State auch nur annähernd einen ähnlichen Stellenwert einnehmen. Daher rechtfertigt sich eine ausführliche und gründliche Befassung mit MacIntyres Denken. Sie ist für ein besseres Verständnis von Hallaqs Denken in Impossible State unerlässlich, da dessen Grundstruktur auf diese Weise in besonders deutlichen Konturen hervortritt. Als erste Annäherung ließe sich, freilich grob vereinfachend, sagen, dass Hallaq die Kritik der modernen Moralphilosophie samt der Einsicht in die Notwendigkeit eines äußeren Standpunktes von MacIntyre übernimmt, wobei dieser Standpunkt nicht in der aristotelisch-christlichen, sondern in der aristotelisch-islamischen Tradition verortet wird. An die Stelle von Thomas rückt al-Ghazālī mit seiner islamischen Tugendethik. Diese Charakterisierung ist zwar – es sei erneut betont – grob vereinfachend und in gewissem Maße verzerrend, aber vielleicht als erster Anhaltspunkt gleichwohl erhellend, obschon sich die Analogien auch anders darstellen ließen, wie sich alsbald zeigen wird. Die Übereinstimmungen und Parallelen gehen freilich noch weit darüber hinaus.
6.2 Moralische Ressourcen
6.2 Moralische Ressourcen Yusuf KuhnBevor wir sogleich näher auf MacIntyres Denken eingehen, mag es förderlich sein, in Erinnerung zu rufen, wie Hallaq an einigen Stellen ausdrücklich darauf Bezug nimmt. Dazu haben wir etwa im Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen bereits folgendes festgestellt:
Unter diesen Umständen gibt es gute Gründe, auf die Suche nach moralischen Ressourcen in anderen Traditionen zu gehen. Hallaq sucht hier Anschluss an westliche Denker wie Alasdair MacIntyre und Charles Taylor. Insbesondere MacIntyre hat sich ausgehend von der Diagnose, dass das moderne Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral gescheitert ist und die moralischen Ressourcen moderner Gesellschaften erschöpft sind, vormodernen Traditionen zugewandt. Diese Denker haben sich dabei auf die sogenannte »europäische« Tradition beschränkt, etwa auf Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin […] Hallaq hingegen richtet seine Untersuchung auf die moralischen Ressourcen der muslimischen Kultur aus. Denn Muslime verfügen über ihre eigene reiche Tradition, welche die kulturellen Leistungen vieler Jahrhunderte in sich birgt. Diese Tradition übt auch heute noch einen tiefen und bestimmenden Einfluss auf moderne Muslime aus. Aus der Sicht des Projekts der Aufklärung, das ausschließlich die autonome Vernunft als Grundlage der Moral anerkennt, erscheint jeder Versuch, eine alternative Weise des Verstehens, die sich zudem auf eine Tradition stützt, zu entwickeln, als irrational. MacIntyre versucht dagegen nicht nur aufzuzeigen, dass das Projekt der Aufklärung selbst gescheitert ist, sondern auch, dass Tradition und Vernunft sich keineswegs ausschließen müssen. Vielmehr können rationale Untersuchung und ethische Werte in einer Tradition eingebettet sein und über verschiedenen Traditionen hinweg wirksam werden.
Siehe den Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen, S. 51 f.
Und in einem weiteren Abschnitt verweist Hallaq nicht nur auf Übereinstimmungen, sondern auch auf einen wesentlichen Unterschied, was wir folgendermaßen erläutert haben:
Hallaq sieht große Ähnlichkeiten auf der theoretischen Ebene zwischen seinem Projekt und insbesondere dem von MacIntyre. Die moralischen Ressourcen der vormodernen islamischen Tradition, um die es ihm zu tun ist, spiegeln aber nicht nur eine geteilte theoretische und philosophische Untersuchung wider, sondern auch eine paradigmatische Lebensweise, was von noch größerer Bedeutung ist. Die westlichen Denker beziehen sich auf eine Tradition und Gemeinschaft, die es als gelebte Realität nie gegeben hat, sondern allenfalls als Ideal einer bloß intellektuellen Tradition. Die islamische Tradition, auf die sich das Projekt der Wiedergewinnung moralischer Ressourcen beziehen kann, verbindet hingegen theoretische und philosophische mit soziologischen, anthropologischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Phänomenen, die in der islamischen Geschichte als paradigmatische Überzeugungen und Praktiken entstanden sind.
Siehe den Abschnitt Projekt der Aufklärung und moralische Ressourcen, S. 53 f.
Im Abschnitt Paradigma und islamische Gouvernanz wird wiederum auf eine wichtige strukturelle Analogie hingewiesen:
Das Paradigma der islamischen Gouvernanz ist von der Scharia bestimmt. Die Scharia wird durch ein moralisches Recht repräsentiert und konstituiert. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung als moralische Ressource für das moderne Projekt, in Analogie zu Aristoteles und Thomas von Aquin im Entwurf von MacIntyre.
Siehe den Abschnitt Paradigma und islamische Gouvernanz, S. 57.
Schließlich sei noch eine letzte Stelle, diesmal in Hallaqs eigenen Worten, zur Erinnerung gebracht, die auf besonders eindringliche Weise nicht nur die enge Verwandtschaft der beiden Projekte aufzeigt, sondern darüber hinaus deutlich macht, dass sie aufeinander bezogen und angewiesen sind:
Mit anderen Worten, selbst während dieses anfänglichen Prozesses der Bildung von moralisch gegründeten Gemeinschaften gibt es vieles, was Muslime tun können,
Hallaq verweist an dieser Stelle in einer Fußnote als Beispiel auf das Werk von Taha Abdurrahman. um zur Reformierung moderner Moralitäten beizutragen. Ein solcher Vorschlag mag auf den ersten Blick kühn und weit hergeholt erscheinen, aber er ist es nicht, denn es gibt zumindest eine bedeutende moralische Strömung der westlichen Philosophie und des westlichen politischen Denkens, die eine weitgehende Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen islamischen Streben aufweist, da es geistige Energie zur postmodernen Kritik beisteuert, wie problematisch modern diese Kritik auch bleiben mag. Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt. Diese Ähnlichkeit, ja Gemeinsamkeit, ist weder eine bloße Koinzidenz noch zufällig, da alle diese Stimmen – muslimische und christliche, östliche und westliche – auf die gleiche moralische Lage antworten, wie sehr ihre jeweiligen Vokabularien und Sprechweisen sich auch voneinander unterscheiden mögen.
Die ausschlaggebenden Fragen bleiben daher: Können diese Kräfte auf allen Seiten ihren Ethnozentrismus überwinden und sich zusammenschließen bei der Infragestellung des modernen Projekts und seines Staates? Können die Taylors genug geistigen Mut aufbringen, MacIntyres zu werden? Können sie alle, Westler und Nicht-Westler, den gefährlichen und bösartigen Mythos des Zusammenstoßes der Zivilisationen demontieren? Können sie ihre moralische Kraft und Stärke so steigern, um einen Sieg herbeizuführen, der das Moralische zum Zentralgebiet der Weltkulturen erhebt, ungeachtet ihrer »zivilisatorischen« Varianten? Denn genauso wie es keine islamische Gouvernanz ohne einen solchen Sieg geben kann, wird es von vornherein keinen Sieg geben, ohne dass die Modernität ein moralisches Erwachen erfährt. Das muss erst noch geschehen.
Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 172 f.; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 169-170.
6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie
6.3 Kritik der modernen Moralphilosophie Yusuf KuhnEs handelt sich also um ein Projekt, das gar nicht anders als gemeinsam verwirklicht werden kann. Und MacIntyre kommt dabei gewiss eine gewichtige Rolle zu. Das ist der Grund, warum eine eingehende Auseinandersetzung mit seinem Denken geboten ist, zu der hier ein weiterer und vertiefender Schritt beigetragen werden soll. Unser Interesse richtet sich dabei zunächst vorwiegend auf die negative Seite von MacIntyres Kritik der modernen Moralphilosophie, also die Aufweisung ihrer Misere und Ausweglosigkeit, während ihre positive Seite, die Suche nach Ausweg und Alternative, erst in einem späteren Schritt die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfahren kann. Beide Seiten hängen ohnehin eng miteinander zusammen, wie wir ja bereits gesehen haben, da sich die Misere der modernen Moralphilosophie gar nicht verstehen lässt, ohne einen Standpunkt zu beziehen, der die Einsicht in diese Misere allererst ermöglicht und zugleich schon einen Bezug zur positiven Seite in sich birgt. Dies ist freilich vor allem eine Sache der Gewichtung. Und uns geht es zunächst darum, die Voraussetzungen für jede weitere Suche zu klären, die sich aus der Beantwortung folgender Frage ergeben: Ist die Krise der modernen Moral und Moralphilosophie in der Tat so tief, dass sich in deren Rahmen diese Krise weder angemessen verstehen noch irgendein gangbarer Ausweg aufweisen lässt? Denn genau die einer Bejahung dieser Frage entsprechenden Thesen vertritt MacIntyre in After Virtue und seinen späteren Werken.
Zu den wichtigsten Werken neben After Virtue, in denen MacIntyre diese Thesen entwickelt und weiter ausgeführt hat, gehören vor allem Whose Justice? Which Rationality?
Wir wollen uns zunächst ausführlich mit After Virtue befassen, um sodann auf die anderen Werke in einem Ausblick einzugehen, in denen das work in progress fortgeführt wird. Bei aller Kritik, sich daraus ergebenden Modifikationen und Weiterentwicklungen hat MacIntyre indes nie einen guten Grund erkennen können, seine Hauptthesen grundsätzlich in Frage zu stellen oder aufzugeben. So schreibt er zu Beginn des 2007 verfassten Prologs zur dritten Auflage von After Virtue:
Wenn es gute Gründe gibt, die zentralen Thesen von After Virtue zu verwerfen, so sollte ich mittlerweile sicherlich erfahren haben, welche es sind. Eine kritische und konstruktive Diskussion in vielerlei Sprachen – nicht nur Englisch, Dänisch, Polnisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Türkisch, sondern auch Chinesisch und Japanisch – und von vielerlei Standpunkten hat mich befähigt, die Untersuchungen, die ich in After Virtue (1981) begonnen und in Whose Justice? Which Rationality? (1988), Three Rival Versions of Moral Enquiry (1990) und Dependent Rational Animals (1999) fortgeführt habe, zu überdenken und zu erweitern, aber ich habe bis jetzt keinen Grund gefunden, die wesentlichen Argumente und Behauptungen von After Virtue aufzugeben - »Unbelehrbarer Starrsinn!«, werden manche sagen -, obgleich ich eine Menge gelernt und meine Thesen und Argumente entsprechend ergänzt und überarbeitet habe.
Alasdair MacIntyre, After Virtue: A Study in Moral Theory, University of Notre Dame Press, 3rd ed., Notre Dame, Indiana, 2007, S. ix.
Gedankengang und Thesen von After Virtue sind nicht immer leicht zu erfassen. Es handelt sich um ein voraussetzungsreiches und komplexes Werk, das sich der üblichen akademischen Eingrenzung auf ein Fachgebiet verwehrt und sich aus verschiedenen Gestalten des Wissens wie Philosophie, Geschichte, Wissenschaft, Literatur usw. speist. Dass es gleichwohl seit seinem Erscheinen eine so große Leserschaft gefunden hat, könnte freilich gerade daran liegen. Vielleicht teilen viele die Beschreibung, die Charles Taylor in seiner Rezension von After Virtue gegeben hat:
Dies ist ein äußerst seltenes Werk – ein Buch über Moralphilosophie, das tatsächlich aufregend zu lesen ist. Die These ist verblüffend und sehr anspruchsvoll.
Charles Taylor, Aristotle Or Nietzsche, in: Partisan Review 51, Nr. 2 (1984): 301-306, hier S. 301.
6.3.1 Hauptthesen von After Virtue
6.3.1 Hauptthesen von After Virtue Yusuf KuhnWorin bestehen die Hauptthesen von After Virtue? Einen ersten Überblick können wir uns dankenswerterweise durch einen kleinen Text von MacIntyre selbst verschaffen, der die Behauptungen diese Werks in sieben knappen Thesen zusammenfasst: The Claims of After Virtue (Die Behauptungen von After Virtue).
Einleitend stellt MacIntyre fest, dass After Virtue aus einem langwährenden Nachdenken über die Unzulänglichkeiten früherer Werke hervorgegangen ist, wobei ihn zwei Fragen besonders beschäftigt haben. Die eine betrifft die Weise, in der die Geschichte der philosophischen Ethik mit Blick auf ihren sozialen Kontext geschrieben werden sollte.
6.3.1.1 Sieben zentrale Thesen
In After Virtue werden sieben zentrale Thesen aufgestellt, die, um einen ersten Eindruck und Überblick zu ermöglichen, zunächst in sehr gedrängter Form in enger Anlehnung an The Claims of After Virtue vorgestellt werden sollen. Anschließend erfolgt eine, für ein rechtes Verständnis zweifellos unerlässliche, ausführlichere Darstellung und Erläuterung der Thesen und des Gedankengangs von After Virtue im umfassenden Kontext des Buches.
Also zunächst die sieben zentralen Thesen als Vorausblick in geraffter Form:
(1) Durch eine historische Entwicklung von katastrophalen Ausmaßen wird in der modernen Gesellschaft und Kultur die Moral ihrer rationalen Grundlagen beraubt, so dass es zu Meinungsverschiedenheiten über zentrale moralische Fragen kommt, die unlösbar sind, da die jeweiligen Antworten auf inkommensurablen Argumentationsweisen basieren. Moralische Urteile werden durch ihre Ablösung von den theoretischen und sozialen Kontexten, in denen sie ursprünglich entwickelt und rational gerechtfertigt wurden, zum bloßen Ausdruck von subjektiven Haltungen und Gefühlen. Von manchen Moralphilosophen wird dieser Gebrauch des moralischen Diskurses fälschlich zu einer Theorie der Moral verallgemeinert und als Emotivismus bezeichnet – ein Ausdruck, den MacIntyre seinerseits lediglich zur Beschreibung der spezifisch modernen moralischen Verfassung aufgreift.
(2) Eine wesentliche Ursache für die katastrophale Entwicklung ist das Scheitern des Projektes der Aufklärung, die vermeintlich diskreditierte traditionelle Moralität durch eine säkulare Moralität zu ersetzen, die von jeder vernünftigen Person anerkannt zu werden verdiente. Von den verschiedenen Versuchen einer solchen rationalen Begründung vor allem in kantianischer oder utilitaristischer Gestalt blieben, durch deren Misslingen bedingt, sich gegenseitig widersprechende moralische Positionen übrig, die gleichwohl eine rationale Rechtfertigung für sich in Anspruch nahmen und die Ansprüche ihrer jeweiligen Rivalen bestritten. Da die Vernunft sich offenkundig als unfähig erwies, diese Debatten zu schlichten, erstarkten antirationale Positionen wie der Emotivismus.
(3) Zudem kamen dadurch in der weiteren Kultur moralische Begriffe in Umlauf, die, ihrer vormaligen rationalen Begründung beraubt, nur noch den Anschein mit sich führen, auf einer vernünftigen Grundlage zu beruhen, und daher in den Dienst von allerlei Interessen gestellt werden können, die allerdings verschleiert werden. Zu diesen Begriffen, die somit zu nützlichen Fiktionen verkommen, gehören so zentrale Konzepte wie das der Menschenrechte und der Nützlichkeit oder Wohlfahrt. In einer solchen moralischen Kultur werden die Beziehungen zwischen den Menschen zu rein manipulativen, die überdies durch die modernen Apparate der Bürokratie und des Managements unter der legitimatorischen moralischen Fiktion der Effektivität verwaltet werden.
(4) Wie kein zweiter hat Nietzsche diesen Verfall der Moral zu einem Maskenspiel im Dienste von Interessen und Machtbestrebungen erkannt. Dabei hat er indes das Verständnis dieser spezifischen historischen Entwicklung zu einer universellen Genealogie der Moral verallgemeinert. Es gab jedoch einen spezifischen Irrtum, der dem Scheitern des Projekts der Aufklärung zugrunde liegt, den Nietzsche nicht erkannte, nämlich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik. So sieht MacIntyre die gegenwärtige Moralphilosophie mit zwingender Konsequenz vor die Alternative gestellt: Nietzsche oder Aristoteles?
(5) Im zweiten Teil von After Virtue wird auf der Grundlage einer Darstellung der Geschichte verschiedener Konzeptionen der Tugenden vom archaischen Griechenland bis ins europäische Mittelalter der Versuch unternommen, einen Begriff der Tugenden zu entfalten, der in drei Schritten erfolgt. Tugenden sind erstens alle diejenigen Qualitäten, ohne die Menschen die Güter, die Praktiken (practices) intern sind, nicht erreichen können; Tugenden sind zweitens die Qualitäten, die erforderlich sind, um die Güter zu erlangen, die dem Leben eines Menschen seinen telos (Sinn, Zweck) verleihen, was wiederum nicht möglich ist, ohne dass diesem Leben eine gewisse einheitliche narrative Struktur zukommt; und Tugenden sind drittens die Qualitäten, die erforderlich sind, um soziale Traditionen in guter Verfassung aufrechtzuerhalten und zu bewahren.
(6) Die Verwerfung und Aufgabe der aristotelischen und christlichen Tradition der Tugenden im Spätmittelalter bereitete dem Projekt der Aufklärung den Weg. Dadurch konnte sich durch die Wiederbelebung ursprünglich stoischer Begriffe der Tugend, nun im Singular, ein Tugendbegriff durchsetzen, der insbesondere in seiner kantischen Gestalt soziales Leben und philosophische Theorie durchdringend beeinflussen konnte. Nunmehr ist die Zeit nach der Tugend (after virtue) angebrochen, in der in der allgemeinen moralischen Kultur weder Tugenden noch Tugend von zentraler Bedeutung und unlösbare Debatten vorherrschend sind.
(7) Die siebte These sei abschließend in MacIntyres eigenen Worten wiedergegeben:
Ich argumentiere an verschiedenen Stellen im Buch, dass, obgleich die Verwerfung der aristotelischen Ethik und Politik unter den historischen Umständen, die in und nach dem Spätmittelalter hervorgerufen wurden, verständlich ist, sie niemals als berechtigt aufgewiesen werden konnte. Und ich ziehe den Schluss, dass der moralische Aristotelismus, wenn er recht verstanden wird, von der Art von Kritik, die Nietzsche mit Erfolg gegen Kant wie auch die Utilitaristen gerichtet hat, nicht untergraben werden kann. Ich ziehe daher den Schluss, dass Aristoteles gegen Nietzsche bestätigt ist, und überdies, dass nur eine Geschichte der ethischen Theorie und Praxis, die von einem aristotelischen und nicht von einem nietzscheanischen Standpunkt aus geschrieben ist, uns befähigt, die Natur der moralischen Verfassung der Modernität zu verstehen.
Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, hier S. 6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 72.
6.3.2 Gedankenexperiment und Katastrophe der Moral
6.3.2 Gedankenexperiment und Katastrophe der Moral Yusuf KuhnMacIntyre beginnt die negative Seite seiner Kritik und damit den ersten Teil von After Virtue, der die Kapitel 1-9 umfasst, mit einer Geschichte und einer Hypothese unter dem Titel Ein beunruhigendes Gedankenexperiment, mit dem das erste Kapitel überschrieben ist. Die Geschichte malt in einem »beunruhigenden Gedankenexperiment« eine imaginäre Welt aus, in der die Naturwissenschaften »das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe« (13)
Im Anschluss an diese Geschichte legt MacIntyre nun seine Hypothese dar:
Die Hypothese, die ich aufstellen möchte, lautet, daß in der Welt, in der wir heute leben, die Sprache der Moral ebenso verwahrlost ist wie die Sprache der Naturwissenschaft in dieser imaginären Welt. Wenn das zutrifft, besitzen wir heute nur noch Bruchstücke eines Begriffsschemas, Teile ohne Bezug zu jenem Kontext, der ihnen ihre Bedeutung verliehen hat. Wir besitzen in Wahrheit nur Scheinbilder der Moral, und wir gebrauchen weiterhin viele ihrer Schlüsselbegriffe. Aber wir haben zu einem großen Teil, wenn nicht sogar völlig, unser Verständnis, theoretisch wie praktisch, oder unsere Moral verloren. (15)
Diese Hypothese wird freilich auf starke Widerstände stoßen, da die moralische Sprache weiterhin verwendet wird und eben dies ein wichtiger Bestandteil des Bildes ist, das sich die Mitglieder dieser Kultur von sich selbst machen. Zudem ist die Katastrophe als solche unter diesen Bedingungen kaum mehr zu erkennen. Dafür wäre eine grundsätzliche Änderung der Sichtweise erforderlich, die indes nur sehr schwer zu erreichen ist, zumal die akademische Philosophie und Geschichtsschreibung dabei nicht weiterhelfen.
Doch das Verstehen der Geschichte könnte, wie im Bild von der imaginären Welt, einen Ausweg bieten, eine Geschichte des Niedergangs von der Blüte über die Katastrophe bis zum unzulänglichen Versuch einer Wiederherstellung. Das kann indes eine wertfreie Schilderung von Ereignissen nicht leisten. Eine Geschichtsschreibung, die dies leisten können soll, muss vielmehr auf Wertmaßstäben basieren, die über Scheitern oder Gelingen, verwahrlosten oder wohlgeordneten Zustand allererst zu urteilen erlauben. MacIntyre bezeichnet eine solche Herangehensweise als »philosophische Geschichte« (15-16) und begibt sich in deren Rahmen auf die Suche nach Belegen für die Hypothese über den Zustand der modernen Moral.
Obschon MacIntyre Pessimismus und Verzweiflung nicht das Wort reden will, gibt er sich keinen Illusionen hin, da es »in einem so verhängnisvollen Zustand […] keine großen Mittel mehr dagegen gibt« (18) – aber doch wohl das Mittel der Analyse in der Art einer philosophischen Geschichte, die an der moralischen Sprache ansetzen kann, die weiterhin in Verwendung ist.
So schließt MacIntyre das erste Kapitel mit folgendem Ausblick:
Ich kann selbstverständlich nicht abstreiten, und meine These beinhaltet das ja auch, daß die Sprache und das Erscheinungsbild der Moral weiterhin existieren, auch wenn der Grundgehalt der Moral in erheblichem Umfang aufgebrochen und teilweise zerstört worden ist. Deshalb bildet es keinen Widerspruch, wenn ich kurz die gegenwärtigen moralischen Verhaltensweisen und Argumente ansprechen werde. Ich erweise der Gegenwart lediglich die Reverenz, ihr eigenes Vokabular zu benutzen, wenn ich über sie spreche. (18)
6.3.3 Moralischer Widerstreit und Emotivismus
6.3.3 Moralischer Widerstreit und Emotivismus Yusuf KuhnDamit leitet MacIntyre zu Kapitel 2 über, das den Titel trägt: Das Wesen moralischer Meinungsunterschiede heute und die Thesen des Emotivismus (19). Als eine Folge der Verwahrlosung und Inkohärenz der modernen Moral dienen moralische Äußerungen oftmals vor allem dem Ausdruck von Meinungsverschiedenheiten, die in Debatten münden, die sich als endlos und ausweglos erweisen. In der modernen Kultur scheint es keine Mittel zu geben, um auf vernünftige Weise zu einer Einigung zwischen den widerstreitenden moralischen Positionen zu kommen.
MacIntyre führt typische Beispiele für solche Debatten an, in denen die Parteien Argumente für ihre jeweiligen Standpunkte anführen, ohne dass es je zu einer Übereinstimmung kommt: zum Beispiel über die Berechtigung und Gerechtigkeit von Kriegen, über die moralische Legitimität und die Legalität der Abtreibung, über die staatliche oder private Organisation von Gesundheitsversorgung und Bildung.
Diese Debatten zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die ihnen gemeinsam sind:
(1) Inkommensurabilität: Die jeweiligen Argumente sind zwar in sich schlüssig, beruhen aber auf so radikal verschiedenen Prämissen, dass ihre Differenzen nicht durch rationale Argumente aufgelöst werden können. Zudem ergibt sich aus der Unmöglichkeit, andere mit Gründen von der eigenen Position zu überzeugen, leicht der beunruhigende Verdacht der Unbegründetheit der eigenen Position und damit das Gefühl mangelnder Rationalität und Willkür. Aus beiden Aspekten erklärt sich der oftmals zu beobachtende Umstand, dass bei moralischen Streitgesprächen scharfe Töne angeschlagen werden.
(2) Objektivität: Alle Parteien dieser Debatten stützen sich auf vermeintlich rationale und unpersönliche Argumente, welche die Existenz objektiver Normen unabhängig von Vorlieben und Einstellungen voraussetzen. Dies scheint im Gegensatz zu Willkür und Subjektivität im Dienste von Interessen ein Streben nach Rationalität zum Ausdruck zu bringen.
(3) Kontextlosigkeit: Die verwendeten Begriffe, mit oftmals völlig unterschiedlichen historischen Ursprüngen, werden von ihren praktischen und theoretischen Kontexten abgelöst, denen sie ihre ursprüngliche Bedeutung und Rechtfertigung verdanken. In vielen Fällen haben so zentrale moralische Ausdrücke wie Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Pflicht in den vergangenen Jahrhunderten eine starke Veränderung ihrer Bedeutung durchlaufen. Dies gerät nur allzu oft aus dem Blick.
Wenn diese Eigenschaften Symptome einer moralischen Unordnung sind, sollte es möglich sein, eine Geschichte des moralischen Diskurses zu schreiben, die solche Bedeutungsänderungen zu verstehen und zu zeigen erlaubt, dass ein moralisches Argument zu einem früheren Zeitpunkt von anderer Art war, also nicht zugleich und auf inkonsistente Weise als Ergebnis rationaler Überlegung und als bloß expressive Äußerung betrachtet werden kann. Ein großes Hindernis ist dabei die unhistorische Behandlung der Moralphilosophie als eine einzige Debatte mit einem gleichbleibenden Gegenstand unter Missachtung des kulturellen und sozialen Kontextes, im Gegensatz zu dem, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich ein vielgestaltiger, voranschreitender und allerlei Wandlungen durchlaufender Diskurs, an dem Philosophen in verschiedenen historischen Kontexten und Traditionen teilnehmen.
