5 Moral, Vernunft und Gründe

5 Moral, Vernunft und Gründe Yusuf Kuhn
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Bei seiner Kritik der modernen Moralphilosophie stützt Hallaq sich auch auf Überlegungen von Charles Larmore, den er, im Unterschied zu Taylor und MacIntyre, als liberal bezeichnet. Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 172. Dort heißt es: »Das moralische Streben des modernen Islam, das die fortgesetzte Bindung der heutigen Muslime an das Zentralgebiet des Moralischen widerspiegelt, findet, wie wir gesehen haben, seine Entsprechung in den dünnen, aber widerhallenden Stimmen der MacIntyres, Taylors und (sogar liberalen) Larmores der westlichen Welt.« (Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 169.) Dies mag bei all seiner Kritik am Liberalismus erstaunen. In der Tat entspricht dies aber Larmores Selbstverständnis, der sich in der liberalen Traditionslinie eines John Rawls verortet. So heißt es im Vorwort von Rainer Forst zu einer in Deutschland und auf Deutsch gehaltenen Vorlesung von Charles Larmore mit dem Titel Vernunft und Subjektivität:

Charles Larmore war Student an der Harvard University, als John Rawls’ großes Werk über die Gerechtigkeit erschien, und er ist bis heute vielen Aspekten dieses Ansatzes treu geblieben und hat ihn vielschichtig weiterentwickelt. Mehr als das, er gilt derzeit neben Rawls als einer der wichtigsten Proponenten des politischen Liberalismus. Charles Larmore, Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt, 2012, S. 9.

5.1 Autonomie der Ethik

5.1 Autonomie der Ethik Yusuf Kuhn

Hallaqs Interesse an Larmore liegt nun darin begründet, dass letzterer gleichwohl eine erstaunlich tiefgreifende Kritik an Grundgedanken der modernen Moralphilosophie, insbesondere in ihrer an Kant angelehnten Gestalt, geübt hat. Mit Prichard verbindet ihn dabei die These, dass der Versuch einer Begründung der Moral aus bloßer Vernunft nicht gelingen kann. Die Vernunft, wenn sie denn moralisch wirksam werden können soll, bedarf gewissermaßen der Unterstützung von außen, aus einem Bereich, der zudem über eine gewisse Selbständigkeit verfügt. Was bei Prichard moralische Intuitionen sind, wird bei Larmore daher zu moralischen Gründen. Larmore selbst beschreibt sein Verhältnis zu Prichard so:

[…] er (Prichard) war davon überzeugt, wie ich auch, dass moralische Gründe sui generis sind, ein irreduzibler Wertbereich, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können (into which we cannot reason ourselves from the outside), sondern den wir nur anerkennen können.Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 113.

Während Prichard der Vernunft lediglich eine sehr begrenzte Rolle zuweist, entwickelt Larmore eine wesentlich anspruchsvollere Konzeption der Vernunft, die letzterer in ihrem komplexen Wechselspiel mit dem unabhängigen Bereich des Moralischen größeres Gewicht verleiht. Bei allen Unterschieden lassen beide Konzeptionen sich als moralischen Realismus bezeichnen. Die objektiven Gründe, auf welche die Vernunft angewiesen ist, wurzeln nach Larmore in einer »normativen Ordnung von Gründen, von deren Autorität wir nicht die Urheber sind«Charles Larmore, Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt, 2012, S. 30.. Aus der Ablehnung der kantischen Moralkonzeption und der Entscheidung für den moralischen Realismus ergibt sich in Gegenüberstellung zur Ethik der Autonomie Larmores Formel von der Autonomie der Moralität. Larmore schreibt ähnlich wie oben, aber mit etwas anderer Akzentsetzung:

Die Konzeption der Vernunft als selbstgesetzgebend ist im Grunde genommen inkohärent, und jeder Versuch, sie als Grundlage für die Rechtfertigung der Autorität der Moralität einzusetzen, endet darin, sowohl ihre eigenen Prinzipien zu verletzen als auch ein schiefes Bild der Moralität selbst hervorzubringen. Die Ethik der Autonomie muss verworfen werden, und an ihre Stelle gehört, was ich Autonomie der Moralität genannt habe – womit ich, offensichtlich genug, meine, nicht dass die Moralität selbstgesetzgebend ist (das wäre unsinnig), sondern dass die Moralität einen autonomen, irreduziblen Wertbereich bildet, in den wir uns nicht von außen hineinvernünfteln können (into which we cannot reason ourselves from the without), sondern den wir einfach anerkennen müssen.Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, S. 122.

Die Vernunft verliert damit ihren Status autonomer Spontaneität und wird zu einem heteronomen und rezeptiven Vermögen, das für Gründe empfänglich ist, die ihr von außen vorgegeben werden. Mit dieser Konzeption wendet sich Larmore gegen die vorherrschende Strömung in der modernen Moralphilosophie, die sich in der Nachfolge Kants bis heute, wie etwa auch in der Diskursethik, in einer Verbindung von Naturalismus und Vernunftautonomie den zahllosen Versuchen einer Neuauflage verschrieben haben, die noch auf jedes Scheitern dieses Ansatzes gefolgt sind.

5.2 Ethik der Autonomie und Metaphysik der modernen Welt

5.2 Ethik der Autonomie und Metaphysik der modernen Welt Yusuf Kuhn

Diese Versuche haben sich gegen alle Kritik, der sie spätestens seit Hegel oftmals mit vernichtender Wucht unterzogen wurden, und gegen die Erfahrung des fortwährenden Misslingens als resistent erwiesen. Welches Projekt einer Wiederbelebung der kantischen Moralphilosophie in mehr oder weniger neuem Gewand würde denn heute für sich in Anspruch nehmen wollen, erfolgreich gewesen zu sein? Ganz zu schweigen davon, welches Projekt einer solchen Moralbegründung denn wohl, dem universalen Anspruch einer rationalen Rechtfertigung entsprechend, eine auch nur annähernd angemessen breite oder wenigstens über den üblichen kleinen Kreis eifriger Spezialisten in der scientific community hinausreichende Anerkennung gefunden hat?!

Warum büßt diese moralphilosophische Position trotz des wiederholten und fortgesetzten Scheiterns ihres Projektes einer Moralbegründung nicht ihre Anziehungskraft ein? Dafür gibt es sicherlich viele Gründe, nicht zuletzt die Tatsache, dass sie mit dem modernen Paradigma der Moral unlöslich verwachsen ist, von dem alle modernen, nicht nur westlichen Gesellschaften in ihren Tiefenschichten geprägt sind. Ohne Rückgriff darauf würden gewiss kaum lösbare Legitimationsprobleme den Zusammenhalt dieser Gesellschaften erschüttern.

Zu den tieferen Gründen für diese Attraktivität gehört sicherlich auch, dass diese Konzeption unter den Bedingungen der Moderne alternativlos erscheinen mag. Denn durch die Trennung von Sein und Sollen liegt die Annahme nahe, dass die autonome Vernunft als einzige Quelle des Moralischen übrigbleibt. Woher sollten für diejenigen, die den Preis des Abgleitens in die völlige Sinnlosigkeit nicht zu bezahlen bereit sind, Normen und Werte in einer wertfreien, entzauberten Welt auch sonst kommen? Dieses Motiv wird in geradezu mustergültiger Weise von der kantianischen Moralphilosophin Christine Korsgaard in ihrer Untersuchung der Quellen der Normativität ausgesprochen:

Wenn das Wirkliche und das Gute nicht länger eins sind, muss Wert seinen Weg in die Welt auf irgendeine Weise finden. Form muss der Welt der Materie auferlegt werden. Dies ist die Arbeit von Kunst, von Pflicht, und es bringt uns zu Kant zurück. Denn es war Kant, der die Revolution vollendete, als er sagte, dass Vernunft – die Form ist – nicht in der Welt ist, sondern etwas ist, das wir ihr auferlegen. Die Ethik der Autonomie ist die einzige, die mit der Metaphysik der modernen Welt vereinbar ist, und die Ethik der Autonomie ist eine Ethik der Pflicht.Christine Korsgaard, Sources of Normativity, Cambridge, 1996, S. 5.