Aus den drei gemeinsamen Eigenschaften ergeben sich Fragen über die Verwendung der moralischen Sprache. Da sich aus der Erfahrung der Inkommensurabilität der Verdacht einstellt, dass die vermeintliche Wahrheit der jeweiligen Position lediglich relativ zu den verschiedenen Perspektiven ist und die vermeintlich objektiven Normen sich als subjektiv erweisen, drängt sich der Eindruck auf, dass die jeweiligen rationalen Argumente letztlich nichts anderes als willkürliche Konstrukte sind, die nur dazu dienen, bereits getroffenen irrationalen Entscheidungen den Anschein von Rationalität zu verleihen, und zwar im Dienste vorgegebener Interessen. MacIntyre bezeichnet diesen pragmatischen Gebrauch der moralischen Sprache als emotivistisch.
Damit bezieht er sich auf die Theorie des Emotivismus, die allerdings auch einen scharfen Einwand gegen seine These und insbesondere seinen Versuch, eine philosophische Geschichte des Verfalls des moralischen Diskurses zu schreiben, beinhaltet. Denn dass moralische Debatten rational ausweglos und endlos sind, ist dem Emotivismus zufolge keine historisch entstandene und kontingente Eigenschaft der modernen Kultur, sondern vielmehr auf das Wesen moralischer Fragen selbst zurückzuführen, da diese an sich gänzlich außerhalb der Sphäre der Rationalität angesiedelt sind. Dieser Auffassung zufolge ist also nicht nur die moderne, sondern jede moralische und darüber hinaus jede wertende Argumentation notwendigerweise rational unlösbar. MacIntyre erläutert:
Der Emotivismus lehrt, daß alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind, soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind. […] moralische Urteile sind als Ausdruck von Haltungen oder Gefühlen weder richtig noch falsch; und Übereinstimmung bei moralischen Urteilen läßt sich durch keine rationale Methode erreichen, da es keine gibt. Wenn überhaupt, kann Übereinstimmung nur dadurch erreicht werden, daß ein bestimmter nichtrationaler Einfluß auf die Empfindungen oder Haltungen derjenigen ausgeübt wird, deren Urteil abweicht. Wir gebrauchen moralische Urteile nicht nur, um unsere eigenen Gefühle und Haltungen auszudrücken, sondern auch, um solche Wirkungen auch bei anderen hervorzubringen. (26-27)
Der Emotivismus ist eine Theorie über die Bedeutung von Sätzen, in denen wertende, insbesondere moralische Urteile gefällt werden. Sie wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem von C. L. Stevenson und anderen Schülern von G. E. Moore entwickelt. Dieser Theorie zufolge bedeutet beispielsweise der Satz »Dies ist gut« in etwa »Ich stimme dem zu; mach es ebenso«. Somit dient das wertende oder moralische Urteil sowohl dem Ausdruck der Haltung des Sprechers, als auch der Beeinflussung des Verhaltens des Hörers.
MacIntyre legt allerdings dar, dass der Emotivismus als Theorie der Bedeutung wertender Sätze aus verschiedenen Gründen scheitert. Doch diese falsche Theorie der Bedeutung lässt sich gleichwohl als Theorie des Gebrauchs unter spezifischen Bedingungen auslegen:
Der Emotivismus hat den Anspruch, wie wir gesehen haben, eine Theorie der Bedeutung von Sätzen zu sein. Aber der Ausdruck von Gefühlen oder Haltungen ist bezeichnenderweise keine Funktion der Bedeutung von Sätzen, sondern von deren Gebrauch bei bestimmten Gelegenheiten. (28)
Moralische Sätze werden in der Tat oftmals gebraucht, um willkürliche Entscheidungen und subjektive Präferenzen zum Ausdruck zu bringen sowie um andere in ihrem Sinne zu manipulieren. MacIntyre vertritt die Auffassung, dass dies eine treffliche Beschreibung des Gebrauchs der moralischen Sprache in der gegenwärtigen Kultur ist, die in diesem Sinne zutiefst emotivistisch ist. Er begibt sich sodann ziemlich eingehend auf die Spuren der Geschichte des Emotivismus, der als eigenständige Theorie der Bedeutung in einem bestimmten Kontext in Cambridge entstanden ist, aber auch in anderen historischen Epochen zu finden ist und als Antwort auf das Scheitern der Suche nach einer rationalen Begründung für vermeintlich objektive und unpersönliche moralische Ansprüche entsteht. MacIntyre stellt dazu fest:
So verstanden erweist sich der Emotivismus eher als eine zwingende Theorie des Gebrauchs denn als eine falsche Theorie der Bedeutung, gebunden an ein bestimmtes Stadium der moralischen Entwicklung oder des moralischen Niedergangs, ein Stadium, in das unsere eigene Kultur zu Beginn des jetzigen [zwanzigsten] Jahrhunderts getreten ist. (34)
Zudem impliziert der Emotivismus die Behauptung, dass alle historischen Versuche, eine solche rationale Rechtfertigung zu liefern, gescheitert sind. Die Unterscheidung zwischen Theorie der Bedeutung und Theorie des Gebrauchs ermöglicht es indes, die Tatsache des emotivistischen Missbrauchs der moralischen Sprache anzuerkennen und zugleich zurückzuweisen, wobei freilich die Begründung und Bestätigung wertender Urteile in der emotivistischen Kultur den Zugang zu Kriterien erfordert, die nicht willkürlich sind, sondern sich vernünftig begründen lassen.
Wenn der Emotivismus zutrifft, dann ist die moralische Sprache höchst irreführend. Denn einer Aussage wie »Das ist schlecht!« haftet doch ein anderer Anspruch auf Geltung an als der Aussage »Ich stimme dem nicht zu; mach es ebenso!«, da erstere gleichwohl von einem wie auch immer ausgedünnten Bezug auf eine objektive und unpersönliche Norm zehrt. Dieser Bezug würde erst dann völlig verlorengehen, wenn der Emotivismus gemeinhin für wahr gehalten würde. Daraus ergäben sich freilich sehr weitreichende Konsequenzen, die MacIntyre folgendermaßen andeutet:
Das heißt, wenn und insoweit der Emotivismus recht hat, dann ist die moralische Sprache in höchstem Maße irreführend und dann müßte auch der Gebrauch der traditionellen und ererbten moralischen Sprache eigentlich aufgegeben werden. Diesen Schluß zog keiner der Emotivisten; und es ist auch klar, daß sie, wie Stevenson, versäumten, ihn zu ziehen, weil sie ihre eigene Theorie fälschlicherweise als Theorie der Bedeutung auslegten. (36)
Emotivismus und Täuschung sind nicht voneinander zu trennen, zumindest solange die überkommene moralische Sprache weiter verwendet wird. Dies ist von entscheidender Bedeutung für MacIntyres in Auseinandersetzung mit dem Emotivismus entwickelte These, wie er deutlich herausstellt:
Denn eine Möglichkeit, meinen Streitpunkt, daß die Moral nicht mehr das ist, was sie einmal war, zu fassen, besteht darin zu erklären, daß die Menschen heute in erheblichem Umfang so denken, sprechen und handeln, als wäre der Emotivismus wahr, gleichgültig was ihr erklärter theoretischer Standpunkt ist. Der Emotivismus ist in unsere Kultur eingegliedert worden. (39)
Damit ist indes auch gesagt, dass die Moral zum großen Teil verschwunden ist, was einen Rückschritt und schweren kulturellen Verlust darstellt. Aus dieser Entwicklung leitet MacIntyre zwei Aufgaben ab. Die erste besteht darin, die verlorene Moral näher zu bestimmen und ihre Ansprüche auf objektive und vernünftige Geltung zu prüfen. Die zweite Aufgabe beschreibt er, das dritte Kapitel abschließend, folgendermaßen:
Die zweite Aufgabe besteht darin, meine Behauptung über den besonderen Charakter der Neuzeit zu beweisen. Denn ich habe erklärt, daß wir in einer besonders emotivistischen Kultur leben, und wenn dem so ist, müßten wir eigentlich entdecken, daß sehr viele unserer Begriffe und Verhaltensweisen - und nicht nur unsere expliziten moralischen Debatten und Urteile - die Wahrheit des Emotivismus voraussetzen, wenn nicht auf der Ebene selbstbewußten Theoretisierens, dann doch wenigstens im täglichen Leben. Aber ist dem so? (40)
6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit
6.3.4 Emotivismus und gesellschaftliche Wirklichkeit Yusuf KuhnDieser Frage wendet sich MacIntyre im folgenden Kapitel 3 zu, das den Titel trägt: Emotivismus: Sozialer Inhalt und sozialer Kontext. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass jede Moralphilosophie, auch der Emotivismus, eine Soziologie voraussetzt. Mit dem Begriff der Soziologie wird hier die Weise bezeichnet, in der die Moralphilosophie ihre mögliche Umsetzung in die gesellschaftliche Wirklichkeit sowie insbesondere den Begriff des Handelns und des Handelnden versteht. MacIntyre erläutert dies folgendermaßen:
Denn jede Moralphilosophie liefert explizit oder implizit zumindest teilweise eine Begriffsanalyse der Beziehungen zwischen einem Handelnden und seinen Beweggründen, Motiven, Absichten und Handlungen, und indem sie das tut, setzt sie generell voraus, daß diese Begriffe in die wirkliche soziale Welt eingefügt sind oder zumindest sein können. (41)
Der Emotivismus, im Lichte seines sozialen Gehalts betrachtet, reduziert den Handelnden auf ein losgelöstes und entleertes Selbst mit einem »gewissen abstrakten und geisterhaften Charakter« (53), das aller Kriterien zur Beurteilung seiner somit völlig willkürlichen Entscheidungen beraubt ist, und führt zur Auflösung »jeder echten Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen« (41). Die gesellschaftlichen Anderen sind stets Mittel, niemals Zweck. Der Gesprächspartner wird nicht als vernünftiges Wesen erachtet, das mit Gründen zu überzeugen ist, sondern als Objekt, das mittels manipulativer Beeinflussung zu überreden ist. Denn die Unterscheidung zwischen vernünftiger Überzeugung und bloßer Überredung verliert jeglichen Halt und wird trügerisch, wenn eine wertende Äußerung keinen anderen Sinn hat, als einerseits die eigenen Gefühle und Haltungen zum Ausdruck zu bringen und andererseits auf Veränderungen der Gefühle und Haltungen anderer hinzuwirken. Der moralische Diskurs stellt dann nichts anderes dar als den »Versuch eines Willens, die Haltungen, Gefühle, Vorlieben und Entscheidungen eines anderen mit den eigenen in Einklang zu bringen.« (42) Auf Maßstäbe normativer Vernunft und objektive Kriterien kann man sich nicht berufen, wenn es diese schlicht nicht gibt. Die unausweichliche Folge des Emotivismus ist daher die Selbstzerstörung von Moral und Ethik.
Das ist die allgemeine Antwort auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft, durch die emotivistische Brille betrachtet, darstellen würde. Unterschiede ergeben sich sodann durch bestimmte soziale Kontexte. Dabei sind für MacIntyre soziale Rollen von besonderer Bedeutung, die eine Kultur mit moralischen Vorstellungen versorgen und die er als Charaktere bezeichnet. Die Charaktere in einer emotivistischen Kultur teilen die Aufhebung der Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen sowie die Unterscheidung zwischen rationalem und nicht-rationalem Diskurs und verkörpern diese Vorstellungen in verschiedenerlei sozialen Kontexten.
6.3.4.1Ästhet, Manager und Therapeut
Die drei wichtigsten sozialen Charaktere der emotivistischen Kultur sind laut MacIntyre der reiche Ästhet, der Manager und der Therapeut, die ausführlich beschrieben werden. Da es für sie keinen rationalen Diskurs über moralische Fragen geben kann, Konflikte zwischen Werten sich also nie durch vernünftige Argumentation lösen lassen, begeben sie sich freilich nie in ernsthafte moralische Debatten mit anderen. Für sie zählt einzig die willkürliche Entscheidung, die durch moralische Kriterien nicht in Frage gestellt werden kann und schlicht durchgesetzt werden muss. Der einzige Maßstab ist der Erfolg bei ihren Bemühungen, andere zu Handlungen und Haltungen zu veranlassen, die den von ihnen vorgegebenen Plänen und Zwecken entsprechen. Der moralische Instrumentalismus mit seinen rein manipulativen Bestrebungen triumphiert, indem er kein anderes Kriterium als die effektive Wirksamkeit erlaubt.
Der Ästhet bedient sich der anderen in ruhelosem Streben nach Lustgewinn zu seinem eigenen Vergnügen. Der Manager bewegt sich in bürokratischen Komplexen in Form sowohl privater Gesellschaften als auch staatlicher Behörden und verfolgt die Realisierung vorgegebener Zwecke mit knappen Mitteln im Rahmen bürokratischer Rationalität; Effektivität ist sein Zauberwort. Der Therapeut vertritt die instrumentelle Vernunft im Bereich des persönlichen Lebens, indem er im Rahmen vorgegebener Ziele Techniken zur »wirksamen Umwandlung neurotischer Symptome in gelenkte Energie, fehlangepaßter Individuen in richtig angepaßte« (50) an menschlichen Objekten zur manipulativen Anwendung bringt; psychologische Effektivität ist sein Leitstern.
MacIntyre führt dazu aus:
Weder der Manager noch der Therapeut beteiligen sich in ihrer Rolle als Manager beziehungsweise Therapeut an der moralischen Debatte. Sie werden von sich selbst und von denen, die sie praktisch mit den gleichen Augen sehen, als unanfechtbare Figuren betrachtet, die sich angeblich auf die Bereiche beschränken, in denen rationale Übereinstimmung möglich ist - das sind, selbstverständlich aus ihrer Sicht, der Bereich der Tatsachen, der Bereich der Mittel und der Bereich der meßbaren Wirksamkeit. (50)
6.3.4.2Das moderne Selbst
Das moderne Selbst geht allerdings nicht in den sozialen Rollen auf, sondern zeichnet sich vielmehr durch die Fähigkeit aus, diese und jede andere Rolle und Haltung nach Belieben einnehmen zu können. Denn es verfügt letztlich über keine Kriterien für seine Urteile, so dass ihm alles zur willkürlichen Entscheidung wird. MacIntyre bemerkt dazu:
Das spezifisch moderne Selbst
Eigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wird »The specifically modern self [...]« (After Virtue, S. 31) hier statt dessen übersetzt mit: »Das im eigentlichen modernen Selbst (sic!) [...]«. , das Selbst, das ich emotivistisch genannt habe, kennt keine Grenzen für das, worüber es urteilen könnte, denn derartige Grenzen könnten sich nur aus rationalen Berwertungskriterien (sic!)Richtig wäre freilich: »Bewertungskriterien«. herleiten, und dem emotivistischen Selbst fehlen, wie wir gesehen haben, alle derartigen Kriterien. Alles kann von jedem Standpunkt aus, den das Selbst eingenommen hat, kritisiert werden, auch die Wahl des Standpunktes, den das Selbst einnimmt. (51)
Dieses entleerte, jeglichen Inhalts und aller Identität beraubte Selbst der emotivistischen Kultur haben allerdings einige moderne Philosophen – analytische wie existentialistische - »als das Wesen moralischen Handelns betrachtet.« (51) Dieses Selbst ist aus allen sozialen Bezügen herausgelöst und dazu verdammt, seine Urteile ohne jeglichen Anhaltspunkt »von einem rein universellen und abstrakten Standpunkt aus zu fällen« (52). Hier wird der Gegensatz zwischen dem moralischen Handeln, das keinerlei rationalen Kriterien unterliegt, und dem instrumentellen Handeln der Manager und Therapeuten, das an rationalen Kriterien der Effizienz gemessen wird, offenkundig.
MacIntyre beschreibt diesen Gegensatz pointiert:
Im Reich der Tatsachen gibt es Verfahren, Meinungsunterschiede zu beseitigen; im Reich der Ethik wird die Unüberwindbarkeit von Meinungsunterschieden durch den Titel »Pluralismus« geadelt. Dieses [...] Selbst, das keinen notwendigen sozialen Inhalt und keine notwendige soziale Identität hat, kann jede Rolle annehmen oder jeden Standpunkt beziehen, weil es für sich genommen nichts ist. (52)
Da das emotivistische Selbst keine letzten Kriterien hat, kann es auch keine rationale Geschichte für Entwicklung und Wandel seiner Auffassungen von moralischer Verpflichtung haben. Innere Konflikte müssen ihm als völlig willkürliche Entgegensetzungen konkurrierender Positionen erscheinen. Das Selbst verliert damit jede Kontinuität und Identität, die ihm allererst erlauben würden, sein Leben als sinnvolles Ganzes zu erfassen.
In vormodernen Gesellschaften war die persönliche Identität auch durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Rollen bestimmt. Und das Leben wurde als Einheit betrachtet, das im Tod als telos (Ziel) des Lebens Abschluss und Erfüllung finden kann. Die Auflösung dieser Vorstellungen führt zur Herausbildung des modernen Individuums, wobei dieser Prozess nicht als Verlust empfunden wird, sondern als Befreiung von sozialen Zwängen einerseits und vom Aberglauben der Teleologie andererseits. Doch die für das emotivistische Selbst gewonnene Autonomie als Individuum ist erkauft um den Preis des Verlusts von Identität und Sinn des Lebens.
MacIntyre beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen:
[…] das eigentlich moderne Selbst, das emotivistische Selbst, [verlor] mit der Souveränität in seinem eigenen Reich seine traditionellen Grenzen [...], die durch die soziale Identität und die Sichtweise des einem bestimmten Ziel zugeordneten menschlichen Lebens gezogen worden waren. (55)
Diesem grenzenlosen emotivistischen Selbst stehen die sozialen Charaktere gegenüber, die in enge Strukturen instrumenteller Rationalität fest eingebunden sind. Diesem Gegensatz entspricht die Zweiteilung der Gesellschaft in den Bereich des Organisatorischen, in dem zwar die Mittel innerhalb, aber die Ziele außerhalb der Reichweite vernünftigen Denkens liegen, und den Bereich des Persönlichen, in dem Urteile und Erwägungen über Ziele und Werte zwar von größter Bedeutung sind, aber Probleme und Konflikte sich jeglicher rationalen Lösung entziehen.
Diese Zweiteilung prägt die modernen Gesellschaften, die gleichwohl beides in einem ständigen Wechselspiel miteinander verbinden. Denn es wäre falsch, sich durch die politischen Debatten auf der Oberfläche täuschen zu lassen, wie MacIntyre darlegt:
Solche Debatten werden oft im Sinne eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Individualismus und Kollektivismus geführt, die beide in einer Vielzahl doktrinärer Formen auftreten. Auf der einen Seite erscheinen die selbsternannten Vorkämpfer der individuellen Freiheit, auf der anderen die selbsternannten Vorkämpfer der Planung und Regulierung der Güter, die durch bürokratische Organisation verfügbar sind. Aber tatsächlich entscheidend ist das, worin sich die miteinander streitenden Parteien einig sind, daß uns nämlich nur zwei alternative Formen sozialen Lebens zur Verfügung stehen: eine, in der die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen souverän sind, und eine, in der die Bürokratie so souverän ist, daß sie die freien und willkürlichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen einschränken kann. […] So ist die Gesellschaft, in der wir leben, eine Gesellschaft, in der Bürokratie und Individualismus sowohl Partner als auch Gegner sind. Und im kulturellen Klima dieses bürokratischen Individualismus ist das emotivistische Selbst ganz selbstverständlich zu Hause. (55-56)
So ist die moderne Gesellschaft eine Ansammlung von losgelösten Individuen, die ohne Regeln für ihr individuelles Verhalten zugleich in bürokratische Apparate eingespannt sind, welche die Regellosigkeit der Eigeninteressen in das harte Gehäuse einer rationalen Verwaltung zwängen. Die Suche nach einem Ausgleich dieser Gegensätze kann sich aufgrund der beiderseitigen Irrationalität der Zwecke nicht auf einer vernünftigen Grundlage vollziehen.
Jenseits der Optionen für individuelle Autonomie und bürokratische Kontrolle gibt es keine Alternative. Die willkürlichen Zwecke der Individuen und der Apparate stehen sich rational unvermittelt und unvermittelbar gegenüber, so dass Debatten und Konflikte zwangsläufig ohne vernünftige Lösung bleiben und zu Fragen der Macht degenerieren müssen.
6.3.5 Das Projekt der Aufklärung zur rationalen Rechtfertigung der Moral
6.3.5 Das Projekt der Aufklärung zur rationalen Rechtfertigung der Moral Yusuf KuhnIm daran anschließenden vierten Kapitel mit dem Titel Die Kultur unserer Vorgänger und das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral vertritt MacIntyre die Auffassung, dass die Entwicklungen der Sozialgeschichte, die zur geschilderten Wandlung der Moral und zur Herausbildung des emotivistischen Selbst geführt haben, vor allem Episoden der Geschichte der Philosophie sind. Nur durch diese Geschichte lässt sich der gegenwärtige Zustand des alltäglichen moralischen Diskurses verstehen. Denn die entscheidenden Veränderungen vollzogen sich in einer Zeit, da die Philosophie noch maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft ausübte, im Gegensatz zur Gegenwart, da der Philosophie allenfalls ein akademisches Schattendasein neben den aus ihr hervorgegangenen und nun dominanten Wissenschaften zugestanden wird.
MacIntyre erkennt in dem Niedergang derjenigen Kultur, in der die Philosophie noch eine zentrale Rolle spielte, eine wesentliche Ursache für die modernen Verwerfungen, wenn er schreibt:
Ich werde weiterhin argumentieren, daß das Scheitern jener Kultur, ihre praktischen und gleichzeitig philosophischen Probleme zu lösen, einer und vielleicht der entscheidende Umstand war, der die Form unserer philosophischen wie auch praktischen sozialen Probleme bestimmt. (58)
Er verfolgt die Spuren dieser Entwicklung bis auf die Aufklärung zurück. Denn die Kultur des Emotivismus folgte auf das Scheitern des Aufklärungsprojekts der rationalen Rechtfertigung der Moral. Bei allen Unterschieden, welche die daraus hervorgegangenen Vorhaben zur Umsetzung dieses Projektes auszeichnen, teilen sie doch einen erstaunlich großen Kern von Annahmen und Überzeugungen.
Dass die Moralbegründung auf der Vernunft basieren sollte, heißt für alle diese Vorhaben, dass überkommene Theologie und Teleologie daraus zu verbannen sind. Der radikale Bruch in dieser Hinsicht ging allerdings einher mit einer überraschenden Kontinuität in der Frage des Inhalts und der Art der moralischen Normen, die als vorgegebener Bestand weitgehend aus der christlichen Tradition übernommen werden.
Und sie stimmen auch darin überein, wie eine vernünftige Begründung der Moral formal zu gestalten sei. Aus einigen Prämissen über die Eigenschaften der Natur des Menschen sollten moralische Regeln begründet und abgeleitet werden, indem diejenigen Regeln ausgezeichnet werden, die ein Wesen mit einer solchen Natur für sich wählen und einhalten müsste.
Die Kultur der Aufklärung brachte mit der Verwerfung jeglicher Verankerung der Moral in göttlichen Geboten und einem bestimmen Sinn (telos) des menschlichen Lebens eine Moralphilosophie hervor, die Moralität von allen anderen Bereichen, mit denen sie bislang verknüpft war, abspaltete. Dadurch entsteht allererst der Bereich des Moralischen als unabhängige Sphäre, die für die moderne Moral so charakteristisch ist, wie MacIntyre anschaulich beschreibt:
Wir sind so daran gewöhnt, Urteile, Argumente und Taten in moralischen Kategorien zu klassifizieren, daß wir ganz vergessen, wie relativ neu diese Vorstellung in der Kultur der Aufklärung war. (59)
Das moderne Wort moralisch kommt überhaupt erst ab dem siebzehnten Jahrhundert allmählich in Gebrauch. Weder im Altgriechischen noch im Lateinischen gibt es bezeichnenderweise eine passende Entsprechung. MacIntyre verortet den Ursprung dieses Ausdrucks in der Epoche »etwa zwischen 1630 und 1850« (60), in der das Wort Moral zur Bezeichnung eines besonderen Bereichs wurde, indem das Moralische immer strikter vom Religiösen, Rechtlichen und Ästhetischen getrennt wurde.
Im gleichen Zuge stieg das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral zu einem zentralen Anliegen der modernen Kultur auf. Diese durch die Aufklärung geprägte Kultur war der Vorläufer, auf den der Emotivismus eine Reaktion darstellt. MacIntyre hebt hervor:
Es ist eine der grundlegenden Thesen dieses Buches, daß das Scheitern dieses Projekts den historischen Hintergrund lieferte, vor dem die mißliche Lage unserer eigenen Kultur verständlich werden kann. (61)
MacIntyre beleuchtet nun diesen historischen Hintergrund, indem er die Geschichte des Aufklärungsprojektes ausführlich und im Rückgang, ausgehend vom modernen Standpunkt in seiner voll entwickelten Form schildert. Die Stationen des Weges, den er dabei abschreitet, sind vor allem Kierkegaards Enten-Eller (Entweder-Oder), Kants moralphilosophische Werke, Diderots Le Neveu de Rameau (Rameaus Neffe) und Humes Treatise of Human Nature (Traktat über die menschliche Natur).
Den Ausgangspunkt bildet die moderne Auffassung des moralischen Diskurses als einer endlosen und unlösbaren Debatte zwischen inkommensurablen Prämissen, wobei die moralische Verpflichtung als das Ergebnis einer Entscheidung für eine beliebige Position ohne rationale Kriterien erscheint. Von hier aus vollzieht MacIntyre den ersten Schritt zurück in der philosophischen Geschichte:
Dieses Element der Willkür in unserer moralischen Kultur wurde als philosophische Entdeckung – ja als Entdeckung beunruhigender, sogar schockierender Art – vorgetragen, lange bevor es zu einem Allgemeinplatz im alltäglichen Diskurs wurde. Diese Entdeckung wurde sogar zuerst mit genau der Absicht, die Teilnehmer des alltäglichen moralischen Diskurses zu schockieren, in einem Buch vorgelegt, das Ergebnis und zugleich Nachruf auf den systematischen Versuch der Aufklärung war, eine rationale Rechtfertigung der Moral zu finden. (61)
Dieses Buch ist Kierkegaards Entweder-Oder, das schon im Titel offensichtlich vor eine radikale Wahl stellt, und zwar zur Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Lebensweisen, von denen der moralisch Handelnde sich für eine entscheiden muss: entweder die ethische Lebensweise oder die ästhetische Lebensweise. Und die Entscheidung ist insofern zutiefst grundsätzlich, da gar nicht zwischen Gut und Böse zu wählen ist, sondern vielmehr, ob überhaupt in Begriffen von Gut und Böse gewählt werden soll. Es steht also der moralische Standpunkt selbst in Frage.
Da es sich dabei um die Wahl zwischen Grundprinzipien handelt, für die keine weiteren Gründe angeführt werden können, ohne schon eine der beiden Positionen implizit vorauszusetzen, muss die Entscheidung grundlos bleiben. Steht jemand vor der Wahl zwischen ihnen, ohne schon eine von beiden eingenommen zu haben, kann ihm kein Grund genannt werden, warum er die eine der anderen vorziehen sollte. Es ist eine radikale, grundlose und letzte Wahl.
Zu den Konsequenzen dieser Vorstellung merkt MacIntyre folgendes an:
Dieser Gedanke zerstört die gesamte Tradition einer rationalen moralischen Kultur — falls er nicht selbst rational abgewehrt werden kann. (64; Hervorhebung im Original)
Kursivierung nicht in der deutschen Ausgabe, wohl aber im englischen Original, siehe After Virtue, S. 41.
MacIntyre weist sodann auf die tiefe innere Inkonsistenz zwischen dem Begriff der radikalen Wahl und dem Begriff des Ethischen hin. Denn der Bereich des Ethischen beruht auf der Vorstellung, dass mit den moralischen Geboten eine gewisse Autorität einhergeht, die ihnen den verpflichtenden Charakter verleiht. Und die Autorität eines Prinzips leitet sich gewöhnlich von den Gründen her, die für seine Wahl sprechen. Nun gibt es aber für ein Prinzip, das einer willkürlichen Entscheidung entspringt, keine Gründe, also auch keine Autorität. Wer einem solchen Prinzip folgt, handelt völlig willkürlich und könnte ebenso gut jederzeit und nach Belieben wählen, das Prinzip aufzugeben. Das Prinzip selbst gehört daher wohl eher in den ästhetischen Bereich.
Damit ist der Widerspruch in Kierkegaards Lehre aufgezeigt. Und »falls das Ethische irgendeine Grundlage hat« (65), kann sie jedenfalls nicht durch den Begriff der radikalen Wahl geliefert werden. Damit scheitert Kierkegaards Versuch einer Grundlegung der Moral.
Bei aller Beliebigkeit der vermeintlichen Grundlage ist allerdings bemerkenswert, dass für Kierkegaard der Inhalt des Ethischen, den er bezeichnenderweise der überkommenen christlichen Moral entnimmt, völlig konservativ und traditionell ist. MacIntyre stellt dazu folgendes fest:
[...] Kierkegaard verbindet den Gedanken der absoluten Wahl mit einer nicht in Frage gestellten Konzeption des Ethischen. [...] Das zu erkennen heißt erkennen, daß Kierkegaard ein neues praktisches und philosophisches Fundament für eine ältere, ererbte Lebensanschauung liefert. Vielleicht ist es diese Kombination aus Neuem und Traditionen, die die Inkohärenz im Kern der Kierkegaardschen Position erklärt. Es ist, wie ich darlegen werde, sicher gerade diese zutiefst inkohärente Kombination aus Neuem und Ererbtem, die das logische Ergebnis des Projekts der Aufklärung ist, eine rationale Grundlage und Rechtfertigung der Moral zu liefern. (65-66)
Für Kierkegaards Konzeption der radikalen Wahl zwischen ethischer und ästhetischer Lebensweise bildet Kants Moralphilosophie mit ihrer radikalen Unterscheidung zwischen Pflicht und Neigung die »philosophische Kulisse« (66). Kierkegaards Begriff der Wahl als Grundlage des Ethischen kann als Reaktion auf das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen, verstanden werden.
MacIntyre verweist darauf, dass Kant den Gehalt der Moral ebenfalls als gegeben betrachtet und ganz konservativ aus dem Erbe der christlichen Moral übernimmt, und beschreibt Kants Konzeption der Moralphilosophie äußerst prägnant in folgenden knappen Sätzen:
Im Mittelpunkt der Moralphilosophie Kants stehen zwei trügerisch einfache Thesen: wenn die Gesetze der Moral rational sind, müssen sie für alle rationalen Wesen gleich sein, genauso wie es die Gesetze der Arithmetik sind; und wenn die Gesetze der Moral für alle rationalen Wesen bindend sind, dann ist die mögliche Fähigkeit dieser Menschen, sie auszuführen, unwesentlich - wesentlich ist ihr Wille, sie auszuführen. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ist daher nur ein Projekt zur Entwicklung eines rationalen Tests, der die Maximen, die den Willen als wahrhaften Ausdruck des Sittengesetzes binden, von den Maximen unterscheidet, die dem Sittengesetz nicht auf diese Weise entsprechen. (66; Hervorhebung im Original)
Das Moralgesetz als vernünftiges gilt für alle vernünftigen Wesen, also nicht nur für die Menschen, sondern über die Menschen als bedingt vernünftige Wesen hinaus insbesondere für alle wahrhaft vernünftigen Wesen, welche die intelligible Welt bevölkern. Und es kommt gar nicht darauf an, ob Menschen das Moralgesetz in ihrem Handeln umsetzen können, sondern vielmehr einzig darauf, ob der Wille von Menschen als vernünftigen Wesen durch das Moralgesetz bestimmt wird oder werden kann.
MacIntyre geht jedoch auf die dieser kantischen Konzeption ganz unverhohlen zugrunde liegenden metaphysischen Annahmen, wie beispielsweise die Spaltung in die empirische Sinnenwelt (mundus sensibilis), der die wirklichen Menschen angehören, und die nicht-empirische Geisterwelt (mundus intelligibilis), in der vernünftige Wesen nach moralischen Gesetzen Umgang pflegen, fast gar nicht ein, ohne die sich indes diese Konzeption kaum verstehen lässt, sondern geht direkt über auf die Funktion des kategorischen Imperativs als Test der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen, die so auf ihre Übereinstimmung mit dem Sittengesetz hin geprüft werden sollen.
Da Kant die Moralphilosophie auf die Vernunft gründet, die kein ihr äußerliches Kriterium duldet und daher alles der Erfahrung Entstammende von sich fernhält, müssen das Streben nach Glück und göttliche Gebote streng von der Moralität geschieden werden, so dass die Regeln der Moral ohne Bezug auf einen Zweck oder äußeren Inhalt, also rein formal nach dem Prinzip der Universalisierbarkeit bestimmt werden müssen.
MacIntyre erläutert:
Es gehört zum Wesen der Vernunft, daß sie Grundsätze darlegt, die umfassend, kategorisch und in sich schlüssig sind. Eine rationale Moral wird daher Grundsätze aufstellen, die sich alle Menschen zu eigen machen können und sollten, ungeachtet der Umstände und Bedingungen, und die konsequent von jedem vernünftig Handelnden bei jeder Gelegenheit befolgt werden könnten. Die Prüfung einer aufgestellten Maxime ist also leicht zu formulieren: können wir wirklich wollen - oder können wir das nicht, daß immer alle danach handeln? (68; Hervorhebung im Original)
Kant lehnt mithin die zwei wichtigsten Arten der Grundlegung in der traditionellen Moralphilosophie ab. Die Ableitung eines Gebotes aus einem vorgegebenen Zweck einerseits, wie etwa dem Glück, kann nur zu einem bedingten Gebot führen, das lediglich hypothetische Geltung besitzen und damit nicht dem Anspruch der Vernunft auf unbedingte, kategorische Gültigkeit genügen kann. Und auch göttliche Gebote andererseits können dieser Anforderung nicht genügen, da nach Kant die Pflicht zu ihrer Befolgung von der weiteren Bedingung abhängig ist, dass immer zu tun geboten ist, was Gott befiehlt. Um die Frage nach dieser Bedingung zu beantworten, bedürfte es allerdings eines von Gottes Geboten unabhängigen moralischen Kriteriums zur Beurteilung der göttlichen Gebote, was freilich letztere überflüssig machen würde. Der Bereich des Moralischen muss demzufolge strengstens sowohl vom Bereich des Strebens nach Glück als auch vom Bereich der göttlichen Gebote geschieden werden.
MacIntyres Kritik richtet sich nun vor allem auf die Eignung dieses Tests zur Entscheidung über die Moralität von Maximen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser Test als Auswahlkriterium nicht geeignet ist, da ihn auch der Moral offenkundig widersprechende Maximen überstehen.
So stellt MacIntyre folgendes fest:
Aber nicht nur, daß Kants eigene Argumente grobe Fehler enthalten, es ist auch ganz einfach zu erkennen, daß viele unmoralische und triviale, nicht moralische Maximen durch Kants Prüfung ebenso überzeugend und manchmal noch überzeugender unterstützt werden als die moralischen Maximen, die Kant unterstützen will. »Halte dein ganzes Leben alle Versprechen, bis auf eines«, »Verfolge alle, die falsche religiöse Überzeugungen haben« und »Iß im März am Montag immer Muscheln« bestehen die Prüfung Kants, denn sie alle können folgerichtig verallgemeinert werden. (69)
MacIntyre zeigt sodann auf, dass der kategorische Imperativ auch in einer anderen Formulierung keine Lösung des Problems darstellt, wie solche trivialen Maximen ausgeschlossen werden können:
Kant glaubte das, weil er meinte, daß seine Formulierung des kategorischen Imperativs im Sinne der Verallgemeinerbarkeit einer ganz anderen Formulierung entspreche: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«
Das Kant-Zitat findet sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Siehe Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Band VII, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main, 1982, S. 61. (69)
MacIntyre sieht darin einen moralischen Gehalt, der in der Forderung besteht, den anderen nicht zum bloßen Werkzeug des eigenen Willens zu degradieren, sondern in ihm seine Vernunft zu achten, nämlich mit ihm in eine rationale Beziehung durch den Austausch von Gründen zu treten. In dieser Absage an manipulative Beeinflussung zugunsten vernünftiger Überzeugung kommt der Gegensatz von Kants Moralphilosophie zum Emotivismus sehr deutlich zum Ausdruck. MacIntyre erkennt dies an, bringt aber sogleich folgenden Einwand vor:
Aber Kant nennt uns keinen guten Grund, diese Position einzunehmen. Ich kann mich ohne jede Inkonsistenz darüber hinwegsetzen: »Jeder außer mir soll als Mittel betrachtet werden« mag unmoralisch sein, aber es ist nicht inkonsistent, und es ist nicht einmal inkonsistent, eine Welt aus Egoisten zu wollen, die alle nach dieser Maxime leben. (70)
Und Kant kann letztlich keinen Grund nennen, da er sich durch die radikale Trennung der Moralität von einer praktischen Vernunft, die sich auf Zwecke wie das Streben nach Glück oder auf göttliche Gebote beziehen könnte, jeglicher Möglichkeit beraubt hat, einen Grund anzubieten, der tatsächlich zum entsprechenden Handeln motivieren könnte. Damit ist gewiss längst nicht alles zu Kants Moralphilosophie gesagt, die eine weit ausführlichere und gründlichere Behandlung verdienen würde, für die hier allerdings nicht der Ort ist.
MacIntyre konstatiert jedenfalls hiermit das Scheitern von Kants Versuch, die Moral auf die Vernunft zu gründen. Und wie Kierkegaards Begründung des Ethischen durch die radikale Wahl als ein Ersatz für Kants Vernunftbegriff verstanden werden kann, so Kants Berufung auf die Vernunft als Reaktion auf Diderots und Humes Versuch, die Moral auf Wunsch und Leidenschaft zu gründen, und dessen Scheitern.
Der Aufklärer Diderot verteidigt ebenfalls die konservativen Sittengesetze und vertritt die Ansicht, dass diese, wenn alle mit aufgeklärtem Blick ihre Wünsche auf lange Frist verfolgen, »im großen ganzen die Gesetze sind, die durch die Berufung auf ihre Grundlagen Wunsch und Leidenschaft gerechtfertigt werden.« (71) Doch welche Wünsche können als legitime Richtlinien für das Handeln anerkannt werden und welche nicht? Darauf kann es im Rahmen dieser Konzeption keine Antwort geben, denn die Wünsche sind dafür viel zu mannigfaltig und heterogen und Regelungen für die Ordnung der Wünsche können nicht selbst wieder von Wünschen abgeleitet werden. Daher scheitert auch Diderots Versuch.
Hume wiederum hat mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Da er in der Vernunft nur eine Sklavin der Leidenschaften sieht, können es nur letztere sein, die zum Handeln bewegen. Und er versteht moralische Urteile als Ausdruck von Leidenschaften und Gefühlen, wobei er gleichwohl erkennt, dass moralische Urteile sich auf allgemeine Gesetze berufen. Diesen Zwiespalt versucht er aufzuheben und die Regeln der Moral dadurch zu rechtfertigen, dass er ihre Nützlichkeit zum Erreichen der von den Leidenschaften aufgegebenen Ziele aufzeigt.
MacIntyre macht indes darauf aufmerksam, dass Hume bei seinem Versuch einer Begründung auf versteckte normative Kriterien zurückgreift, indem er aus der Vielfalt möglicher Leidenschaften diejenigen eines normalen oder vernünftigen Menschen herausgreift und damit lediglich die von ihm bevorzugten Normen hineinprojiziert.
Zudem weist MacIntyre auf eine weitere Schwierigkeit hin. Hume stellt fest, dass moralische Regeln nur im Dienste des langfristigen Interesses befolgt werden sollten, und wirft dann die Frage auf, warum es nicht gerechtfertigt sein sollte, »sie zu brechen, wann immer sie uns nicht nützten und der Bruch keine weiteren nachteiligen Folgen hätte.« (73) Durch diesen Mangel einer Begründung, die sich ausschließlich auf Interessen und Nützlichkeit stützt, sieht er sich schließlich genötigt, sich auf eine angeborene Triebfeder zur Uneigennützigkeit zu beziehen.
MacIntyre hält indes dagegen:
Es ist klar, daß Humes Berufung auf die Sympathie ein Einfall ist, der die Kluft überbrücken soll zwischen den Gründen, die ein bedingungsloses Festhalten an allgemeinen und uneingeschränkten Gesetzen unterstützen könnten, und den Gründen zum Handeln oder Urteilen, die sich aus unseren individuellen, schwankenden, umstandsbedingten Wünschen, Empfindungen und Interessen herleiten. Adam Smith sollte sich später auf die Sympathie für genau den gleichen Zweck berufen. Aber die Kluft ist selbstverständlich logisch nicht zu überbrücken, und »Sympathie«, wie Hume und Smith sie verwendet haben, ist die Bezeichnung einer philosophischen Fiktion. (73)
Hume geht bei seiner Argumentation von der Annahme aus, dass die Moral entweder der Vernunft oder den Leidenschaften entspringen muss. Und da er meint, gezeigt zu haben, dass es die Vernunft nicht sein kann, bleibt nur der Schluss auf die Leidenschaften. MacIntyre macht auf die folgenreiche Bedeutung solcher »negativer Argumente« (73) aufmerksam, deren Wirkung sich bei Kant und Kierkegaard nicht weniger deutlich zeigt, und stellt das Kapitel beschließend fest:
So wie Hume die Moral auf die Leidenschaften zu gründen sucht, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Vernunft zu gründen, so gründet Kant sie auf die Vernunft, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Leidenschaften zu gründen, und Kierkegaard gründet sie auf die kriterienlose, absolute Wahl aufgrund dessen, was er für das zwingende Wesen der Überlegungen hält, die sowohl die Vernunft wie die Leidenschaften ausschließen.
So beruhte die Bestätigung der jeweiligen Position in wesentlichen Teilen auf dem Scheitern der beiden anderen, und die wirksame Kritik jeder Position durch die anderen erwies sich unter dem Strich als Scheitern aller. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral war eindeutig gescheitert; und seitdem fehlte der Moral der uns vorausgegangenen Kultur - und anschließend auch unserer eigenen - jede öffentliche, gemeinsame logische Grundlage oder Rechtfertigung. (73-74)
Da Theologie und Teleologie im aufgeklärten Denken ausgedient hatten, war diese Aufgabe der modernen Moralphilosophie zugefallen. Doch die Philosophie konnte ihr nicht gerecht werden. Ihr Scheitern trug wesentlich mit dazu bei, dass die Philosophie ihre zentrale Stellung verlor und marginalisiert wurde. Dieses Scheitern ergab sich aus den historischen Voraussetzungen mit zwingender Konsequenz.
6.3.6 Gründe für das Scheitern des Projekts der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral
6.3.6 Gründe für das Scheitern des Projekts der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral Yusuf KuhnMacIntyre wendet sich daher im folgenden Kapitel mit dem Titel Warum das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral scheitern mußte ebendieser Frage zu. Seine Antwort besagt im wesentlichen, dass dieses Projekt wegen des Ausschlusses des teleologischen Denkens scheitern musste, da die sich daraus ergebende Konzeption der Moralität von unaufhebbaren inneren Widersprüchen zerrissen wird.
Die Vertreter der verschiedenen Vorhaben zur Realisierung dieses Projekts dürfen dabei »nicht als Teilnehmer an einer zeitlosen Moraldebatte«, sondern vielmehr vor »ihrem ganz speziellen, gemeinsamen historischen Hintergrund« (75) verstanden werden. Sie stimmen hinsichtlich Inhalt, Art der Begründung und Problemlage überein. Der Inhalt der Moral wird aus der Tradition der christlichen Moral weitgehend übernommen. Die Begründung soll sich auf Eigenschaften der menschlichen Natur beziehen. Und die Problemlage ergibt sich aus dem Anknüpfen an die überkommene Konzeption der Moral unter geschichtlich veränderten Bedingungen.
MacIntyre erläutert:
So haben all diese Autoren teil an dem Vorhaben, gültige Argumente aufzustellen, die von Prämissen über die menschliche Natur ausgehend, wie sie ihrem Verständnis nach ist, bis hin zu Schlußfolgerungen über die Autorität moralischer Vorschriften und Gebote führen. Ich möchte behaupten, daß jedes Vorhaben dieser Art scheitern mußte, weil ein unaufhebbarer Widerspruch bestand zwischen der ihnen gemeinsamen Konzeption moralischer Vorschriften und Gebote einerseits und der andererseits - trotz größerer Widersprüche - ihnen gemeinsamen Konzeption der menschlichen Natur. (76)
Die historischen Vorläufer dieser Konzeptionen waren in ihrer Grundstruktur vor allem geprägt durch die aristotelische Ethik, in der Moral und menschliches Handeln teleologisch begriffen werden. Moralität und deren Regeln werden als die Suche nach den besten Mitteln im Streben nach einem telos (Ziel) des menschlichen Lebens verstanden. Eine Handlung oder ein Wunsch kann in der aristotelischen und auch in der thomistischen Ethik danach beurteilt werden, ob er dem Streben nach dem Guten dient oder nicht.
Das telos wiederum ergibt sich im Rahmen einer solchen Ethik aus dem Begriff, dem Wesen des Menschen selbst, der aus seinem unvollkommenen Naturzustand zur vollen Entfaltung seines in ihm angelegten Wesens strebt, wobei die Ethik ihm den Weg der praktischen Umsetzung weist.
MacIntyre beschreibt dies folgendermaßen:
Innerhalb dieses teleologischen
Eigene Übersetzung; in der deutschen Ausgabe wurde teleological fälschlich mit theologischen übertragen. Systems besteht ein fundamentaler Gegensatz zwischen dem Menschen wie er ist und dem Menschen wie er sein könnte, wenn er sein eigentliches Wesen erkennen würde. Die Ethik ist die Lehre, die den Menschen fähig machen soll zu verstehen, wie er den Übergang vom ersten in den zweiten Zustand bewerkstelligt. Deshalb setzt die Ethik in dieser Sichtweise die Berücksichtigung von Potentialität und Handeln voraus, die Berücksichtigung des Wesens des Menschen als rationalem Tier, und vor allem die Berücksichtigung des menschlichen Telos. (77; Hervorhebungen im Original)
Die Tugenden und die sich daraus ergebenden Normen dienen als Leitschnur für das Handeln, das von der Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen zu dessen Verwirklichung führen soll. Dies lehrt die Vernunft. Diese Konzeption basiert auf drei elementaren Konzepten: dem unvollkommenen Naturzustand des Menschen, dem vollkommenen Wesen des Menschen als telos und der Ethik als vernunftgeleitetem Übergang durch moralische Praxis zur Verwirklichung des menschlichen Wesens.
Durch die Verbindung dieser teleologischen Grundstruktur mit theistischen Vorstellungen, beispielsweise in ihrer christlichen Gestalt bei Thomas von Aquin, in ihrer jüdischen bei Mūsā ibn Maymūn (Maimonides) und in ihrer islamischen bei Ibn Ruschd, erfolgt zwar eine Erweiterung, aber keine grundsätzliche Veränderung. Zwar werden etwa Gebote nunmehr nicht nur teleologisch verstanden, sondern auch als von Gott gegebene Gesetze, aber die dreigliedrige teleologische Struktur bleibt erhalten und ist weiterhin von größter Bedeutung.
Es ist allerdings anzumerken, dass es freilich nur bei solchen theistischen Konzeptionen keine grundsätzlichen Veränderungen gibt, in denen die entscheidenden aristotelischen Grundbegriffe mehr oder weniger unverändert beibehalten werden. MacIntyre erläutert die aus der Verbindung von Teleologie und Theismus hervorgegangene Moral folgendermaßen:
Die moralische Äußerung hat demnach in der Zeit, in der die theistische Version der klassischen Moral vorherrscht, zwei Seiten und Ziele und enthält eine doppelte Norm. Jemandem zu sagen, was er tun sollte, bedeutet ihm zu ein und derselben Zeit zu sagen, welche Handlungsweise unter den gegebenen Umständen eigentlich zum wahren Ziel des Menschen führt, und zu sagen, was das Gesetz vorschreibt, das von Gott gegeben ist und der Vernunft einsichtig ist. Moralische Sätze werden in diesem Rahmen gebraucht, um Behauptungen aufzustellen, die richtig oder falsch sind. Die meisten mittelalterlichen Verfechter dieses Systems glaubten selbstverständlich, daß es sowohl Teil der göttlichen Offenbarung als auch eine Entdeckung der Vernunft und damit rational vertretbar sei. (78)
Dieser Zusammenhang wird jedoch in der Folge durch den Protestantismus zerstört, der die Vernunft aufgrund des Sündenfalls als unfähig erachtet, Einsicht in das wahre Ziel des Menschen zu erlangen. Die Vernunft verliert auch ihre Fähigkeit, die Leidenschaften beherrschen zu können, und wird mithin zu deren Spielball.
Zwar mag es noch göttliche Gebote geben, aber den Weg zum Ziel kann die ethische Praxis nicht mehr ebnen, sondern ausschließlich die göttliche Gnade. Neben den Protestanten Luther, Calvin und Hume kommt dabei dem jansenistischen Katholiken Pascal eine wichtige Rolle zu, die MacIntyre so beschreibt:
Denn Pascal erkennt, daß der protestantisch-jansenistische Vernunftbegriff in wesentlicher Hinsicht mit dem Vernunftbegriff übereinstimmt, dem die fortschrittlichsten Philosophien und Wissenschaften des 17. Jahrhunderts folgen. Vernunft umfaßt weder das innere Wesen noch den Übergang von Potentialität zum Handeln; diese Begriffe gehören zum verachteten Begriffssystem der Scholastik. (78-79)
Die Vernunft wird daraufhin auf berechnendes Denken und instrumentelle Rationalität im Dienste von Leidenschaften und Interessen zurechtgestutzt. Über Ziele und Zwecke hat und vermag sie nichts mehr zu sagen. Durch die dadurch bedingte Auslöschung des telos des Menschen wird ein wesentliches Element aus der dreigliedrigen Moralkonzeption herausgebrochen, die somit nur noch aus zwei Elementen besteht, deren Verhältnis zueinander dadurch überdies äußerst problematisch wird. Der Inhalt der Moral und die menschliche Natur stehen einander nun unvermittelt gegenüber. Da die ethischen Gebote doch der Vervollkommnung der menschlichen Natur dienen sollten, können sie nicht aus Eigenschaften dieser Natur in ihrer unvollkommenen Gestalt abgeleitet werden, die nach dem Verlust des telos einzig übriggeblieben ist.
MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:
Die Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts befaßten sich deshalb mit einem zwangsläufig erfolglosen Vorhaben; denn sie versuchten, eine rationale Basis für ihre moralischen Überzeugungen in einem besonderen Verständnis der menschlichen Natur zu finden, während sie auf der einen Seite einen Bestand an moralischen Gesetzen übernahmen und auf der anderen einen Begriff der menschlichen Natur, die ausdrücklich so gestaltet waren, daß sie einander widersprachen. Dieser Widerspruch wurde durch ihre revidierten Überzeugungen über die menschliche Natur nicht ausgeräumt. Sie übernahmen unzusammenhängende Bruchstücke eines einst zusammenhängenden Denk- und Handlungssystems, und da sie ihre besondere historische und kulturelle Situation nicht erkannten, konnten sie die Unmöglichkeit und Wirklichkeitsferne ihrer selbstgewählten Aufgabe nicht erkennen. (80)
In der aristotelischen Tradition strebt der unvollkommene Mensch durch ethische Entfaltung nach der Verwirklichung seines wahren Wesens, während in der modernen Moral der unvollkommene Mensch einfach den Regeln der Moral zu folgen hat, ohne dass noch ein Bezug zu einem übergeordneten Zweck zu erkennen wäre. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht also darin, bei aller Zweckfreiheit für diese Regeln eine rationale Grundlage zu finden. Daraus ergab sich eine eigentümliche Doppelbewegung, die trotz aller immer wieder unternommenen Versuche, die Moral auf die menschliche Natur zu gründen, sich »immer uneingeschränkter der Behauptung [näherte], daß kein schlüssiges Argument von ausschließlich faktischen Voraussetzungen zu einem moralischen oder wertenden Schluß führen kann – ein Prinzip, dessen Annahme ein Epitaph für ihr gesamtes Vorhaben bedeutet.« (81)
Die aufgeklärten Vertreter des Projekts der rationalen Rechtfertigung der Moral zeigten also zugleich, das heißt im Zuge des stets erneuerten Versuchs seiner Durchführung, immer deutlicher eben seine Undurchführbarkeit auf. So kommt es, dass sich in Diderots Rameaus Neffe »eine schärfere und einsichtigere Kritik des gesamten Vorhabens der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts als in jeder externen Kritik der Aufklärung« (81) findet. Kant wiederum kam in der Kritik der praktischen Vernunft zu der Einsicht, dass »das gesamte Vorhaben der Moral ohne teleologischen Rahmen unverständlich wird« (81). Und Hume brachte noch als Zweifel zum Ausdruck, was später zum sogenannten Humeschen Gesetz erhoben wurde, nämlich dass aus einem nicht-normativen »ist«-Satz nicht logisch auf einen normativen »soll«-Satz geschlossen werden kann.
MacIntyre bestreitet indes die Gültigkeit dieses »Gesetzes«, das den Übergang von »ist« zu »soll« verbietet, indem er Gegenbeispiele anführt wie etwa Aussagen mit Begriffen wie Kapitän, Uhr und Bauer. Denn aus solchen faktischen Aussagen können gelegentlich normative Schlussfolgerungen folgen. Es handelt sich dabei um funktionale Begriffe, die »im Hinblick auf den Zweck oder die Funktion, die eine Uhr oder ein Bauer nach unserer Erwartung normalerweise erfüllt« (83-84), definiert werden. Daraus ergibt sich, dass beispielsweise der Begriff einer Uhr nicht unabhängig vom Begriff einer guten Uhr definiert werden kann. Funktionale Begriffe können daher die Kluft von Sein und Sollen überbrücken.
Wenn dies für funktionale Begriffe gilt, so legt sich die Vermutung nahe, dass die Anwendung des Humeschen Gesetzes auf alle Begründungen auf dem Gebiet der Moral auf der Annahme beruht, dass moralische Begründungen keine funktionalen Begriffe enthalten. Und das steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Verwerfung des teleologischen Denkens und des damit einhergehenden Bedeutungswandels vieler Begriffe.
In der aristotelischen Tradition kommt allerdings vielen, insbesondere für den Bereich des Moralischen relevanten Begriffen funktionaler Gehalt zu. Ganz besonders deutlich wird dies etwa für den Begriff des Menschen. Denn dem Menschen wird eine wesenhafte Natur und ein wesenhafter Zweck oder Funktion zugeschrieben. Daraus ergibt sich, dass Mensch begrifflich für guter Mensch steht wie Uhr für gute Uhr. MacIntyre führt dies auf das gesellschaftliche Leben zurück, dessen Wurzeln noch viel weiter als Aristoteles zurückreichen und das im Denken der klassischen Tradition zum Ausdruck kommt, und erläutert dies folgendermaßen:
Denn nach dieser Tradition bedeutet ein Mensch zu sein, eine Vielzahl Rollen einzunehmen, die alle ihr Ziel und ihren Zweck haben: Familienmitglied, Bürger, Soldat, Philosoph, Diener Gottes. Nur wenn man sich den Menschen als Individuum vor und getrennt von allen Rollen denkt, hört der Begriff »Mensch« auf, ein funktionaler Begriff zu sein. (85)
Die Verarmung des Gehalts moralischer Begriffe und Begründungen wird in der modernen Philosophie in Gestalt des Humeschen Gesetzes zur zeitlosen Wahrheit verklärt, was doch nur Mangel an historischem Bewusstsein verrät. Denn ihre Verkündigung war ein einschneidendes historisches Geschehen, da sich darin sowohl der Bruch mit der aristotelischen Tradition wie auch das unausweichliche Scheitern des Projektes einer Begründung der Moral im Rahmen der überkommenen, aber bereits inkohärenten und fragmentarischen Tradition bekundet.
Darüber hinaus kommt es auch zu einer Änderung des Sinns von moralischen Urteilen. In der aristotelischen Tradition ist der Gebrauch von gut meist mit der Vorstellung von einem Zweck oder einer Funktion verbunden, dem etwas dient. Und dazu gehören auch Menschen und Handlungen, wie MacIntyre darlegt:
Eine bestimmte Handlung gerecht oder richtig zu nennen bedeutet zu sagen, daß ein guter Mensch in einer derartigen Situation so handeln würde; daher ist auch diese Art von Aussage faktisch. Innerhalb dieser Tradition können moralische und wertende Aussagen in genau derselben Art und Weise richtig oder falsch genannt werden […] Aber sobald die Vorstellung wesentlicher menschlicher Ziele und Funktionen aus der Ethik verschwindet, leuchtet es nicht mehr ein, moralische Urteile wie faktische Aussagen zu behandeln. (86)
Werden zudem moralische Urteile, wie es in der Aufklärung geschieht, nicht mehr als Teil der göttlichen Offenbarung betrachtet, so werden sie immer mehr auf den Status von bloßen Imperativen reduziert und des Bereiches von Wahrheit und Falschheit verwiesen. Dass bis heute gleichwohl moralische Urteile gewohnheitsmäßig als wahr oder falsch bezeichnet werden, ist nur als Überbleibsel der klassischen Tradition zu erklären. Die Frage, warum ein bestimmtes Urteil wahr oder falsch ist, bleibt unter diesen Bedingungen indes ohne klare Antwort.
MacIntyre erläutert:
Daß dies so sein muß, ist vollkommen einsichtig, falls die historische Hypothese richtig ist, die ich skizziert habe: daß moralische Urteile sprachliche Überreste der praktischen Anwendung des klassischen Theismus sind, die den durch diese praktische Anwendung gebildeten Kontext verloren haben. (86)
Im Rahmen der Praktiken des Theismus waren die moralischen Urteile zugleich auf einen Zweck bezogen wie auch Ausdruck eines Gesetzes, also nach der kantischen Einteilung zugleich hypothetisch und kategorisch. Moralische Urteile können so beispielsweise die Übereinstimmung einerseits mit dem Sinn oder telos des menschlichen Lebens wie auch andererseits mit dem von Gott gegebenen Gesetz artikulieren. Wird ihnen jedoch beides genommen, was sind sie dann?
MacIntyre gibt folgende Antwort:
Moralische Urteile verlieren dann ihren eindeutigen Status, und die Sätze, die sie ausdrücken, verlieren parallel dazu ihre unumstrittene Bedeutung. Solche Sätze stehen dann als Ausdrucksformen einem emotivistischen Selbst zur Verfügung, das seinen sprachlichen und praktischen Standpunkt in der Welt verloren hat, da ihm die Anleitung durch den Kontext fehlt, in welchem sie ursprünglich zu Hause waren. (87)
Diese Entwicklung war nicht nur von theoretischer, sondern von eminent gesellschaftlicher Bedeutung. Denn sie war die Erfindung des modernen Selbst, des modernen Begriffs des Individuums. Der Verlust der traditionellen Strukturen und Inhalte wurde von den Vertretern der Aufklärung einseitig als Befreiung des Selbst erachtet, die dies zur Erlangung seiner Autonomie befähigt. Doch die Erfindung der Autonomie und des modernen Individuums führten zur Entstehung der emotivistischen Kultur.
6.3.7 Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung
6.3.7 Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung Yusuf KuhnDen Prozess, der zur Entstehung der emotivistischen Kultur führt, beschreibt MacIntyre im nächsten Kapitel, in dem einige Folgen des Scheiterns des Projekts der Aufklärung näher beleuchtet werden. Die Probleme, mit denen die moderne Moralphilosophie zu kämpfen hat, gehen aus der Weise hervor, in der dieses Projekt fehlgeschlagen ist.
Einerseits verfügt das moderne Selbst über moralische Autonomie. Andererseits haben die Regeln der Moral sowohl ihren teleologischen Charakter als auch ihren kategorischen Charakter als Ausdruck eines göttlichen Gesetzes eingebüßt. Die Aufgabe der modernen Moralphilosophie besteht mithin darin, den moralischen Normen einen neuen Status zu verleihen, indem sie entweder mit einer neuen Teleologie oder mit einer neuen Art von Gebotensein versehen werden, so dass sie nicht als bloße Instrumente von individuellem Wunsch und Wille erscheinen. Da diese Aufgabe aufgrund der inneren Widersprüche, die eine Versöhnung von moralischer Autonomie mit Teleologie oder kategorischen Geboten vereiteln, nicht gelingen kann, steht jede moderne Moralphilosophie unvermeidlich in Gefahr, als Werkzeug im Dienste von Interesse und Macht entlarvt zu werden.
6.3.7.1 Utilitarismus und kantische Pflichtethik
Die zwei Hauptströmungen der modernen Moralphilosophie, Utilitarismus und kantische Pflichtethik, gehen als Lösungsversuche aus dieser Problemstellung hervor. Während der Utilitarismus mit seiner Berufung auf den Nutzen versucht eine neue Teleologie zu entwickeln, strebt der Kantianismus nach einem neuen kategorischen Status durch die Begründung in der Vernunft.
Am Anfang des Utilitarismus steht Jeremy Bentham, der einen Ansatz für die Lösung der moralphilosophischen Probleme in der Annahme erkannt zu haben meint, dass die einzigen Motive für menschliches Handeln im Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerzen liegen. Der neue telos wird im Zweck des Lebens als Maximierung von Lust und Minimierung von Schmerzen gefunden. Lust und Schmerz gelten dabei als quantifizierbare Empfindungen. Von dieser psychologischen Annahme geht Bentham sodann zum moralischen Kriterium über, demzufolge immer die Handlung gewählt werden sollte, »die als Ergebnis der größtmöglichen Zahl von Menschen das größtmögliche Glück bringt - das heißt, die größtmögliche Menge an Lust bei gleichzeitig kleinstmöglicher Menge an Schmerzen.« (90)
Die utilitaristischen Nachfolger von Bentham wiederum, insbesondere John Stuart Mill, erkannten in dieser einfachen Bestimmung der Lust eine Hauptursache für die Schwierigkeiten des Utilitarismus. Mill versuchte daher einen Unterschied zwischen »höherer« und »niedriger« Lust einzuführen. Aber worauf sollte diese Unterscheidung ihrerseits basieren? Welche Lust, welches Glück sollte wirklich leitend sein?
Auf diese Fragen kann jedoch der Utilitarismus, wenn er sich auf den Grundbegriff der Lust stützen will, keine befriedigende Antwort geben. Denn die Vorstellung von Lust oder Glück ist eben keine einheitliche, sondern viel zu unterschiedlich und vielgestaltig. Sie kann weder an quantitativen noch an qualitativen Maßstäben gemessen werden. Da sie kein Kriterium für grundlegende Entscheidungen liefern kann, erweist sie sich als untauglich für die Zwecke des Utilitarismus. MacIntyre kommt daher zu dem Schluss:
[…] der Gedanke des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl [ist] ein Gedanke ohne jeden klaren Inhalt [...]. Er ist tatsächlich ein Pseudokonzept, das für eine Vielzahl ideologischer Verwendungen genutzt werden kann, aber mehr auch nicht. Wenn wir daher im täglichen Leben auf seine Verwendung stoßen, ist es stets notwendig zu fragen, welches eigentliche Vorhaben oder Ziel durch seine Verwendung verschleiert wird. (92)
In der Folge führte die utilitaristische Selbstkritik, die immer weiter vorangetrieben wurde, schließlich bei Sidgwick zu der Einsicht, dass die Psychologie keine Grundlage für eine Teleologie, die utilitaristische Regeln abzuleiten erlaubt, abgeben kann. Sidgwick zog daher daraus den Schluss, dass moralische Auffassungen keine Einheit bilden, sondern unaufhebbar heterogen sind und dass sich für sie keine weiteren Gründe anführen lassen. Er bezeichnet moralische Auffassungen daher als Intuitionen. MacIntyre merkt dazu an:
Sidgwicks Enttäuschung über das Ergebnis seiner Untersuchung kommt in seiner Bemerkung zum Ausdruck, daß er, wo er nach dem Kosmos gesucht, tatsächlich nur Chaos gefunden habe. (93)
Im direkten Anschluss daran ebnete sodann Moore in den Principia Ethica über den Intuitionismus hinaus dem Emotivismus den Weg, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass für ihn das, was Sidgwick als Scheitern erachtet, »eine aufklärerische und befreiende Entdeckung« (93) ist. Und dieser Schritt wurde nicht nur als Befreiung von Sidgwick und dem ganzen übrigen Utilitarismus, sondern weit darüber hinaus vom Christentum und allerlei anderen verstaubten Traditionen gefeiert. Zugleich wurde freilich allen Ansprüchen auf Objektivität in der Moral die Grundlage entzogen und damit dem Emotivismus der Boden bereitet.
Auf den Utilitarismus folgte also der Intuitionismus, und auf diesen wiederum der Emotivismus, der sich indes in der analytischen Moralphilosophie nie ganz durchsetzen konnte, »hauptsächlich weil es offenkundig ist, daß moralisches Folgern stattfindet, daß moralische Schlußfolgerungen oft schlüssig aus einer Reihe von Prämissen abgeleitet werden können« (94). Und so ergab es sich, dass der zweite Hauptstrang der modernen Moralphilosophie wieder aufgegriffen wurde, nämlich das Projekt Kants, die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln in der Vernunft zu gründen.
MacIntyre beschreibt dieses Projekt der Vernunftbegründung der Moral nunmehr folgendermaßen:
Diese analytischen Philosophen griffen den Plan Kants wieder auf, darzulegen, daß die Autorität und Objektivität der moralischen Regeln genau jene Autorität und Objektivität sind, die zur Ausübung der Vernunft gehören. Ihr Hauptanliegen war und ist also nachzuweisen, daß jeder vernünftig Handelnde durch seine Vernunft den Regeln der Moral logisch verpflichtet ist. (94)
Es gibt zweifellos viele Versuche, dieses Projekt zu realisieren. Sie sind jedoch miteinander unvereinbar. Und ihre jeweiligen Kritiken an den anderen Versuchen fallen regelmäßig vernichtend aus. Von Erfolg kann daher nicht die Rede sein. Und die Projekte, wenn sie denn nicht aufgegeben werden, verbleiben bestenfalls im Status eben eines Projekts, das im akademischen Betrieb endlos fortgeführt werden kann, ohne, nicht zuletzt aufgrund der unaufhörlichen wechselseitigen Kritik, je zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden zu können.
MacIntyre geht sodann der Frage nach, warum dieses Vorhaben scheitert, und wählt als Anschauungsmaterial den Versuch von Alan Gewirth in dessen Buch Reason and Morality aus.
»Da der Handelnde Freiheit und Wohlbefinden, die Gattungsmerkmale seines erfolgreichen Handelns, als notwendige Güter betrachtet, muß er logischerweise auch der Meinung sein, daß er ein Recht auf diese Gattungsmerkmale hat, und er erhebt implizit einen entsprechenden Rechtsanspruch«
Siehe Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago, 1978, S. 63. . (91)
Gewirth nimmt also an, dass es bestimmte Voraussetzungen für rationales Handeln gibt, die der Handelnde als notwendige Güter betrachtet, auf die er daher einen Rechtsanspruch erhebt. MacIntyres Kritik richtet sich vor allem auf die Einführung des Rechtsbegriffs, die nicht ohne Begründung erfolgen darf, und zwar insbesondere deshalb, weil der Begriff des Rechts selbst notwendige Bedingungen wie das Bestehen bestimmter sozialer Institutionen oder Gewohnheiten voraussetzt.
MacIntyre gelangt daher zu folgendem Ergebnis:
So hat Gewirth in seine Beweisführung unzulässigerweise einen Begriff eingeschmuggelt, der in keiner Weise zu den Grundeigenschaften eines rational Handelnden gehört, was aber der Fall sein muß, wenn die Beweisführung mit Erfolg abgeschlossen werden soll. (96)
Diese Kritik mag auf Gewirths Versuch zutreffen, aber sie ist gewiss nicht ausreichend, um die Frage zu beantworten, warum die Vorhaben zur Realisierung des kantischen Projektes scheitern mussten. Dafür wäre eine viel gründlichere Untersuchung von Kants Moralphilosophie selbst sowie den daran anknüpfenden Versuchen der Begründung der Moral auf die Vernunft, wie es beispielsweise in der Diskursethik als einem herausragenden Projekt dieser Art angestrebt wird, erforderlich.
Es mag hier aufschlussreich sein, einen kurzen Blick auf die Überlegungen von Ernst Tugendhat zu werfen, der in seinem eigenen Versuch einer Moralbegründung zwar an Kant anknüpft, aber eine »absolute Vernunftbegründung« als aussichtslos ablehnt und lediglich einen »Plausibilitätsanspruch« erhebt. Tugendhat macht in seinen Vorlesungen über Ethik im Hinblick auf die Vernunftbegründung der Moral im allgemeinen und Gewirths Ansatz im besonderen folgende erhellende Bemerkung als Schlussfolgerung aus seinen Überlegungen in den vorausgegangenen Vorlesungen:
Ich habe in der 2. Vorlesung die Auffassung vertreten, daß moralische Regeln sich nicht als Vernunftregeln verstehen lassen, und in der 4. und 5. Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß moralische Regeln sich nicht in einem absoluten Sinn begründen lassen und insbesondere nicht im Rekurs auf einen angeblichen absoluten Vernunftbegriff. In der vorigen Vorlesung habe ich zu zeigen versucht, daß, so wertvoll die Idee des kategorischen Imperativs ist, Kants Versuch, ihn als Vernunftprinzip zu verstehen und ihm eine absolute Vernunftbegründung zu geben, als gescheitert angesehen werden muß. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, obwohl auf Grund meiner vorgängigen grundsätzlichen Bedenken unwahrscheinlich, daß sich die moralischen Regeln auf andere Weise als bei Kant als auf Vernunft begründet erweisen ließen.
Es gibt in der Gegenwart einige solcher Versuche. Einer ist der von A. Gewirth, der jedoch auf einem besonders leicht durchschaubaren Trugschluß aufgebaut ist und auf den sich angelsächsische Autoren, die den Vernunftansatz diskreditieren wollen, besonders gerne beziehen. Der interessanteste zeitgenössische Versuch einer absoluten Vernunftbegründung der Moral, der auch die größte Popularität gewonnen hat, ist jedoch der diskursethische. […] Die Diskursethik, besonders in der Form, die sie durch Apel und Habermas gewonnen hat, wird inzwischen überall auf der Welt diskutiert und verdient schon deswegen eine Erörterung.
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main, 1995, S. 161.
So treffend diese Bemerkung sein mag, so wenig kann hier der Ort dafür sein, diesen Andeutungen näher nachzugehen. Festzuhalten bleibt gleichwohl, dass alle Versuche einer Vernunftbegründung der Moral bislang zumindest in dem Sinne faktisch gescheitert sind, dass sie sich alle gegenseitig bekämpfen und keine Anhänger über den engsten Kreis ihrer jeweiligen Verfechter hinaus gefunden haben. Und dies gilt übrigens gleichermaßen für die Diskursethik in ihren verschiedenen Versionen. Diese Vorhaben sind und bleiben allesamt im besten Fall eben Projekte, ohne bereits berechtigten Anspruch auf eine erfolgreiche Durchführung erheben zu können. Dieser Zustand, der aus dem Scheitern nicht nur der kantischen, sondern auch der utilitaristischen Versuche resultiert, wird indes meist nicht eingestanden, woraus sich weitreichende Konsequenzen für die moderne Kultur ergeben.
MacIntyre beschreibt dieses Phänomen nachdrücklich:
Dennoch sprechen und schreiben fast alle, Philosophen wie Nichtphilosophen, weiterhin so, als hätte eines dieser Vorhaben Erfolg gehabt. Und daraus leitet sich eines der Merkmale des gegenwärtigen moralischen Diskurses ab, auf das ich zu Beginn hingewiesen habe, nämlich die Kluft zwischen der Bedeutung moralischer Ausdrücke und der Art ihres Gebrauchs. Denn die Bedeutung ist und bleibt so, wie sie verbürgt worden wäre, wenn wenigstens eines dieser philosophischen Vorhaben Erfolg gehabt hätte; aber der Gebrauch, der emotivistische Gebrauch, ist genau so wie er zu erwarten wäre, wenn diese philosophischen Vorhaben ausnahmslos gescheitert wären. (97)
Die gegenwärtige moralische Erfahrung hat daher einen paradoxen Charakter. Der moralisch Handelnde gilt einerseits als autonom und andererseits wird er in ästhetische oder bürokratische Praktiken im Rahmen manipulativer Sozialbeziehungen verstrickt. Der Handelnde versucht seine Autonomie zu wahren und sich Manipulationen zu entziehen, verfügt jedoch, wenn er andere von seinen Auffassungen und Präferenzen überzeugen will, mangels objektiver und rationaler Bezugspunkte über keine anderen als manipulative Mittel. Diese Unstimmigkeit zwischen moralischer Autonomie und systemischer Manipulation geht aus dem inkohärenten Begriffsschema hervor, das der modernen Moralphilosophie zugrunde liegt.
6.3.7.2 Rechte, Protest und Entlarvung
Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass in der modernen Moraldebatte drei Begriffe eine Schlüsselstellung einnehmen: Rechte, Protest und Entlarvung. Mit Rechten meint MacIntyre hier »nicht jene Rechte, die bestimmten Klassen von Menschen durch das positive Recht oder die Gewohnheit verliehen werden«, sondern »vielmehr jene Rechte, die als zum Menschen an sich gehörend gelten und die angeführt werden als ein Grund für die Meinung, daß man sich nicht in das Leben eines Menschen und sein Streben nach Freiheit und Glück einmischen sollte.« (97) Damit gemeint sind also die sogenannten Natur- und Menschenrechten, die weitgehend negativ bestimmt wurden, also als Rechte, in die nicht eingegriffen werden sollte. Heute ist zumeist von Menschenrechten die Rede, die allen Menschen gleichermaßen eignen und »eine Grundlage für eine Vielzahl individueller moralischer Haltungen« (98) bieten.
MacIntyre bestreitet indes die Existenz solcher Rechte mit folgendem Argument:
[…] alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, daß es solche Rechte gibt, sind gescheitert. (98; Hervorhebung im Original)
Die Verfechter der Naturrechte im 18. Jahrhundert betrachteten diese als selbstevidente Wahrheiten, manche Moralphilosophen im 20. Jahrhundert als Intuitionen. Da diese »Gründe« kaum mehr zu überzeugen vermögen, ist man gemeinhin dazu übergegangen, wie etwa in der UN-Menschenrechtserklärung von 1949, »keine guten Gründe mehr geltend« (99; Hervorhebung im Original) zu machen, also schlichtweg auf Begründung zu verzichten. MacIntyre erklärt derartige Rechte aufgrund ihrer Grundlosigkeit zu »Fiktionen – wie die Nützlichkeit -« (99), da der Begriff des Rechts, wie auch der Begriff der Nützlichkeit, lediglich vorgibt, einen eindeutigen Inhalt und objektive Kriterien zu liefern, ohne dies jedoch wirklich zu leisten. Schon daraus erwächst eine Kluft zwischen ihrer angeblichen Bedeutung und ihrem tatsächlichen Gebrauch.
Die aus dieser Paradoxie erwachsende politische Kultur des bürokratischen Individualismus ist daher von endlosen Debatten über unvereinbare Standpunkte gekennzeichnet, die aus dem Gegensatz zwischen »einem Individualismus, der seine Ansprüche auf Rechte gründet, und Formen bürokratischer Organisation, die ihre Ansprüche auf die Nützlichkeit gründen« (100), hervorgehen. Die moralische Sprache kann aufgrund der Unvereinbarkeit der jeweiligen Ansprüche in der modernen politischen Auseinandersetzung bestenfalls einen Anschein von Rationalität erwecken, der die Willkürlichkeit von Willen und Macht, die in ihrer angeblichen Lösung in Wirklichkeit zum Ausdruck kommt, lediglich verdeckt.
So wird »Protest zu einem besonderen moralischen Merkmal der modernen Zeit« und »Empörung eine überwiegend moderne Empfindung« (100; Hervorhebungen im Original). Der Protest ist vor allem ein »negatives Phänomen, das bezeichnenderweise als Reaktion auf den vermeintlichen Eingriff in die Rechte von jemandem im Namen der Nützlichkeit für jemand anderen auftritt.« (100; Hervorhebungen im Original)
MacIntyre führt dazu aus:
Zu der auf die eigenen Rechte pochenden Heftigkeit des Protests kommt es, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit nie eine Beweisführung gewinnen können; die empörte Selbstgerechtigkeit des Protests entsteht, weil Protestierende aufgrund der bestehenden Unvereinbarkeit ebenso nie eine Beweisführung verlieren können. (100; Hervorhebung im Original)
Die Unvereinbarkeit führt dazu, dass der Protest, da er »rational nichts bewirken« (100; Hervorhebung im Original) kann, sich nur als Werkzeug manipulativer Bestrebungen hinter der Maske der Moral zur Geltung bringen kann. Aus dieser Verquickung als Grundelement der modernen Kultur erklärt sich wiederum die zentrale Stellung der Entlarvung, die die uneingestandenen Motive des willkürlichen Willens und Wunsches hinter den moralischen Masken des manipulativen Umgangs enthüllt.