Dankenswerterweise ist hier ganz freimütig die Rede von Metaphysik, was sonst nur allzu gerne etwa hinter dem Schleier angeblicher blanker wissenschaftlicher Rationalität verborgen wird. Und zu dieser »Metaphysik der modernen Welt« gehört, dass alles Werthafte, Moralische, Gute, ja alle Gründe nicht Teil der Welt sein können, aus der Wirklichkeit ausgeschlossen werden. Die Welt wird mithin zum rein passiven Material, dem die Vernunft allererst eine Form aufprägen muss. Diese Welt der stummen und toten Materie ist die Welt des Naturalismus, der, die Autonomie der Vernunft in kantischer Manier zur Seite gestellt wird – in Wahrheit über einen unüberwindbaren Abgrund hinweg. Es lohnt sich, Larmores Kommentar zu diesem Bekenntnis von Korsgaard ausführlich zu zitieren und zu bedenken:

Autonomie und Naturalismus hängen also eng zusammen. »Die Ethik der Autonomie«, versichert Christine Korsgaard, »ist die einzige, die mit der Metaphysik der modernen Welt vereinbar ist«.Siehe das eben angeführte Zitat von Korsgaard. Diese Aussage ist ein perfekter Ausdruck der Überzeugung, dass es keine Alternative zum kantischen Begriff der selbstgesetzgebenden Vernunft gibt. Sie vergegenwärtigt uns aber auch, dass der Naturalismus in der Tat eine Metaphysik ist und nicht ein Theorem der modernen Naturwissenschaften selbst. Die Inkohärenz des Autonomiebegriffs könnte uns also den Mut geben, die Herrschaft dieses Weltbildes infrage zu stellen und eine andere Metaphysik zu entwickeln, die der wahren Natur der Vernunft besser entspräche. Es lohnt sich nicht, wie manche es heute tun, das Problem mit der Beteuerung zurückzuweisen, es komme heute darauf an, »nachmetaphysisch« zu denken. Nachmetaphysisches Denken gibt es nicht und kann es nicht geben. Jeder hat seine Metaphysik, seine Auffassung von der Welt im Ganzen und von dem Platz des Menschen darin, wie vage, kontradiktorisch, oder uneingestanden sie auch immer sein mag. Vielmehr kommt es darauf an, Metaphysik verantwortlich zu betreiben, ganz besonders dann, wenn man sich mit solchen Grundfragen wie der nach der Natur der Vernunft befasst. (Larmore, 39-40)Diese wie auch die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Charles Larmore, Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt, 2012.

5.3 Platonismus von Gründen

5.3 Platonismus von Gründen Yusuf Kuhn

Was versteht Larmore nun unter einer verantwortlich betriebenen Metaphysik? Durch die Trennung von Sein und Sollen und die damit einhergehende Entleerung der Welt von allem Werthaften wurde die Welt zur stummen Materie in Bewegung herabgesetzt. Das naturalistische Weltbild, welches das moderne Denken zutiefst geprägt hat, gesteht daher nur dem Existenz zu, was Gegenstand der modernen Naturwissenschaften werden kann. In einer solchen Ontologie gibt es freilich keinen Platz für Gründe, die einen wesentlich normativen Charakter haben. Soweit in dieser Welt überhaupt Normatives zur Geltung kommt, muss es der neutralen Materie von der Vernunft von außen auferlegt werden. Da nun Gründe mit den einzig gemäß der naturalistischen Weltauffassung zugelassenen physischen und psychischen Entitäten nicht zur Deckung zu bringen sind, muss die Ontologie um eine weitere Art von Entitäten erweitert werden, nämlich Gründe, die eine normative Ordnung der objektiven Wirklichkeit bilden. Larmore drückt dies so aus:

Gründe sind also weder mit physischen noch mit psychischen Phänomenen gleichzusetzen. Wenn wir bereit sind zu akzeptieren, dass die Ausübung der Vernunft darin besteht, sich nach Gründen zu richten, müssen wir folglich die Metaphysik des Naturalismus aufgeben. Wir müssen eine andere Metaphysik entwickeln, nach der Gründe in all ihrer irreduziblen Normativität zur Struktur der Wirklichkeit oder der Welt selbst gehören […]. (Larmore, 45)

Das ist die Wiederverzauberung der Welt, mit der Larmore die im Sinne von Max Weber »entzauberte Welt« um eine Dimension bereichert, die der vormodernen Welt allemal eignete, in der die Vernunft noch nicht von ihren übersubjektiven Gründen heillos geschieden war. Und Larmore schreckt selbst davor nicht zurück, diese »andere Metaphysik« als Platonismus zu bezeichnen, auch wenn er darauf achtet, neben den Gemeinsamkeiten gewisse Unterschiede zum klassischen Platonismus deutlich zu machen. So führt er dazu aus:

Meines Erachtens lässt sich eine solche Position ziemlich treffend als eine Art von »Platonismus« beschreiben. Denn Gründe ähneln darin Platons Ideen, dass sie eine dritte, wesentlich normative Dimension der Welt konstituieren, die sich von der Natur ebenso wie vom Geist unterscheidet. In anderen Hinsichten passt der Vergleich allerdings nicht, da Gründe im Gegensatz zu den platonischen Ideen weder Paradigmen noch Universalien sind. Aber das Schlagwort »Platonismus« hat sich im philosophischen Lexikon für alle derartigen Lehren eingebürgert, die eine reichere Ontologie als eine, die allein aus physischen und psychischen Entitäten besteht, für nötig erachten. Ich werde mich diesem Sprachgebrauch anschließen und dementsprechend von einem »Platonismus von Gründen« sprechen. (Larmore, 45)

Mit Platonismus ist also vor allem die Bereicherung der naturalistischen Ontologie mit der Dimension der Gründe gemeint. Damit haben wir einen Einblick in das gewonnen, was Larmore als verantwortliche Metaphysik bezeichnet. Wie gelangt er aber zur Wiederherstellung dieser moralischen Kosmologie? Welchen Gedankengang schreitet er dafür ab? Es ist vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Hauptsträngen der modernen Moralphilosophie, die einerseits auf Hobbes und andererseits auf Kant zurückgehen.

Während er in seinem Buch The Autonomy of Morality »die zwei Hauptstrategien – die eine inspiriert von Hobbes, die andere von Kant -, die moderne Philosophen eingenommen haben, um Moralität eine außermoralische Begründung zu geben«,Siehe Charles Larmore, The Autonomy of Morality, Cambridge, 2008, Kap. 5, S. 87-136; hier insbesondere S. 89. einer kritischen Untersuchung unterzieht, steht in der Vorlesung über Vernunft und Subjektivität, auf die wir uns hier beschränken wollen, fast ausschließlich Kant im Zentrum der Kritik.

5.4 Vernunft als Vermögen der Prinzipien: Kant

5.4 Vernunft als Vermögen der Prinzipien: Kant Yusuf Kuhn

Die kantische Ethik der Autonomie ist zweifellos das vorherrschende Paradigma in jeder modernen Moralphilosophie, die Moralität auf Vernunft zu gründen versucht. Diese Ethik der Autonomie leitet sich aus dem kantischen Begriff der Freiheit ab, der unlöslich mit der Idee der autonomen und selbstgesetzgebenden Vernunft verbunden ist.

Es sei noch einmal die Stelle in Erinnerung gerufen, in der Hallaq auf diesen Zusammenhang hinweist:

Aber die Anziehungskraft der autonomen Rationalität, die in Freiheit gegründet ist, ist keineswegs zufällig, denn das Wesen dieser Art von Rationalität ist eben gerade der Wille zur Freiheit. Diese Freiheit erweist sich letztlich als nicht bloß unsere persönliche und private Freiheit – die sie natürlich ist -, sondern als die Freiheit des Menschen, über die Natur und allem, was sich in ihr befindet, zu herrschen, einschließlich »jegliches« Menschlichen, das als ein integraler Bestandteil von ihr definiert werden mag (z.B. der »edle Wilde«, jene Wesen, die »in einem Naturzustand« leben). Es ist die Freiheit von den Verpflichtungen eines Lebens unter den moralischen Forderungen dieser Welt als einer kosmischen Werteordnung, die uns als solche ihre eigenen Beschränkungen auferlegt.Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 162; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 164; Hervorhebungen im Original.