6.3.7.3 Expertentum der Manager und Bürokraten
Die drei Charaktere der emotivistischen Kultur, denen es an jeglicher rationalen und objektiven Grundlage für ihre moralischen Ansprüche gebricht, gebrauchen daher die Sprache der Moral dazu, um andere dahingehend zu manipulieren, sich ihren eigenen Auffassungen und Präferenzen anzuschließen. Sie handeln mit moralischen Fiktionen, nehmen sie in Kauf und können gar nicht anders.
Dies gilt gleichermaßen für den Ästheten, den Therapeuten und den Manager, die alle mehr oder weniger für Fiktionen anfällig sind. Der Manager unterscheidet sich allerdings in einer entscheidenden Hinsicht, denn zur Definition seiner Rolle gehört geradezu eine bestimmte Fiktion, wie MacIntyre erläutert:
Denn neben Recht und Nützlichkeit haben wir als eine der wichtigsten moralischen Fiktionen der Zeit die besondere Fiktion des Managers zu setzen, die in dem Anspruch zum Ausdruck kommt, systematische Effektivität bei der Überwachung bestimmter Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu besitzen. (104)
Es mag überraschend sein, Effektivität als moralischen Begriff zu verstehen. Aber gegen seine vermeintliche Wertneutralität spricht, dass er gar nicht von Formen des sozialen Lebens zu trennen ist, in denen
das Finden von Mitteln im wesentlichen aus der Manipulation menschlicher Wesen in vorgegebene Verhaltensmuster besteht; und durch die Berufung auf die eigene Effektivität beansprucht der Manager in dieser Hinsicht Autorität in der manipulativen Methode. (104)
Der Begriff der Effektivität dient zweifellos der Aufrechterhaltung der Autorität und Macht der Manager. Aber verfügen sie tatsächlich über die dafür nötigen Fertigkeiten und Kenntnisse? Ist Effektivität lediglich eine moralische Fiktion im Dienst einer Verschleierung sozialer Kontrolle? Könnte es sein, dass die Anwendung des Begriffs der Effektivität unerfüllbare Ansprüche auf Wissen voraussetzt? Gilt auch für Effektivität die emotivistische Analyse mit ihrer charakteristischen Unterscheidung von Bedeutung und Gebrauch?
MacIntyre bezeichnet die vermeintliche Eigenschaft der Effektivität als Expertentum, womit er keineswegs das Vorhandensein wirklicher Experten auf vielen Gebieten bestreiten will, und bemerkt dazu:
Ich stelle lediglich das Expertentum der Manager und Bürokraten in Frage. Und ich gelange letztlich zu dem Schluß, daß sich dieses Expertentum in der Tat als eine weitere moralische Fiktion erweist, weil die Art von Wissen, auf das es sich stützen müßte, nicht existiert. Aber wie würde es aussehen, wenn soziale Kontrolle tatsächlich eine Maskerade wäre? Betrachten wir die folgende Möglichkeit: Wir werden nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht unterdrückt […] die Schalthebel der Macht - eine Schlüsselmetapher für das Expertentum der Manager - erzielen Wirkungen, die ohne System und oft rein zufällig mit den Ergebnissen zusammenhängen, mit denen sich die Leute an diesen Schalthebeln brüsten. Wäre all das der Fall, wäre es natürlich sozial und politisch wichtig, diese Tatsache zu verschleiern, und die Anwendung des Begriffs der Effektivität des Managers, wie ihn die Manager und diejenigen, die über das Management schreiben, anwenden, wäre ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Verschleierung. (106)
Der Anspruch des Managers auf Effektivität muss also einer Überprüfung unterzogen werden. Sollte sich herausstellen, dass er jeglicher rationalen Grundlage entbehrt, wäre er als eine weitere moralische Fiktion enttarnt – »und vielleicht die kulturell mächtigste von allen« –, nämlich die »Hauptfigur des modernen sozialen Dramas« (107), der bürokratische Manager.
Um nun die Ansprüche des Managers, der sich auf moralische Neutralität und wissenschaftliche Objektivität beruft, einer Überprüfung zu unterziehen, müssen insbesondere zwei Fragen geklärt werden: Gibt es wirklich einen Bereich moralisch neutraler Fakten, in dem der Manager Experte sein soll? Und verfügt er tatsächlich über das nötige Wissen, über die gesetzesgleichen Verallgemeinerungen, mit denen sich die spezifischen Erklärungen und Voraussagen treffen lassen, die für die Gestaltung, Manipulation und Kontrolle der sozialen Umwelt erforderlich sind? Mit diesen beiden Fragen befassen sich nacheinander die nächsten zwei Kapitel.
6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt
6.3.8 Tatsache, Experte und moralisches Subjekt Yusuf KuhnIm nächsten Schritt untersucht MacIntyre daher den Begriff der Tatsache, dessen Entstehung eng mit dem Erscheinen nicht nur des Experten, sondern auch des autonomen moralischen Subjekts verknüpft ist. Das folgende Kapitel trägt demgemäß den Titel »Tatsache«, Erklärung und Expertentum.
Die Vorstellung von nackten Tatsachen, die sich einer vorurteilslosen Beobachtung oder Beschreibung darbieten, ist gewiss hartnäckig und langlebig, wird aber in den Reihen der Wissenschaftsphilosophen schon seit geraumer Zeit fast einmütig als Irrtum anerkannt. Es gibt keine theoriefreie Beobachtung. Und Tatsachen gehen der Theorie nicht einfach voraus, sondern setzen allerlei Grundannahmen theoretischer Natur voraus, wie MacIntyre in Anspielung auf Kants berühmte Aussage über das Verhältnis von Anschauung und Begriff in der Kritik der reinen Vernunft
Was ein Beobachter wahrzunehmen glaubt, ist gekennzeichnet und muß gekennzeichnet werden durch theoriebeladene Begriffe. Wahrnehmende ohne Begriffe sind, wie Kant sinngemäß sagte, blind. (111)
Folglich gibt es keine neutrale und unpersönliche Berufung auf objektive Fakten, auf die der Manager seinen Anspruch auf Effektivität stützen könnte. Jedes Expertentum, das sich auf Wissen und Erkenntnis von Fakten beruft, kann in diesem Sinne nie wirklich objektiv und neutral sein, da in seine Vorannahmen immer schon parteiliche Wertungen und Entscheidungen einfließen.
Im aristotelischen Denken wird menschliches Handeln immer im Lichte von »Zweckursachen« betrachtet. Für die Erklärung und das Verständnis menschlichen Handelns kann dabei auf solche Begriffe wie Überzeugung, Absicht, Grund und Zweck nicht verzichtet werden. Ebendieser Verzicht wird jedoch in den modernen Wissenschaften mit dem Ideal der rein mechanischen Erklärung auch in Bezug auf des menschliche Handeln versucht. In der mechanistischen Wissenschaft des menschlichen »Verhaltens« werden alle Bezüge auf Absichten und Zwecke eliminiert und das reiche Arsenal aristotelischer Ursachen auf eine einzige zulässige Art reduziert, nämlich die mechanische Wirkursache. Eine derart zurechtgestutzte Humanwissenschaft bedarf nun, wie alle anderen Naturwissenschaften des gleichen Schlages, allgemeiner Gesetze, um daraus Erklärungen und Voraussagen über menschliches Verhalten ableiten zu können.
MacIntyre erläutert:
Die Erklärung des Handelns wird immer häufiger als Aufgabe betrachtet, die physiologischen und physischen Mechanismen offenzulegen, die dem Handeln zugrunde liegen; und als Kant erkennt, daß eine tiefe Unvereinbarkeit besteht zwischen der Darstellung des Handelns, das die handlungsleitende Rolle des moralischen Imperativs anerkennt, und jeder derartigen mechanischen Erklärungsform, wird er zu dem Schluß gezwungen, daß Handlungen, die dem moralischen Imperativ folgen und ihn verkörpern, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unerklärbar und unverständlich sein müssen. Nach Kant wird die Frage der Beziehung zwischen Vorstellungen wie Absicht, Zweck, Grund des Handelns u.ä. einerseits und Begriffen, die die Vorstellung einer mechanischen Erklärung spezifizieren, andererseits Bestandteil des ständigen Repertoires der Philosophie. (115)
Aus diesem Gegensatz entwickelt sich die Aufteilung in verschiedene Bereiche des modernen Wissens, wie beispielsweise im Fächerkanon der Universität die Sonderstellung der Ethik und Moralphilosophie gegenüber den Human- und Sozialwissenschaften.
Das Paradigma für eine solche Wissenschaft des Menschen liefert die newtonsche Physik mit ihren vermeintlich universal gültigen Gesetzen für die ganze Natur. Das Projekt der Entwicklung einer mechanistischen Wissenschaft des menschlichen Verhaltens strebt somit nach der Entdeckung entsprechender Gesetze, nach »Unveränderlichkeiten, die durch gesetzesgleiche Verallgemeinerungen spezifiziert werden« (115).
Dieses Projekt einer Wissenschaft von der Gesellschaft nach dem Modell der newtonschen Physik ist freilich nie über den Status eines Projektes hinausgekommen, ohne auch nur ansatzweise einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Es hat sich, ganz im Gegenteil, vielmehr als haltloser Traum erwiesen. Der Traum ist deshalb gleichwohl keinesfalls ausgeträumt. Dass das Projekt nicht verwirklicht worden ist, hält viele Sozialwissenschaftler keineswegs davon ab, so zu tun, als sei ebendiese Verwirklichung geschehen.
Handelt es sich bei der von ihnen behaupteten Anwendung der Wissenschaft vom menschlichen Verhalten indes wirklich um die Anwendung einer echten Technologie oder vielmehr um die theatralische Nachahmung einer solchen Technologie?
MacIntyre bemerkt dazu:
Die Antwort hängt davon ab, ob wir glauben, daß das mechanistische Programm in den Sozialwissenschaften tatsächlich vollständig verwirklicht wurde oder nicht. Und im 18. Jahrhundert blieb zumindest die Vorstellung einer mechanistischen Wissenschaft vom Menschen Programm und Prophezeiung. Aber Prophezeiungen werden auf diesem Gebiet unter Umständen nicht real verwirklicht, sondern in einer sozialen Ausführung umgesetzt, die sich als Verwirklichung ausgibt. (118)
Der Aufstieg des bürokratischen Managers, sowohl im staatlichen als auch im privatwirtschaftlichen Bereich, beruht auf zwei Säulen: der Behauptung von Objektivität und Wertneutralität einer Welt der Tatsachen – eine Vorstellung, die sich bereits als unhaltbar erwiesen hat – einerseits und dem Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt andererseits.
6.3.9 Soziale Physik
6.3.9 Soziale Physik Yusuf KuhnDer Frage, ob der Anspruch auf Macht zur Manipulation der sozialen Umwelt wirklich gerechtfertigt und eingelöst werden kann, geht MacIntyre im nächsten Kapitel mit dem Titel Das Wesen von Verallgemeinerungen in der Sozialwissenschaft und ihre mangelnde Fähigkeit zu Voraussagen nach, denn, so MacIntyre:
Was das Expertentum der Manager als Bestätigung braucht, ist eine begründete Konzeption von Sozialwissenschaft als Lieferant gesetzesgleicher Verallgemeinerungen mit ausgeprägter Fähigkeit zu Voraussagen. (123)
Von den Sozialwissenschaften lässt sich allerdings sicherlich behaupten, dass sie solcherlei Gesetze nicht entdeckt haben. Daraus folgt, dass die Sozialwissenschaften als Wissenschaften in diesem Sinne keineswegs bereits gerechtfertigt sind. Und dies gilt freilich auch für das Expertentum des Managers, der seine Autorität den Sozialwissenschaften entleiht.
Um dieses Problem näher zu untersuchen, beschreitet MacIntyre nun einen langen Gedankengang, dessen Nachvollzug wir hier entbehren können, da er für die moralphilosophischen Grundfragen, die uns hier vor allem interessieren, nicht von zentraler Bedeutung ist. Die Überlegungen zur Voraussagbarkeit und Unvoraussagbarkeit im menschlichen Handeln führen zur Einsicht in die systematische Unvoraussagbarkeit des sozialen Lebens. Das dafür erforderliche Wissen von kausalen Regelmäßigkeiten ist nicht zu erlangen. Denn der Bereich des Voraussagbaren im gesellschaftlichen Leben ist so stark beschränkt, dass dies nichts Entscheidendes gegen die alles durchdringende »Unvoraussagbarkeit im menschlichen Leben« (142) vermag.
Wenn weder die Ansprüche der Sozialwissenschaften durch die Angabe von gesetzesgleichen Verallgemeinerungen noch die die des bürokratischen Managers, der seine Autorität auf das Wissen und die Anwendung derselben gründet, bestätigt werden können, erweist sich der Begriff der Effektivität des Managers als »eine weitere zeitgenössische moralische Fiktion und vielleicht die wichtigste von allen.« (147) Der Vorherrschaft des Manipulativen in der emotivistischen Kultur steht also keineswegs ein großer Erfolg in der Manipulation gegenüber. Der Begriff der sozialen Kontrolle durch Experten, die mit den dafür erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgestattet sind, erweist sich als Maskerade.
MacIntyre führt dazu abschließend aus:
Der Glaube an das Expertentum des Managers ist also von meinem Standpunkt aus tatsächlich dem sehr ähnlich, was Carnap und Ayer für den Glauben an Gott hielten. Er ist eine weitere Illusion, und eine besonders moderne dazu, die Illusion einer Macht, die nicht wir selbst sind, und die den Anspruch erhebt, Gerechtigkeit zu bewirken. Der Manager als Charakter ist daher anders, als er auf den ersten Blick zu sein scheint: Die soziale Welt des alltäglichen, nüchternen, praktischen, pragmatischen, humorlosen Realismus, der die Umwelt der Manager darstellt, ist eine Welt, die um ihrer stützenden
Besser wäre wohl »andauernden« oder »dauerhaften« für »sustained« im englischen Original (After Virtue, S. 107). Existenz willen vom systematischen Fortbestehen von Mißverständnissen und vom Glauben an Fiktionen abhängt. Der Warenfetischismus ist ergänzt worden durch einen anderen, ebenso bedeutenden Fetischismus, den der bürokratischen Fähigkeiten. Denn aus meinem gesamten Argument folgt, daß der Bereich des Expertentums des Managers ein Bereich ist, in dem angeblich objektiv begründete Ansprüche in Wirklichkeit Ausdruck von willkürlichem, aber verborgenem Willen und von Präferenzen sind. […] Die Prophezeiungen des 18. Jahrhunderts haben bewirkt, daß nicht wissenschaftlich gelenkte soziale Kontrolle entstand, sondern eine geschickte dramatische Nachahmung einer solchen Kontrolle. Es ist der theatralische Erfolg, der in unserer Zivilisation Macht und Autorität verschafft. Der effektivste Bürokrat ist der beste Schauspieler. (147-148)
Das Ergebnis der negativen Seite der Kritik MacIntyres kulminiert somit in der Erkenntnis, dass die moderne Moral »in beunruhigendem Ausmaß als Theater der Illusionen entlarvt« (107) wird. Die Einsicht, dass der moralische Diskurs zu einer Maske für Wille und Macht geworden ist, hat aufgrund des sukzessiven Scheiterns aller Versuche, der Moral eine objektive Grundlage zu verleihen, und dem daraus resultierenden Aufstieg subjektivistischer Theorien wie dem Emotivismus immer stärkere Verbreitung gefunden.
Die Normen der moralischen Tradition haben zwar ihre einstmalige objektive Geltung und Autorität, die sie aus dem teleologischen Bezug auf das Gute sowie aus ihrer Abkunft aus göttlichen Geboten bezogen, eingebüßt, werden aber im modernen anti-teleologischen und säkularisierten Kontext weiter benutzt, als verfügten sie weiterhin über objektive Autorität. Dieser Gebrauch erfolgt in mehr oder weniger bewusst manipulativer Weise, um anderen den eigenen Willen im Dienste bestimmter Interessen aufzuzwingen.
MacIntyre stellt dazu pointiert fest:
Wenn die moralische Äußerung im Dienste eines willkürlichen Willens genutzt wird, ist das der willkürliche Wille von irgendjemandem; und die Frage, wessen Wille es ist, ist offensichtlich von moralischer wie politischer Bedeutung. Doch diese Frage zu beantworten, ist hier nicht meine Aufgabe. Um meine gegenwärtige Aufgabe zu erfüllen, muß ich lediglich zeigen, wie die Moral einer bestimmten Art von Gebrauch zugänglich geworden ist und daß sie so gebraucht wird. (150-151; Hervorhebung im Original)
Und eben dies hat MacIntyre in der Tat gezeigt. Die emotivistische Kultur ist eine Kultur der Manipulation, in der die Sprache der Moral weithin zu einem Werkzeug im manipulativen Maskenspiel von Willen und Interessen herabgesunken ist. Das hat wohl niemand früher und deutlicher erkannt als Nietzsche. Und diese Einsicht erhebt Nietzsches Moralphilosophie in den Rang »einer der zwei echten theoretischen Alternativen [...], die sich jedem anbieten, der den moralischen Zustand unserer Kultur zu analysieren versucht« (151).
6.3.10 Nietzsche oder Aristoteles?
6.3.10 Nietzsche oder Aristoteles? Yusuf KuhnDie genannten zwei Alternativen sieht MacIntyre einerseits im rationalen Objektivismus der klassischen Tradition, die auf Aristoteles zurückgeht, und andererseits im irrationalen Subjektivismus des Willens zur Macht, in dem Nietzsche die wahre Grundlage der entlarvten Moral erkennt. Das zentrale neunte Kapitel, in dem MacIntyres negative Kritik den Zenit erreicht, trägt daher die Frage nach der Alternative im Titel: Nietzsche oder Aristoteles?
Es mag erhellend sein, die eingangs bereits angeführte Formulierung von MacIntyres These im Lichte des bislang Dargestellten nochmals zu bedenken:
Ein zentraler Teil meiner These war, daß die moderne moralische Äußerung und Praxis nur als eine Reihe bruchstückhafter Überreste einer älteren Vergangenheit verstanden werden können, und daß die unlösbaren Probleme, die sie den modernen Moraltheoretikern gestellt haben, so lange unlösbar bleiben, bis das richtig erkannt ist. Falls der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption des göttlichen Rechts ist, das der Metaphysik der Moderne ziemlich fremd ist, und falls ihr teleologischer Charakter in ähnlicher Weise der Schatten der Konzeption der menschlichen Natur und ihrer Handlungen ist, die in der modernen Welt ebensowenig zu Hause ist, sollten wir damit rechnen, daß die Probleme, moralische Urteile zu verstehen und ihnen einen verstandesmäßig faßbaren Status zuzuweisen, sowohl ständig zunehmen als auch philosophischen Lösungen immer unzugänglicher werden. (151)
6.3.10.1 Anthropologischer Blick
Um dieser These weiter nachzuspüren und den Blick zu schärfen, nimmt MacIntyre die Sichtweise des Anthropologen zu Hilfe, die befähigt, Kulturen von außen zu beobachten sowie Überreste und Unverständliches zu identifizieren, die von innen nicht erfasst werden können. Dies führt ihn zum Vergleich der modernen Moral mit den Taburegeln auf Inseln im Pazifik, denen Kapitän Cook auf seiner dritten Reise (1776–79) begegnete.
Das polynesische Wort tabu bezeichnete eine Reihe von Verboten und Regeln, die ursprünglich im Kontext von Hintergrundüberzeugungen verstanden wurden, die ihrerseits jedoch nicht nur aufgegeben, sondern vergessen worden sind. Durch den Verlust ihres ursprünglichen Kontextes erscheinen die Taburegeln als willkürliche Verbote, für die keine Gründe mehr angegeben werden können. Das Wort tabu wird damit zunehmend unverständlich. Dafür spricht jedenfalls auch die Tatsache, dass die Abschaffung dieser Tabus durch König Kamehameha II. im Jahr 1819 ohne soziale Folgen blieb.
MacIntyre schildert, das gleichnishafte Geschehen verallgemeinernd, die Folgen:
In einer solchen Situation fehlt den Regeln der Status, der ihre Autorität sichern kann, und wenn sie nicht schnell einen neuen Status erhalten, werden ihre Auslegung und ihre Rechtfertigung fraglich. Wenn die Mittel einer Kultur nicht ausreichen, die Aufgabe einer Neuauslegung zu lösen, wird die Aufgabe der Rechtfertigung unlösbar. (153)
Daran hätten auch imaginäre analytische Philosophen auf Pazifikinseln nichts ändern können. Denn sie wären bei der Analyse der Bedeutung des Wortes tabu aufgrund des Verlustes des sinnstiftenden Kontextes zu keinen anderen Ergebnissen gekommen als ihre modernen Gegenstücke bei der Analyse der moralischen Ausdrücke der modernen Sprache.
MacIntyre benennt den Grund dafür:
Die Sinnlosigkeit dieser imaginären Debatte ergibt sich aus der gemeinsamen Voraussetzung der streitenden Parteien, nämlich daß das Regelwerk, dessen Status und Rechtfertigung sie untersuchen, einen adäquat abgegrenzten Forschungsgegenstand und das Material für ein autonomes Forschungsgebiet liefert. Wir erkennen von unserem Standpunkt in der wirklichen Welt aus, daß dies nicht der Fall ist, daß das Wesen der Taburegeln ausschließlich als Überrest eines früheren, weiterentwickelten kulturellen Hintergrundes zu verstehen ist. (153)
Die Taburegeln wie auch die Regeln der modernen Moral müssen ohne Bezug auf ihre Geschichte unverständlich bleiben. Die analytischen Moralphilosophen haben dies nicht verstanden, im Gegensatz zu Nietzsche.
Und daher wirft MacIntyre die Frage auf:
Und warum sollten wir uns Nietzsche nicht als den Kamehameha II. der europäischen Tradition vorstellen? Denn es war Nietzsches historische Leistung, besser als jeder andere Philosoph - ganz bestimmt besser als seine Ebenbilder im angelsächsischen Emotivismus und Existentialismus des europäischen Festlands - nicht nur zu verstehen, daß die angebliche Berufung auf Objektivität in Wirklichkeit Ausdruck des subjektiven Willens war, sondern auch das Wesen der Probleme zu verstehen, die daraus für die Moralphilosophie entstanden. (154)
6.3.10.2 Nietzsches Entlarvung der Moral
Nietzsche schießt dabei freilich über das Ziel hinaus, indem er seine Analyse der modernen Moral auf Moral überhaupt ausdehnt. Denn er meint, nicht nur die moderne, sondern jede Moral schlechthin als bloße Maske des Willens zur Macht entlarven zu können. Auf dieser Grundlage stellt sich Nietzsche indes wie kein zweiter dem Problem, das sich aus der Zerstörung der Moral für die Moralphilosophie ergibt, nämlich dem Problem der radikalen Schöpfung einer neuen Moral.
MacIntyre beschreibt Nietzsches Kritik prägnant:
Der grundlegende Aufbau seines Arguments ist folgender: wenn die Moral nur aus Äußerungen des Willens besteht, dann kann meine Moral nur das sein, was mein Wille schafft. Es kann keinen Platz für Fiktionen wie Naturrechte, Nützlichkeit oder das größte Glück für die größte Zahl geben. Ich selbst muß jetzt die »Schöpfung neuer eigener Gütertafeln« vornehmen. (155)
MacIntyre bezieht sich dabei auf einen Aphorismus aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, in dem zunächst die Versuche einer Gründung der Moral auf das Gewissen und auf den kategorischen Imperativ, die Universalisierbarkeit im Stile Kants höhnisch widerlegt werden. Aber nicht nur das Projekt einer rationalen Rechtfertigung der Moral, sondern auch der Glaube, die moderne Moral und ihre Sprache seien in guter Verfassung und tragfähig, erntet mit dem Verweis auf die Entstehung moralischer Urteile aus Eigensinn und Selbstsucht nichts als Spott und Hohn. Über diese radikale Ablehnung einer entlarvten Moral der Vergangenheit kommt Nietzsche sodann zu seinem eigenen Projekt der Neuschöpfung einer überlegenen und ehrlichen Moral, die ihre eigene Herkunft aus dem Willen zur Macht nicht vor sich selbst verbergen muss.
Nietzsche schreibt in Die fröhliche Wissenschaft im Aphorismus Nr. 335:
Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: — über den »moralischen Werth unserer Handlungen« aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, — den Vielen also, den Allermeisten! Wir aber wollen Die werden, die wir sind, — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!
Friedrich Nietzsche, Morgenröte - Idyllen aus Messina - Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3, München, 1999, S. 563; Hervorhebungen im Original. MacIntyre zitiert nur den letzten Satz dieser Stelle.
Nietzsche radikalisiert die Vorstellung des autonomen moralischen Subjekts, dessen vernünftige Gestalt er als Täuschung, als Fiktion enthüllt, indem er an die Stelle der Vernunft den Willen zur Selbstermächtigung setzt. Aus diesem heroischen Willensakt geht das wahrhaft autonome Subjekt hervor, das, indem es sich selbst schafft, sich ein neues moralisches Gesetz geben muss.
MacIntyre merkt zu dieser Konzeption einer radikal neuen Moralphilosophie an:
Die Schwierigkeit ist dann, wie auf völlig ursprüngliche Weise eine neue Gütertafel und ein Gesetz geschaffen, erfunden werden soll, eine Schwierigkeit, die sich für jeden einzelnen erhebt. Dieses Problem wäre der Kern einer Moralphilosophie Nietzsches. Denn Nietzsches Größe liegt in seiner rückhaltlos ernsten Beschäftigung mit dem Problem, nicht in seinen leichtfertigen Lösungen, eine Größe, die ihn zu dem Moralphilosophen machen würde, wenn es sich erweist, daß die einzigen Alternativen zu Nietzsches Moralphilosophie die von den Philosophen der Aufklärung und ihren Nachfolgern formulierten sind. (155; Hervorhebungen im Original)
MacIntyre sieht zudem einen weiteren Grund für Nietzsches Größe darin, dass das weberianische Denken, das in der Kultur des bürokratischen Individualismus vorherrschend ist, ebenfalls die zentrale These Nietzsches voraussetzt. Auch daher verdient Nietzsche die Bezeichnung als »der Moralphilosoph der Gegenwart« (155; Hervorhebung im Original).
MacIntyre führt dazu aus:
Nietzsches prophetischer Irrationalismus - Irrationalismus, weil Nietzsches Probleme ungelöst bleiben und seine Lösungen sich der Vernunft widersetzen - bleibt daher den weberianischen, managerhaften Formen unserer Kultur immanent. Wann immer diejenigen, die in die bürokratische Kultur der Zeit verstrickt sind, den Versuch unternehmen, sich gedanklich einen Weg zu den moralischen Fundamenten dessen zu bahnen, was sie sind und was sie tun, werden sie unterdrückte Prämissen Nietzsches entdecken. Und folglich kann man mit gutem Gewissen voraussagen, daß im anscheinend davon völlig unterschiedlichen Kontext der bürokratisch gemanagten modernen Gesellschaften periodisch soziale Bewegungen wiederkehren werden, die gerade von jenem prophetischen Irrationalismus durchdrungen sind, dessen Stammvater das Denken Nietzsches ist. Gerade weil und insofern als der zeitgenössische Marxismus tatsächlich in seinem Wesen weberianisch ist, können wir mit prophetischem Irrationalismus der Linken wie der Rechten rechnen. (155-156)
6.3.10.3 War es richtig, Aristoteles zu verwerfen?
Nietzsches zentrale These erstreckt sich freilich nicht nur auf die moderne Moral, sondern auf jegliche Moral, die schlechthin als Maske des Willens zur Macht entlarvt wird. Dies gilt somit auch für die aristotelische Ethik. Gibt es eine Moralphilosophie, die Nietzsches Kritik widersteht, so ist seine These widerlegt. Und unter der Voraussetzung, dass es keine weitere Alternative gibt, gilt auch die Umkehrung. So kann MacIntyre feststellen:
Aber es ist natürlich nicht [nur]
In der deutschen Ausgabe fehlt »nur«, das hier in eckigen Klammern eingefügt ist. Durch diese Auslassung wird allerdings der Sinn ins Gegenteil verkehrt. Im englischen Original lautet der Satz: »Yet it is not of course just that Nietzsche's moral philosophy is false if Aristode's is true and vice versa.« (After Virtue, S. 117) so, daß Nietzsches Moralphilosophie falsch ist, wenn die von Aristoteles richtig ist und umgekehrt. (159)
Denn die Beziehung der beiden Moralphilosophien beschränkt sich nicht nur auf diesen Gegensatz, sondern »in einem viel stärkeren Sinn«
Da die aristotelische Ethik schon aus dem Weg geräumt war, konnte diese Kritik einen Erfolg gegen die gesamte frühere Ethik verbuchen. Doch war dies lediglich ein Scheinerfolg? Denn obgleich die Kritik an der modernen Moralbegründung berechtigt sein mag, so bleibt doch die Frage, ob auch alle früheren Formen und insbesondere die aristotelische Ethik wirklich widerlegt oder bloß verworfen wurden.
MacIntyre kommt daher zu folgendem Schluss:
Ob die Position Nietzsches zu verteidigen ist, führt also letzten Endes zu der Antwort auf die Frage: war es überhaupt richtig, Aristoteles zu verwerfen? Denn wenn die Position von Aristoteles in der Ethik und der Politik - oder etwas sehr Ähnliches - aufrechterhalten werden könnte, wäre das gesamte Unternehmen Nietzsches sinnlos. Das liegt daran, daß die Stärke der Position Nietzsches von der Richtigkeit einer einzigen zentralen These abhängt: daß alle rationalen Rechtfertigungen der Ethik offenkundig scheitern, und daß deshalb der Glaube an die Dogmen der Ethik als ein Komplex von Rationalisierungen erklärt werden muß, welche die im Grunde nicht-rationalen Phänomene des Willens verbergen. Meine eigene Beweisführung zwingt mich, mit Nietzsche darin übereinzustimmen, daß es den Philosophen der Aufklärung nie gelang, Gründe zu liefern, seine zentrale These anzuzweifeln; seine Epigramme sind noch vernichtender als seine ausführlich vorgetragenen Gedanken. Aber falls mein früheres Argument richtig ist, war dieses Scheitern selbst nichts anderes als eine historische Folge der Zurückweisung der aristotelischen Tradition. Und so wird es tatsächlich zur Schlüsselfrage, ob die Ethik des Aristoteles oder etwas ihr sehr Ähnliches überhaupt verteidigt werden kann. (159-160)
MacIntyre schickt sich daher an, ebendiese Frage nach der Möglichkeit der Verteidigung der aristotelischen Tradition der Moralphilosophie zu beantworten. Er geht dabei davon aus, dass die aristotelische Ethik »philosophisch die stärkste prämoderne Form moralischen Denkens« (160; Hervorhebung im Original) repräsentiert.
Der Aristotelismus hat sich schließlich wie keine andere Lehre in vielen sehr unterschiedlichen Kontexten wie dem griechischen, islamischen, jüdischen und christlichen behauptet und bewährt.
Die Verbindung von philosophischer und historischer Argumentation zeigt damit, daß man entweder den Bestrebungen und dem Zusammenbruch der verschiedenen Versionen des Vorhabens der Aufklärung folgen, bis nur noch Diagnose und Problematik Nietzsches übrigbleiben, oder die Meinung vertreten muß, daß das Aufklärungsvorhaben nicht nur in die Irre ging, sondern überhaupt nicht hätte in Angriff genommen werden sollen. Eine dritte Alternative gibt es nicht, und vor allem jene Denker im Mittelpunkt des gegenwärtigen, konventionellen Lehrplans der Moralphilosophie bieten keine Alternative, Hume, Kant und Mill. (160-161; Hervorhebungen im Original)
Aber, so lässt sich fragen, gibt es wirklich keine dritte Alternative? Ist diese Beschränkung nicht vielmehr einer Verengung des philosophischen wie historischen Blicks MacIntyres geschuldet? MacIntyre selbst wird später zu einer anderen Alternative gelangen, indem er die thomistische Moralphilosophie, die ihrerseits auf dem Aristotelismus aufbaut, als Ausweg vorschlägt. Darin spiegelt sich bereits eine deutliche Erweiterung des Horizonts, obgleich der Thomismus als Verbindung aus Aristotelismus und Christentum als Teil der klassischen Tradition verstanden werden kann.
Jedenfalls bietet MacIntyre hier kein Argument für die Beschränkung auf diese zwei Alternativen. Warum sollte es keine weitere Alternative neben Nietzsche und Aristoteles geben? Im europäischen Denken selbst, das MacIntyre hier freilich einzig in den Blick zu nehmen vermag, oder auch im außereuropäischen Denken? Könnte es keine konfuzianische, buddhistische oder islamische Alternative geben? Gar eine, in deren Licht der vermeintlich alternativlose Gegensatz von Nietzsche und Aristoteles sich ganz anders darstellt und womöglich sogar überwunden werden kann? MacIntyre hat hier zu diesen Fragen nichts zu sagen. Sie müssen also vorerst offen bleiben und verdienen späterhin allerdings eine gründliche Untersuchung.
6.4 Tugenden und das gute Leben
6.4 Tugenden und das gute Leben Yusuf KuhnMit MacIntyres Wahl der aristotelischen Tradition geht freilich eine Reihe von Grundentscheidungen einher. Es ist daher nur konsequent, wenn MacIntyre mit der klassischen Frage nach dem guten Leben einsetzt, die er folgendermaßen einführt:
Was für ein Mensch soll ich werden? Das ist insofern eine unvermeidliche Frage, als eine Antwort darauf tatsächlich in jedem Menschenleben gegeben wird. (161; Hervorhebung im Original)
In der modernen Moral steht hingegen eine andere Frage im Zentrum, nämlich die Frage, welche Regeln und warum sie befolgt werden sollen. Durch die Verdrängung der Zecke werden Regeln zum wichtigsten Begriff der Moral. Für den modernen Liberalismus gilt bezeichnenderweise die Frage nach Sinn und Zweck des menschlichen Lebens, nach dem guten Leben als rational unentscheidbar und unlösbar. Sie wird daher der subjektiven Wahl und Willkür anheimgestellt. Wenn Tugend und Charakter somit ihren Bezug zum guten Leben verlieren, kommt ihnen keine weitere Funktion mehr zu, als zum Befolgen der richtigen Regeln anzuhalten. In der modernen Moral kommt den Tugenden daher eine von Regeln und Prinzipien lediglich abgeleitete Rolle zu.
Dieses Verhältnis möchte MacIntyre im Geiste der aristotelischen Tradition umkehren. Nicht die Regeln, sondern die Tugenden sollen an erster Stelle stehen, um die Funktionen und die Autorität der Regeln allererst darauf zu begründen. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Rechtfertigung des Tugendbegriffs nicht nur durch den Rückgang auf Aristoteles selbst, sondern auf seine gesamte Geschichte. MacIntyre macht sich mithin daran, »eine kurze Geschichte der Vorstellungen der Tugenden zu schreiben« (162). Das ist die positive oder konstruktive Seite von MacIntyres Moralkritik, der die zweite Hälfte von After Virtue gewidmet ist.
Die Wiederherstellung des aristotelischen Verständnisses des menschlichen Handelns und der Tugenden bringt die Wiedereinführung der Teleologie in die Ethik mit sich. Als zentrale Herausforderung erweist sich daher die Entwicklung einer moralischen Teleologie, die sich nicht länger einfach auf die metaphysischen Voraussetzungen des aristotelischen Denkens stützen kann, sondern an lebendige Erfahrungen anknüpfen muss, um den Problemen des gegenwärtigen Denkens gewachsen sein zu können. Ganz ohne metaphysische Annahmen wird dabei indes die Suche nach dem guten Leben, ja nach dem Guten überhaupt nicht auskommen können. Es ist hier nicht der Ort, um MacIntyre eingehend auf diesem Weg zu folgen. Daher soll es hier genügen, die kurze Zusammenfassung, die MacIntyre selbst von der zweiten Hälfte von After Virtue in Gestalt der fünften These in The Claims of After Virtue
Kapitel 10 bis 14 von After Virtue liefern eine interpretative Geschichte der sich wandelnden Konzeptionen der Tugenden von der archaischen griechischen Gesellschaft, wie sie in den homerischen Dichtungen dargestellt wird, bis ins europäische Mittelalter. Die Geschichte ist dazu bestimmt, sowohl eine Herausforderung für Nietzsches genealogische Betrachtungsweise zu bieten wie auch das Material zur Identifizierung eines Kernkonzeptes der Tugenden, eine Identifikation, die eine Herangehensweise in Begriffen von drei unterschiedenen Stadien in der Ausarbeitung einer angemessenen Konzeption der Tugenden erfordert. Die Tugenden gehören zuerst zu all jenen Qualitäten, ohne die menschliche Wesen die Güter, die Praktiken inhärent sind, nicht erreichen können. Mit einer »Praktik« meine ich »jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind, mit dem Ergebnis, daß menschliche Kräfte zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen der involvierten Ziele und Güter systematisch erweitert werden.« (251-252) Solche Arten von Tätigkeiten wie Ackerbau und Fischen, das Betreiben von Wissenschaften und Künsten sowie das Spielen von Spielen wie Fußball und Schach sind Praktiken. Politik, wie Aristoteles sie verstanden hat und wie sie manchmal im institutionellen Leben in den antiken und mittelalterlichen Welten verkörpert war, war eine Praktik. Moderne Politik ist es nicht.
Diese Charakterisierung der Tugenden in Begriffen von Praktiken ist notwendig, aber nicht hinreichend für eine adäquate Spezifikation. Tugenden müssen auch als Qualitäten verstanden werden, die zur Erlangung der Güter erfordert sind, die menschliche Leben mit ihrem telos versorgen. Und ich argumentiere, dass die einigende Form eines individuellen menschlichen Lebens, ohne die solche Leben kein telos haben könnten, sich davon ableitet, dass es eine gewisse Art von narrativer Struktur besitzt. Individuelle menschliche Leben sind allerdings nur fähig, die Strukturen zu haben, die sie haben, weil sie in soziale Traditionen eingebettet sind. Und das dritte Stadium bei der Spezifizierung der Natur der Tugenden ist dasjenige, das erklärt, weshalb sie auch als Qualitäten verstanden werden müssen, die erfordert sind, um die andauernden sozialen Traditionen in guter Ordnung zu bewahren.
Alasdair MacIntyre, The Claims of After Virtue, in: Analyse & Kritik, Band 6, Nr. 1, 1984, S. 3-7, S. 5-6, siehe die Website der Zeitschrift: http://www.analyse-und-kritik.net/HeftDetails.php?AusgabeID=62; wieder veröffentlicht in: Kelvin Knight (Hg.), The MacIntyre Reader, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1998, S. 69-72, S. 71-72.
Die in diesen wenigen Sätzen angedeutete These ist so voraussetzungsreich, komplex und inhaltsschwer, dass sie sich einer kurzen Zusammenfassung kaum erschließt. Es seien gleichwohl einige erläuternde Bemerkungen in aller Kürze angefügt.
MacIntyre zeichnet ein Bild der für moralisches Denken und Handeln notwendigen Voraussetzungen. Eine Tugend im Sinne der aristotelischen Tradition ist zugleich ein Mittel für ein gutes Leben wie auch ein Bestandteil eines guten Lebens. Das Verhältnis von Tugenden und menschlichem Leben wird mit dem Begriff der Praktik verdeutlicht, einer »kooperativen menschlichen Tätigkeit«, die interne Güter birgt. Ein internes Gut kann durch die Beschreibung der Praktik bestimmt werden. Wer die Praktik ausführt, macht sich mit dem internen Gut vertraut und vermag es immer deutlicher zu erkennen. Freilich können damit auch externe Güter, wie in vielen Fällen beispielsweise Macht und Reichtum, verfolgt werden. Externe Güter können auch unabhängig von einer bestimmten Praxis bestehen und erstrebt werden, im Gegensatz zu internen Gütern, die immer mit einer bestimmten Praktik verbunden sind.
Tugenden können nun dadurch bestimmt werden, dass sie Eigenschaften und Befähigungen darstellen, mit denen die internen Güter einer bestimmten Praktik erlangt werden können. Zur Erlangung von Tüchtigkeit in einer Praktik, die zugleich zu deren Aufrechterhaltung beiträgt, ist indes mehr als nur individuelle, sondern auch soziale Vortrefflichkeit erfordert, die sich in Tugenden im Umgang miteinander wie Ehrlichkeit, Gemeinsinn und Gerechtigkeit manifestiert.
Auf Praktiken bezogene Tugenden können freilich in moralischer Hinsicht neutral oder unerheblich sein. Um sie auf ihre moralische Bedeutsamkeit hin zu untersuchen, bezieht MacIntyre sie auf einen zentralen Begriff der aristotelischen Ethik: das gute Leben. Darin findet das menschliche Leben seine Einheit, so dass nicht nur von Gütern im Plural die Rede sein kann, sondern von dem guten Leben als übergeordnetem Gut. Um so verstanden werden zu können, muss das menschliche Leben über eine Einheit wie eine Erzählung verfügen, verstehbar sein und im Lichte von Verantwortlichkeit betrachtet werden können.
Damit menschliches Handeln aus der Innensicht des Handelnden wie auch aus der Außenperspektive verstehbar ist, muss es im Kontext einer Erzählung verstanden werden. Diese narrative Einheit kann indes dem Leben nicht lediglich nachträglich verliehen werden, sondern muss dieses selbst tragen, also erstrebt und gelebt werden.
So sagt MacIntyre:
Die Einheit eines menschlichen Lebens ist die Einheit einer narrativen Suche. (292)
Die Suche nach dem Sinn des Lebens verlangt mithin, sich zwischen verschiedenen Praktiken auf der Suche nach einem verständlichen und stimmigen Ganzen zu entscheiden. Dieses Streben kann sich freilich nicht darauf beschränken, die gesellschaftlich und historisch vorgegebenen Praktiken samt der darin enthaltenen Tugenden zu übernehmen, sondern muss sich vielmehr nach einer Vorstellung des guten Lebens als Ganzem richten.
MacIntyre legt dar:
Die Tugenden müssen daher als die Dispositionen verstanden werden, die nicht nur die Praxis aufrechterhalten und uns befähigen, die der Praxis inhärenten Güter zu erlangen, sondern die uns auch bei der relevanten Art von Suche nach dem Gut unterstützen, indem sie uns in die Lage versetzen, die Leiden, Gefahren, Versuchungen und Ablenkungen zu überwinden, denen wir begegnen, und die uns mit wachsender Selbsterkenntnis und wachsendem Wissen über das Gute ausstatten. (293)
Diese Vorstellung von Tugenden macht zudem nur Sinn in einem bestimmten Kontext, der gleichermaßen soziale wie gedankliche Voraussetzungen erfüllt. Tugenden bedürfen bestimmter Ideen wie auch Praktiken. Sie sind untrennbar miteinander verwoben. Güter und Tugenden sind auf einen Kontext von sozial etablierten Praktiken und Handlungsweisen angewiesen. Geht der soziale Kontext verloren, drohen auch die damit verwobenen Praktiken samt der in sie eingebetteten Güter und Tugenden ihren Sinn zu verlieren.
Offensichtlich wären zur Erläuterung und Ausarbeitung dieses Ansatzes einer Tugendethik umfangreiche Darlegungen erforderlich. MacIntyre hat, zum Teil auf Kritik reagierend, über die Jahre hinweg bis heute diesen Ansatz stetig weiterentwickelt. Es ist hier indes nicht der Ort, um darauf näher einzugehen. Daher muss dieser äußerst kurze Einblick genügen, der doch zumindest eine kleine Idee dieses groß angelegten Vorhabens zu vermitteln vermag, das gleichwohl eine ausführliche Auseinandersetzung verdient, die einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muss.
6.5 Nietzsches großer Mensch ganz klein
6.5 Nietzsches großer Mensch ganz klein Yusuf KuhnMacIntyre kommt nach der Darstellung einiger Elemente seiner Tugendethik im letzten Kapitel von After Virtue mit dem Titel Nach der Tugend: Nietzsche oder Aristoteles, Trotzki und der heilige Benedikt wieder auf die zentrale Alternative zurück und stellt ihr zugleich eine neue Verbindung entgegen, die einen Ausweg aus der moralischen Misere aufscheinen lässt.
Durch die Abkehr von der aristotelischen Tradition und das Scheitern aller modernen Versuche einer rationalen Rechtfertigung der Moral hat die moralische Sprache ihren sinnstiftenden Kontext verloren, so dass sie in inkohärente Bruchstücke zersplittert ist: Nach der Tugend!
Keiner hat dies deutlicher erkannt und eindringlicher dargelegt als Nietzsche, der nicht nur die Zeit nach der Tugend, sondern nach der Moral überhaupt ausruft und den Sprung in den prophetischen Irrationalismus des Willens zur Macht als ehrliche Konsequenz aus der Entlarvung jeglicher Moral als verschleierten Willen zur Macht preist.
MacIntyre bemerkt:
Folglich besaß Nietzsches negatives Vorhaben, die Strukturen der ererbten moralischen Überzeugung und Beweisführung dem Erdboden gleichzumachen, ob wir uns nun auf die alltägliche moralische Überzeugung und Beweisführung beziehen oder statt dessen die Konstruktionen der Moralphilosophen betrachten, trotz seiner Ausweglosigkeit und Grandiosität eine gewisse Plausibilität - selbstverständlich nur, wenn sich die ursprüngliche Ablehnung der moralischen Tradition, in deren Mittelpunkt die aristotelische Lehre über die Tugenden steht, nicht als Mißverständnis und Irrtum erwies. Wenn diese Tradition nicht rational verteidigt werden könnte, bekäme Nietzsches Haltung eine furchtbare Plausibilität. (341)
Umgekehrt heißt das: Wenn eine moralische Tradition auf vernünftige Weise gerechtfertigt und bestätigt werden kann, wäre Nietzsches zentrale These von der Entlarvung aller Moral zurückgewiesen. Für MacIntyre gibt es in After Virtue freilich nur eine Alternative zu den gescheiterten modernen Versuchen einer Moralbegründung, nämlich die aristotelische Tradition. Daher beschränkt sich für ihn die entscheidende Alternative auf Aristoteles und Nietzsche. Dass dem nicht so sein muss, haben wir bereits angemerkt. Daran sei erinnert, ohne es hier weiter zum Thema zu machen. Es wird alsbald darauf zurückzukommen sein.
Für MacIntyre geht es in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche jedenfalls darum, die aristotelische Tradition als rational gerechtfertigt zu erweisen. Und er meint, genau dies in seiner Darlegung der Tugendethik, insbesondere in den Kapiteln 14 und 15 von After Virtue, geleistet zu haben. Gelingt dies tatsächlich, so ist Nietzsche gescheitert.
Aber MacIntyre geht noch einen Schritt weiter, indem er zunächst feststellt, dass Nietzsches Kritik der modernen Ethik, in der Regeln im Mittelpunkt stehen, sich nicht notwendig auf die aristotelische Tradition, in der wiederum Tugenden von zentraler Bedeutung sind, erstreckt, um dann zu fortzufahren:
Es ist eines meiner wichtigsten Argumente, daß die nietzscheanische Polemik gegen diese Tradition völlig erfolglos ist.
Eigene Übersetzung; die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch hier wieder ungenau, denn sie lautet: »[…] daß die Polemik Nietzsches gegen diese Tradition wirkungslos ist.« (160) Im englischen Original heißt es hingegen: »It is one of my most important contentions that against that tradition the Nietzschean polemic is completely unsuccessful.« (After Virtue, S. 257) [...] Nietzsche hat Erfolg, wenn all diejenigen, die er als Gegner annimmt, scheitern. Andere haben vielleicht Erfolg aufgrund der rationalen Kraft ihrer positiven Argumente; aber falls Nietzsche gewinnt, gewinnt er durch einen Mangel.
Er gewinnt nicht. (342-343)
Nietzsche gewinnt nicht, nicht nur, weil es eine rationale Rechtfertigung einer Tradition gibt, sondern zudem, weil diese rationale Rechtfertigung »so nicht widerlegt werden kann« (343; Hervorhebung von mir). Warum? Kurz gesagt: Weil Nietzsches Moralphilosophie auf dem Begriff des Übermenschen basiert, der sich als moralische Fiktion erweist; denn der Übermensch ist verurteilt zu dem »moralischen Solipsismus, der Größe im Sinne Nietzsches ausmacht« (344) und aus dem, allemal im Lichte von MacIntyres Entwurf einer Tugendethik, sich keine Moral herausspinnen lässt. Der Übermensch, der eines sozialen Kontextes aus Beziehungen und Praktiken ermangelt, kann in der sozialen Welt kein objektives Gut ausfindig machen, »sondern nur in der Welt in ihm selbst, die sein neues Gesetz und seine neue Aufstellung der Tugenden diktiert.« (343)
MacIntyre stützt sich dabei auf eine Passage aus Nietzsches Nachlass, die in Der Wille zur Macht veröffentlicht wurde. Nietzsche beschreibt darin den Übermenschen, den großen Menschen, der in seiner Einsamkeit und Unmitteilbarkeit keine Beziehungen eingehen kann, die auf objektiven, geteilten Tugenden, Gütern oder Regeln gründen. Er ist seine eigene und einzige Autorität und Gesetz. Seine auf dieser absoluten Autorität gründenden Beziehungen zu anderen können nur nur manipulativ sein.
MacIntyre zitiert diese Passage aus Nietzsches Nachlass mit einigen Auslassungen, wie folgt:
Ein großer Mensch, - ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat - was ist das? [...] Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt. [...] er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmitteilbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Band 3, München, 1954, S. 845-846.; Hervorhebungen im Original.
Doch im Lichte von MacIntyres Darstellung der Tugenden schrumpft der große Mensch auf einen winzig kleinen, ausdehnungslosen Punkt, der aus seiner Einsamkeit und Selbstversunkenheit nicht heraustreten, nicht führen und schon gar nicht sein Gesetz diktieren kann, dessen Autorität er einzig auf Güter gründen könnte, die er aufgrund seines Mangels an Gemeinschaftlichkeit nicht einmal zu entdecken vermag.
MacIntyre führt dazu aus:
Denn wenn die Vorstellung eines Gutes durch Begriffe wie Praxis, narrative Einheit eines menschlichen Lebens und moralische Tradition erläutert werden muß, dann können Güter, und damit die einzige Begründung für die Autorität von Gesetzen und Tugenden, nur dadurch entdeckt werden, daß jene Beziehungen eingegangen werden, die Gemeinschaften konstituieren, deren zentrale Bindung in einem allgemein geteilten Verständnis von Gütern liegt. Sich von gemeinsamen Tätigkeiten auszuschließen, in denen anfänglich folgsam wie ein Lehrling gelernt werden muß, sich von den Gemeinschaften zu isolieren, die ihr Ziel und ihren Zweck in solchen Tätigkeiten finden, bedeutet den Ausschluß jeder Möglichkeit, ein Gut außerhalb seiner selbst zu finden. Es bedeutet eine Verurteilung zu jenem moralischen Solipsismus, der Größe im Sinne Nietzsches ausmacht. Wir müssen daher nicht nur folgern, daß Nietzsche die Argumentation eines Mangels der aristotelischen Tradition nicht gewinnt, sondern auch, und vielleicht noch wichtiger, daß wir aus der Sicht dieser Tradition die Fehler im Kern der Position Nietzsches am besten erkennen können. (343-344)
Aber Nietzsche ist darüber hinaus ehrlich genug, gar nicht mehr den Anspruch der Begründung einer Moral im herkömmlichen Sinne zu erheben: »Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet«!
MacIntyre bemerkt dazu:
Und Nietzsche war der einzige bedeutende Philosoph, der vor dieser Schlußfolgerung nicht zurückgeschreckt war. (344)
Diese bestechende Ehrlichkeit macht einen großen Teil der Anziehungskraft Nietzsches aus.