Daraus erschließt sich schon mit aller Deutlichkeit, welche Bedeutung die Widerlegung der kantischen Moralk0nzeption für Larmores Vorhaben hat, die Moralphilosophie auf eine objektive Werteordnung zu stützen. Er will deshalb zeigen,dass der kantische Begriff der autonomen Vernunft nicht haltbar ist, da die Vernunft selbst auf etwas außerhalb ihrer angewiesen ist, das sie nicht selbst erzeugen und daher nur anerkennen kann. Und er wirft daher die große Frage nach dem »Wesen der Vernunft« auf: »Was ist diese Vernunft«? (Larmore, 17)

Den Ausgangspunkt für diese kritische Betrachtung bilden zwei Definitionen, die Kant zur Bestimmung der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat. Die erste lautet: »das Vermögen der Prinzipien«.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 299/B 356, S. 312. Larmore leitet seine Überlegungen damit ein, dass er auf den Versuch vieler Philosophen verweist, das Wesen der Vernunft zu bestimmen, indem sie sich

mit der Angabe von Prinzipien [...] begnügen, die unser Denken und Handeln leiten sollen. Ein vernünftiges Wesen soll jemand sein, der sich in seinem Umgang mit der Welt von den richtigen Prinzipien leiten lässt. (Larmore, 17)

Daraus ergebe sich sodann die Unterscheidung zwischen den Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft. Als Beispiele für Prinzipien der theoretischen Vernunft nennt er das Prinzip des Empirismus und das Prinzip des zureichenden Grundes; für Prinzipien der praktischen Vernunft wiederum das Prinzip der instrumentellen Vernunft und das Prinzip der Uni­versalisierung. Daran schließt er sodann die Bemerkung an:

An einer Stelle in der Kritik der reinen Vernunft scheint sich Immanuel Kant einer solchen Auffassung der Vernunft anzuschließen. Die Vernunft, schreibt er da, ist »das Vermögen der Prinzipien«. (Larmore, 18)

Auch wenn Larmore hier das vorsichtige »scheint« benutzt, setzt seine Kritik genau an dieser Auffassung an, ohne näher zu erörtern, ob Kant sie tatsächlich vertritt. Er fragt nicht danach, was Kant unter Prinzipien versteht, sondern scheint ihm vielmehr dieses von ihm selbst eingeführte Verständnis umstandslos zuzuschreiben. Denn sogleich stellt er fest:

[…] die Auffassung, die Vernunft sei das Vermögen, sich nach Prinzipien zu richten, ist unzureichend, und zwar in mehreren Hinsichten. (Larmore, 18)

Die erste dieser Hinsichten ergibt sich daraus, dass Prinzipien sich mit Bezug auf den Bereich bestimmen, in dem sie gelten sollen, was sich schon aus der Unterschiedlichkeit der Prinzipien für den theoretischen und den praktischen Bereich erkennen lässt. Die Vernunft kann nicht als die bloße Disposition, sich nach Prinzipien zu richten, verstanden werden, da sie vorgängig erfassen muss, welche Prinzipien für den jeweiligen Bereich geeignet sind. Larmore folgert:

Und daraus folgt, dass die Vernunft selber das tiefer liegende Vermögen sein muss, einzusehen, welche Prinzipien sich für welche Bereiche eignen. (Larmore, 18)

Aber nicht nur die Eignung vorgegebener Prinzipien steht in Frage, sondern die Prinzipien selbst. Es ist ja keineswegs ausgemacht, welche Prinzipien – theoretische, praktische oder welche auch immer – überhaupt die richtigen sind. Daraus ergibt sich für Larmore »ein zweites Bedenken gegenüber Kants Definition«:

[…] in der realen Welt wird darum gestritten, an welchen Prinzipien wir unser Denken und Handeln orientieren sollten. (Larmore, 19)

Dass die Frage, welche Prinzipien die richtigen sind, sich keineswegs einmütiger Antworten erfreut, sondern in der Tat Gegenstand andauernder Kontroversen ist, belegt und veranschaulicht Larmore durch eine Reihe berühmter Beispiele von Debatten um die einleitend genannten Prinzipien der theoretischen und der praktischen Vernunft. Das ist zweifellos richtig.

Und wenn die Gültigkeit der Prinzipien umstritten ist, - so folgert Larmore – kann die Vernunft nicht lediglich in einem »Vermögen der Prinzipien« bestehen, die doch allererst zu prüfen und gegebenenfalls anzuerkennen sind. Die Vernunft muss mehr sein als eine Reihe von Prinzipien, da zu ihrer Aufgabe die vorgängige Prüfung der Gültigkeit der Prinzipien gehört. Larmore stellt daher fest:

Sie muss etwas Tieferliegendes [...] sein [...]. (Larmore, 21)

Larmore bestimmt nun das Wesen der Vernunft unter Berücksichtigung der Konsequenzen, die sich aus den beiden Einwänden gegen Kants Definition ergeben:

Tiefer als die Fähigkeit, sich nach Prinzipien zu richten, liegt also das Vermögen, die Gültigkeit von Prinzipien sowie ihre Angemessenheit in bestimmten Situationen zu beurteilen, das selbst zum Wesen der Vernunft gehört. (Larmore, 21)

Und er stellt, diesen Abschnitt abschließend, fest:

Um das Wesen der Vernunft adäquater zu erfassen, müssen wir einen neuen Anlauf nehmen und diesmal auf einer abstrakteren Ebene als der von Prinzipien und Kritik ansetzen, ohne aber zu vergessen, was durch die Unzulänglichkeiten der hier vorgestellten Ansätze bereits sichtbar geworden ist – dass die Vernunft ein normatives Vermögen ist, das es uns ermöglicht, zu beurteilen. Ihr fällt es zu, uns zu zeigen, wie wir, sei es durch Prinzipien, sei es kritisch oder affirmativ, denken und handeln sollten. (Larmore, 22; Hervorhebungen im Original)

Bevor wir nun den angekündigten neuen Anlauf in den Blick nehmen, wollen wir die Frage aufwerfen, inwiefern dieser Gedankengang überzeugend erscheint. Dabei ist es wichtig, eine klare Unterscheidung zu treffen, die Larmore selbst eher verwischen zu wollen scheint, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Verständnis von Prinzipien, das Larmore einführt, und Kants Begriff des Prinzips. Das oben schon angemerkte »scheint« in der Zuschreibung »einer solchen Auffassung der Vernunft« zu Kant sollte sehr viel ernster genommen werden. Denn in der Tat ist Kants eigene Auffassung eine ganz andere. Und zwar eine so andere, dass sich zwar mit gutem Grund sagen lässt, dass die vorgebrachte Kritik durchaus überzeugend ist, wenn sie auf das von Larmore eingeführte Verständnis von Prinzipien bezogen wird, aber keinesfalls in bezug auf Kant selbst.

Es ist hier nicht der Ort, um in eine auch nur ansatzweise hinreichende Kant-Interpretation einzutreten. Larmore selbst will sich

[…] nicht auf die Komplikationen in Kants eigener Argumentation einlassen. Die Kant-Auslegung ist ein unendliches Geschäft – einmal drin, kommt man nicht mehr heraus –, und es ist leicht, das Wesentliche dann wegen der Einzelheiten aus den Augen zu verlieren. (Larmore, 24-25)

Die Warnung ist sicherlich berechtigt, aber ganz kann darauf auch nicht verzichtet werden, wenn schon von »Kants Definition« (Larmore, 19) der Vernunft gehandelt wird. Ich will versuchen, wenigstens knapp anzudeuten, warum Larmores Kritik an Kants Begriff der Vernunft als Vermögen der Prinzipien vorbeizielt.

Von Anfang an fällt auf, dass Larmore sich gar nicht darum bemüht, Kants eigenes Verständnis überhaupt ins Spiel zu bringen. Dafür wäre schon aufschlussreich gewesen, den ganzen Satz zu zitieren, in dem sich die von Larmore aufgegriffene Bestimmung findet. Denn Kant trifft hier eine Unterscheidung von grundsätzlicher Bedeutung, die von Larmore schlichtweg unbeachtet bleibt. Kant stellt dort nämlich fest:

Wir erkläreten, im erstern Teile unserer tranzendentalen Logik, den Verstand durch das Vermögen der Regeln; hier unterscheiden wir die Vernunft von demselben dadurch, daß wir sie das Vermögen der Prinzipien nennen wollen.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 299/B 356, S. 312 (Hervorhebungen im Original).

Diese so grundlegende Unterscheidung zwischen dem Verstand als Vermögen der Regeln und der Vernunft als Vermögen der Prinzipien wird von Larmore überhaupt nicht aufgegriffen. Das Wort Verstand kommt in der gesamten Vorlesung, die unter dem Titel Vernunft steht, nicht einmal vor. Da stellt sich unweigerlich der Verdacht ein, dass all die Prinzipien, die von Larmore angeführt werden, womöglich als Regeln in den Bereich des Verstandes fallen könnten, so dass die gesamte Kritik den kantischen Vernunftbegriff gar nicht treffen würde. Wenn wir in der Kritik der reinen Vernunft auch nur einen weiteren Satz lesen, der auf die obige Stelle unmittelbar folgt, stoßen wir auf eine Warnung vor der Verwechslung zweier Bedeutungen des Ausdrucks Prinzip. Denn Kant gibt hier zu bedenken:

Der Ausdruck eines Prinzips ist zweideutig, und bedeutet gemeiniglich nur ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprunge nach kein Principium ist. Ein jeder allgemeiner Satz, er mag auch sogar aus Erfahrung (durch Induktion) hergenommen sein, kann zum Obersatz in einem Vernunftschlusse dienen; er ist darum aber nicht selbst ein Principium.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 300/B 356, S. 312 (Hervorhebung im Original).

Larmore wiederum verwendet Prinzip eben in diesem eher umgangssprachlichen Sinne für »ein Erkenntnis, das als Prinzip gebraucht werden kann, ob es zwar an sich selbst und seinem eigenen Ursprunge nach kein Principium ist«, also kein Prinzip im Sinne der Bestimmung der Vernunft als Vermögen der Prinzipien. Das wird noch deutlicher, wenn wir eine weitere Erläuterung Kants hinzuziehen, die kurz darauf folgt und zwischen den Leistungen des Verstandes und dem Vermögen der Vernunft noch klarer unterscheidet:

Betrachten wir aber diese Grundsätze des reinen Verstandes an sich selbst ihrem Ursprunge nach, so sind sie nichts weniger als Erkenntnisse aus Begriffen. Denn sie würden auch nicht einmal a priori möglich sein, wenn wir nicht die reine Anschauung (in der Mathematik), oder Bedingungen einer möglichen Erfahrung überhaupt herbei zögen. Daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, kann gar nicht aus dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen werden; vielmehr zeigt der Grundsatz, wie man allererst von dem, was geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff bekommen könne.

Synthetische Erkenntnisse aus Begriffen kann der Verstand also gar nicht verschaffen, und diese sind es eigentlich, welche ich schlechthin Prinzipien nenne: indessen, daß alle allgemeine Sätze überhaupt komparative Prinzipien heißen können.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 301/B 358, S. 313.

Es stellt sich hiermit die Frage, ob die von Larmore genannten Prinzipien nicht lediglich »komparative Prinzipien« sind. Larmore hätte zumindest auf diese Frage eingehen und zeigen müssen, dass das, was er unter Prinzipien versteht, für den kantischen Begriff der Vernunft überhaupt von Relevanz ist. So hängt seine Kritik an Kant in der Luft. Larmore scheint davon auszugehen, dass sich die Prinzipien, wie er sie versteht, direkt auf ihre Gegenstände und damit auf Erfahrung beziehen. Das ist bei Kant keineswegs der Fall. Denn die Prinzipien der Vernunft gehen zunächst auf den Verstand mit dessen Regeln – und nicht auf einen anderen Gegenstand -, um diesem Einheit unter Prinzipien zu verleihen. Kant schließt daher den Abschnitt Von der Vernunft überhaupt mit folgender Feststellung:

Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Band 3, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, A 303/B 359, S. 314.

Wenn die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien ist, hat der Ausdruck Prinzip hier in der Tat eine sehr eigentümliche Bedeutung, die sich letztlich nur erfassen lässt, wenn der Begriff der Vernunft im Lichte der kantischen Konzeption der Transzendentalphilosophie, die darin zum Ausdruck kommt, verstanden wird. In Anbetracht dieser wenigen Zitate und ohne weiter in die Kant-Auslegung einzudringen, drängt sich gleichwohl eher der Eindruck auf, dass sich Larmore nicht einmal im Ansatz um ein solches Verständnis bemüht. Dann kann diese Kritik Kants Vernunftbegriff und seine Philosophie überhaupt nur verfehlen.

Wie steht es nun mit der zweiten Definition Kants für die Vernunft, die Larmore in Aussicht gestellt hat? Sie lautet: »das Vermögen zu schließen«.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355/A 299, S. 312, und B 386/A 330, S. 333. Larmore gibt zwei Stellen in der Kritik der reinen Vernunft dafür an. Er meint offensichtlich die erste, wenn er sagt:

In diese Richtung geht eine andere Definition, mit der Kant, jetzt unter Berufung auf »die Logiker«, die Vernunft bestimmt, nämlich als »das Vermögen zu schließen«. (Larmore, 22)

Denn es ist diese Stelle, an der Kant in der Tat »von den Logikern« spricht und auf die übrigens im nachfolgenden Absatz die Definition der Vernunft als Vermögen der Prinzipien folgt. Beide Definitionen hängen also sehr eng miteinander zusammen. Kant erklärt ihr Verhältnis, indem er zwei Weisen des Gebrauchs der Vernunft unterscheidet, nämlich einen »bloß formalen, d.i. logischen Gebrauch« von einem »realen«:

Es gibt von ihr, wie von dem Verstande, einen bloß formalen, d.i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, aber auch einen realen, da sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder von den Sinnen, noch vom Verstande entlehnt.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355/A 299, S. 312.

Der formale Gebrauch wird sodann als »Vermögen mittelbar zu schließen«Ebenda. Larmore hat »mittelbar« stillschweigend eliminiert. bestimmt, während es von dem dem realen Gebrauch entsprechenden Vermögen, »welches selbst Begriffe erzeugt«, heißt, dass es »dadurch noch nicht eingesehen« wird. Da Kant dieses letztere Vermögen auch als transzendental bezeichnet, kann er sodann feststellen:

Da nun hier eine Einteilung der Vernunft in ein logisches und transzendentales Vermögen vorkommt, so muß ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden, welcher beide Begriffe unter sich befaßt, [...]Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355-356/A 299, S. 312.

Unmittelbar darauf folgt die Bestimmung der Vernunft als Vermögen der Prinzipien, die offenkundig dem bloß logischen Vermögen übergeordnet ist, das Kant kurz darauf konsequenterweise bezeichnet als »ein bloß subalternes Vermögen, gegebenen Erkenntnissen eine gewisse Form zu geben, welche logisch heißt«.Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 362/A 305, S. 316. Es macht durchaus Sinn, dass Kant im Rahmen seiner transzendentalen Konzeption der Philosophie bei der Bestimmung des Wesens der Vernunft vom logischen Vermögen des Schließens ausgeht, denn zum Schließen bedarf die Vernunft nicht des Rückbezugs auf die Erfahrung. Die Schlussregeln selbst sind evident, bedürfen keiner Begründung, sondern werden umgekehrt in jedem Denken vorausgesetzt. Und beim Schließen, »d.i. logischen Gebrauch, da die Vernunft von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert«, hat das Denken keinen Gegenstand außer sich, sondern beschäftigt sich lediglich mit sich selbst.