Doch mit dieser vermeintlichen Befreiung aus den Irrtümern und Pseudobegriffen der modernen Moral geht die Verstrickung in andere Irrtümer einher. Die Vorstellung des großen Menschen, des Übermenschen erweist sich selbst als Pseudobegriff, wenngleich nicht immer als bloße Fiktion. Denn sie zielt zwar auf die Überwindung des modernen Individualismus, drängt aber zugleich auf dessen radikalste theoretische wie praktische Realisierung. Der ausdehnungslose Punkt verschlingt in einer gewaltigen Explosion alles in sein solipsistisches Nichts.
MacIntyre stellt fest:
Die Vorstellung Nietzsches vom »großen Menschen« ist ebenfalls ein Pseudobegriff, wenn auch vielleicht nicht immer - unglücklicherweise - das, was ich früher eine Fiktion genannt habe. Sie stellt den letzten Versuch des Individualismus dar, den eigenen Konsequenzen zu entfliehen. Und die Haltung Nietzsches erweist sich nicht als Flucht vor oder als Alternative zum Begriffssystem der liberalen, individualistischen Moderne, sondern eher als weiteres repräsentatives Moment in ihrer inneren Entfaltung. Und wir können deshalb damit rechnen, daß liberale, individualistische Gesellschaften von Zeit zu Zeit »große Menschen« hervorbringen. Leider! (344)
6.6 Liberaler Individualismus oder aristotelische Tradition
6.6 Liberaler Individualismus oder aristotelische Tradition Yusuf KuhnNietzsche ist zwar der schärfste Gegenspieler der aristotelischen Tradition. Und er hielt sich selbst zugleich auch für den erbittertsten Kritiker der moralischen Kultur der Moderne. Doch Nietzsches Position erweist sich als lediglich eine Spielart des modernen Individualismus, die sich allerdings durch ihre vor nichts zurückschreckende Konsequenz und Ehrlichkeit auszeichnet.
So nimmt die grundsätzliche Alternative »Nietzsche oder Aristoteles« eine andere Gestalt an, wie MacIntyre bemerkt:
Es ist daher letztlich so, daß der entscheidende moralische Gegensatz zwischen dem liberalen Individualismus in der einen oder anderen Version und der aristotelischen Tradition in der einen oder anderen Version besteht. (345)
Die Differenzen zwischen diesen beiden Sichtweisen reichen über Ethik und Politik hinaus und betreffen ganz grundsätzlich das Verständnis des menschlichen Handelns selbst. Das Projekt der Wiederherstellung der Ethik im Geiste der klassischen Tradition, das gleichwohl den Irrungen der aristotelischen Metaphysik zu entgehen versucht, indem es sich auf den Begriff des menschlichen Handelns stützt, berührt alle Aspekte des menschlichen Lebens, die Gesellschaft wie deren Verständnis in den Sozialwissenschaften. Es zielt darauf ab, »die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Haltungen und Verpflichtungen« (345) wiederherzustellen. Demgegenüber lässt sich auf der Seite des liberalen Individualismus unverändert das Fehlen einer kohärenten und rational gerechtfertigten Konzeption konstatieren.
6.6.1 Drei Einwände
6.6.1 Drei Einwände Yusuf KuhnMacIntyre zieht abschließend drei Einwände in Betracht, die gegen diese Schlussfolgerung erhoben werden könnten. Der erste Einwand könnte von Vertretern des liberalen Individualismus vorgebracht werden und bezieht sich auf den Begriff der Rationalität. Denn wie lassen sich grundsätzliche Fragen in der Philosophie klären, wo Argumente doch selten die Form von Beweisen haben?
MacIntyre vertritt dazu folgende Auffassung:
Wir können die Wahrheit oft in Bereichen begründen, wo keine Beweise verfügbar sind. Aber wenn eine Frage gelöst werden konnte, dann häufig deshalb, weil die streitenden Parteien - oder jemand aus ihren Reihen - aus der Kontroverse zurückgetreten sind und systematisch gefragt haben, welches die geeigneten rationalen Methoden sind, speziell diese Art von Kontroverse beizulegen. Ich bin der Meinung, daß wieder einmal die Zeit gekommen ist, wo es dringend erforderlich ist, diese Aufgabe in der Moralphilosophie durchzuführen; aber ich gebe nicht vor, dies im vorliegenden Buch unternommen zu haben. Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus. (346; Hervorhebungen im Original)
Dieser Aufgabe einer Darstellung der Rationalität, die von größter Bedeutung für die Wiederherstellung der Ethik ist, wird MacIntyre sich in einem späteren Buch zuwenden, das eine originelle Konzeption der Rationalität entwickelt und im Titel die Fragen aufwirft: Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?
Der zweite Einwand könnte von traditionellen Aristotelikern und Thomisten erhoben werden, die MacIntyres Interpretation der klassischen Tradition aus der Perspektive unterschiedlicher Interpretationen ebendieser Tradition kritisieren. MacIntyre betrachtet diese Kritik als Bestandteil einer Debatte innerhalb der von ihm selbst vertretenen Tradition, wobei er davon ausgeht, dass die Tradition dadurch nicht gefährdet, sondern gestärkt wird. Denn sein Begriff einer moralischen Tradition ist keineswegs statisch, sondern offen für dynamische Entwicklungen, da »eine Tradition durch die eigenen inneren Argumente und Konflikte aufrechterhalten und vorangetrieben« (346-347) wird. Auch dieser Aufgabe wird MacIntyre sich in späteren Werken und insbesondere in dem eben genannten Buch Whose Justice? Which Rationality? zuwenden.
Der dritte Einwand könnte von Marxisten erhoben werden, die die Alternative zum liberalen Individualismus nicht in der aristotelischen Tradition, sondern in der einen oder anderen Version des Marxismus sehen. Doch der Marxismus hat erstens seinen Anspruch auf einen moralischen Standpunkt durch seine eigene moralische Geschichte untergraben, da er stets in Varianten des Kantianismus oder Utilitarismus zurückgefallen ist. Und das ist nur eine Folge des von Anfang an im Kern des marxistischen Denkens selbst mehr oder weniger verborgenen radikalen Individualismus. Denn der Marxismus basiert nicht anders als die bürgerliche Ökonomie auf dem Konzept des modernen Individuums.
Die Marxisten erweisen sich zweitens auf ihrem Weg zur Macht meist als Weberianer, die ihre Autorität jenseits der Moral auf bürokratische Effektivität stützen. Daher ist für MacIntyre der Marxismus als politische und moralische Tradition erschöpft, obgleich er »noch immer eine der reichsten Quellen für Ideen über die moderne Gesellschaft ist« (349). Das zeigt, dass es sich hier nicht um eine billige Kritik von einem liberalen oder konservativen Standpunkt aus handelt, sondern vielmehr um eine interne Kritik eines Denkers, der sich selbst der marxistischen Tradition verbunden fühlt.
6.6.2 Wiederbelebung des moralischen Lebens
6.6.2 Wiederbelebung des moralischen Lebens Yusuf KuhnDa MacIntyres Argument zufolge, weit über den Marxismus hinaus, jede moralische und politische Tradition in der modernen Kultur erschöpft ist, stellt sich die Frage, ob es unter diesen Bedingungen überhaupt eine sinnvolle Form von Politik geben kann und ob daraus nicht wiederum ein tiefer Pessimismus im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung zwingend folgt.
MacIntyre gibt zur Antwort: »Nicht im mindesten.« (349) Denn er verwirft zwar die im engeren Sinne politische Reform als Weg zur Wiederherstellung der moralischen Kultur, schlägt aber als Ausweg die Bildung von lokalen Gemeinschaften vor, in denen im Streben nach geteilten Gütern durch Praktiken das moralische Leben wiederbelebt und bewahrt werden kann. Die menschlichen Beziehungen in solchen Gemeinschaften können einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung und Verfeinerung der Tugenden leisten.
MacIntyre beschließt After Virtue in diesem Geiste mit folgenden Sätzen:
Es ist immer gefährlich, zu enge Parallelen zwischen einer historischen Periode und einer anderen zu ziehen; und zu den irreführendsten dieser Parallelen gehören jene, die zwischen unserer eigenen Zeit in Europa und Nordamerika und der Epoche vom Niedergang des Römischen Reichs bis ins frühe Mittelalter gezogen worden sind. Dennoch gibt es gewisse Parallelen. Es stellte einen entscheidenden Wendepunkt in der älteren Geschichte dar, als Männer und Frauen mit guten Absichten Abstand davon nahmen, das Römische Imperium zu stützen und aufhörten, den Fortbestand der Zivilisation und der moralischen Gemeinschaft mit dem Fortbestand dieses Imperiums gleichzusetzen. Statt dessen machten sie sich daran, oft ohne genau zu erkennen, was sie taten, neue Formen von Gemeinschaft aufzubauen, in denen das moralische Leben aufrechterhalten werden konnte, so daß Moral und Zivilisation die heraufziehende Zeit der Barbarei und Finsternis überleben konnten. Wenn meine Darstellung unserer moralischen Lage richtig ist, sollten wir ebenfalls zu dem Schluß kommen, daß auch wir nun seit einiger Zeit ebenfalls diesen Wendepunkt erreicht haben. Was in diesem Stadium zählt, ist die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können, das bereits über uns gekommen ist. Und da die Tradition der Tugenden die Schrecken der letzten Finsternis überstanden hat, sind wir nicht ganz ohne Grund zur Hoffnung. Diesmal warten die Barbaren allerdings nicht jenseits der Grenzen; sie beherrschen uns schon seit einer ganzen Weile. Und gerade das mangelnde Bewußtsein dessen macht einen Teil unserer mißlichen Lage aus. Wir warten nicht auf einen Godot, sondern auf einen anderen, zweifelsohne völlig anderen heiligen Benedikt. (349-350)
Christopher Stephen Lutz erläutert in seinem Kommentar zu After Virtue den Verweis auf einen »anderen heiligen Benedikt« treffend:
Nach einem neuen Sankt Benedikt Ausschau zu halten, heißt, nach einem Architekten für dieses neue Modell des gesellschaftlichen Lebens zu suchen, das Gemeinschaften, die die Tradition der Tugenden verkörpern, befähigen wird, inmitten einer sozialen und politischen Kultur, die diese Tradition verwirft, zu gedeihen.
Christopher Stephen Lutz, Reading Alasdair MacIntyre’s After Virtue, London, 2012, S. 140.
Dieser äußerst verdichtete und metaphorisch aufgeladene Beschluss von After Virtue ist darüber hinaus eher dazu angetan, allerlei Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben. Da MacIntyre es bei diesen kryptischen Andeutungen bewenden lässt, ohne zu deren weiterer Aufhellung beizutragen, muss jeder Versuch einer näheren Deutung hoch spekulativ bleiben. Davon sei daher hier abgesehen. MacIntyres Worte müssen daher für sich selbst sprechen.
6.7 Kritiken und Einsichten im Rückblick
6.7 Kritiken und Einsichten im Rückblick Yusuf KuhnIn der zweiten Auflage von After Virtue, die 1984, also drei Jahre nach der ersten Auflage, erschienen ist, hat MacIntyre ein Postskript angefügt. Darin geht er auf verschiedene Kritiken ein, die in den zahlreichen Rezensionen und Artikeln, die zwischenzeitlich erschienen waren, vorgebracht worden sind. Manche Kritiken erfordern »eine Reihe langfristiger Projekte« (351), die MacIntyre in späteren Werken in Angriff nehmen sollte.
Im Postskript wählt er eine kleine Zahl von Kritiken, für die er »eine adäquatere Neuformulierung von Positionen« (352) als dringlich und hilfreich erachtet, zur Behandlung aus und unterteilt sie in drei Kategorien: 1. Die Beziehung der Philosophie zur Geschichte; 2. Die Tugenden und die Frage des Relativismus; 3. Die Beziehung der Moralphilosophie zur Theologie. Der erste und der dritte Punkt sind für den Schwerpunkt unseres Interesses, nämlich die negative Seite von MacIntyres Kritik an der Moralphilosophie von großer Bedeutung. Der zweite Punkt hingegen betrifft vor allem seine Darstellung der Tugenden, die wir hintangestellt haben, und kann daher relativ knapp gehalten werden.
6.7.1 Philosophie und Geschichte
6.7.1 Philosophie und Geschichte Yusuf KuhnZum ersten Punkt, nämlich Die Beziehung der Philosophie zur Geschichte, wird der Einwand des analytischen Philosophen William K. Frankena angeführt, dass MacIntyre nicht zwischen Geschichte und Philosophie unterscheidet und eine philosophische Behauptung mit einer historischen Untersuchung begründen zu können vermeint.
MacIntyre stellt in seiner Erwiderung eben den Sinn dieser Unterscheidung in Frage. Philosophisches Denken vollzieht sich in der Geschichte, in der Zeit und ließe sich nur dann von der geschichtlichen Zeit trennen, wenn es zeitlose Wahrheiten zu entdecken gäbe. Während Frankena Philosophie eben als Suche nach solchen Wahrheiten begreift, sieht MacIntyre Philosophie als historische Tradition, die ins gesellschaftliche Leben eingebettet ist und nach der besten, aber stets fehlbaren Annäherung an die Wahrheit sucht. Für Frankena können daher philosophische Behauptungen nur durch Argumente der analytischen Philosophie und nicht durch eine Art von Geschichtsschreibung begründet werden.
MacIntyre hält dem entgegen:
Gegen diese Ansicht muß ich anführen, daß Argumente der Art, wie sie von der analytischen Philosophie bevorzugt werden, zwar eine unentbehrliche Kraft besitzen, daß aber solche Argumente nur im Kontext einer bestimmten Form von historischer Untersuchung den Typ von Behauptung über Wahrheit und Rationalität stützen können, den zu rechtfertigen Philosophen bezeichnenderweise anstreben. (353)
Dies gilt allemal für die Gegenstände der Moralphilosophie, die nur »in ihrer Verkörperung im historischen Leben bestimmter sozialer Gruppen« und im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis »in ihrer Verkörperung im historischen Leben bestimmter sozialer Gruppen« (353) zu finden sind. Eine von jeglichem gesellschaftlichen Kontext isolierte Moral an sich findet sich hingegen nirgendwo.
Kant meinte freilich, mittels seiner Transzendentalphilosophie eine solche Moral an sich in der Natur der Vernunft entdeckt zu haben, die daher nicht nur für menschliche, sondern für alle vernünftigen Wesen gültig ist. Doch Kants vermeintliche universelle Prinzipien der Vernunft und Moral erwiesen sich – wie bei allen anderen Versuchen dieser Art bis hin zur analytischen Moralphilosophie – als lediglich spezifische Prinzipien einer besonderen historischen Konfiguration menschlichen Handelns.
MacIntyre zieht hier eine Parallele zwischen Kants Moralphilosophie in der Kritik der praktischen Vernunft und seiner Naturphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft, die auf die Grundlegung der newtonschen Physik ausgerichtet war, die jedoch durch den Siegeszug der Relativitätstheorie vom Thron der Universalität gestoßen und auf einen marginalen Platz verwiesen wurde.
Dazu stellt MacIntyre fest:
Ebenso erwies sich das, was Kant für die Prinzipien und Voraussetzungen von Naturwissenschaft an sich hielt, schließlich als Prinzipien und Voraussetzungen, die spezifisch für die Physik Newtons waren; und was Kant für die Prinzipien und Voraussetzungen der Moral an sich hielt, erwies sich als Prinzipien und Voraussetzungen einer ganz speziellen Moral, einer verweltlichten Version des Protestantismus, die dem modernen liberalen Individualismus zu einem seiner Grundgesetze verhalf. Damit stürzte der Anspruch auf Allgemeingültigkeit in sich zusammen. (354)
Darüber hinaus hat gerade die Entwicklung der analytischen Philosophie dem transzendentalen Projekt und allen damit verwandten Gestalten wie dem logischen Empirismus den Boden entzogen, indem so zentrale Begriffe wie etwa der Begriff der Notwendigkeit und des Apriori einer vernichtenden Kritik unterzogen wurden. Der Fortschritt der analytischen Philosophie selbst führte zur Erkenntnis, dass es außerhalb rein formaler Untersuchungen »keine Gründe für den Glauben an allgemeingültige, notwendige Prinzipien gibt« (354; Hervorhebung im Original). Die analytische Philosophie kann daher bestenfalls den Status einer Disziplin beanspruchen, »deren Zuständigkeit auf die Untersuchung von Schlußfolgerungen begrenzt worden ist.« (354) Da sie lediglich formale Eigenschaften von Theorien zu beurteilen, aber keinen inhaltlichen Standpunkt zu begründen vermag, verkommt eine so verstandene Philosophie zu einer Sache der bloßen Meinung. Die formale Beurteilung kann durch den Ausschluss besonders inkohärenter und inkonsistenter Positionen nur negative Ergebnisse bringen.
MacIntyre führt aus:
Aber sie kann niemals die rationale Annehmbarkeit einer bestimmten Position in Fällen begründen, in denen jede der alternativen, rivalisierenden Positionen, die verfügbar sind, über ausreichende Reichweite und ausreichenden Geltungsbereich verfügt, und die Anhänger jeder einzelnen bereit sind, den Preis zu zahlen, der zur Absicherung von Kohärenz und Konsistenz nötig ist. (355)
Analytische Philosophen, die weiterhin Begriffe und Argumente in Isolation von den sozialen Kontexten der menschlichen Tätigkeit betrachten, laufen Gefahr, die Fehler und Irrtümer von ihren kantianischen Vorgängern zu übernehmen. Denn die Frage, ob eine Position gerechtfertigt ist, lässt sich nur mit Blick darauf beantworten, wie diese Position im Wettstreit mit rivalisierenden Positionen abgeschnitten hat. Die Geschichte der Naturwissenschaft liefert dafür hervorragendes Anschauungsmaterial.
MacIntyre illustriert dies folgendermaßen:
Die Newtonsche Physik war deshalb ihren galileischen und aristotelischen Vorgängern und ihren kartesianischen Konkurrenten rational überlegen, weil sie deren Grenzen überschreiten konnte, indem sie Probleme in Bereichen löste, in denen diese Vorgänger und Konkurrenten aufgrund ihrer eigenen Maßstäbe für wissenschaftlichen Fortschritt keinen Fortschritt machen konnten. So können wir gar nicht beschreiben, worin die rationale Überlegenheit der Newtonschen Physik bestand, es sei denn historisch im Sinne ihrer Beziehung zu den Vorgängern und Konkurrenten, die sie herausforderte und ersetzte. (356)
Ohne die Bezugnahme auf den historischen Kontext kann die Frage der rationalen Überlegenheit einer Position über ihre Rivalen nicht entschieden werden. Dadurch erscheinen die Positionen vielmehr als inkommensurabel, was zu unlösbaren Problemen führt. Und wie die Philosophie der Naturwissenschaft von der Geschichte der Naturwissenschaft abhängt, so auch die Moralphilosophie von der Geschichte der Moral. Die Moralphilosophie selbst ist stets Ausdruck einer bestimmten sozialen und kulturellen Praxis. Und die Moral schließt immer, mehr oder weniger ausdrücklich und bewusst, eine philosophische Positionierung ein.
MacIntyre bemerkt daher:
Moralphilosophien sind vor allem anderen explizite Artikulationen der Ansprüche spezieller moralischer Ansichten auf rationale Treue. Und deshalb sind die Geschichte der Moral und die Geschichte der Moralphilosophie eine einzige Geschichte. (357)
Wie kann dann aber die rationale Überlegenheit einer Theorie gegenüber anderen begründet werden? Bedarf es dafür nicht neutraler Maßstäbe, die allen rivalisierenden Theorien extern sind? MacIntyre bezieht sich wieder auf das Beispiel der Geschichte der Naturwissenschaft. Wie in dieser gibt es auch in der Moralphilosophie keine allgemeinen zeitlosen Maßstäbe. Die rationale Überlegenheit einer Moral und einer Moralphilosophie als Ausdruck der Ansprüche einer bestimmten Moral erweist sich vielmehr daran, dass sie die Probleme und Beschränkungen eines Rivalen, die nach dessen eigenen Maßstäben als solche gelten, zu erkennen, zu erklären und zu überschreiten vermag.
Dagegen könnte der Einwand erhoben werden, dass die Maßstäbe zur Beurteilung der rationalen Überlegenheit einer Theorie gegenüber einer anderen selbst einer rationalen Rechtfertigung bedürfen, die von einer Geschichte nicht geliefert werden können, die allererst auf der Grundlage dieser Maßstäbe geschrieben werden kann. Dieser Vorstellung liegt jedoch die Idee einer perfekten Theorie zugrunde, der alle vernünftigen Wesen zustimmen müssten. Wie im Falle der wissenschaftlichen Theorie kann es auch in der Moralphilosophie, da die Überlegenheit immer im jeweiligen historischen Kontext ermittelt werden muss, nur um die Suche nach der besten Theorie, die es in der Geschichte bisher gegeben hat, gehen.
Das Schreiben dieser Art von philosophischer Geschichte kann daher nie zur Vollendung gebracht werden und ist allemal fehlbar, da stets eine neue Herausforderung für die bestehende Theorie aufkommen kann, die diese schließlich ablöst.
MacIntyre legt deshalb dar:
Diese Art des Historismus enthält also, anders als bei Hegel, eine Form von Fallibilismus; es ist eine Art des Historismus, die alle Ansprüche auf absolute Erkenntnis ausschließt. Wenn dennoch ein bestimmtes Moralsystem erfolgreich die Beschränkungen seiner Vorgänger überschritten und dabei die bis dahin besten Mittel geliefert hat, die es gibt, um diese Vorgänger zu verstehen, und dann mehreren Herausforderungen durch eine Reihe rivalisierender Standpunkte gegenübergestanden hat, in jedem Fall aber in der Lage war, sich auf die Art zu verändern, die nötig ist, um die Stärken jener Standpunkte aufzunehmen und gleichzeitig ihre Schwächen und Beschränkungen zu vermeiden, und die bis dahin beste Erklärung jener Schwächen und Beschränkungen geliefert hat, dann haben wir den bestmöglichen Grund, darauf zu vertrauen, daß auch zukünftigen Herausforderungen erfolgreich begegnet wird und daß die Prinzipien, die den Kern eines Moralsystems definieren, dauerhafte Prinzipien sind. Und genau das ist die Leistung, die ich dem fundamentalen Moralsystem von Aristoteles im vorliegenden Buch zuschreibe. (359; Hervorhebungen im Original)
Die konkrete Anwendung dieser Art von philosophischer Geschichtsschreibung auf die Darstellung der Geschichte der Moralphilosophie in After Virtue fasst MacIntyre im Rückblick nun folgendermaßen zusammen:
[…] ich habe nicht nur von dem von mir so genannten Projekt der Aufklärung behauptet, daß es an seinen eigenen Maßstäben gescheitert ist, weil es seinen Protagonisten nie gelungen war, eine einheitlich zu rechtfertigende Reihe von Moralprinzipien zu spezifizieren, denen zuzustimmen sich kein vollkommen rational Handelnder entziehen konnte, oder von Nietzsches Moralphilosophie, daß auch sie an ihren eigenen Maßstäben scheiterte; ich habe vielmehr auch behauptet, daß die Gründe zum Verständnis dieses Scheiterns nur aus den Quellen geliefert werden konnten, die eine aristotelische Darstellung der Tugenden bot, die sich auf genau die Art, die ich beschrieben habe, in ihren spezifischen historischen Gegenüberstellungen als die bisher beste Theorie herausstellt. Aber man beachte, daß ich in diesem Buch nicht erklärt habe, ich hätte diesen Anspruch bisher gerechtfertigt,
Eigene Übersetzung; die Übersetzung in der deutschen Ausgabe ist auch hier wieder ungenau, denn sie lautet: »[…] ich hätte diesen Anspruch bis jetzt aufrechterhalten, [...]« (360) Im englischen Original heißt es hingegen: »But note that I did not assert in After Virtue that I had as yet sustained that claim, nor do I claim that now.« (After Virtue, S. 271) noch behaupte ich das jetzt. (360)
MacIntyre geht anschließend kurz auf den Einwand ein, er habe Hume und Kant nicht angemessen, sondern selektiv und verkürzt dargestellt. Er zeigt Verständnis für diese Kritik und erkennt die Aufgabe an, die Moralphilosophien Humes und Kants insbesondere in ihrem Verhältnis zur aristotelischen Tradition genauer darstellen zu müssen. Denn sonst »ist die zentrale Behauptung dieses Buches nicht in der Art und Weise begründet, wie es die historistische Erkenntnistheorie erfordert, die von der argumentativen Erzählung dieses Buches vorausgesetzt wird.« (360)
Abschließend entgegnet MacIntyre auf den Einwand, dass seine Art von Sozialgeschichte der Geschichte der Philosophie einen viel zu großen kausalen Einfluss einräume, dass »theoretische und philosophische Vorhaben, ihre Erfolge und Mißerfolge in der Geschichte weit einflußreicher [sind], als akademische Historiker im allgemeinen annahmen.« (361) Und er fügt hinzu, dass »die Erzählungen der akademischen Sozialgeschichte meistens in einer Weise geschrieben [sind], die gerade die Art logischer Unterscheidungen zwischen Fragen nach Tatsachen und Fragen nach Werten voraussetzt, die zu leugnen mich die Darstellung der Erzählung im vorliegenden Buch zwingt.« (361)
Direkt im Anschluss daran macht MacIntyre folgende aufschlussreiche Bemerkung:
Und die philosophische Geschichte, die die zentrale Erzählung dieses Buches selbst ausmacht, ist vom Standpunkt der Schlußfolgerung aus geschrieben, zu der sie selbst kommt und die sie aufrechterhält [besser: rechtfertigen, erweisen] oder vielmehr aufrechterhalten [besser: rechtfertigen, erweisen] würde, wenn ihre Erzählung so erweitert wäre, wie ich sie in der Fortsetzung dieses Buches zu erweitern hoffe. Damit ist die Erzählung dieses Buches nicht durch Zufall oder Nachlässigkeit eine parteiische Erzählung mit der ihr eigenen bewußten Einseitigkeit. (361)
6.7.2 Tugenden und Relativismus
6.7.2 Tugenden und Relativismus Yusuf KuhnIm zweiten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Tugenden und die Frage des Relativismus setzt MacIntyre sich mit dem Einwand auseinander, dass seine Konzeption der Tugenden einen Relativismus impliziert, wobei er zugesteht, dass seine Darstellung Anlass zu Missverständnissen geben konnte. Irrig wäre insbesondere die Annahme, dass es ausreicht, aus einer Praktik Tugenden abzuleiten, also nur das erste Stadium, statt aller drei Stadien, der Bestimmung von Tugenden zu durchlaufen, um zu einer angemessenen Vorstellung einer Tugend zu kommen. MacIntyre gibt zu, diesen Eindruck zwar befördert, in Wirklichkeit aber immer die Auffassung vertreten zu haben, »daß keine menschliche Eigenschaft als Tugend bezeichnet werden sollte, bevor sie nicht die in jedem der drei Stadien spezifizierten Bedingungen erfüllt.« (365)
Zur Erinnerung sei kurz erwähnt: Die erste Stufe der Bestimmung von Tugenden bezieht sich auf eine Praktik, die zweite auf die narrative Einheit des Lebens und die dritte auf die Integration in eine soziale Tradition. Damit eine menschliche Eigenschaft in den Rang einer Tugend erhoben werden kann, muss sie auf allen drei Stufen die Bedingung erfüllen, zur jeweiligen Art von Gütern beizutragen. Die dritte Stufe ist dadurch ausgezeichnet, dass sie die Suche nach dem Guten und dem Besten betrifft.