Ohne große Kant-Auslegung, durch die bloß erläuternde Aneinanderreihung einiger Zitate sind wir durch das sich daraus ergebende grobe Bild von Kants Konzeption darauf vorbereitet, einen Vergleich mit Larmores Darstellung anzustrengen. Larmore setzt mit einer Erläuterung zu Kants Definition ein:

Durch den Gebrauch unserer Vernunft sind wir befähigt, von etwas auf etwas anderes zu schließen, Schlussfolgerungen aus Prämissen zu ziehen. Gerade auf diese Weise sind wir ja imstande zu beurteilen, wie wir denken oder handeln sollten. Aber auch diese Definition, obwohl sie einen Fortschritt gegenüber der ersten darstellt, ist unvollständig. (Larmore, 22)

Zunächst fällt auf, dass Larmore schlicht alle begrifflichen Bestimmungen, Unterscheidungen und Einteilungen Kants keiner Beachtung würdigt. Nach Kant selbst stellt die zweite Definition keinen Fortschritt in der Bestimmung des Wesens der Vernunft dar, sondern steht, wie wir gesehen haben, im Gegenteil für »ein bloß subalternes Vermögen«. Das Verhältnis der beiden Vermögen zueinander und die Rolle, die ihnen in Kants Konzeption der Vernunft jeweils zukommt, scheinen für Larmore bedeutungslos zu sein. Jedenfalls geht er mit keinem Wort darauf ein. Wie soll seine Kritik unter diesen Bedingungen überhaupt sinnvoll auf Kants Auffassung bezogen werden?

Wir wollen nun sehen, wie Larmore erklärt, dass diese Definition, wie er sagt, »unvollständig« ist. Er schreibt dazu:

Denn ein vernünftiger Mensch zieht natürlich nicht beliebige Schlüsse aus gegebenen Prämissen, sondern nur diejenigen, die sich aus ihnen korrekterweise folgern lassen. Das heißt aber, dass die Vernunft ein Vermögen sein muss, durch das wir einsehen können, was wirklich aus dem Gegebenen folgt. Die Tätigkeit des Schließens enthält also ein rezeptives Moment, indem sie auf das reagiert, was den Schluss gültig macht. Und das führt zur Frage: Worin besteht die Gültigkeit eines Schlusses? (Larmore, 22-23)

Larmore scheint also die Definition für unvollständig zu halten, da ihr das Element der Gültigkeit fehlt, weil durch das formale Schließen allein noch nicht ausgemacht ist, »was wirklich aus dem Gegebenen folgt«. Und mit »wirklich« wiederum scheint er tatsächlich nicht lediglich eine Betonung zu meinen, sondern die Übereinstimmung der Konklusion des Schlusses mit der Wirklichkeit, also mit einem Gegenstand. Daher ergibt sich natürlich, dass die Vernunft dafür irgendwie empfänglich sein muss, indem sie darauf »reagiert«. Und dieses Etwas nennt er »die Gültigkeit«.

Dass er damit nicht die formale Gültigkeit des Schließens meint, wird sich sogleich noch deutlicher zeigen. Aber schon jetzt lässt sich festhalten: Wenn Larmore nicht einen ganz anderen Begriff des Schließens als Kant ansetzt, wird er kaum vermeiden können, die Gültigkeit des Schließens und die Schlussregeln, nach denen dies erfolgt und beurteilt wird, als evident vorauszusetzen. Denn wie sollten sie begründet werden, ohne sie schon selbst in Anspruch zu nehmen?

Wenn wir diese Ausführungen im Lichte der Zitate betrachten, die wir der Kritik der reinen Vernunft entnommen haben, und einen auch nur oberflächlichen Vergleich anstellen, springt der Unterschied geradezu ins Auge. Während Kant es darum zu tun war, die Vernunft in ihrem logischen Gebrauch als rein formales Vermögen unter Fernhaltung jeglichen Inhalts zu bestimmen, unterschiebt Larmore ihr sogleich einen Gegenstand, ohne auch nur den Versuch zu machen, dies in ein Verhältnis zu Kants Begriff der Vernunft zu setzen. Dass Kant hier nicht immanent kritisiert, sondern ihm vielmehr eine andere Auffassung abstrakt und unvermittelt entgegengesetzt wird, verrät sich auch an der Feststellung, die Larmore darauf folgen lässt:

Bei Aristoteles finden wir eine allgemeine psychologische These, die uns hier und in dieser ganzen Problematik als Leitsatz dienen sollte. Jedes geistige Vermögen (δύναμις), bemerkt er, bestimmt sich durch die Tätigkeit (ἐνέργεια), die als seine charakteristische Ausübung gilt, und diese Tätigkeit selbst wiederum durch die Art von Gegenständen (ἀντικείμενα), auf die sie sich richtet. (Larmore, 23)Larmore verweist dabei auf: Aristoteles, Über die Seele. De Anima, hg. von Horst Seidl, Hamburg 1995, II.4.

Die Anleihe bei Aristoteles, die das Verhältnis von Denken und Gegenstand im Gegensatz zu Kant geradezu auf den Kopf stellt – oder vielleicht besser gesagt: vom Kopf auf die Füße stellt -, zeigt, wie sehr die Kritik von außen kommt. Der darin vorgebrachte »Leitsatz« ist dem kantischen Denken nicht nur fremd, sondern schlichtweg entgegengesetzt. Larmore glaubt nun, auf dieser Grundlage folgern zu können, dass sich aus der Unvollständigkeit der Definition Kants und der rezeptiven Angewiesenheit der Vernunft auf etwas, das ihr von außen zukommt, unabweisbar folgende Frage ergibt:

Was ist also in diesem Sinne der spezifische Gegenstand der Vernunft als Vermögen des Schließens? (Larmore, 23)

Larmore scheut in der Tat nicht zurück, den Begriff des Gegenstands ganz ausdrücklich auf die Vernunft als logisches Vermögen des Schließens zu beziehen. Diese Frage hält er also für unvermeidlich und verweist, bevor er im nächsten Abschnitt selbst eine Antwort darauf gibt, zunächst auf zwei Weisen, ihr aus dem Weg zu gehen. Die erste Weise besteht darin, auf die formale Gültigkeit von Schlüssen im Sinne der Wahrheitsbewahrung zu verweisen. Das könnte eine vermeintlich leichte Antwort sein, aber Larmore sagt in seiner Entgegnung ausdrücklich, dass es ihm gar nicht um die bloß formale Gültigkeit geht, sondern vielmehr um eine besondere Art von Schlüssen, denn es

[…] beziehen sich manche Schlüsse, und um diese geht es mir jetzt, auf das, was wir denken oder tun sollten – nicht auf alles, was logisch aus gegebenen Prämissen folgt –, und sind daher an unseren jeweiligen Standpunkt gebunden. (Larmore, 23)

Damit hat er sich nun allerdings so weit von dem, was Kant als Vernunft als logischem Vermögen beschreibt, entfernt, dass dies wahrlich nicht mehr als Einwand gegen die kantische Konzeption betrachtet werden kann. Denn somit ist völlig klar, dass es um einen spezifischen Inhalt geht und nicht um die rein logische Gültigkeit.

Die zweite Weise, der vermeintlich unabweisbaren Frage nach dem Gegenstand der Vernunft aus dem Weg zu gehen, sieht Larmore in Kants Auffassung von der Autonomie der Vernunft, derzufolge sich die Vernunft, die theoretische wie die praktische, ihre eigenen Gesetze gibt und auch über deren Autorität als Urheber verfügt. Ist die Vernunft im Sinne dieser Selbstgesetzgebung autonom, stellt sich in der Tat die Frage nach dem die Gültigkeit von Schlüssen verbürgenden Gegenstand nicht. Doch Larmore hält dem abermals seinen von Aristoteles inspirierten Leitsatz entgegen und folgert:

Denn wenn es etwas gibt, das die Ausübung der Vernunft erfassen muss, um die Gültigkeit von Schlüssen anerkennen zu können, dann muss der Gegenstand dieses Erfassens etwas sein, das der Vernunft ihr – lässt sich das Wort vermeiden? – »heteronomes« Gesetz gibt. (Larmore, 24)

Noch immer ist kein überzeugendes Argument erkennbar, das sich aus einer wirklich an Kants Philosophie ansetzenden Kritik ergeben würde. Die These, dass die Vernunft in Wirklichkeit heteronom ist, steht freilich in schroffem Gegensatz zu Kants Auffassung, aber sie ist nicht aus einer immanenten Kritik entwickelt, sondern, nicht anders, als wir beim ersten Einwand bereits feststellen mussten, entgegen dem Anschein einer Argumentation ihr abstrakt und unvermittelt von außen entgegengesetzt.

Für den nächsten Abschnitt stellt Larmore allerdings einen weiteren Einwand in Aussicht, der seine Ansicht begründen soll, dass »Kants Begriff der Autonomie in sich widersprüchlich ist.« (Larmore, 24) Und dies ist schließlich sein »Haupteinwand« (Larmore, 27), wie er seine Argumentation einleitend feststellt.

5.5 Selbstgesetzgebung der Vernunft?

5.5 Selbstgesetzgebung der Vernunft? Yusuf Kuhn

Zuvor bringt Larmore noch eine Bemerkung vor, die zeigen soll, dass »die Rede von einer Selbstgesetzgebung der Vernunft bei näherem Hinsehen wenig sinnvoll erscheint.« (Larmore, 26) Er erläutert:

Ich möchte zunächst anmerken, dass eine derartige Personifizierung der Vernunft, als ob es bei ihr um einen Handelnden ginge, eher verwirrend ist, selbst wenn sie wiederholt bei Kant – ich erinnere nur an den bereits zitierten Satz aus der zweiten Vorrede, nach dem »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« – und auch bei vielen seiner Anhänger auftaucht. (Larmore, 26-27)

Verwirrend für wen und warum? Das wird nicht gesagt. Die Anspielung auf den Satz aus der zweiten Vorrede zeigt schon mit aller Deutlichkeit, um welch zentralen Gehalt von Kants Philosophie es hierbei geht. Wäre es da nicht angebracht, danach zu fragen, wie aus solchen Aussagen in deren Kontext Sinn zu machen ist?

Ohne wiederum näher in die Kant-Auslegung einzusteigen, dürfte sich der Gedanke aufdrängen, dass Kant eben nicht nur von empirischen Menschen spricht. Sein Denken lässt sich gar nicht verstehen, geschweige denn kritisieren, wenn so wesentliche Unterscheidungen wie etwa diejenigen zwischen empirischem und transzendentalem Bewusstsein und Subjekt einfach ausgeblendet werden. Menschen gehören nach Kant beiden Welten an, der empirischen und der transzendentalen. Als Sinnenwesen sind sie Teil der Welt der Erfahrung, als vernünftige Wesen Teil der intelligiblen Welt. Man mag diesen Dualismus beklagen oder ablehnen, aber schlicht ignorieren lässt er sich nicht, wenn überhaupt von Kants Philosophie die Rede sein soll. Dass Larmore dennoch eben dies tut, verraten seine beiden folgenden Aussagen:

Die Vernunft ist kein Agens, sondern ein Vermögen, das wir, die wir allein Handelnde sind, mehr oder weniger gut ausüben. Wenn Selbstgesetzgebung wirklich existiert, muss sie eine Tätigkeit sein, die wir selber ausführen, soweit wir unsere Vernunft gebrauchen. (Larmore, 27)

Zunächst ist festzuhalten, dass Kant selbst ja Vernunft als Vermögen bezeichnet. Aber entscheidend ist hier, wer »wir« sein soll. Larmore spricht fortwährend von »wir« in diesem Sinne, ohne je zu sagen, wen oder was er damit meint. Es sei zu seinen Gunsten angenommen, dass er »uns Menschen« meint. Im Gegensatz zu Kant schickt er sich nicht an, näher zu bestimmen, was »Menschen« sind, sondern setzt mit größter Selbstverständlichkeit voraus, dass »wir« darum wissen. Indem er also mit diesem »wir« so etwas wie die empirischen Menschen in Anschlag bringt, unterläuft er schlicht Kants Transzendentalphilosophie, ohne sich überhaupt mit ihr auseinanderzusetzen.

Nun zum »Haupteinwand«, der »den Kern dieser Auffassung selbst« betrifft, nämlich von der Selbstgesetzgebung der Vernunft, deren Widersprüchlichkeit Larmore aufzeigen will:

Die Vorstellung, dass die Autorität von Prinzipien unser eigenes Werk sei, auch wenn dem hinzugefügt wird, dass wir dieselben nicht willkürlich, sondern durch die Ausübung unserer Vernunft erzeugen sollen, ist widersprüchlich. (Larmore, 27)

Schon in der Formulierung der These sehen wir das oben erwähnte »wir« am Werk, das unreflektiert eingesetzt und damit Kant selbst zugeschrieben wird: »unser eigenes Werk«, »durch die Ausübung unserer Vernunft«. Aber hat Kant diese These je vertreten? Dass die Autorität von Prinzipien, die Selbstgesetzgebung und die Autonomie der Vernunft auf »uns« zurückgeht? Das wäre zu zeigen. Larmore tut es nicht. Und es erscheint indes eher unwahrscheinlich, wenn unter diesem »wir« Menschen als empirische Wesen verstanden werden sollen. Denn am Werk ist hier nach Kant doch vielmehr das transzendentale Subjekt, also der Mensch als vernünftiges Wesen, das der intelligiblen Welt angehört.

Dieses »wir« lässt Larmore nun auch in der Formulierung des entscheidenden Arguments eine maßgebliche Rolle spielen:

Sofern es überhaupt einen Sinn haben kann zu sagen, dass wir uns selbst ein Prinzip auferlegen, das sonst für uns nicht verbindlich wäre, findet eine solche Selbstgesetzgebung nur unter der Bedingung statt, dass wir Gründe einsehen, das Prinzip anzunehmen. Diese Gründe müssen dann selber eine Autorität besitzen, die sich nicht durch die vermeintliche Autonomie der Vernunft erklären lässt. (Larmore, 27; Hervorhebungen im Original)

5.6 Autonomie bedarf der Heteronomie

5.6 Autonomie bedarf der Heteronomie Yusuf Kuhn

Worin soll, von allen fragwürdigen Einzelheiten abgesehen, die Widersprüchlichkeit bestehen? Die Vernunft kann sich nur dann selbst Gesetze geben, wenn sie eine Autorität in Anspruch nimmt, die ihr nicht selbst entspringt, die sie nicht selbst setzt, sondern ihr von außen zukommt. Ganz kurz gefasst: Die Autonomie bedarf der Heteronomie. Und damit ist der Gedanke der Autonomie der Vernunft als widersprüchlich erwiesen und somit haltlos.

Das Argument mag durchaus schlüssig sein, auch wenn es wohl einiger Klärungen bedürfte. Es wird dabei allerdings eine Reihe von Voraussetzungen gemacht, die sich mit Kants Denken kaum zur Deckung bringen lassen und von denen einige bereits aufgewiesen wurden. Von zentraler Bedeutung ist hier zudem, dass eine Weise der Begründung vorausgesetzt wird, die keinesfalls die von Kant sein kann. Denn Kant bewegt sich bei seinem Verständnis und seiner Begründung der Autonomie der Vernunft auf der transzendentalen Ebene, die ganz andere Formen der Begründung in Anspruch nimmt, nämlich die transzendentale Argumentation. Um es kurz zu machen und nicht allzu tief in die Kant-Auslegung einzudringen: Larmore ignoriert auch hier wieder grundsätzliche Voraussetzungen für jedes Verständnis von Kants Philosophie. Und seine Kritik muss auch hier folglich wieder Kants Konzeption der Vernunft verfehlen.

Dass Larmore in der Tat keine besseren Argumente vorzubringen hat, zeigt sich auch an der zweiten Stelle, an der er auf die Widersprüchlichkeit der kantischen Konzeption zu sprechen kommt und die der Vollständigkeit halber ebenfalls zitiert sei:

Zunächst gilt es, die Natur der Vernunft zu verdeutlichen. Die vorhergehenden Argumente haben in dieser Hinsicht schon viel geleistet. Sie haben gezeigt, dass die Vernunft ihrem Wesen nach nicht selbstgesetzgebend sein kann, da sie auf Gründe angewiesen ist, die ihr das Gesetz ihres Operierens vorschreiben. Nach Kant »muss sie [die Vernunft] sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen«. Wir sehen jetzt ein, wie falsch dieser Satz ist. Müsste sich die Vernunft wirklich unter diesem Aspekt ansehen, dann nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs. Denn wenn es tatsächlich vorkommt, dass die Vernunft sich selbst Prinzipien gibt – man denke noch einmal an die Regeln, die die zulässigen Grenzen für experimentelle Fehler oder die Häufigkeit von Wahlen bestimmen –, muss sie Gründe dafür anerkennen, von deren Gültigkeit sie keinesfalls die Urheberin sein kann. (Larmore, 31)Das Kant-Zitat findet sich in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Kants Werke, Band 4, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1969, S. 448.