MacIntyre räumt überdies ein, dass er mit seiner Beschreibung der dritten Stufe Gründe für den Vorwurf des Relativismus liefert, nämlich für die Annahme, dass seine »Darstellung kompatibel mit der Anerkennung der Existenz gesonderter, unvereinbarer und rivalisierender Traditionen der Tugenden sei.« (366) MacIntyre widerspricht dem allerdings nicht. Denn zwei moralische Traditionen, die rivalisierende Behauptungen über wichtige Fragen aufstellen, müssen eben daher einiges gemeinsam haben, und ihren Anhängern wird es mithin zumindest manchmal möglich sein, mit ihren jeweiligen Maßstäben sich gegenseitig zu verstehen und zu beurteilen. Aus solchen Begegnungen können sich Berichtigungen, Lernprozesse und Einsichten in die Vorzüge und Mängel der vertretenen Traditionen ergeben, wobei die Maßstäbe selbst Veränderungen erfahren können. Gelingt es einer Tradition solche Herausforderungen zu bestehen, »dann werden die Anhänger dieser Tradition rational Anspruch auf ein großes Maß an Vertrauen darauf haben, daß die Tradition, in der sie leben und der sie das Wesen ihres moralischen Lebens verdanken, die Mittel finden wird, zukünftigen Herausforderungen mit Erfolg zu begegnen.« (367) Diese Tradition beziehungsweise die in sie eingebettete Theorie der Moral hat sich somit als »die bisher beste Theorie erwiesen« (368; Hervorhebung im Original) und bewährt.
Dies heißt freilich nicht, dass es nicht eine Situation geben kann, in der es keine rationale Auflösung der Konflikte zwischen rivalisierenden Traditionen gibt. Einem daraus möglicherweise abgeleiteten Relativismus zu widersprechen, macht für MacIntyre keinen Sinn. Diese Auffassung begründet er folgendermaßen:
Denn meine Position bringt mit sich, daß es keine erfolgreichen Argumente a priori gibt, die im voraus garantieren, daß eine solche Situation nicht doch eintreten könnte. In der Tat könnte uns nichts eine solche Garantie geben, was nicht die erfolgreiche Wiederbelebung des transzendentalen Projekts von Kant enthielte.
Es muß eigentlich kaum wiederholt werden, daß es die zentrale These meines Buches ist, daß die aristotelische moralische Tradition das beste Beispiel für eine Tradition ist, deren Anhänger rational Anspruch auf ein hohes Maß an Vertrauen in ihre epistemologischen und moralischen Mittel haben. (368)
Den Nachweis, dass das Unterfangen einer historistischen Verteidigung der aristotelischen Tradition kein Paradoxon darstellte, betrachtet MacIntyre als eine weitere notwendige Aufgabe, die er im nächsten Buch in Angriff zu nehmen gedenkt; gemeint ist wohl wieder: Whose Justice? Which Rationality?.
6.7.3 Moralphilosophie und Theologie
6.7.3 Moralphilosophie und Theologie Yusuf KuhnIm dritten und letzten Abschnitt des Postskripts zum Thema Die Beziehung der Moralphilosophie zur Theologie geht es um die Kritik, dass MacIntyres Erzählung einer angemessenen Behandlung des Verhältnisses zwischen der aristotelischen Tradition der Tugenden und der christlichen Tradition ermangelt. MacIntyre gesteht diesen Mangel ein, der freilich von großer Tragweite ist.
Die Einsicht in die Bedeutung und die Folgen dieses Mangels dürften maßgeblich mit dazu beigetragen haben, dass MacIntyre in der Folgezeit im Geiste der Versöhnung von Aristotelismus und Christentum seine Position in Richtung eines thomistischen Aristotelismus weiterentwickelt hat. Den Kern der problematischen Beziehung zwischen aristotelischer Tugendethik und christlicher Gebotsethik beschreibt MacIntyre folgendermaßen:
Von dem Augenblick an, als die biblische Religion und der Aristotelismus einander gegenübergestellt wurden, verlangte die Frage der Beziehung von Behauptungen über die menschlichen Tugenden zu Behauptungen über das göttliche Gesetz und die göttlichen Gebote eine Antwort. Jede Versöhnung von biblischer Theologie und Aristotelismus müßte die These verteidigen, daß nur ein Leben, das im wesentlichen durch Gehorsam gegenüber dem Gesetz konstituiert wird, so sein könnte, daß es vollständig jene Tugenden zeigt, ohne die menschliche Wesen ihr Telos nicht erreichen können. Jede gerechtfertigte Zurückweisung einer solchen Versöhnung müßte Gründe für die Ablehnung dieser These anführen. Die klassische Darlegung und Verteidigung dieser These stammt selbstverständlich von Thomas von Aquin […]. (369)
Im Lichte der thomistischen Versöhnung von christlicher Theologie und aristotelischer Philosophie erkennt MacIntyre manche Teile seiner philosophischen Geschichte als unzulänglich oder gar fehlerhaft. Er nennt insbesondere das komplexe und wechselhafte Wesen der protestantischen und jansenistischen Reaktion auf die aristotelische Tradition sowie Kants Versuch einer Gründung der Moral auf Vernunft, die impliziert, dass der Aristotelismus nicht nur verworfen wird, sondern auch als eine Hauptquelle moralischen Irrtums identifiziert wird. Daraus ergibt sich das Erfordernis weiterer Zusätze und Berichtigungen zu seiner philosophischen Erzählung, wenn die daraus abgeleiteten Thesen ihren Anspruch auf rationale Rechtfertigung wahren sollen.
MacIntyre beschließt das Postskript mit dem trefflichen Hinweis darauf, dass After Virtue in dieser und mancher anderer Hinsicht als ein Werk, das noch in der Entwicklung ist, (a work still in progress) gelesen werden sollte.
6.8 Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität?
6.8 Wessen Gerechtigkeit? Welche Rationalität? Yusuf KuhnDer im Postskript zur 1984 erschienenen zweiten Auflage angekündigte »Folgeband«
Zur Zeit der Abfassung des Postskripts war MacIntyre offensichtlich mit der Arbeit an diesem Buch bereits intensiv beschäftigt, so dass sich im Postskript vielerlei Vorwegnahmen von Ideen finden, die darin zu ausführlicher Darstellung gebracht werden. Der wichtigste Mangel, der nicht nur im Postskript, sondern auch schon in After Virtue selbst ausdrücklich angesprochen wird, betrifft die Theorie der Rationalität.
Denn MacIntyre hat schon in der ersten Auflage von After Virtue dazu bemerkt:
Meine negativen und positiven Bewertungen bestimmter Argumente setzen in der Tat eine systematische, obgleich hier nicht ausgeführte Darstellung der Rationalität voraus.
Alasdair Macintyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt, 1995, S. 346; Hervorhebungen im Original.
Im Vorwort zu Whose Justice? Which Rationality? lässt MacIntyre keinen Zweifel daran, dass die Theorie der Rationalität das zentrale Thema dieses Buches ist. Er erwähnt darin zunächst, dass After Virtue zu der Einsicht geführt hat, dass es einerseits trotz aller Versuche über die Jahrhunderte immer noch keine kohärente und rational begründete Theorie der Moral vom Standpunkt des liberalen Individualismus gibt und andererseits die aristotelische Tradition in einer Weise neu gefasst werden kann, dass sie zur Wiederherstellung der zerrütteten modernen Moral befähigt.
Daran schließt MacIntyre folgende Bemerkung an:
Aber ich habe auch festgestellt, dass diese Schlussfolgerungen der Unterstützung durch eine Darstellung dessen bedurften, was Rationalität ist, in deren Licht rivalisierende und inkompatible Bewertungen der Argumente von After Virtue adäquat erklärt werden können. Ich habe ein Buch versprochen, in dem ich mir zur Aufgabe gesetzt habe, zu sagen, sowohl was es rational macht, auf eine bestimmte Weise statt auf eine andere zu handeln, als auch was es rational macht, eine bestimmte Konzeption der praktischen Rationalität statt einer anderen vorzubringen und zu verteidigen. Hier ist es.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. IX.
Die hiermit in Aussicht gestellte Theorie der Rationalität bezieht sich also sowohl auf die Rationalität von Handlungsweisen als auch auf die Rationalität von Konzeptionen der praktischen Rationalität und beansprucht, Kriterien für eine rationale Wahl auf beiden Ebenen zu liefern.
Darüber hinaus weist MacIntyre darauf hin, dass er zwischenzeitlich zur Einsicht in den engen Zusammenhang des Begriffs der Rationalität mit dem der Gerechtigkeit gelangt ist. Denn »verschiedene und inkompatible Konzeptionen der Gerechtigkeit sind in charakteristischer Weise eng verknüpft mit verschiedenen und inkompatiblen Konzeptionen der praktischen Rationalität«
Aus dieser Einsicht ergibt sich zudem die Möglichkeit, eine Antwort auf die im dritten Abschnitt des Postskripts zur zweiten Auflage von After Virtue angesprochene Kritik zu geben, die das Fehlen einer Untersuchung des Verhältnisses der aristotelischen Tradition der Tugenden zur christlichen Moral bemängelte. Einigen Kritikern hatte sich in der Tat nicht ganz zu Unrecht der Eindruck aufgedrängt, dass After Virtue eine einseitige Verteidigung der Tugendethik zum Nachteil der Regelethik darstellt. MacIntyre hält dies allerdings für ein Missverständnis, das auf das Versäumnis dieser Kritiker zurückgeht, seine Aussagen über die Angewiesenheit jeglicher »Moralität der Tugenden« auf eine »Moralität der Gesetze« zur Kenntnis zu nehmen.
Um den genannten Aufgaben und Anliegen nachzukommen, unternimmt MacIntyre eine ausführliche historische Untersuchung von drei Traditionen: die griechische Tradition von Homer über Platon bis Aristoteles; die christliche Tradition von Augustinus bis Thomas von Aquin; die Tradition der schottischen Aufklärung von Hutcheson bis Hume. Diesen drei Studien, die drei Viertel des Buches einnehmen, folgen sodann vier Kapitel, in denen der Gedankengang der historischen Erzählungen in einem mehr theoretischen Licht beleuchtet wird.
Aus den historischen Studien geht die Einsicht in einen engen Zusammenhang zwischen den Tugenden, insbesondere der Tugend der Gerechtigkeit, und der praktischen Rationalität hervor. Nicht nur der Begriff der Tugend, sondern auch die praktische Rationalität selbst erweist sich als an eine Tradition gebunden. Die Vorstellung einer zeitlosen, absoluten praktischen Rationalität jenseits aller Traditionen stellt sich als Chimäre heraus.
MacIntyre erläutert:
Es hat freilich immer wieder Bestrebungen gegeben, von denen Kants Versuch sicherlich der größte war, dies zu bestreiten. Aber die Geschichte der Bestrebungen, eine Moralität für traditionsfreie Individuen zu konstruieren, ob durch Berufung auf eine von verschiedenen Konzeptionen der Universalisierbarkeit oder auf eine von gleichermaßen mannigfaltigen Konzeptionen der Nützlichkeit oder auf geteilte Intuitionen oder auf irgendeine Kombination dieser Elemente, ist in ihrem Ergebnis […] eine Geschichte von fortwährend unaufgelösten Disputen gewesen, so dass keine unbestrittene und unbestreitbare Darlegung dessen hervorgeht, worin traditionsunabhängige Moralität besteht, und folglich keine neutrale Menge von Kriterien, mittels derer die Ansprüche von rivalisierenden und widerstreitenden Traditionen einer Entscheidung zugeführt werden könnten.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 334.
Rationalität und Gerechtigkeit sind Begriffe mit einer Geschichte, die in eine Tradition eingebettet sind. Sie müssen stets in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Da es nun eine Vielzahl von Traditionen gibt, gibt es folglich auch eine Vielzahl von Rationalitäten und Gerechtigkeiten.
Führt die Annahme einer Vielfalt von Traditionen mit ihrer jeweiligen Weise der rationalen Rechtfertigung aber nicht ebenso wie die moderne Moralität zu unlösbaren Konflikten und letztlich in den Relativismus?
Das Titelelement Which rationality? (Welche Rationalität?) deutet auf eine mögliche Antwort auf die Herausforderung des Relativismus hin. Es gibt nur eine Wahrheit, aber das stets fehlbare Streben nach ihr auf den verschiedenen Wegen der Rationalitäten muss nicht zu unlösbaren Konflikten führen. Denn eine Tradition kann sich entwickeln und Lernprozesse durchlaufen, wodurch sich bestimmte Positionen als rational überlegen erweisen können.
Dies gilt nicht nur für die innere Entwicklung einer Tradition, sondern auch für die Begegnung mit anderen Traditionen, bei der sich beispielsweise die Ansprüche einer anderen Tradition auf Rationalität nach ihren eigenen Rationalitätskriterien als überlegen erweisen können. Eine Tradition kann gemäß ihren eigenen Kriterien eine andere Tradition als rational überlegen oder unterlegen beurteilen, freilich ohne den Anspruch auf Erkenntnis der absoluten Wahrheit zu erheben, sondern lediglich auf Erkenntnis der bisher und jeweils besten Lösung.
Auf den Vorwurf, dass eine Vielfalt von Traditionen unweigerlich zu Relativismus, Unlösbarkeit von Konflikten oder gar Inkommensurabilität führt, kann es also durchaus eine Antwort geben, wie MacIntyre darlegt:
Darauf hat der Vertreter der Rationalität von Traditionen eine zwiefache Erwiderung: dass, wenn die Vielfalt der Traditionen einmal richtig charakterisiert worden ist, eine bessere Erklärung der Vielfalt der Standpunkte zugänglich ist, als entweder die Aufklärung oder ihre Erben liefern können; und dass diese Anerkennung der Vielfalt der Traditionen der Untersuchung, jede mit ihrer eigenen spezifischen Weise der rationalen Rechtfertigung, nicht impliziert, dass die Differenzen zwischen rivalisierenden und inkompatiblen Traditionen nicht rational gelöst werden können. Wie und unter welchen Bedingungen sie gelöst werden können, ist etwas, das erst zu verstehen ist, nachdem ein vorausgehendes Verstehen der Natur solcher Traditionen erlangt worden ist. Vom Standpunkt der Traditionen der rationalen Untersuchung ist das Problem der Vielfalt nicht abgeschafft, sondern in einer Weise transformiert, die es einer Lösung zugänglich macht.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 10-11; Hervorhebung im Original.
Für eine Lösung von Konflikten im Rahmen der Rationalität der Traditionen muss freilich vorausgesetzt werden, dass alle Beteiligten sich als Vertreter einer bestimmten Tradition verstehen, die sich in Konflikt mit rivalisierenden Traditionen befindet.
MacIntyre geht nun dazu über, vier Traditionen darzustellen. Drei davon verstehen sich in diesem Sinne selbst als Traditionen: die aristotelische Tradition, die augustinische Tradition und die Tradition der schottischen Aufklärung. Die vierte hingegen, der Liberalismus versteht sich selbst hingegen als Ausdruck einer traditionsunabhängigen universellen Rationalität. Allerdings hat sich der Liberalismus, der anfänglich alle Traditionen im Namen universeller Vernunftprinzipien zu verwerfen beanspruchte, durch seine Unfähigkeit, die Debatten über eben diese Vernunftprinzipien zu einer rationalen Auflösung zu führen, selbst in eine Tradition verwandelt. Die Kontinuität dieser Tradition zeichnet sich nicht zuletzt durch die endlose Fortführung der Debatte über diese Prinzipien aus.
Der Liberalismus war ursprünglich mit dem Anspruch angetreten, eine Reihe von Prinzipien mit universeller Geltung durch absolute Vernunftbegründung zu bestimmen und damit ein Regelwerk für eine soziale Ordnung zu schaffen, die auf kein übergeordnetes Gut ausgerichtet ist, sondern vielmehr das friedliche Zusammenleben von Anhängern völlig unterschiedlicher und unvereinbarer Vorstellungen des guten Lebens in dieser Gesellschaft ermöglicht. In diesem Rahmen steht es jedem Individuum frei, sein Leben nach jeder beliebigen Vorstellung des Guten, aus welcher Tradition auch immer diese stammen mag, auszurichten, solange diese Vorstellung des Guten nicht die Umgestaltung des Lebens der restlichen Gesellschaft verlangt.
MacIntyre stellt dazu fest:
Und diese Kennzeichnung impliziert natürlich nicht nur, dass dieser liberale Individualismus in der Tat seine eigene breite Konzeption des Guten hat, die er politisch, rechtlich, sozial und kulturell aufzuerlegen bemüht ist, wenn immer er die Macht dazu hat, sondern auch, dass dabei seine Tolerierung rivalisierender Konzeptionen des Guten in der Öffentlichkeit stark begrenzt ist.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 336.
Damit erweist sich das übergeordnete Gut des Liberalismus als die Aufrechterhaltung der liberalen politischen und sozialen Ordnung. Das Scheitern aller Versuche einer rationalen Begründung der grundlegenden Prinzipien verstärkt den Eindruck, dass der Liberalismus nicht als das Streben nach einer traditionsunabhängigen Rationalität begriffen werden sollte, sondern als Ausdruck von sozialen Institutionen, die sich geschichtlich herausgebildet haben und weiterentwickeln, und zwar nicht als zeitlose Stimme einer universellen Vernunft, sondern als wandelbare Stimme einer partikulären Tradition.
MacIntyre beschreibt die Tradition des Liberalismus folgendermaßen:
Wie andere Traditionen trägt der Liberalismus in sich seine eigenen Kriterien der rationalen Rechtfertigung. Wie andere Traditionen hat der Liberalismus seine Menge von autoritativen Texten und seine Dispute über ihre Interpretation. Wie andere Traditionen findet der Liberalismus seinen gesellschaftlichen Ausdruck durch eine besondere Art der Hierarchie.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 345.
Viele Anhänger des Liberalismus verweigern sich freilich dieser Einsicht. Doch immer mehr liberale Denker, zu denen nicht zuletzt so herausragende philosophische Vertreter des Liberalismus wie etwa John Rawls und Richard Rorty gehören, haben nichtsdestotrotz anerkannt, dass ihre Theorie und Praxis einer kontingenten Tradition verhaftet ist, die zwar einen Anspruch auf universelle Geltung erhebt, jedoch über den Status einer Tradition, die mit anderen Traditionen rivalisiert, ohne sich auf eine absolute Begründung stützen zu können, nicht hinauskommt.
Der Liberalismus ist sicherlich der bislang stärkste Vertreter des Anspruchs auf einen neutralen traditionsunabhängigen Standpunkt. Aus seinem Scheitern kann zwar nicht gefolgert werden, dass es überhaupt keinen solchen neutralen Standpunkt geben kann, aber es liefert doch »den stärksten Grund, den wir tatsächlich für die Behauptung haben können, dass es keinen solchen neutralen Boden gibt, dass es keinen Platz für die Berufung auf eine praktische-Rationalität-an-sich oder eine Gerechtigkeit-an-sich geben kann, der alle rationale Personen aufgrund eben ihrer Rationalität anzuhängen gezwungen wären.«
Wenn es keinen Standpunkt außerhalb einer Tradition mit ihrer besonderen Geschichte und Verkörperung im gesellschaftlichen Leben gibt, so erweist es sich als unmöglich, außerhalb einer bestimmten Tradition mit ihren internen Problemen und ihren Konflikten mit rivalisierenden Traditionen zu sprechen. MacIntyre zieht daraus den Schluss, dass es ihm von nun an nicht mehr möglich ist, die Untersuchung im gleichen Stile fortzuführen. Denn die weitere Darstellung der vier Traditionen, die Gegenstand des Buches sind, verlangt eine Verortung des Autors in der jeweiligen Tradition, die er darzustellen wünscht.
MacIntyre führt näherhin aus:
Es gibt nämlich mindestens vier alternative Weisen, die Erzählungen der vorigen Kapitel fortzuführen, mindestens vier alternative Weisen, dieses Buch zu weiteren Schlussfolgerungen voranzubringen, aber kein Autor alleine könnte mehr als eine von ihnen schreiben. Denn genau hier müssen zeitgenössische substantielle Argumente zwischen, für und gegen besondere Traditionen der Untersuchung und auch für und gegen Antitradition hinsichtlich sowohl Gerechtigkeit als auch Rationalität beginnen. Genau hier müssen wir beginnen, als Protagonisten einer streitenden Partei zu sprechen, oder in Schweigen verfallen.
Ein Buch, das mit der Schlussfolgerung endet, dass das, was wir aus seinem Argument lernen können, ist, wo und wie zu beginnen ist, mag nicht den Anschein haben, viel erreicht zu haben. Doch schließlich mag Descartes in einer Sache Recht behalten haben: in der Philosophie ist, zu wissen, wie zu beginnen ist, die schwierigste Aufgabe von allen. Wir, wer immer wir sind, können die Untersuchung nur von einem Gesichtspunkt aus beginnen, der durch unsere Beziehung zu irgendeiner spezifischen sozialen und intellektuellen Vergangenheit geboten wird, durch die wir uns irgendeiner besonderen Tradition der Untersuchung angeschlossen haben, indem wir die Geschichte dieser Untersuchung in die Gegenwart ausdehnen: als Aristoteliker, als Augustinianer, als Thomist, als Humeaner, als Post-Aufklärungs-Liberaler oder als etwas anderes.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 401-402.
An der Reihe von Alternativen, die MacIntyre hier in Betracht zieht, lässt sich schon ein weiterer bedeutender Unterschied zu After Virtue ablesen, in der es nur die Wahl zwischen zwei Alternativen gab: Aristoteles oder Nietzsche? Mittlerweile hat sich der Horizont deutlich erweitert. MacIntyre befasst sich nicht nur mit bereits vier Traditionen, sondern ist sich der auch darin weiterhin liegenden Beschränkung durchaus bewusst. Sein geweiteter Blickwinkel erlaubt MacIntyre nämlich nun, eine ausdrückliche Selbstbescheidung vorzunehmen. Denn er räumt ein, dass es zahlreiche weitere Traditionen gibt, die er nicht behandeln konnte, und dass sein Argument dadurch unvollständig bleiben muss. Er erwähnt beispielsweise die Geschichte des Judentums und seine Traditionen der Untersuchung, die aus der Begegnung des Studiums der Thora mit der Philosophie hervorgegangen sind.
Und MacIntyre merkt dazu an:
Aber von allen Geschichten der Untersuchung ist diese diejenige, die, vielleicht mehr als jede andere, von ihren eigenen Anhängern geschrieben werden muss; insbesondere für einen augustinischen Christen, wie ich einer bin, wäre der Versuch, sie in der Weise zu schreiben, wie ich mich befähigt gefühlt habe, die Geschichte meiner eigenen Tradition zu schreiben, eine schwere Anmaßung und Dreistigkeit. Christen haben es dringend nötig, Juden zuzuhören. Der Versuch, für sie zu sprechen, sogar zugunsten jener unglückseligen Fiktion, der sogenannten jüdisch-christlichen Tradition, ist immer beklagenswert.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 10-11.
Nach der trefflichen Anführung einer weiteren Auslassung, nämlich einer näheren Betrachtung von Kant, die nachzuholen wäre, setzt MacIntyre sodann ebenso trefflich hinzu:
[…] Das islamische Denken erfordert eine Behandlung nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch wegen seines großen Beitrags zur aristotelischen Tradition, aber auch dies musste ich auslassen. Und schließlich verlangt die Art von Geschichte, die ich zu erzählen versuchen werde, als ihre Ergänzung nicht nur jüdische, islamische und andere nachbiblische Erzählungen, sondern auch die Erzählungen von solch stark kontrastierenden Traditionen der Untersuchung wie diejenigen, die in Indien und China hervorgebracht wurden. Die Anerkennung einer solchen Unvollständigkeit tut nichts dafür, sie zu berichtigen, aber verdeutlicht zumindest die Grenzen meines Unternehmens.
Diese Erweiterung des Blickwinkels stellt einen großen Fortschritt gegenüber der Befangenheit von After Virtue dar. MacIntyres Projekt erscheint somit vor einem ganz anderen, wesentlich weiteren Horizont, der sein Licht auch auf die Bemerkung wirft, mit der MacIntyre das Buch beschließt:
Die rivalisierenden Ansprüche auf Wahrheit von konkurrierenden Traditionen der Untersuchung sind für ihre Rechtfertigung abhängig von der Angemessenheit und der Erklärungskraft der Geschichten, welche die Ressourcen jeder dieser Traditionen im Widerstreit ihre Anhänger zu schreiben befähigen.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1988, S. 403.