Wir können uns hier die nähere Interpretation ersparen, da es auch so offensichtlich sein dürfte, dass keine besseren Argumente vorgebracht werden, die insbesondere tatsächlich Kants Auffassung treffen würden. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Larmore an einer Stelle auf einen Aufsatz verweist, in dem er eine tiefere Auseinandersetzung mit »Kants eigener Argumentation« in Aussicht stellt. Zunächst stellt er in bezug auf Kants Auffassung von der Autonomie der Vernunft fest:

Um ihre Widersprüche sowie Beweggründe zu erläutern, werde ich mich hier nicht auf die Komplikationen in Kants eigener Argumentation einlassen. (Larmore, 24)

Um sodann allerdings in der zugehörigen Fußnote auf besagten Aufsatz zu verweisen, in der angegeben wird:

Siehe aber meinen Aufsatz, »Was Autonomie sein und nicht sein kann«, in Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Stuttgart (im Erscheinen). (Larmore, 24, Fußnote 8)

Ein Blick in diesen Aufsatz ergibt, dass Larmore sich darin zwar in der Tat mehr Raum für die Erläuterung der Beweggründe gegönnt hat, aber hinsichtlich der Begründung der Widersprüchlichkeit nichts zu finden ist, was über das bereits Gesagte hinausginge. Aufschlussreich ist darin gleichwohl, sein mehrfach vorgebrachtes Bekenntnis zu Kants vorkritischer Phase, die er seiner kritischen Philosophie allemal vorziehen würde. So ruft er beispielsweise zu Kants moralphilosophischen Vorlesungen der 1770er Jahre, also der vorkritischen Phase, aus:

Schade, dass er (Kant) bei dieser Auffassung nicht stehenblieb.Charles Larmore, Was Autonomie sein und nicht sein kann, in: Gunnar Hindrichs und Axel Honneth (Hg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt am Main, 2013, S. 279-300, hier S. 282.

Und an anderer Stelle beschreibt Larmore seine Vorliebe noch etwas näher:

Es ist vielmehr so, dass die »kritische Philosophie«, die in der Grundlegung zum Ausdruck kommt, den Begriffsrahmen der früheren Ethik-Vorlesungen hinter sich gelassen hat. Dem Verstand wird nicht einmal mehr die Fähigkeit zugeschrieben, die Verbindlichkeit moralischer Regeln zu erfassen, da ihre Verbindlichkeit, wie die Verbindlichkeit und sogar auch die Gültigkeit aller Prinzipien unseres Denkens und Handelns, nicht mehr stricto sensu als ein Gegenstand der Erkenntnis, sondern als ein Produkt der selbstgesetzgebenden Vernunft angesehen wird. So lautet natürlich Kants Autonomielehre. Alles in allem, mit den erwähnten Vorbehalten, ziehe ich, wenn ich mich freimütig äußern darf, den Standpunkt der Ethik-Vorlesungen vor.Charles Larmore, Was Autonomie sein und nicht sein kann, in: Gunnar Hindrichs und Axel Honneth (Hg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt am Main, 2013, S. 279-300, hier S. 283.

Für diesen Freimut sind wir Larmore dankbar. Vielleicht trägt dieses offene Bekenntnis zu einem besseren Verständnis seiner Haltung gegenüber Kants »kritischer Philosophie«, nämlich dessen Transzendentalphilosophie, bei, die er doch eher mit Nichtachtung oder Missachtung straft, als sie einer echten Kritik zu würdigen.

5.7 Gründe als Gegenstand der Vernunft

5.7 Gründe als Gegenstand der Vernunft Yusuf Kuhn

Larmore kommt sodann im Anschluss an den »Haupteinwand« zu folgendem Schluss:

Ihre (der Gründe) Gültigkeit kann nur anerkannt werden, und damit wird übrigens sichtbar, was im Allgemeinen der spezifische Gegenstand ist, den die Vernunft zu erfassen hat. Die Vernunft ist ein Vermögen, dessen Ausübung darin besteht, sich nach Gründen zu richten. (Larmore, 27; Hervorhebungen im Original)

Der gesuchte Gegenstand der Vernunft sind nach Larmore somit Gründe. Die letztlich heteronome Vernunft muss also die schon bestehende Autorität dieser Gründe anerkennen und erhält damit ihr Gesetz von außen. Larmore fasst das Ergebnis seiner Überlegungen folgendermaßen zusammen:

Mit der vorhergehenden Kritik an Kant haben wir also eine Antwort auf unsere Frage und eine, so scheint es zumindest, adäquate, dem aristotelischen Grundsatz entsprechende Definition erhalten. Die Vernunft ist das Vermögen, dessen Ausübung darin besteht zu schließen (wie Kant selbst sagt) oder, besser, zu urteilen, und dessen spezifischer Gegenstand, auf den diese Tätigkeit gerichtet ist (und über den Kant nichts zu sagen hat), Gründe sind. Auf englisch klingt es schöner und vielleicht auch einleuchtender: reason is the faculty of reasoning, which consists in responding to reasons. Auf deutsch ließe sich etwas weniger elegant sagen, »die Vernunft ist das Vermögen des Schließens, welches darin besteht, sich nach Gründen zu richten«. (Larmore, 34; Hervorhebungen im Original)

In diesen Zeilen finden wir die wesentlichen Elemente von Larmores Überlegungen vereint: die Kritik an Kant, die Hinwendung zu Aristoteles und die sich daraus ergebende Definition der Vernunft als Vermögen, das sich heteronom nach Gründen als seinem Gegenstand richtet. Mit der Abkehr von Kants transzendentaler Subjektphilosophie und der Rückwendung zur »vorkritischen« klassischen Ontologie erbt diese Position allerdings nicht nur die Vorzüge letzterer, sondern auch deren Nachteile und Schwierigkeiten, zu deren Behebung Kant mit seiner kritischen Philosophie gerade angetreten war. Larmore gesteht daher selbst auch ein:

Zugleich ist jedoch klar, dass die von mir vorgeschlagene Analyse noch weit davon entfernt ist, in allen Hinsichten hinreichend ausgearbeitet zu sein. (Larmore, 34)

Denn seine Position provoziert geradezu eine Flut von Fragen, wie sie gemeinhin mit jeglicher Gestalt der klassischen Ontologie in Verbindung gebracht werden. Darauf weist auch Rainer Forst in seinem Vorwort hin, indem er einige Beispiele für zu erwartende Fragen anführt:

Viele Fragen werden gestellt werden – über den Zusammenhang von Gründen und Vernunftprinzipien, über die Rezeptivität der entthronten Vernunft, die historische Wandelbarkeit der normativen Ordnung der Gründe, die Existenzform der Gründe, [...] um nur einige Punkte zu nennen. (Larmore, 12)

Auch Hallaq beschließt übrigens seine Erörterung von Larmores Auffassung mit einer Reihe von entsprechenden Fragen, woran erinnert sei:

Welche Eigenschaft der Welt genau den Kontext der Gründe für diese Autonomie bilden mag, ist eine Frage, die Larmore in allgemeinen platonischen Begriffen beantwortet. [...] Doch wohin gehen wir von hier aus, so dass wir Gründen eine spezifisch bestimmte Substanz und eine besondere Bedeutung zuschreiben können? Was in einer mit Werten gesättigten Welt ist es, das uns in konkreten und genauen Begriffen sagt, worin das Wohl eines anderen besteht? Und wie bestimmen wir dieses Wohl in einem spezifischen kulturellen Kontext und zu jedwedem konkreten Zeitpunkt?Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 164; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 165.

5.8 Zwischen Subjektphilosophie und Ontologie

5.8 Zwischen Subjektphilosophie und Ontologie Yusuf Kuhn

Hallaq geht offenkundig davon aus, dass Larmore diese Fragen nicht beantwortet und vielleicht darüber hinaus auch nicht beantworten kann. Und in der Tat hat Larmore keine oder zumindest keine überzeugenden Antworten darauf. Das ist auch nicht allzu überraschend, da er sich in einer Sackgasse verirrt, die das europäische Denken seit Jahrhunderten gefangenhält, indem es fortwährend zwischen den vermeintlich einzigen Alternativen der modernen Subjektphilosophie und der klassischen Ontologie hin und her schwankt.

Wird die Auswahl auf falsche Alternativen begrenzt, ist es freilich nicht verwunderlich, dass die Probleme sich in der einen oder anderen Gestalt endlos wiederholen. Und in ganz entscheidender Weise vertieft wird diese Misere zudem dadurch – wie sich auch beispielhaft an Larmores Überlegungen gezeigt hat -, dass die eigentlichen Grundlagen der alternativen Positionen nicht einmal in den Blick genommen werden. Könnte es nicht sein, dass die aporetische Situation sich daraus ergibt, dass die Grundlagen der beiden Positionen gar nicht so verschieden, geschweige denn gegensätzlich, sind, sondern vielmehr in ihrem Kern übereinstimmen, der zudem die wahre Ursache der Misere ist? Diese Frage wird zumeist nicht einmal gestellt und jedenfalls in ihrer Bedeutung und Tragweite völlig verkannt. Es wird jedenfalls auf sie zurückzukommen sein.

Unter diesen Bedingungen ist es schon ein großer Schritt, zu dem wir hoffentlich durch diese kritischen Analysen einen kleinen Beitrag geleistet haben, diese ausweglose Lage etwas auszuleuchten und damit zumindest die Voraussetzungen und Konturen eines möglichen Auswegs aufscheinen zu lassen.

Zugleich gilt es festzuhalten, dass viele von Larmores Positionen und Argumenten gleichwohl triftig und berechtigt sind, obschon die Weise der Kritik oftmals nicht tief genug ansetzt. Dies trifft ganz besonders auf seine Kritik an Kants Denken zu, obwohl ihre Intention und ihre Stoßrichtung durchaus zu begrüßen sind.

So macht Larmore gegen Ende der Vorlesung beispielsweise auf zwei Voraussetzungen der modernen Philosophie aufmerksam, von der diese sich hat irreführen lassen. Zunächst bringt er seine Sorge zum Ausdruck, aufgrund seiner scharfen Kritik an Hume und Kant einerseits und seiner Berufung auf Platon und Aristoteles andererseits, den Eindruck erweckt zu haben, ein antimoderner Denker zu sein und die Rückkehr zur Antike zu predigen, was er als Selbstbeschreibung ablehnt. Damit will er wohl zeigen, dass er nichtsdestotrotz ein moderner Denker ist, der sich allerdings die Kritik an der Moderne nicht versagt. Und zu dieser Kritik gehören nun insbesondere die zwei bereits angesprochenen Auffassungen, zu denen er folgende Erläuterungen vorbringt:

Ich glaube dennoch, dass sich die moderne Philosophie von zwei Voraussetzungen hat irreführen lassen, die verhindert haben, die Natur der Vernunft richtig zu begreifen. Die erste ist die unkritische und oft stillschweigende Zustimmung zum naturalistischen Weltbild. Hinter dieser Voraussetzung, und deren Macht teilweise erklärend, steht eine zweite, die von dem massiven Einfluss des Christentums herrührt. Es handelt sich um die Annahme, dass normative Unterscheidungen nicht für sich selber existieren können, sondern von jemandem instituiert sein müssen – wenn nicht von Gott, dann von der menschlichen Vernunft. Als im 17. Jahrhundert Gott anfing, aus der Natur und in zunehmendem Maße auch aus dem gesellschaftlichen Leben zu verschwinden, kam der Gedanke auf, dass wir selbst die Urheber aller Autorität sein müssen. [...] Und sie mündet in die weitverbreitete, bereits von Pascal geäußerte Meinung, dass die Welt, wenn sie im Sinne einer Abwesenheit Gottes »entzaubert« ist, auch normativ stumm, eben ein »silence éternel« sein müsse. Daher rührt die Überzeugung, dass unter diesen Umständen, die eben die Wahrheit der conditio humana ausmachen sollen, der Mensch sich nur auf sich selbst zu verlassen und, ob individuell oder kollektiv, alle normativen Unterscheidungen zwischen berechtigt und unberechtigt, gut und böse, selbst einzuführen habe. Der Begriff von Autonomie ist in großem Ausmaß ein Gott-Surrogat. (Larmore, 52)

Dieser Kritik am modernen Naturalismus und Rationalismus ist gewiss weitgehend zuzustimmen, wobei insbesondere der zweite Aspekt, der von Larmore nur angedeutet wird, eine viel eingehendere Betrachtung verdienen würde. Welche Rolle spielen im modernen Denken die Begriffe von Gott, Vernunft, Autonomie und Freiheit? Was bedeutet es wirklich, wenn die Vernunft an die Stelle Gottes gerückt wird? Um welchen Gott, um welche Vernunft handelt es sich dabei? Diesen Fragen und Kritiklinien wird weiter nachzugehen sein, um das moderne Denken samt seiner Misere besser begreifen zu lernen.

Abschließend wollen wir einige Bemerkungen von Hallaq im Anschluss an seine Betrachtung von Larmores Auffassung in Erinnerung rufen, da sie im Lichte des nunmehr Gesagten betrachtet hoffentlich eine schärfere Kontur bekommen und in ihrer Brisanz noch deutlicher hervortreten mögen:

Ironischerweise sind solche Fragen und Debatten des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts, die aus formidabler moderner Wissenschaft und rationalem Denken hervorgehen, ein genauer Widerhall eben der Debatten, die Muslime vor über tausend Jahren führten. Die Fragen und Probleme, denen sie begegneten und die im wesentlichen denen gleichen, die von Kantianern, Neukantianern, Antikantianern und anderen erhoben wurden, waren für mehr als zwei Jahrhunderte geistige Kampfplätze. Von der Mitte des achten Jahrhunderts A.D. bis zum Ende des zehnten und darüber hinaus bildeten sich große rechtlich-intellektuelle Bewegungen heraus, die das gesamte Spektrum der intellektuellen Meinungsvielfalt hinsichtlich der Frage der Moralität, ihrer Autonomie und der Rolle der Vernunft bei der Bestimmung menschlicher Handlungen repräsentierten. Der einzige große Unterschied zwischen den beiden Debatten ist ihr Kontext: während die meisten Denker der Aufklärung – bei all ihrer Verschiedenheit – nur eine entzauberte Welt kannten, bewohnten die vormodernen muslimischen Intellektuellen eine Welt, die mehr oder weniger »verzaubert« war. Diese Intellektuellen, die über mehr als zwei Jahrhunderte ihre geistigen Kräfte miteinander maßen, kamen schließlich zu dem überein, was ich an anderer Stelle die »Große Synthese« genannt habe, nämlich die Synthese zwischen Vernunft und Gründen. Es konnte ebenso wenig eine Leugnung einer Welt, die mit Wert gesättigt ist, geben wie einer Welt, in der das menschliche Vermögen der Vernunft, Gottes eigene Schöpfung, sowohl stets gegenwärtig als auch kraftvoll ist. Und die Scharia, die bestimmende Überzeugung und Praxis der Muslime, war das Ergebnis einer Synthese zwischen den beiden.Siehe den Abschnitt Ein Ausweg?, S. 165 f.; Wael B. Hallaq, The Impossible State: Islam, Politics, and Modernity’s Moral Predicament, New York, Columbia University Press, 2013, S. 165-166.

Bevor wir aber auf der Suche nach einem gangbaren Ausweg diesen Spuren folgen und sie einer kritischen Überprüfung unterziehen können, müssen wir, um uns gegen die Versuchungen verlockender, aber unzulänglicher Abkürzungen möglichst zu wappnen, die Tiefe der Misere der modernen Moralphilosophie noch gründlicher ausloten. Hierzu wollen wir im nächsten Schritt Alasdair MacIntyre zum Lotsen nehmen.